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Sich aus allem nichts machen? Aus nichts alles machen!

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Von Hans-Dieter Schütt

TIM: ich dachte wir hätten das überwunden

YVES: nichts hat man für immer überwunden

Fritz Kater, „we are blood“

Wir sitzen an einem Frühabend in einer Berliner Kneipe, Nähe Tiergarten, gewissermaßen rauchiges Schultheiss-Niveau, auf den Tischen Aschenbecher, über einem der Tische hängt ein uralter klebriger Fliegenfänger mit vielen toten Geschichten. Die Gesichter hinter den Gläsern fassen die Lage zusammen: Schwer fiel es auch heute, zu den Regeln zu stehen, die tagsüber Gesetz sind; aber leicht wares, ihnen zu folgen. Im Radio schießt der 1. FC Union gerade ein Bundesliga-Tor, wer weiß, gegen wen, im Nebenraum spielen zwei Männer Schach, der eine sagt unvermittelt, aus welch unerfindlichem Grunde auch immer: „Barfuß oder Lackschuh.“ Pause. Der andere antwortet: „Ist doch scheißegal.“ Das Leben trägt Maske, aber noch keinen Mund-Nasen-Schutz.

Es sollte für den Regisseur eine Spielzeit u. a. in den Städten Cluj, Bremen, Prag werden, dazu Augsburg, Cottbus, Bonn, Budapest. Petras kam nur bis Augsburg. Dann ging alles Leben auf Abstand. Über die unerwartete Gesprächszeit, die der stetig Reisende nun haben würde, freute ich mich. Zu früh gefreut. Denn dieser Fahrensmann des Theaters ist auch Schreibender: Ergibt sich für ihn freie Zeit, wird sie sofort anderweitig – besetzt. Ein Wort, mit gutem Grund zu rücken in die Nähe von: besessen?

Der Mann mit der ewigen Mütze, 1964 geboren, ist einer der Triebigsten des deutschsprachigen Theaters. Der Regisseur Armin Petras ist der Dramatiker Fritz Kater ist der Regisseur Armin Petras, und keiner ist der andere. Eine seit Jahren praktizierte, zelebrierte Performance der beharrlich gespielten Persönlichkeitsspaltung. Ein Petras-Porträt in Frage und Antwort bedingt also, unbedingt auch Texten von Arminpetrasfritzkater, von Fritzkaterarminpetras Raum zu geben.

2001 hat er den Satz gesagt: „Wenn man öffentlich so sehr zerrissen wird wie ich, gehört für Theaterleiter und Spieler schon ein gewisser Mut dazu, mit mir zu arbeiten. Dafür bin ich jedes Mal dankbar.“ Dank ermüdet. Also wurde er selber Leiter – Oberspielleiter, dann Theaterleiter, am Maxim Gorki Theater Berlin, am Schauspiel Stuttgart.

Die Mentalität des Petras-Theaters ist schwärmerischer Einspruch. Gegen Ordnung, sie lügt. Gegen Übersicht, sie fälscht. Jeder Anfang ist Fortsetzung, jedes Ende kein Abschluss. Die Soap erbittet von der Tragödie ein paar schwere Tränen, das Drama erfährt vom Lustspiel, dass man Tränen auch lachen kann. Leben in diesem Theater: von einer Gefangenschaft in die nächste. Enge ist nicht Geographie, sondern ein Gen. Die Menschen zerschellen am eigenen Schädel, darin das Bewusstsein fiebert und friert.

Theater eines kindlichen Gemüts. Petras (etwa in „3 von 3 Millionen“) legt rote Papierstreifen über eine Hand, und die Hand blutet. Man klebt sich ein paar Papp-Tropfen an ein Kleid, und es regnet also in Strömen. Man malt ein Gesicht grün, und ein Mensch hat sich vergiftet. Man malt mit blauer Farbe ein Boot an eine Bretterwand, an der Wand steht ein Mensch mit ausgebreiteten Armen, und der Farbstrich, der über seine Unterarme geht, macht ihn zum Gefesselten an einem Schiffsmast. Styroporplatten sind Eis und Plattenbaubeton, Feuerzeuge sind Silvesterraketen, Zeitungsschnipsel fachen einen Schneesturm an („we are camera“).

Im Gedächtnis suche ich nach Inszenierungen von Petras, die ihn überzeugend erzählen. So viele. Wenigstens eine von den unzähligen: „Buch (5 Ingredientes de la vida)“ von Fritz Kater, in einer großen Halle, einer Nebenstelle der Münchner Kammerspiele, Bühne: Volker Hintermeier. 2015.

Ingredientes de la vida. Ingredienzen des Lebens. Eine ewige Fortpflanzung des immer Gleichen: Liebe und Tod sowie Instinkt und Sorge – Themen, um die alles kreist. Lebenskreis, Teufelskreis. Der Stoff, aus dem das Verstehen und das Missverstehen erwachsen, das Schlichtende und das Schlachtende – im Umgang miteinander, auf der Weltbühne, in der Wohnung.

Short Cuts zwischen 1966 und 2013. Dabei auch: Szenen aus dem Osten. Durch diese Szenen geistert ein alter Mann – Ernst, der ewige Genosse, einst Streiter für den „neuen Menschen“, nun zusammengesunken ins körperlich Erledigte. Einst geschichtstrunken, jetzt nur noch besoffen. Erst revolutionär, jetzt stationär. Verwitterung im Plattenbau.

Diesen Mann spielt – Ursula Werner. Im braunen Anzug eine bieder-traurige Abgeschabtheit. Das Frauenhaar straffgezogen; erst weit hinten, am Hals, darf es auslocken, sich lockern, sich ausloggen aus der Strenge – als sei es ein trotziges äußeres Zeichen jenes Ungestümen, das dieser Mensch aus den Kämpfen vielleicht noch, in Spuren, im Hinterkopf hat. Dieser gesottene Genosse, vom Jahrhundert verbraucht, von Arbeit gestaucht, von Erfahrung geschlaucht. Wie Becketts Krapp murmelt Genosse Ernst letzte Worte vor sich hin, die Luft eines Ventilators bewegt dazu herunterhängende Tonbänderfetzen, und die ergeben einen Ton, als rausche Regen. Das Petras-Theater ganz bei sich: Minimalismus – höchste Wirkung. Wenn dieser Ernst Blut hustet, greift die Werner in die Jackentasche, hält sich dann die Hand vor den Mund, öffnet sie, und ein Schwall roten Konfettis flimmert zu Boden. So, wie ein Spieler eine Plastetüte mit Wasser auskippt, und fertig ist der Badesee.

Für Petras ist die Bühne eine quirlige Spielbude. Er offenbart sich als ein Meister der Skizzenbilder, dem die Traurigkeit kostbare Schattenflecke auf Lichtungen der Clownerie zaubert. Wir Zuschauer stehen. Im weitem Rund der Halle. Wie Verlorene unter sternenlosem Himmel, im tiefdunklen Raum. Hören auf vier Leinwänden Wissenschaftler über eine Zukunft der planetaren Exile faseln, über den Menschen, dem in Zukunft mehr und mehr die Körperlichkeit entzogen werde. Fortschritt? Eine wahnwitzige Kalkulation aus gesteigerten Kältegraden, auf dass wir komfortabel erfrieren. An uns selber. Was alle Welt von morgen eiskühl zusammenhält, dem sind wir schneller auf der Spur als den Gründen, warum eine einzige Seele auseinanderreißt. Und deshalb zerreißt es auch immer wieder die Welt.

Wir Zuschauer sitzen, nach besagtem ersten Teil, nun auf Bänken. Eine der gewaltigsten, gewalttätigsten Episoden: Eine afrikanische Elefantenkuh (gespielt von Svenja Liesau) erzählt den Roman ihres Lebens, eine schwitzende, schwungwilde Hymne auf Ursprünge – Max Simonischek, Edmund Telgenkämper und vor allem Svenja Liesau werfen sich in einen explosiven Körperkampf; Lederjacken klatschen auf den Boden, als würde Elefantenhaut gepeitscht; ein exakt zügelloses Drunter und Drüber, ein nahezu dampfendes Auf- und Übereinander aus Sex und Chaos, eine schreiende Klage gegen den massakrierenden Menschen, der Hubschrauber wie Panzer schickt, der in diesen „Schraubenfliegern aus Eisen“ Leben und Refugien zerstört.

Den Schlusspunkt setzt die Episode „Sorge“. Ein Paar unter unerträglichem Druck: Der Säugling droht an einer Immunschwäche zu sterben. Der Vater weit weg, die Mutter am Krankenbett. Telefonate des Entsetzens. Tobende oder traurig sprachlose Ungespräche. Thomas Schmauser ist der hysterisch flatternde, brüllend unglückliche, tapsig ungeschickte Ehemann, der in seinen beruflichen Egoismen wie in einem Labyrinth umherirrt, und Anja Schneider, diese besondere Schauspielerin aus dem Grenzland von Schmiegsamkeit und Kühle, gibt eine einschneidend leidende Ehefrau. Der durchdringende Blick einer zutiefst Zeropferten; das beinahe bewegungslose Vibrieren einer gebeugten Mutter, der die Krankheit des Kindes gleichsam in den eigenen Körper wächst.

Ob Fritzi Haberlandt, ein Mädchenclown der Extraklasse, ob Peter Kurth, ein Zartkoloss erster Güte – nur zwei Weitere seien genannt für die Compagnien, die Petras landauf, landab, im „Nebendraußen“ (Peter Handke) des Mainstreams bildet, federnde Springinsfelde des tragikomischen, wunderlichen Funkelns. Petras witzelt, klettert, stürzt, labert, schweigt, lästert und würgt sich an Urtexten entlang. Hamlets Dänemark, in Kassel (Titelrolle Milan Peschel) war eine Hafenbar mit Würstchenstand. Pistolen ballern, keiner fällt um. Der Geist von Hamlets Vater klaut das Fahrrad von Laertes. Am Schlagzeug sitzt zum Schluss der skelettierte Tod. Des Prinzen Hauptsatz im tiefsten Theaterdunkel: Ich hab keine Idee. Der Satz ist Hamlets Gesicht und Schicksal. Der letzte Winkel, in die er sich verkriecht: die eigenen Mundwinkel. Wo der Rest, der hier nur rast, wirklich Schweigen sein darf. Utopie? Finaler Rettungsstuss.

Gern verbindet der Mensch das Datum seiner Geburt mit der leichtfertigen Behauptung, er sei zur Welt gekommen. Als dauere dies nicht lebenslang. Als stehe nicht fortwährend die Frage, wie man zur Welt und gleichzeitig zu sich selbst kommt. Durch die Welt hindurch? An ihr vorbei? Zur Welt zu kommen heißt, zur Vernunft kommen zu müssen – die dir irgendwann dein traurigstes Talent auf Erden klarmacht: zu kurz zu kommen. Die Wesen im Theater von Armin Petras stehen, wie gewurzelt, ohne Chance, zu entrinnen, oder aber sie rennen und rennen, sie offenbaren so das große Werk der Zeit, das uns von den Köpfen in die Füße sinkt: Wahre Tragödien haben Bodenhaftung. Der Mensch: Er soll sich aus allem nichts machen? Der spielende Mensch: Aus nichts kann er alles machen.

PETRAS

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