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Ein Sohn aus gutem Hause

(1914-1944) William Burroughs

Once started out

to walk around the world

but ended in Brooklyn.

That Bridge was too much for me

I have engaged in silence

exile and cunning.

Lawrence Ferlinghetti1

... geboren am 5. Februar 1914 in St. Louis. In der Reihe seiner Vorfahren treten uns zwei bekannte Typen der amerikanischen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts entgegen: der Yankee-Erfinder und der Prediger aus dem Süden.

Der Großvater väterlicherseits war Mechaniker gewesen. Er hatte Patente auf Eisenbahnweichen und auf ein Papiermesser angemeldet, ohne Geld damit zu verdienen. Häufig war er arbeitslos. Sein Sohn William wurde mit achtzehn nach der High-School Bankangestellter. Als solcher war er Tag für Tag acht Stunden damit beschäftigt, Zahlenkolonnen abzuschreiben und zu addieren. Tausender, die zu Millionen kommen, von denen Hunderter abgezogen und erneut Tausender dazugezählt werden.

Eine langweilige, monotone Arbeit. Sieben Jahre blieb William bei der Bank. Dann war seine Gesundheit ruiniert. Tuberkulose. So schwer, dass er seinen Beruf aufgeben musste.

Er erinnerte sich an die Erfindertradition in der Familie.

Es war die Zeit, in der man mit einem neuen Produkt, das sich in Massenproduktion herstellen ließ, von heute auf morgen reich werden konnte.

Die erste Schreibmaschine 1868.

Das erste Telefon 1876.

Die Registrierkasse 1879.

Der Füllfederhalter 1884.

William Seward Burroughs erfand eine Rechenmaschine, die mit der Drehbewegung einer Kurbel eine Reihe von Zahlen addieren konnte und die Rechenoperation sofort ausdruckte. Später kam ein breiter Wagen dazu, der das Buchhaltungsjournal beförderte.

Von dem bis heute üblichen Papierstreifen ließen sich alle Geschäftsvorgänge eines Tages ablesen.

Zusammen mit einem anderen Erfinder,. dem Kanadier Joseph Boyer, gründete er mit einem Startkapital von 100.000 Dollar die American Arithmeter Company. Später würde das Kapital nach dem Willen der Aktienbesitzer auf 200.000 Dollar erhöht.

William Seward Burroughs I. hatte inzwischen geheiratet. Die Krankheit hatte ihn nicht daran gehindert, Kinder in die Welt zu setzen, vier an der Zahl, die Söhne Mortimer und Horace und zwei Töchter.

Die Wundermaschine hatte einen Konstruktionsfehler. Je nachdem, wie heftig man die Kurbel bewegte, wurden verschiedenartige Summen ausgedruckt.

Eines Tages betrat Burroughs leicht alkoholisiert das Lager der Firma und warf alle noch nicht verkauften und zurückgesandten Maschinen aus dem Fenster hinunter auf den Hof.

Er fing noch einmal an zu probieren und zu zeichnen.

Elin Metallzylinder mit einem Kolben wurde eingefügt, in dem zwei kleine Löcher den Ölfluss regulieren. Damit war sichergestellt, dass der Schaftmechanismus sich immer gleichmäßig bewegte, gleichgültig welche Kraft auf die Kurbel einwirkte.

Die verbesserte Maschine, die 1891 für 425 Dollar angeboten wurde, war nun wirklich der Traum eines jeden Buchhalters.

Während Burroughs’ Vermögen wuchs, ging es mit seiner Gesundheit immer mehr bergab. Er zog mit der Familie nach Citronelle in Alabama, ein Ort, von großen Pinienwäldern umgeben. Frische Luft war immer noch das einzige Heilmittel gegen Tuberkulose, das man zu jener Zeit kannte. Aber Ruhe und gute Luft konnten seine zerstörten Lungen auch nicht mehr retten. William Burroughs I. starb mit einundvierzig Jahren im September 1898.

Inzwischen hatte sich die Firma unter Boyers Leitung gut entwickelt. Sie war nach Detroit umgezogen, beschäftigte 1904 465 Angestellte und verkaufte in diesem Jahr 7800 Additionsmaschinen. Das Vermögen der Gesellschaft, die sich inzwischen Burroughs Adding Machine Company nannte, wuchs bis zum Jahr 1920 auf 430 Millionen Dollar an. Aber davon profitierten Burroughs’ Nachkommen kaum noch. William Seward I. hatte beim Umzug in den Süden einen guten Teil seiner Kapitalanteile abgestoßen und den verbleibenden Rest in eine Treuhandgesellschaft eingebracht.

Die Manager der weiter aufstrebenden Gesellschaft überredeten die Kinder der Erfinder, ihre Anteile zu verkaufen. Sie bekamen dabei für die Wertpapiere, die bald eine Million und noch später ein vielfaches dieser Summe gebracht hätten, ganze 100.000 Dollar.

William Burroughs II. hat später einmal ausgerechnet, dass das Aktienpaket seines Vaters in den dreißiger und vierziger Jahren um die 20 Millionen Dollar wert gewesen wäre. Dass er in seinen Geschichten das kapitalistische Zeitalter als von Gangstern beherrscht darstellen wird, scheint angesichts solcher Erfahrungen in der eigenen Familie begreiflich.

Die Mutter Burroughs’ II., Laura, stammte aus einer Familie von Pachtbauern und Predigern aus dem amerikanischen Süden. Ihr Vater, James Wideman Lee, wurde methodistischer Pfarrer in St. Louis in einem Viertel der reichen Leute, seine Frau Eufala leitete die Women’s Temperance Union. Man sagte von ihr, sie hätte einen ihrer Söhne lieber tot als betrunken heimkommen sehen.

Ein Wahlspruch der Predigersippe Lee lautete: ›Wenn du das Spiel des Lebens gewinnen und den Gott ehren willst, der dich geschaffen hat, musst du hart und zielstrebig arbeiten.‹2

Wer solche Sonntagsschulweisheit im Sinn einer neuen Zeit zu interpretieren verstand, war Ivy Ledbetter Lee, der Bruder der Mutter. Von ihm erzählt man, er habe noch den skrupellosesten Kapitalisten in einen nur auf Wohltätigkeit sinnenden Philanthropen umzudichten vermocht. Seine dreist-schamlosen Lügen trugen ihm den Spitznamen ›Poison Ivy‹ ein.

Wenn William Burroughs’ Großvater der Erfinder der Addiermaschine ist, so ist Ivy der Schöpfer der modernen Public Relations.

Ein paar Jahre arbeitete er als Zeitungsschreiber in New York, tatsächlich aber als Presseagent des großen Geldes.

Im Oktober 1913 kam es in den USA bei einem Streik der Bergleute in Colorado zum sogenannten Ludlow-Massaker, bei dem durch Polizei und Staatsmiliz zwei Frauen und elf Kinder getötet wurden. Die Mehrheitseigentümer der Kohlegruben waren die Rockefellers. Im ganzen Land hatten sie eine schlechte Presse, worauf der bis dahin eher menschenscheue und in splendid isolation lebende John D. Rockefeller jr. plötzlich Volksnähe demonstrierte. Er besuchte die Bergarbeiter, tanzte mit deren Frauen, hielt Reden, die vor Verständnis für die soziale Not seiner Arbeiter und Angestellten nur so trieften.

1915 wurde Ivy Lee endgültig Rockefellers Public-Relations-Chef. Die Fähigkeit, Kapitalisten, die über Leichen gingen, in den Augen der Öffentlichkeit als Altruisten dastehen zu lassen, war die Ware, mit der Ivy Lee handelte.

Doch auch dem Erfinder der Public Relations unterliefen in seinen öffentlichen Beziehungen Fehler.

1933 kamen in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht.

Für ein Jahresgehalt von 33.000 Dollar ließ sich Lee von der IG Farben anwerben, um Adolf Hitler, den Führer eines neuen Deutschland, in den USA populär zu machen. Lee reiste nach Europa, wurde Hitler und Goebbels vorgestellt. Er riet den Nazigrößen im Grund zu nichts anderem, als was er auch schon Rockefeller geraten hatte: In der Öffentlichkeit darf nicht der Eindruck entstehen, dass man es mit Unmenschen zu tun hat.

Dem Außenminister Ribbentrop empfiehlt er, die deutschen Wiederaufrüstungspläne einfach abzustreiten. Und Hitler solle erklären, die SS sei nun einfach nötig, um die Kommunisten in Schach zu halten.

Gegen ein Deutschland, das berechenbar war, würde niemand in Europa oder Amerika etwas einzuwenden haben.

Allmählich aber entpuppten sich die Nazis keineswegs als jene netten Burschen, als die Lee sie der amerikanischen Öffentlichkeit hatte verkaufen wollen. Er wurde als Presseagent der IG Farben enttarnt. Sein Ruf war endgültig dahin, als er 1934 vor dem Ausschuss für Unamerikanische Aktivitäten zugeben musste, beträchtliche Summen aus Deutschland bekommen zu haben, um Hitler mit seinen Werbetricks in ein günstiges Licht zu. rücken. Um den süßen Geschmack des Erfolgs gebracht und nun gar als Staatsfeind gebrandmarkt, starb er verbittert im Oktober 1934 mit erst 57 Jahren an einer Gehirnblutung.

Laura Lee und Mortimer Burroughs heirateten 1910. Der junge Ehemann arbeitete noch für kurze Zeit als Vertreter für die Burroughs Company. Nach dem Verkauf seiner Firmenanteile eröffnete er ein Geschäft für Glasscheiben. Das Ehepaar hatte zwei Söhne, Mortimer jr., der 1911 geboren wurde, und William Seward II., der drei Jahre später zur Welt kam. Man lebte in einem Viertel der High-Society, ohne selbst recht dazuzugehören. Die Ehe der Eltern scheint glücklich gewesen zu sein, aber es ist eine Familie, in der man Gefühle nicht zeigt. Mort, der Ältere, schlägt nach dem Vater, ist von gedrungener Statur, wirkt gesund. Billy ist dünn, bleich, sieht eher der Mutter ähnlich und wird rasch zum schwarzen Schaf der Familie.

Billys Entwicklung verläuft von Anfang an kompliziert. Schon sehr früh scheint es Eindrücke und Einflüsse gegeben zu haben, die ihn in die Rolle des Außenseiters und Rebellen drängten.

Gefährlich wird sich in dieser Familie, in der zwischen den Eltern nie ein lautes Wort fällt, aber ein eher frostig-formelles Klima herrscht, der Einfluss von zwei Frauengestalten ausgewirkt haben, denen etwas Unheimliches anhaftet, die aber im Halbdunkel frühester Erinnerungen bleiben.

Da ist eine alte irische Köchin, die Burroughs retrospektiv mit einer der Hexen aus Macbeth vergleichen wird. Von ihr lernt er Praktiken des Magisch-Unheimlichen, beispielsweise einen Ruf, um Kröten anzulocken, oder einen Zauber, um jemandem das Augenlicht zu nehmen.

Schädigender und das kindliche Bewusstsein nachhaltiger beeindruckend sind die sexuellen Stimulationen, mit denen die Kinderfrau Mary Evans den Jungen an sich zu binden versucht.

Offenbar gibt es da eine verschüttete Schlüsselszene, einen Vorfall, der sich bei Billy im Alter von vier Jahren abgespielt haben könnte, obgleich Burroughs ihn sich auch in späteren Jahren bei psychoanalytischen Behandlungen nie mehr klar und deutlich ins Bewusstsein zu rufen vermocht hat. So bleibt es eine Mutmaßung, dass Mary Evans das Kind veranlasst hat, mit ihrem Freund stellvertretend für sie sexuell zu verkehren. Die Eltern merken offenbar nicht, dass diese Mary Evans trotz ihrer untadeligen Referenzen eine Person mit perversen Neigungen ist. Bill hingegen leidet unter dem Mangel an Kontakt mit seinen Eltern. Er hat manchmal das Empfinden, überhaupt keine Eltern zu haben.

Billy mag unter anderem auch die unsichere soziale Position seiner Familie gespürt haben.

Die Türsteher in den Häusern seiner Spielgefährten aus reichen Familien wollen ihn nicht hereinlassen. Wenn er in einem Geschäft einkauft, wird ihm das Wechselgeld wortlos, ohne Höflichkeitsbezeugungen zugeschoben.

Von der siebten bis zur zehnten Klasse besucht Billy eine Privatschule in St. Louis. Auch hier bleibt er isoliert, zumal er sich nicht für Sport interessiert. Der Lateinunterricht ist ihm verhasst. Die Hausaufgaben erledigt er widerwillig. Er sitzt in der Klasse ganz hinten und zielt in den Schulstunden mit einem Bleistift auf seine Mitschülerinnen und Mitschüler.

1927, Billy ist nun dreizehn, wird St. Louis von einem Tornado heimgesucht. Der Sturm bringt ganze Häuserblocks zum Einsturz. Dreihundert Menschen kommen ums Leben. Auf die öffentliche Katastrophe folgt eine persönliche.

Mit vierzehn experimentiert Billy im Keller mit Chemikalien. Es kommt zu einer Explosion. Der Vater, der sich im Nebenraum aufhält, fährt den verletzten Jungen sofort ins Krankenhaus. Die Operation unter Morphium dauert zwei Stunden. Sechs Wochen muss Billy im Krankenhaus bleiben.

Seine Vorliebe für Sprengstoff und Waffen scheint danach eher noch zugenommen zu haben. Er bastelt eine Bombe und legt sie seinem Klassenlehrer vor das Fenster. Der Sprengkörper wird entdeckt, ehe er Schaden anrichtet. Die Frau des Lehrers verständigt Billys Mutter, und er muss sich entschuldigen gehen.

1929, nachdem der Vater seine Firmenanteile zu Geld gemacht hat, reisen die Burroughs nach Frankreich. Billy geht mit seinem Vater und seinem Bruder auf die Entenjagd. Gewehre, überhaupt jede Art von Waffen, imponieren dem Jungen schon damals ungemein. Aus Europa bringt er einen Stockdegen mit heim.

Wieder in St. Louis, verliebt er sich in einen hübschen, braunäugigen Lockenkopf, Keils Elvins. Der Vater ist ein ehemaliger Kongressabgeordneter, Rechtsanwalt und rabiater Antisemit.

Billy scheint sich zu diesem Zeitpunkt darüber klargewesen zu sein, dass er homosexuell veranlagt ist. Er lehnt später alle psychologischen Erklärungen ab und ist davon überzeugt, er sei so geboren worden.

Der bewunderte Keils ist alles das, was er nicht ist, aber zu sein wünscht: sportlich, populär, ein großer Frauenheld.

Jemand, der Genugtuung dabei empfindet, Frauen zu verführen, ohne sie eigentlich zu mögen, dem es große Lust bereitet, sie zu demütigen.

Ein Lehrer, der das Verhältnis der beiden zueinander beobachtet, sagte zu Billy: ›Du bist ja sein Sklave.‹3

Es wird eine lebenslange Freundschaft.

Immer wieder werden sich ihre Wege kreuzen.

Ohne Zweifel findet Billy das Leben in St. Louis langweilig und die Atmosphäre in seinem Elternhaus wenig herzlich.

Mit dreizehn Jahren entdeckt er ein Buch, das seine Lebensentwürfe und seine Wünsche nachhaltig beeinflusst. Es stimuliert sein langanhaltendes Interesse am kriminellen Milieu und am Verbrechen. Der Autor nennt sich Jack Black, der Titel lautet: You can’t win. Es handelt sich um die Memoiren eines berufsmäßigen Diebes und Rauschgiftsüchtigen. Einer von Burroughs’ Biographen, Ted Morgan, beschreibt den Inhalt und seine Wirkung auf Burroughs wie folgt: ›Jack Black verlässt die Schule mit vierzehn. Er arbeitet in einem Zigarrengeschäft, in dessen Hinterzimmer Poker gespielt und gewürfelt wird. Er dient den Halunken als Laufbursche, und ihm gefällt deren farbige Ausdrucksweise: »Wenn es immer Suppe regnet, hat es keinen Zweck, dass ich mir einen Zinnlöffel kaufe« oder »Ich habe eine Reihe Schulden, länger als die Wäscheleine einer Witwe«. Jack wird ein Einbrecher und macht die Bekanntschaft von Salt Chunk Mary, einer Hehlerin, die alles Diebesgut aufkauft und verkauft, aber »ehrlicher ist als eine goldene Guinee«.‹4

Salt Chunk Mary gehört zur Johnson-Familie, einer Gruppe von Gaunern mit einem eigenen Verhaltenskodex. Die Johnsons verlassen sich nur auf Angehörige des eigenen Klans. Sie sind gegenüber ihrer Sippschaft loyal und ehrlich und helfen sich, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten gerät. Sie mögen Outlaws und Diebe sein, aber gemäß den Gesetzen, die sie sich selbst gegeben haben, sind sie rechtschaffen, und auf ihr Wort ist Verlass. Die Johnsons wurden für Billy zum Vorbild für seine individuelle Moral. Vor allem imponierte ihm der Kontrast zu der Heuchelei, der Geschäftigkeit und der doppelten Moral der guten Bürger in St. Louis.

Natürlich romantisiert der Heranwachsende das kriminelle Milieu. Um es in der Realität kennenzulernen, wird er sich in den nächsten Jahrzehnten seines Lebens immer wieder in Abenteuer einlassen, deren Gefährlichkeit er mit seinem scharfen analytischen Verstand zweifellos abzuschätzen vermag. Warum - so: liegt es nahe zu fragen - lässt er sich dennoch darauf ein?

Er vermeint zu spüren, dass dieser Jack Black und diese Salt Chunk Mary, Gold Tooth und Foot und Half George und all die anderen Leute seines Schlages sind. Er ist nicht mehr allein. Die Johnsons werden zu einem Teil seiner persönlichen Mythologie. Um diese Zeit beginnt Billy selbst zu schreiben.

›Sein erster literarischer-Versuch nannte sich »Die Autobiographie eines Wolfes«. Mari lachte ihn aus und sagte: »Du meinst wohl die Biographie eines Wolfes.« Aber nein, ihm ging es um eine autobiographische Erzählung, in der er ein junger Wolf ist und mit seinem rothaarigen Wolfsgespielen Jerry in einer kühlen Kalksteinhöhle haust, wo sie sich gegenseitig das Blut ablecken, sie sind damit verschmiert von Kopf bis Fuß, denn sie haben in der Nacht ausgiebig Schafe gerissen und sich prächtig amüsiert. Sie lachen über die dummen Rancher, die nicht ahnen, dass sie ihnen die vergifteten Fleischstücke oft meilenweit wegschleppen und am Farmhaus über den Zaun schleudern, wo dann alsbald die Hofhunde daran verrecken. Als die Sonne aufgeht, kuscheln sie sich aneinander und sinken zufrieden rülpsend in den Schlaf.

Doch das Idyll nimmt ein jähes Ende; Jerry wird von einem Jäger erledigt, der Wölfe gegen Prämien abschießt. Audrey, traurig über den Verlust seines Gespielen und überdies von Staupe befallen und entsprechend geschwächt, wird von einem Grizzly erwischt und gefressen.‹5

So schildert Burroughs fast fünfzig Jahre später diesen ersten literarischen Versuch und auch dessen Fortschreibung: Aus Jerry, dem rothaarigen Wolf, wird der Saure Kid, ein Saxophonist im knallroten Hemd, der sich plötzlich eine Zitrone in den Mund schiebt und damit eine-Entgleisung auslöst:

›Ein Crescendo saurer Töne von Saxophonen und Trompetern: Die Sängerin steht mit offenem Mund da. Speichelfäden hängen ihr vom Kinn wie bei einer Kuh mit Maul- und Klauenseuche. Kellner und Rausschmeißer nähern sich von mehreren Seiten. Der Saure Kid spuckt die Zitrone aus, geht auf alle viere herunter und verwandelt sich in einen dürren, sehnigen, rothaarigen Wolf. Er bleckt die Zähne zu einem wölfischen Grinsen und springt mit einem Satz aus dem nächsten Fenster hinaus in die Sommernacht. Der Saure Kid demolierte nun Kirchenlieder, Nationalhymnen, irische Tenöre, jodelnde Cowboys... bei einer Wahlkundgebung von Gouverneur Wallace macht er Old Glory mit seiner Zitrone zur Schnecke...‹6

Die nächste Steigerung - diesmal attackiert der Saure Kid die schwüle Erotik mancher Tierfilme - besteht in der Zurschaustellung von Sexualität, und zwar auf eine Weise, die für eine puritanische Gesellschaft schockierend sein muss:

›Er geht auf alle viere herunter, bleckt grinsend die Zähne und ejakuliert. Reißzähne brechen aus seinem blutenden Gaumen. Kiefer, Mund und Nase schieben sich vor und werden zu einer Schnauze, rotes Fell sprießt ihm am Rücken herunter und endet in einem buschigen roten Schweif, der seine schmalen, sehnigen Lenden peitscht, seine Eier ziehen sich zusammen, der Saft schießt ihm in langen Spritzern aus seinem roten wölfischen Phallus, ein Zittern durchläuft seinen Körper, sein Atem dringt keuchend durch die gebleckten Zähne, seine Augen leuchten auf in einem knalligen Zitronengelb, ein beißender Geruch entströmt seinem dampfenden Fell, ein Gestank nach verschmortem Zelluloid und animalischen Ausdünstungen. Mit einem Satz springt er aus einem unsichtbaren Fenster und verschwindet in einer Sommernacht um 1920. Aus weiter Feme hört man den klagenden Pfiff einer Lokomotive.‹7

Zurück zu den ersten Schreibversuchen des Vierzehn-, Fünfzehnjährigen.

Nach der wölfischen Autobiographie, und tatsächlich ist er ja ein lonesome wolf, sind es aktionsreiche Western, die alle schon jene faktische Direktheit haben, für die Burroughs’ spätere literarische Werke berüchtigt sind.

Offenbar werden hier Lüste ausgelebt, die sich einzugestehen dem Schreibenden sonst verboten ist.

Billy liest seine Geschichten in der Schule vor. Er spielt sogar mit dem Gedanken, sie an ein Magazin mit dem Titel True Confessions zu schicken.

Häufig kommt in diesen Texten der die reale Welt aus den Angeln hebende Einfluss von Rauschgift vor, und immer spielen sie in exotischen Milieus.

In der neueren Psychiatrie ist die These aufgestellt worden, dass die Affinität zu Drogen einen Überschuss an Phantasie bei der betreffenden Person zur Voraussetzung habe. So entstände eine Enttäuschung über die reale Welt. Aus ihr wiederum ergäbe sich ein stark ausgeprägtes Verlangen nach Phantastischem, das nur unter dem Einfluss der Droge seine Erfüllung findet.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, wie Burroughs sich als Jugendlicher den Beruf eines Autors vorgestellt hat: (Schriftsteller waren reich und berühmt. Sie machten sich ein bequemes Leben in Singapur und Rangun, trugen gelbe Seidenanzüge und rauchten Opium. Sie schnupften Kokain in Mayfair, erkundeten gefährliche Sumpfgebiete in Begleitung eines treu ergebenen Eingeborenenjungen und wohnten in der Kasbah von Tanger, wo sie Haschisch rauchten und lässig eine zahme Gazelle streichelten.‹8

Bezeichnenderweise ist es ein Aufsatz mit dem Titel ›Persönlicher Magnetismus‹, der als erstes Stück Prosa aus der Feder des Vierzehnjährigen in der Schulzeitung erscheint.

Tatsächlich werden die für seine Psyche bezeichnenden Obsessionen und ihre literarische Verarbeitung schon in seiner Pubertät erkennbar.

›Ist es mir nun gelungen, andere mit nichts als einem Blick zu kontrollieren? Oh, gewiss doch, aber ich hatte nicht den Mut, es auch wirklich zu tun. Aber hier will ich erklären, wie man es macht: Man muss dem Opfer geradewegs in die Augen schauen, und mit tiefer, ernster Stimme sagen: ›Ich rede, und du hast zuzuhören‹, dann muss man den Blick noch intensivieren: ›Du kannst mir nicht entkommen.‹ Nachdem ich mein Opfer völlig unterworfen hatte, hätte ich sagen sollen: ›Du kannst mir nicht entkommen. Hebe dich hinweg von mir, Satan.‹ Man stelle sich vor, ich hätte das mit Mr. Baker gemacht.‹9

Auch der besondere Burroughssche Humor - Ungeheuerliches mit gleichgültigem Gesicht von sich zu geben - deutet sich hier schon an.

Skandalöse Bücher zu schreiben und ihre Veröffentlichung zu erzwingen, ist schließlich auch eine Möglichkeit, sich über andere Gewalt zu verschaffen.

1929 ist das letzte Jahr, das Billy in St. Louis verbringt. Er leidet häufig unter Trigeminusschmerzen und Asthmaanfällen, die durch einen Aufenthalt in einem trockenen und warmen Klima ausgeheilt werden sollen. Deswegen hat die Mutter ihn für die letzten beiden Jahre der High-School am Ranch School College eines gewissen Pond Ashley bei Los Alamos in New Mexico angemeldet. Er hat dort schon an einem Ferienlager teilgenommen.

Die Schule, auf die Billy da geschickt wird, samt dem Mann, der sie betreibt, muten an wie satirische Erfindungen eines Romanautors, der sich vorgenommen hat, den kapitalistisch-imperialistischen Zeitgeist in den USA der dreißiger Jahre zu geißeln.

Ponds Erziehungskonzept war simpel, imponierte aber den Superreichen im Land ganz ungemein. In seiner Schule sollten aus Muttersöhnchen harte Männer werden. Nicht Buchwissen wollte diese Anstalt vermitteln, sondern ihre Schüler auf den Lebenskampf im Ellbogenkapitalismus vorbereiten. Das Überlebenstraining inmitten einer nahezu unberührten Natur würde die Heranwachsenden fit machen für die Schlammschlachten in Wirtschaft und Politik. Die Schule gab sich ganz bewusst antiintellektuell, propagierte, einem falsch verstandenen Darwinismus folgend, das Recht der Stärksten.

Als Schuldirektor stellte Ashley Pond 1917 den Iren A.J. Connell ein, der zuvor Ranger im Santa Fe National Forest und Master der Santa Fe National Boy Scouts gewesen war.

Connell gab sich gern den Anschein eines harten Mannes.

›Selbstverständlich gibt es so etwas wie menschenfressende Haie nicht. Was aber die Krokodile betrifft, so verspeisen sie höchstens mal ab und an ein zartes Niggerbüblein, sagen wir so an die zwanzigtausend im Jahr.‹10

Sein Zimmer in der Ranch School glich dem Salon einer Madame in einem Bordell. Parfümwolken zogen zwischen Seidentapeten umher. Ständig brannten Räucherstäbchen, und aus dem Grammophon erklang der Bolero von Ravel.

Billy Burroughs kommt die Schule von Anfang an wie ein Gefängnis vor. Das einzige, was ihm dort gefällt, ist, dass es einen Schießplatz gibt. Er wird ein guter Schütze und verbringt Stunden damit, mit Wurfmessern auf Pfosten und Baumstämme zu zielen.

Im März 1930 kommt ihn die Mutter besuchen. Sie nimmt ihn und seinen Klassenkameraden, Rogers Scudder, mit nach Santa Fe, wo die Jungen allein umher spazieren. Billy geht in einen Drugstore und verlangt Chlorhydrat. Der Apotheker fragt, wozu er die Chemikalie brauche. Billy antwortet mit Grabesstimme: Um Selbstmord zu begehen. Der Apotheker nimmt an, der Junge mache einen Witz. Er händigt ihm ein Fläschchen Chlorhydrat aus. Einige Tage später nimmt Billy eine Dosis ein, die zu seinem Tod hätte führen können. Dem Schulpersonal fällt auf, dass er plötzlich taumelt. Man pumpt ihm den Magen aus. Er wird gerettet.

Als der Direktor erfährt, dass Scudder von dem Kauf des Giftes gewusst hat, bestellt er ihn zu sich und schimpft ihn aus:

›Verdammt, du hattest kein Recht, uns davon nichts zu sagen... du hättest wissen müssen, dass er etwas Verrücktes vorhat. Alles kommt nur daher, dass dem Jungen von seiner Mutter eingeredet wird, er sei ein Genie. Dabei ist er auch nur ein Menschenaffe.‹

In einem Brief an Billys Vater drückt Connell die Überzeugung aus, Billy werde dergleichen nie wieder tun.

Der Erzfeind des Jungen unter den Lehrern ist ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg namens Henry Bosworth, der Mathematik und Boxen unterrichtet.

Billy mag nicht boxen. Bosworth hält ihn für einen Drückeberger.

Billy liest in seinem Zimmer die spielkartengroßen Ausgaben der Blue Books, eine Reihe, in der französische Freigeister wie Anatole France und Guy de Maupassant erscheinen.

Die Bücher werden konfisziert. Lesen gilt in Los Alamos als dekadent und weibisch.

Auf einem Radausflug fahren die Jungen unvermutet in ein Wespennest. Billy wird viermal gestochen. Obwohl Bosworth einen Erste-Hilfe-Kasten bei sich hat, denkt er nicht daran, ihn zu verarzten.

Billys Rache besteht darin, dass er eine einen Pariser Boy-Scout darstellende, lebensgroße Puppe, die gewöhnlich am Eingang des Schulgebäudes steht, im Speisesaal über dem Kamin aufhängt... mit einem Schild um den Hals: Bozzy-bitch. Gott verdamme ihn.11

Natürlich sickert durch, wer der Übeltäter ist. Ein dritter Zwischenfall ereignet sich in Santa Fe. Ab und zu verbringen dort Gruppen von Schülern mit einem Lehrer ein Wochenende im berühmten La Fonda Hotel.

An einem Samstagabend verlässt Bill heimlich sein Zimmer. Er schleicht sich in die Stadt, um Schnaps zu besorgen.

Er trifft auf der Straße auf eine Mexikanerin, die behauptet, ihm Alkohol verkaufen zu können.

Die Frau und der Junge erregen die Aufmerksamkeit eines Polizisten, der sie anhält und kontrolliert. Der Ordnungshüter will Burroughs’ Ausweis sehen. Den hat Billy nicht bei sich, also wird er wegen Landstreicherei festgenommen und verbringt die Nacht auf der Polizeiwache, während der die Gruppe der Schüler begleitende Lehrer in Santa Fe überall nach ihm sucht.

Erst am Morgen gelingt es Billy, der Polizei klarzumachen, dass er ein Schüler aus Los Alamos ist.

Billy verliebt sich in einen seiner Mitschüler, Danny Franklin. Ein paarmal treiben sie es unter den Laken beim Licht einer Taschenlampe miteinander. Dann findet Danny keinen Spaß mehr daran, oder sein Gewissen regt sich. Jedenfalls will er plötzlich nicht mehr mitspielen. Was Billy weit mehr kränkt: Danny spricht nicht mehr mit ihm... verspottet ihn sogar vor den anderen Jungen.

Dem Direktor bleibt nicht verborgen, dass etwas mit seinem Schüler nicht in Ordnung ist. Um was es sich genau handelt, darüber tappt er angeblich völlig im dunkeln, will es vielleicht auch gar nicht wissen.

Für Juni steht die Schlussprüfung an.

Am 9. April kommt Mrs. Burroughs aus St. Louis herüber.

Billy erklärt ihr, er könne unmöglich länger auf der Schule bleiben, wolle mit ihr heimkommen.

Nach langem Zögern gesteht er ihr den wahren Grund.

Sie ist entsetzt.

Homosexualität ist in den Augen der Gesellschaftsschicht, aus der sie stammt, ein Laster, das man nicht einmal beim Namen nennen darf. Überstürzt reisen Mutter und Sohn ab. Ein Fußleiden Billys dient als Vorwand.

Ein Nervenarzt, an den sich die Mutter in St. Louis wendet, verweist auf die alten Griechen, bei denen das angebliche Laster weit verbreitet war, und versichert Laura, ihr Sohn befinde sich in einer Übergangsphase; die Sache werde sich mit der Zeit auswachsen.

Als Billy seine Sachen aus der Schule nachgeschickt werden, findet er darunter seine Tagebücher. Er liest nach, was er geschrieben hat, und ist entsetzt und beschämt bei der Vorstellung, seine Klassenkameraden könnten es gelesen haben. Er verbrennt die Hefte. Ekel gegenüber allem Geschriebenen überkommt ihn. Es wird neun Jahre dauern, bis er sich dazu durchringt, wieder etwas zu schreiben.

Für Burroughs wird die Tatsache, dass er an jenem Ort zur Schule gegangen ist, an dem später die furchtbarste aller Massenvernichtungswaffen entwickelt wird, seit deren Einsatz in Nagasaki und Hiroshima von metaphorischer Bedeutung sein. Für ihn ist die Entwicklung der Atombombe eine Art moderner faustischer Pakt, in dem Amerika seine Seele an das (teuflische) Prinzip der Macht verkauft und seine Unschuld verloren hat.

Das Amerika der Ära vor der Bombe wird in seinem Bewusstsein nostalgisch verklärt. Vor der Bombe war sein Amerika ein sicherer und beschützter Ort, ein Land, das seine eigenen Wege ging, seine eigenen Träume verfolgte. Wozu Amerika danach wurde, davon ist in seinen Schriften und in seinen Äußerungen immer wieder die Rede. In einem Restaurant in New York wird er einmal gefragt, was er bestellen wolle. Seine Antwort: ›Einen Barsch aus dem Lake Huron, gefangen im Jahr 1920.‹12

Ein Jahr auf einer Tutoring-Schule gibt Billy trotz der nicht abgeschlossenen High-School die Möglichkeit, sich im September 1932 in Harvard zu immatrikulieren.

Im November dieses Jahres wird Franklin Delano Roosevelt zum ersten Malzum Präsidenten der USA gewählt. Sein vielleicht aussichtsreichster Rivale, der Populist Huey Long aus Louisiana, ist kurz zuvor einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Mit Roosevelts Amtszeit und seinem New-Deal-Programm enden für die USA die Jahre der Depression. Es geht langsam wieder aufwärts.

Burroughs hört in Harvard zunächst Literatur, Linguistik und Anthropologie.

Er belegt Vorlesungen über Chaucer und Shakespeare. Letzteres bei George Lyman Kittredge, einem amüsanten Mann, der, ohne den Doktorgrad zu haben, an der Universität lehrt.

Kittredge hat die Angewohnheit, vor seinen Studenten lange Passagen aus Shakespeares Stücken zu rezitieren, die sich Burroughs, der ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis besitzt, für immer einprägen. Er hört T. S. Eliot mit einer kritischen Vorlesung über die Romantiker. Im übrigen verläuft sein Studentenleben nach dem Motto: ›Sofern Harvard sich mir gegenüber anständig verhält, gedenke ich mich gegenüber Harvard ebenfalls anständig zu verhalten.‹13

Freilich geht das immer noch Hand in Hand mit ziemlich exzentrischen Vorlieben. So hält er sich beispielsweise, dazu angeregt durch eine Kurzgeschichte von Saki, in der ein zehnjähriger Junge ein solches Tier abrichtet, um seine ungeliebte Gouvernante zu beißen, in seiner Studentenbude ein Frettchen, über das die Putzfrau oder der Hausmeister erschrecken, wenn es plötzlich aus einer Ritze der Sofabezüge auftaucht.

Eine gefährlichere Situation beschwört Bills Vorliebe für Schusswaffen herauf. Obwohl es gegen die Hausordnung verstößt, bewahrt er in seinem Schreibtisch einen 32er Revolver auf. Eines Tages sind einige Freunde und Bekannte bei ihm. Die jungen Männer albern herum. Billy zieht seine Waffe; er ist völlig sicher, dass sie nicht geladen ist. Er legt auf einen seiner Freunde an, der macht eine Art Ausfallbewegung. Billy drückt ab, ein Schuss löst sich und schlägt in die Wand. Erst jetzt erinnert sich Burroughs, dass er die Waffe noch in St. Louis geladen hatte, als er meinte, in der Nacht im Haus einen Einbrecher herumschleichen zu hören.

Burroughs ist noch während seiner Studentenzeit von erstaunlicher sexueller Naivität. Er hat bis dahin weder mit einer Frau noch mit einem Mann sexuell verkehrt, abgesehen von den Spielereien mit dem von ihm bewunderten Mitschüler in Los Alamos. Er hat eine geradezu ammenmärchenhafte Vorstellung vom Geburtsvorgang: Bis ihn seine Freunde an der Universität aufklären, ist er fest davon überzeugt, Kinder kämen durch den Nabel der Mutter zur Welt.

Da er sich nicht getraut, Kontakte zu anderen Homosexuellen aufzunehmen, besucht er, als er während der Ferien nach St. Louis kommt, dort ein Bordell, dessen Kuppelmutter ihn an Salt Chunk Mary erinnert. Er lässt sich immer von dem gleichen Mädchen bedienen, muss gewöhnlich auf sie in einem kleinen Raum warten, um nicht auf der Treppe ehrbaren Bürgern der Stadt zu begegnen, die ebenfalls hier verkehren.

Zu Beginn des Semesters wieder in Harvard, wagt er nun endlich, eine sexuelle Beziehung einzugehen, die seinen tatsächlichen Neigungen entspricht, und bezahlt teuer dafür. Er holt sich die Syphilis, deren Symptome erst nach einer gewissen Zeit sichtbar werden.

Im Juni 1936 legt Burroughs in Harvard sein Abschlussexamen ab, dass er damit in die gesellschaftliche Elite des Landes aufgenommen ist, bedeutet ihm wenig.

Die Belohnung der Eltern für den graduierten Sohn besteht darin, ihm eine Reise nach Europa zu spendieren, die er zusammen mit einem Freund, Bob Miller, antritt. Sie fahren zunächst nach Paris, dann nach Wien. Sie erleben ein Österreich, in dem schon die Braunhemden marschieren. Sie bewundern die schönen jungen Männer, die sich in den Strandbädern an der Donau tummeln, und reisen dann nach Budapest weiter, wo sie in dem Hotel König von Ungarn landen, in einem Haus, in dem Frauen unerwünscht sind.

Von Wien fahren die Freunde nach Dubrovnik und machen dort die Bekanntschaft einer fünfunddreißigjährigen Frau, die burschikos-männlich auftritt, aber auch erfreulich unkonventionell ist. Sie heißt Ilse Hertzfeld, stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie und war mit einem Arzt namens Klapper verheiratet. Das Aufführungsverbot für die Musik Mendelssohns war für sie Warnzeichen genug gewesen, um 1934 aus Deutschland fortzugehen. In Dubrovnik hat sie sich von Dr. Klapper scheiden lassen, der hier ohne entsprechende Niederlassungserlaubnis weiter praktiziert. Ilse bringt sich mit Englischstunden und als Fremdenführerin durch. Die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern und ihr beruht auf gemeinsamen intellektuellen Interessen und ihrer aller Abneigung gegen gesellschaftliche Konventionen.

Bill hat sich plötzlich entschlossen, Medizin zu studieren. Für ein Studium in den USA fehlt ihm dazu der Schein des Vorkurses. In Wien bestehen derartige Auflagen nicht. Seine Eltern schicken ihm monatlich 200 Dollar. Damit kann er bei dem günstigen Wechselkurs der amerikanischen Währung in Europa ohne Schwierigkeiten auskommen. Zu schaffen macht ihm immer noch seine Syphilis, die er weiter behandeln lassen muss. Er besucht in Wien medizinische Vorlesungen. Sein schlechter Gesundheitszustand und das von faschistischen Gewaltakten verdüsterte gesellschaftliche Klima Österreichs deprimieren ihn. Mit lautstarken Demonstrationen und Bombenanschlägen versuchen die Nazis den Anschluss des Landes ans Reich vorzubereiten.

Im Frühjahr 1937 muss Burroughs sich einer Blinddarmoperation unterziehen. Um sich zu erholen, fährt er wieder nach Dubrovnik. Er sieht Ilse wieder. Sie ist in Panik. Ihr Visum für Jugoslawien läuft ab. Da sie Jüdin ist, wird es nicht erneuert werden. Die Kriegsgefahr in Europa wächst. Sie macht sich keine Illusionen darüber, was ihr blühen wird, wenn die Deutschen das Land besetzen.

Bill und Ilse einigen sich auf eine Scheinehe, die für beide Teile ihre Vorteile haben könnte. Ilse wird durch die Heirat amerikanische Staatsbürgerin, ihn wird die Tatsache, dass er verheiratet ist, vor möglichen Schwierigkeiten als Homosexueller schützen. Gewiss belustigt ihn auch die Vorstellung, auf diese Weise eine bürgerliche Institution wie die Ehe zu persiflieren. Seine Eltern sind bestürzt, als sie davon hören, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn eine Fünfunddreißigjährige heiraten will. Aber Bill beharrt auf der Heirat. Er reist mit Ilse nach Athen. Die bürgerliche Trauung vollzieht der amerikanische Konsul, kirchlich getraut werden sie von einem griechisch-orthodoxen Priester. Der erste Pope, bei dem sie vorsprechen, hatte sich geweigert. Der zweite, der ihnen dann schließlich doch noch den kirchlichen Segen gibt, ist mit zehn Dollar bestochen worden.

Noch liegen die nötigen Papiere für die Einreise der Ehefrau in die USA nicht vor. Ilse kehrt also vorerst nach Dubrovnik zurück, und Billy eilt heim, um seine Eltern zu beruhigen.

Den Plan eines Medizinstudiums in Wien hat er unterdessen aufgegeben. Wegen des zunehmenden Drucks der Nazis auf Österreich sieht er für sich Schwierigkeiten voraus, denen er sich nicht aussetzen will.

Er erfährt, dass sein Freund Keils, von seiner Frau geschieden, allein in einem kleinen Haus in Harvard lebt. Er beschließt, zu ihm zu ziehen und eine Universitätskarriere in Ethnologie anzustreben. Bald jedoch wird ihm klar, dass er dem akademischen Klüngel und den Intrigen an einer Universität nicht gewachsen ist.

Das offenbar glückliche Zusammenleben mit Keils bringt ihn wieder dazu zu schreiben. Die beiden verfassen eine groteske Geschichte über den Untergang der Titanic, einen Text, der in seiner Mischung von Slapstick, Surrealismus und schwarzem Humor Burroughs’ spätere Sichtweise der Welt als eines absurden Comic vorwegnimmt. Die beiden jungen Männer schicken den Text an Esquire. Die Redaktion lehnt ihn mit der Begründung ab: ›Zu verdreht, aber dann auch wiederum nicht wirksam genug für uns.‹14

Diesmal sollten sechs Jahre vergehen, ehe sich Burroughs abermals daranmacht, etwas zu schreiben.

Die nächsten Jahre in seinem Leben gleichen dem Zickzackkurs eines Schiffes, das von niemandem gesteuert wird.

Wir erleben einen Mann, der sich dem Entree ins bürgerliche Leben verweigert, aber auch nicht recht weiß, was er sonst mit sich anfangen soll.

So macht er Erfahrungen mal hier und mal dort, und wie unterschiedlich und ungewöhnlich, ja lächerlich sie im einzelnen auch sein mögen: sie geben ihm Selbstvertrauen und verhelfen ihm zu einer unkonventionellen Art von Lebensweisheit. Den American way of life wird er von nun an nur noch zynisch-sarkastisch sehen und kommentieren.

Burroughs entwickelt einen schwarzen Humor, der ihn zusammen mit seiner anarchistisch-kriminellen Energie und seiner formalen Experimentierfreudigkeit als Chronisten des außer Kontrolle geratenen Bösen, der Suchtverfallenheit und des Autoritären geradezu prädestiniert. Er beginnt zu dieser Zeit mit seinen observer notes, Aufzeichnungen über bestimmte soziale Milieus und die zugehörigen Menschen, ein Einfall, der ihm wahrscheinlich durch seine anthropologischen und völkerkundlichen Studien nahegelegt worden ist.

Er muss dafür sorgen, dass Ilse Klapper in die USA einreisen kann. Er wird von der Einwanderungsbehörde scharf befragt, ob die Ehe vielleicht nur eingegangen worden sei, um Ilse die Einreise zu ermöglichen. Mit todernstem Gesicht erklärt er, er liebe seine Frau und wolle mit ihr leben.

In Amerika im Frühjahr 1939 eingetroffen, wird Ilse die Sekretärin des aus Nazideutschland emigrierten Schriftstellers Ernst Toller, der in den zurückliegenden Monaten versucht hat, eine humanitäre Hilfsaktion für die zivilen Opfer des spanischen Bürgerkriegs ins Leben zu rufen. Da bricht nach einer erneuten nationalspanischen Offensive die spanische Republik endgültig zusammen. Bei seiner selbstgestellten Aufgabe gescheitert, von den Nazis verfolgt, von seiner jungen Frau verlassen und von der Vorstellung bedrängt, als Künstler in den Vereinigten Staaten in Vergessenheit zu geraten, begeht Toller Selbstmord.

Ilse findet ihn, als sie einmal verspätet vom Lunch ins Büro kommt, im Badezimmer. Er hat sich mit dem Gürtel seines Bademantels erhängt.

Die Erklärung, die Burroughs für das Ereignis gibt, von dem er durch Ilse erfährt, ist typisch für seine Sichtweise der Wirklichkeit. Er erzählt ihr, dass Ratten zweierlei nicht ertragen könnten, nämlich ins Wasser geworfen oder ihrer Schnauzhaare beraubt zu werden. Toller sei beides widerfahren.

Ilse findet eine neue Anstellung bei einem österreichischen Schauspieler. Seinem Biographen erzählt Burroughs später: ›Sie hat nie einen Cent von mir verlangt.‹

In die zweite Hälfte des Jahres 1939 fällt Burroughs’ intensive Beschäftigung mit den Lehren Alfred Korzybskis.

Korzybski bezeichnet einen der Fixpunkte europäisch-abendländischen Denkens, nämlich das Entweder/Oder der aristotelischen Philosophie, als grundsätzlichen Irrtum, weil so zwischen der Realität und der Sprache eine Kluft entstehe. Korzybski sagt die politische Herrschaft der Naturwissenschaften und die Manipulation menschlicher Physis und Psyche durch sie voraus - Gedanken, die sich fiktional verarbeitet in Burroughs’ Romanen wiederfinden.

Zu dieser Zeit verliebt sich Burroughs in New York in einen schönen, aber intellektuell anspruchslosen jungen Mann namens Jack Anderson, der als Laufbursche arbeitet und als Sexualpartner von Frauen und Männern dazuverdient.

Burroughs, nun endgültig von seiner Syphilis geheilt, entwickelt für das windige Bürschchen, das ihn schlecht behandelt, eine wilde Leidenschaft. Er trennt sich mit dem Sägeblatt einer Geflügelschere ein Glied vom kleinen Finger der linken Hand ab. Er will damit Anderson, der ihn ständig mit anderen Männern und Frauen betrügt, die Intensität seiner Gefühle beweisen.

Daraufhin kommt er wieder zur Vernunft. Er geht zu seinem Psychiater und fordert den Mann dazu auf, das Stück Finger wieder anzunähen. Burroughs findet sich schließlich in der städtischen Irrenanstalt wieder, in der ihn eine Psychiaterin als schizophren-paranoiden Fall diagnostiziert.

Sein Vater muss nach New York kommen. Er veranlasst beim Direktor die Überweisung seines Sohnes in eine Privatklinik. Die Eltern, offensichtlich daran gewöhnt, in den ungewöhnlichsten Situationen einspringen zu müssen, holen ihren Sohn nach St. Louis und beschäftigen ihn als Fahrer und Boten in ihrem Gartenbaubetrieb.

Der Zweite Weltkrieg ist ausgebrochen. Amerika mobilisiert seine Streitkräfte. Bei der Marine wird Bill abgewiesen, weil er kurzsichtig ist und Plattfüße hat.

Burroughs bewirbt sich bei der Luftwaffe und wird angenommen. Er absolviert trotz seiner Kurzsichtigkeit hundert Flugstunden in einer Piper und legt seine Flugprüfung ab. Erst dann kommt man ihm auf die Schliche und mustert ihn aus.

Dann versucht er es bei einer Spionageabteilung der Armee. Er hat Pech. Einer der Ausbilder dort ist sein ehemaliger Hausmeister aus Harvard, der auf ihn nicht gut zu sprechen ist.

Nachdem es mit dem Dienst fürs Vaterland nicht geklappt hat, bringt der Vater Bill schließlich bei einem Bekannten unter, der in New York eine Werbeagentur betreibt. Burroughs lebt nun mit Anderson zusammen. Von Zeit zu Zeit muss er die Beschimpfungen von dessen ehemaligen Freundinnen über sich ergehen lassen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass ein Mann sie verdrängt hat.

Am 7. Dezember 1941 treten die USA in den Krieg ein. Anderson wird eingezogen. Auch Burroughs erhält 1942 einen Gestellungsbefehl. Der Gedanke, eventuell an die Front geschickt zu werden, versetzt ihn in Panik. Seine Mutter kennt einen Arzt, der Bill für wehruntauglich erklärt und ein entsprechendes Attest ausstellt. Im September 1942 geht Burroughs nach Chicago und lebt dort in einem Viertel, dessen Taschendiebe, Spieler und Gescheiterte aus dem Lieblingsbuch seiner Kindheit You Can‘t Win entsprungen zu sein scheinen.

Er beteiligt sich an den in diesem Viertel üblichen Würfelspielen. Als er damit nicht genügend Geld verdient, lässt er sich als Kammerjäger anwerben. Die zehn Unterschriften von Kunden, die er pro Tag in der Firma nachweisen muss, um in der Woche 50 Dollar ausgezahlt zu bekommen, beschafft er sich, indem er manchmal auch Leute unterschreiben lässt, bei denen er nicht tätig geworden ist. Er behält diesen Job acht Monate. Seine Spezialität ist die Vertilgung von Wanzen in Bettzeug. Er sieht in unzählige Wohnungen, lernt die merkwürdigsten Leute kennen und denkt an Tschechow, der einmal gesagt haben soll, er sei nur deswegen Arzt geworden, weil ihm die Hausbesuche Einblick in die verschiedensten Gruppen der Gesellschaft verschafften.

Im Herbst dieses Jahres tauchen zwei Freunde aus St. Louis bei ihm in Chicago auf: der siebzehnjährige Lucien Carr und der Lucien sklavisch ergebene David Kammerer.

Inzwischen brodeln in Burroughs wieder kriminelle Phantasien. Einmal entwickelt er Pläne zum Überfall eines Geldtransports. Ein andermal will er die Kasse eines türkischen Bades berauben, erfährt aber an dem für den Überfall vorgesehenen Tag gerade noch rechtzeitig, dass das Geld, auf das er es abgesehen hatte, schon fortgeschafft worden ist.

Carr unternimmt einen Selbstmordversuch, bei dem er den Kopf in die Backröhre eines Ofens steckt. Die Gründe für seine Tat bleiben undurchsichtig. Nachdem er in die psychiatrische Station eines Krankenhauses eingeliefert worden ist, erscheint seine Mutter in Chicago. Um ihren Sohn von seinen windigen Bekannten loszueisen, überredet sie ihn, sich für das nächste Semester an der Columbia University in New York einschreiben zu lassen.

Aber dort stecken die drei bald wieder zusammen. Sie wohnen nicht weit voneinander entfernt im Village.

Bald ist Burroughs so etwas wie der literarische Guru einer Gruppe junger Männer und Frauen, die sich bei ihm psychologischen Rat holen und von seiner Belesenheit profitieren. Unter der Bedingung, dass er seine psychiatrische Behandlung nicht vernachlässigt, überweisen ihm seine Eltern immer noch jeden Monat 200 Dollar. Manchmal arbeitet er, um etwas dazuzuverdienen, als Barkeeper in einem der zwielichtigen Restaurants am Times Square, in denen Prostituierte, Dealer, Einbrecher und deren Hehler verkehren.

Immer noch übt das kriminelle Milieu eine starke Anziehungskraft auf ihn aus: Er würde gern reisen, aber dafür reichen seine Geldmittel nicht hin.

Bei einem Treffen mit Lucien Carr überlegt er laut, ob er nicht vielleicht zur Handelsmarine gehen solle.

Carr kennt einen jungen Mann, der zur See gefahren ist. Er heißt Jack Kerouac. Burroughs und Kerouac treffen sich. Gleich bei ihrer, ersten Begegnung erfährt Burroughs, dass Kerouac schreibt, und empfiehlt ihm, Spenglers Untergang des Abendlandes zu lesen.

Allen Ginsberg; William Burroughs, Jack Kerouac - etwas später wird noch Neal Cassady zu der Gruppe stoßen -, die Autoren, die man einmal die Beat generation nennen wird, sind an dem ersten Schnittpunkt ihrer Schicksale, in Manhattan, versammelt. Wer die Geschichten ihrer Herkunft und ihrer Kindheit in der großen amerikanischen Wüste, wer die Erfahrungen kennt, die sie bis dahin in ihrer Jugend gemacht haben, ahnt, welch sozialer und psychologischer Sprengstoff sich mit und in dieser Gruppe zusammengebraut hat. Die Lunte brennt... beat: das heißt geschlagen, am Boden liegend, spielt aber gleichzeitig auf das englische Wort beatitude an, was mit Glückseligkeit zu übersetzen wäre. In einer Gesellschaft, deren Gründerväter den Anspruch erhoben, jeder Bürger sei mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter das Anrecht auf Glück, versuchen sie, wider den Strich von Konformität und Normen lebend, mit dieser Forderung auf eine neue radikale Art und Weise ernst zu machen. Sie definieren neu, was Glück ist in Amerika:

Und sie reden und erzählen von diesem ihrem Glück in Gedichten, Manifesten, Romanen und Erzählungen, die die etablierten Literaten und Literaturwissenschaftler nicht weniger irritieren als den auf Gesetz und Ordnung pochenden Spießbürger, den square.

Zu ihrem Wortführer wird in diesen Jahren ein junger Mann, der schon von seiner äußeren Erscheinung her, erst recht aber durch seine Lebendigkeit, sein Bedürfnis nach Mobilität und seine leidenschaftlich und risikoreich praktizierte Sinnsuche auf sich aufmerksam macht! Sein Name ist Jack Kerouac.

On the Road

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