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„Es gibt nicht sieben Sünden“

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Von Anja Schneider

Er ist schnell. Er ist immer vor dir da. Von ihm geht ein Gebot aus: In eine Probe schlurft man nicht hinein, in eine Probe geht man konzentriert. In der Art der Bergwanderer: Spring ins Geröll oder meide es! Von Beginn unserer Bekanntschaft an hat mich Armins Disziplin angezogen. Sie ist Wertschätzung von Zeit und Arbeit. Sich erst mal absprechen, sich langsam eindrehen in die Probe? Nein, es geht sofort los! Befindlichkeiten austauschen, das lähmt nur. Man kann sich rantasten, klar, aber der Tastsinn muss immer auf Inhalt zielen. Es kann laut zugehen oder ganz leise, Hauptsache, alles läuft darauf hinaus, dass ein Erlebnis stattfindet. Er pusht – aber es ist das Gegenteil von Zusammenstauchen. Da ist nichts zu verwechseln. Er kann einfach nicht ertragen, dass nichts stattfindet. Alles muss aufs Erlebnis zulaufen, alle laufen aufs Erlebnis zu. Bewegung! Wenigstens einmal auf so einer Probe musst du ES kriegen, einmal heute musst du den Zipfel jener Decke packen, die wie ein Schutz überm Geheimnis der kommenden Aufführung liegt. Einmal einen Zipfel – mehr erwischen wir sowieso nicht. Nicht vom Leben, nicht vom Stück. Aber wenigstens ein einziges Mal das Gefühl: Wir packen’s, wir haben’s. Und dann ist ES da. Aber alles war nur Probe. Was wird morgen sein? Armin wird wieder vor dir da sein.

Wenn Armin probt, müssen die Türen zu sein. Kein Rein oder Raus. Störung ist Zerstörung. Zeit ist bemessen, Kraft ist bemessen, und wir Spieler sollten unsere Texte können. Nur so können wir schnell auf Situationen reagieren. Mir kommt das zugute. Gelernter Text macht mich frei, nicht fest. Mit gelerntem Text auf die Probe zu kommen, heißt: Ich bewege mich im Stoff und bin präpariert für Regie. Ich glaube, Armin mag Schauspieler nicht so sehr, die sich darbieten, als seien sie ein unbeschriebenes Blatt. Ich mag das auch nicht sein. Mich soll niemand bekritzeln, niemand zerknüllen, und Radierungen – wo nötig – nehm’ ich selber vor.

Er spielt als Regisseur nicht vor, er deutet nur an, Armin, verzeih: Das ist auch gut so. Probieren ist zwangsläufig auch: Wiederholung, er aber kann Wiederholung kaum aushalten; es fällt ihm schwer, Erarbeitetes mehrmals zu sehen. Er schmeißt Szenen raus, ja: Er killt, das kann man so hart sagen, er tut es sehr intuitiv – und scheinbar zufällig. Es ist aber überhaupt nichts zufällig. Er ist manisch misstrauisch gegen alles, was ihm zu lesbar anmutet, zu gefällig, zu gelungen – da wird von ihm das Schönste so zerkloppt, dass wir Schauspieler manchmal besänftigen und retten müssen. Er hat wohl Sehnsucht nach dem großen Gefühl; wer die hat, ist oft bockig gegen das große Gefühl. Zum Glück ist er anfällig für Vorschläge, die sich gegen ihn richten. Ich glaube, er ist hoch emotional und will sich dem nicht voll aussetzen. Das schafft eine Spannung, bei der er zulässt, sie nicht durchgehend zu beherrschen. Immer wieder staune ich, wie er gegen die Texte von Fritz Kater, also die eigenen Texte, vorgeht: radikal. Er inszeniert den Text, aber er inszeniert ihn manchmal auch ungerührt weg. Wir Schauspieler müssen den Autor mitunter in Schutz nehmen, so heftig und ungerührt geht Armin mit dem um, was doch schließlich für uns geschrieben wurde.

Wir lernten uns kennen, indem er mir in Leipzig Oscar Wildes Salome anbot. Es gab im Vorhinein kein gefürchtetes Vorsprechen. Wir unterhielten uns. Er stellte mir Fragen, die dritte Frage war die nach meinen Hobbys. Ich antwortete: „Ich fahre gern Fahrrad und stricke.“ Einfache Frage, einfache Antwort. Wir lachten, und damit war klar, wir würden einen gemeinsamen Ernst entwickeln können. Ich kam gerade vom Studium, Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, er sagte, ich solle erst mal vergessen, was ich da gelernt habe. Ich sagte, gut, und du vergisst deine Vorurteile gegen Schule.

Schon im ersten Berufsjahr so einen Regisseur zu haben! Ich hatte einen Bandscheibenschaden, der linke Fuß war vorerst gelähmt, er gab mir trotzdem die Rolle in seiner Bearbeitung „Alkestis mon amour“. Is’ mir egal, sagte er, und wenn sie im Rollstuhl sitzt! In diesem Stück fällt der Satz: „Es gibt nicht sieben Sünden, es gibt nur eine: den jetzt nicht zu begehren, den du begehrst!“ Das ist Armin Petras für mich: jetzt und nochmal jetzt! Und nur: jetzt! Die Verschwendung nicht aufsparen, Verschwendung ganz in dem, was du kannst.

Zu seiner Auffassung von Schnelligkeit gehört, dass er den Weg durch die Rolle gern mit alpinem Hochleistungs-Slalom vergleicht: Du rast da runter, es gilt nur eines, du musst durch die Stangen kommen, wie ein Blitz, darfst keine auslassen – was dazwischen passiert, ist deine Sache!

Mir ist aufgefallen, wie er Hospitanten behandelt: Spürt er ein Feuer, facht er es weiter an, er hat Freude an der Arbeitslust und Empfänglichkeit anderer Leute. Schöpfung geht bei ihm nicht ohne diese Konsequenz, die am Ende stehen muss: Erschöpfung. Als er ans Gorki Theater ging, sprach er nicht von Ära oder sowas, er sagte, so, wir haben jetzt für eine gewisse Zeit den Schlüssel. Du weißt bei ihm: Alles ist geliehen, jede Dauer, die du anstrebst, ist Frist, komm auf den Teppich, der kann, zeitweise, ein Zauberteppich sein. Wegen dieses Gefühls bin ich auch mit ihm nach Stuttgart gegangen, obwohl ich wusste, Familie, Kind – es würde mich zwischen Berlin und der Ferne aufreiben. Es ging auch nur eine Weile. Aber ich wurde froh in meinem Beruf, wesentlich durch Armin.

Auf die Gefahr hin, dass es pathetisch klingt: Er ist ein ehrlicher Arbeiter. So dahin tändeln und warten, bis uns die Muse küsst? Nein. Aber Fleißnoten werden bei ihm ebenso wenig vergeben. Meine Erfahrung und also Überzeugung als Schauspielerin: Den Unterschied beim Arbeiten machen die Energieströme, die fließen. Bei Armin fließt keine Schwafel-Energie, und an Krösus-Energie hat sich sein Theater nie erwärmt. Momentan ist er kein Schauspieldirektor, kein Intendant. Er hat eine neue Ruhe. Auch sie ist ein weites Land, nicht etwa Enge. Ich glaube, er sieht das auch so. Bei mir zu Hause liegt die Fassung einer neuen Roman-Bearbeitung von Armin. Ich freu mich auf die Arbeit, vielleicht ist sie ist greifbare Zukunft? Ein Werk von Tolstoi. Der Titel hat alles, was unser schönes Leben ausmacht, nach all den Scheinwerfern, die verlöschen, nach all den Vorhängen, die fallen: „Auferstehung“.

Anja Schneider, geboren in Altenburg, spielte am Schauspiel Leipzig, am Maxim Gorki Theater, an den Münchner Kammerspielen und am Schauspiel Stuttgart in wesentlichen Inszenierungen von Armin Petras. Seit 2016 ist sie Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin. Der Text entstand nach einem Gespräch mit Hans-Dieter Schütt im Juli 2020.


Anja Schneider und Peter Kurth in Baumeister Solness, Regie: Armin Petras, Maxim Gorki Theater Berlin 2006

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