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Zum Geleit
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Der Siebzigjährige sehnte den Augenblick herbei,
da er leben könne, wie es ihm behagte.
Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen
Die hier vorliegenden Aufzeichnungen richten sich an diejenigen, deren Angst vor dem Leben und dem Tod so gross ist, dass sie sich in betäubende Süchte retten. Und die „so sick and tired of being so sick and tired“ sind, dass sie wirklich etwas ändern und ihrem Dasein eine neue Richtung geben wollen, jedoch mit den von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Hilfsangeboten – Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern (weiblich wie männlich) – wenig bis gar nichts anfangen können. Menschen also, die ähnlich ticken wie ich.
Ich schreibe hier von Dingen, die ich kenne, die ich erfahren und erlebt, durch die ich hindurch bin, die ich erlitten habe. Und die mir geholfen haben.
Sucht und andere psychische Störungen sind im Grunde nichts anderes als destruktive Antworten auf die Frage: Wie geht das eigentlich, das Leben? Dass Lebensverweigerung keine angemessene Antwort ist, das weiss ich. Und das weiss auch jeder Süchtige.
Um möglichen Missverständnissen gleich vorzubeugen: Das ist kein Buch über Sucht, das ist auch kein Buch über psychische Störungen, denn süchtig und krank sind wir so recht eigentlich alle, nur nicht im selben Ausmass. Und das meint: Hilfe brauchen wir alle. Treffend hat es der Psychiater Mark Vonnegut, der als Jugendlicher mit Schizophrenie diagnostiziert worden war, in einem Brief an seinen Vater, den Schriftsteller Kurt Vonnegut, das war 1985, auf den Punkt gebracht: „We are here to help each other get through this thing, whatever it is.“
Viele Süchte und andere seelische Leiden erledigen sich von selbst, denn das Grundprinzip allen Lebens ist das Streben nach Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts. Geist und Seele werden ihr Gleichgewicht finden, wenn sich unser Ego ihnen nicht in den Weg stellt.
In Sachen Therapie meint das: der Süchtige steht sich meist selbst im Wege. Und er hat Mühe, sich helfen zu lassen. Gegen diesen Widerstand, sich helfen zu lassen, hat ein Therapeut ohne eigene Suchterfahrung kaum eine Chance, da viele Süchtige Nicht-Süchtige als Helfer ablehnen, denn, so sagen sie, die wissen ja eh nicht, wovon sie reden. Ob diese Süchtigen damit recht haben oder nicht, spielt keine Rolle, es reicht, dass sie es glauben. Denn was sie glauben, bestimmt ihr Tun. Und auch ihr Nicht-Tun.
Das ist ein Buch darüber, dass Therapien oft eher Teil des Problems, als Teil der Lösung sind. Das heisst nicht, dass Therapien nichts nützen. Einerseits bringen sie den Therapeuten Arbeit und Verdienst und machen die Pharmaindustrie reich, andrerseits stabilisieren sie die Gesellschaft, indem sie es gelegentlich schaffen, Patienten wieder funktionstüchtig zu machen und dazu sehen, dass die, bei denen das nicht gelingt, in speziellen Einrichtungen betreut werden.
Wer in einem System, das der seelischen Gesundheit wenig zuträglich ist, nicht funktioniert, ist möglicherweise gesünder, als jemand, der darin floriert. Das meint nicht, dass die Insassen psychiatrischer Kliniken alle gesund sind, das meint, dass es mehr als eigenartig ist, diejenigen als gesund gelten zu lassen, die mithelfen, ein System aufrechtzuerhalten, das viele krank macht. „Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein“, schreibt Flore Vasseur in „Kriminelle Bande“. Und: „Absurder könnte es nicht sein: Die Zukunft ganzer Länder wird Leuten anvertraut, die auf den Begriff des Gemeinwohls am allergischsten reagieren.“
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Nicht die Droge, der Mensch ist das Problem. Der Mensch, der nicht mit sich selber und seiner Umwelt, also mit der Natur und seinen Mitmenschen, verbunden ist. Um eine solche Verbindung erleben zu können, muss er die Erfahrung machen, dass er nicht alleine auf der Welt ist, dass er nicht der einzige ist, der leidet, dass es auch für sogenannt hoffnungslose Fälle Hoffnung und die Möglichkeit zur Veränderung gibt.
Es sei eine ganz alte Vorstellung, dass Geschichten Leben retten können, habe ich den Krimiautor Friedrich Ani in einer Fernsehsendung sagen hören. Und genau davon handelt dieses Buch: von Geschichten, die mir durchs Leben geholfen haben. Da ich mich nicht (mehr) für eine Ausnahme halte, kann es gut sein, dass einige dieser Geschichten auch anderen helfen können. Um es mit Joan Didion zu sagen: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“
Im Alter von 17 las ich einige Bücher über Zen-Buddhismus. Daisetz Teitaro Suzukis „Die grosse Befreiung“, Eugen Herrigels „Zen und die Kunst des Bogenschiessens“, „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“ von Fromm, Suzuki und de Martino. Später dann die Bücher von Alan Watts und andere mehr; über Janwillem van de Weterings eineinhalb Jahre in einem Zen-Kloster in Kioto habe ich, als ich noch glaubte, Ethnologie zu studieren sei spannender als sich mit juristischen Fragen zu plagen, eine Seminararbeit geschrieben.
Inwiefern diese Lektüre ganz einfach Ausdruck pubertären Suchens war, geprägt vom Zeitgeist, vermag ich nicht zu sagen, doch Zen-Buddhistisches hat mich mein ganzes Leben begleitet. Als ich letzthin auf Bernard Glassmans „Anweisungen für den Koch. Lebensentwurf eines Zen-Meisters“ stiess, glaubte ich zu spüren, dass mir diese Gedanken wohl immer deswegen zu-fallen konnten, weil ich offen für sie war.
Wenn ich mich im Nachfolgenden gelegentlich auf Zen beziehe, aus der Weltliteratur, Krimis oder aus psychologischen und philosophischen Werken zitiere, tue ich das nach Lust und Laune und ohne Rücksicht auf Lehrmeinungen in den jeweiligen Gebieten. Dass ich dabei ausgiebig andere Autoren anführe, ist vorwiegend meiner Suchtpersönlichkeit und speziell meiner Büchersucht geschuldet, soll aber auch offenlegen, woher ich meine Ideen habe.
Ich zitiere, wie es mir gefällt. Zusammenhänge, die andere mir vorgeben, respektiere ich oft nicht, und manchmal doch. Ich ziehe es vor, mir meine eigenen zu schaffen. So wie es mir gerade passt. Bestärkt hat mich dabei Antonio Machados „No hay camino, se hace camino al andar“ („Es gibt keinen Weg. Der Weg entsteht beim Gehen.“)
Natürlich ist dies auch ein Buch über den Weg, den ich gegangen bin und gehe. Er ist alles andere als gradlinig und voller Widersprüche. Mein Denken ebenso. Und mein Fühlen sowieso. Genau wie das richtige Leben. Was den nachfolgenden Aufzeichnungen zugrunde liegt, so bilde ich mir ein, ist das ernsthafte Bemühen um Aufrichtigkeit. Das meint nicht etwa schrankenlose Offenheit, das meint vielmehr, dass ich hier die Version meiner Lebenseinsichten vorlege, mit der ich selber am besten leben kann.
Sich auf die Realität, auf das Hier und Jetzt, einzulassen, nur darum geht es. „Warte nicht, bis du erleuchtet bist“, postuliert Zen-Meister Glassman. Denn „the present is a present“.