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ОглавлениеLehrgang an der Kriminalschule Arnsdorf / Dienst in Halle (Saale)
Gerade als ich dachte, ich sei ein richtiger Kriminalist, ich hatte ja schließlich einen Dienstausweis als Kriminalmeister, eine Kriminalmarke sowie eine Pistole, wurde ich zu einem Lehrgang an die Kriminalschule Arnsdorf bei Dresden delegiert, an die »Volkspolizeischule für Kriminalistik«.
Es war ein Drei-Monats-Lehrgang. Wir erhielten lediglich einmal monatlich von Freitagmittag bis Montagmittag Urlaub in die Heimat, allerdings hatten wir Ausgang nach Arnsdorf oder nach Dresden.
Heute kann ich sagen, dass diese drei Monate in meinem fast vierzigjährigen Leben als Kriminalist die angenehmste Zeit waren. Der Unterricht war nicht allzu anstrengend und vor allem gab es keine Überstunden. Es war richtig erholsam.
Die Schule war in zwei mehrstöckigen Gebäuden untergebracht, in einem Gelände mit Wiesen und hohen alten Bäumen. Neben den Gebäuden der Polizeischule gab es noch andere Gebäude, die von einer medizinischen Fachschule belegt waren. Uns wurde eingeschärft, die dortigen Schwesternschülerinnen zu meiden. Diese Anweisung erwies sich sehr bald als ein Schuss in den Ofen: Einer unserer Kriminalisten wusste, dass die Gebäude durch einen Kellergang noch aus Kriegszeiten verbunden waren, und so kam es des Öfteren zu Zusammenkünften mit den Schülerinnen. Wie immer im Leben hatte die Umgehung von Verboten und Unerwünschtem einen direkten Reiz. Dieser Kellergang war das Geheimnis aller Kriminalisten und sicherlich auch der meisten Schwesternschülerinnen.
Am ersten Unterrichtstag lasen wir an der großen Wandtafel einen Spruch, der viel Heiterkeit auslöste, und so heiter und auch unernst verlief dann der Unterricht:
Das Bürgerliche Gesetzbuch, kurz genannt das BGB,
wer damit zu tun bekommt, dem tut es meistens weh;
er ist nämlich verpflichtet in Schadensfällen,
den alten Zustand wiederherzustellen.
Wie verhält es sich aber mit einem Radfahrer, der es eilig hat
und er saust so durch die Straßen seiner Stadt
und achtet seines Weges nicht genau
und fährt doch gegen eine Frau,
die in dem Zustand sich befindet,
der Hoffnung auf ein Kind begründet.
Und vor ihr mit diesem Schreck
geht die Kindeshoffnung weg.
Wie verhält es sich nun laut Gesetz?
Ist der Betreffende verpflichtet in Schadensfällen
den alten Zustand wiederherzustellen?
Natürlich waren wir alle für Wiederherstellung …
Als wir erstmalig Heimurlaub hatten, trafen wir auf dem Bahnhof in Dresden eine unserer Dozentinnen. Sie fuhr im selben Zug, und im Gespräch erfuhren wir, dass sie auch mit dem gleichen Zug wie wir zur Schule zurückfahren musste. Sie versprach Plätze freizuhalten und siehe da, als der Zug in Halle hielt, hatte sie ihr Versprechen gehalten und so plauderten wir bis Dresden. Sie ist mir aber noch aus anderem Grund in Erinnerung: Sie war vom Dienstgrad Major und hieß Marschall. Durch ihren freundlichen, aber doch fordernden Umgang mit uns war sie allgemein sehr beliebt. Später in meinen vielen Dienstjahren habe ich allerdings nichts mehr von Majorin Marschall gehört.
Die drei Lehrgangs-Monate waren schnell vorbei und wir reisten wieder in unsere Dienststellen zurück. Und so kam ich wieder in die Untersuchungsabteilung der Kriminalpolizei Halle und hatte wieder zu kämpfen, um meinen Aktenbestand auf maximal zwanzig zu bekommen.
Über meine Dienstjahre in Halle zu schreiben, ohne zu erwähnen, dass es in dieser Stadt eine tausendjährige Tradition des Salzsiedens gab und mit vielen überlieferten Bräuchen wie Fahnenschwenken, Brautgeleit, Fischerstechen, Laternenfest und ein Salzwirkermuseum mit Dutzenden Silbergefäßen wäre unvollständig. In der Stadt gibt es noch heute die älteste Schokoladenfabrik Deutschlands mit den berühmten Hallorenkugeln. Jährlich nahmen viele Tausende am Laternenfest auf der Saale teil, mit hunderten laternengeschmückten Booten, vom Ruderboot bis zum Ausflugsdampfer. Einen tollen Ausblick auf das Spektakel hat man von der Burg Giebichenstein aus, von der man zur Saale hinabsehen kann. Von den Mauern der Burg, so die örtliche Legende, soll sich auch Ludwig der Springer gestürzt haben, als er vor seiner Hinrichtung floh. Seinen Mantel habe er wie einen Fallschirm aufgespannt – allerdings erwähnt die Sage nichts darüber, ob Ludwig sein waghalsiges Manöver überlebt hat. Vielleicht war er ja Vorläufer und Anreger all jener, die sich heute als »Basejumper« mit Fallschirmen von Felsen, Brücken oder Türmen stürzen.
Es soll aber noch ein damals allen Hallensern vertrautes Original erwähnt werden: ein Straßenmusikant namens Zither-Reinhold. Er saß bei jedem Wetter in irgendeiner Ecke des Marktplatzes auf einem alten Kissen und klimperte auf seiner Zither. Er klimperte irgendwas, niemals ein richtiges Lied. Er gehörte zur Stadt wie der Turm auf dem Marktplatz. Niemand wusste, wie er hieß und wo er wohnte. Aber es fiel sofort auf, wenn er nicht klimperte, weil er sich verspätet hatte. Er starb 1964, und die ganze Stadt trauerte um ihn. Sie verlor mit ihm ein wahrhaftiges Faktotum.
Und es gab auch in der Nähe des Stadttheaters eine Gaststätte mit dem ulkigen Namen »Zum Sargdeckel«. An der Decke des Gastraumes hing ein echter Sargdeckel. Er war, so wurde vermutet, als Zahlungsmittel in die Gaststätte gekommen. Im Gastraum standen schwere Holztische und Stühle. In die Tischplatte des Stammtisches wurden die Todesdaten und der Name des verstorbenen Stammgastes eingeschnitzt. Kein Gast, der nicht Stammgast war, setzte sich an diesen Tisch. Das haben ja Stammtische auch heute noch als Privileg. Die Gaststätte fiel nach der Wende ihrem Alter und ihrer Gebrechlichkeit zum Opfer und wurde abgerissen.