Читать книгу Wie geht das eigentlich, das Leben? - Hans Durrer - Страница 5
Ob Therapien nützen, lässt sich nicht beweisen
Оглавление„We are all mad, Inspector, for the simple reason
that we don’t know why we exist and this …”
he waved his hand at the tissue of existence before him,
“this life is how we distract ourselves so that we don’t
have to think about things too difficult for us to comprehend.”
Robert Wilson: A Small Death in Lisbon
„Nützt eh nix" sagen viele, die Familienangehörige in Suchtkliniken oder beim Therapeuten wissen. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und da es Süchtige gibt, die nach einem Aufenthalt in einer Suchtklinik oder der Behandlung bei einer Therapeutin (es kann auch ein Mann sein) einige Zeit suchtfrei sind, nützt Therapie vielleicht ja eben doch.
Nur eben: wer weiss denn schon, ob Alkoholsüchtige nicht auch ohne Hilfe trocken geworden wären? So hören doch viele mit dem Saufen auf, weil sie in einen neuen Lebensabschnitt eintreten und/oder weil in einem bestimmten Moment die Sonne scheint oder es regnet oder weil der kleine Sohn (oder die kleine Tochter) fragte: „Papi/Mami, besäufst du dich wieder?“
Wir wissen nicht, was eine Sucht auslöst, wir wissen auch nicht, was eine Sucht beendet, doch wir wissen, dass einige es schaffen, von der Sucht loszukommen.
Gängige Therapieangebote verstehen Sucht als medizinisches, psychologisches und soziales Problem. Sie leiden nicht unter dem, was Sie sich vorstellen, sagt die Psychologin, der Psychiater oder die Sozialhelferin zum Alkoholiker, Sie leiden unter dem, was ich studiert habe.
Das heisst nicht, dass Therapien von Psychologen, Psychotherapeutinnen oder Psychiatern gar nichts bringen – sie können gut tun, sie können helfen. Nur eben: Psychologen, Psychotherapeutinnen oder Psychiater, die etwas von Sucht verstehen, tun dies nicht ihrer staatlich anerkannten Diplome wegen, sondern trotz dieser.
Suchtbehandlung von bei der Krankenkasse zugelassenen Therapeuten ist jedoch auch deswegen häufig nicht von Erfolg gekrönt, weil Süchtige (ob Alkoholiker oder Drogenabhängige) die gesellschaftlichen Werte, die die Therapeuten repräsentieren, ablehnen. Dazu kommt, dass ein Nicht-Alkoholiker in der Regel keinen Schimmer hat, wie ein Alkoholiker wirklich tickt, weil man das nicht studieren kann, sondern selber erlebt haben muss.
Aber Hallo! Die Forderung, man könne nur behandeln, was man auch selber durchgemacht hat, ist doch absurd, Veterinäre wären ja sonst alle arbeitslos und viele Tiere tot. Einverstanden, doch es gilt eben auch dies: „1976 streikten die Ärzte aller öffentlichen Krankenhäuser im Los Angeles County; die tägliche Sterberate sank um zwanzig Prozent.“ (James Frey in „Strahlend schöner Morgen“).
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Unter Therapie versteht man ein Heilverfahren, von dem verlangt wird, dass es mess- und beweisbar ist und methodisch vorgeht. Als ob es für seelische Leiden Rezepte geben würde; Listen, die man abarbeiten könnte.
Doch Therapien können funktionieren. Für die, die an sie glauben. Und da es ganz unterschiedliche Ansätze und Vorgehensweisen gibt, hat der Patient die Auswahl. Und der Therapeut ebenso. So hält etwa der Psychiater Hans-Joachim Maaz nichts „von einer vorgeblichen Neutralität des Therapeuten“, sondern betrachtet es „als seine Pflicht, die eigene Position gegenüber den Belangen des Patienten zu reflektieren“, wie er in „Hilfe! Psychotherapie. Wie sie funktioniert und was sie leistet“ schreibt. Kein Therapeut kann seine Erfahrungen, seine Lebenseinstellung, aus der Therapie heraushalten.
Doch was macht eigentlich ein Therapeut? Er exploriert, stellt Fragen, trifft mit dem Patienten Vereinbarungen, bestätigt, was bestätigt gehört, verbalisiert emotionale Erlebnisinhalte, konfrontiert, deutet, doch raten soll er nicht oder nur selten, meint Maaz, da es darauf ankomme, dass der Patient lerne, sich besser zu verstehen, und aus Erkenntnis und Einsicht zu seinen Entscheidungen finde. „Psychotherapie ist Lehre zur Selbstberatung.“ Das Problem dabei ist, dass wir alle nicht sehr gut darin sind, auf unseren eigenen Rat zu hören.
Psychotherapie wirke, sei wissenschaftlich gesichert, behauptet Maaz, doch bleibe ihre individuelle Anwendung eine Kunst und sei von ganz subjektiven Faktoren abhängig. Nun ja, es galt lange Zeit auch als wissenschaftlich gesichert, dass Homosexualität eine Krankheit sei – aus der International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde sie erst 1993 entfernt. Fakt ist: Für viele der seelischen Krankheiten, die Aufnahme in die DSM, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, der Bibel der Psychiatrie, finden, gibt es keine wissenschaftliche Grundlage.
Wissenschaft zeichnet sich durch Gesetze aus. Dabei handelt es sich, wie Siddhartha Mukherjee in „Gesetze der Medizin“ ausführt, um „Aussagen, deren Wahrheitsgehalt auf wiederholten experimentellen Beobachtungen einiger universeller oder verallgemeinerbarer Naturattribute gründet.“ Das ist in grossem Ausmass in der Physik der Fall, in kleinerem in der Chemie und in einem wesentlich kleinerem in der Biologie.
Laut Karl Heinz Brisch, dem Herausgeber von „Bindung und Sucht“, geht es in der Therapie um den Aufbau einer sicheren therapeutischen Bindung, die es ermöglichen soll, dem Klienten neue Möglichkeiten der Stressregulation zu vermitteln. Erst wenn in der Therapie neue, intensive, sichere Bindungserfahrungen zur Verfügung gestellt werden können (das kann dauern!), sei es möglich, das Suchtmittel zu entziehen. Ob der an Sofort-Lösungen gewöhnte Süchtige sich wirklich so lange gedulden kann?
Der Kunst der Gesprächsführung und dem erfolgreichen Umgang mit kleineren Fehlern oder Schnitzern, die eine Beziehung belasten können, werde nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, schreibt Arnold A. Lazarus im Vorwort zu „Was Therapeuten falsch machen“. Das erstaunt nicht wirklich, denn das Ziel akademischer Ausbildungen ist die Erlangung eines offiziell anerkannten Diploms und nicht die Befähigung zur Hilfeleistung bei realen Problemen.
Bernard Schwartz und John V. Flowers, die Autoren von „Was Therapeuten falsch machen“, betonen, dass Behandlungsentscheidungen auf den besten verfügbaren Forschungsergebnissen basieren sollten. Wer würde dem auch widersprechen wollen? Nur eben: Das die Wissenschaft prägende Kausalitätsprinzip ist auf das Unbewusste nicht anwendbar ist. Unbewusst heisst ja, dass wir nichts Sicheres darüber wissen. Im besten Fall können wir informiert und intelligent raten (was, zugegeben, zu ganz guten Ergebnissen führen kann), was sich da abspielen könnte. Doch dieses Unbewusste in ein System von Ursache und Wirkung zwingen zu wollen, sagt mehr über unsere Gewohnheit zu denken aus („Das Problem ist, dass wir allzu gern eine Lösung wünschen, die dem Ursache-Wirkung-Prinzip gefährlich gefällig ist …“, schreibt Kathrin Wessling in „Drüberleben“), als darüber, was in dieser terra incognita wirklich passiert.
„Was Therapeuten falsch machen“ listet mehr als fünfzig Fehler auf. Das beginnt mit „Sie ignorieren die Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen des Klienten“ und endet mit „Die Kraft menschlicher Resilienz unterschätzen.“ Bei nicht wenigen der aufgeführten Fehler staunt man über die offenbar geringe Selbstreflexion einiger Therapeuten. Und auch darüber, dass die Autoren es nötig finden, für vollkommen Selbstverständliches Studien anzuführen. „Daraus lässt sich schliessen, dass wir Therapeuten genauso talentiert in Sachen Verleugnung, Selbsttäuschung und Rationalisierung (je nach Denkschule) sind wie unsere Klienten.“ Ausser den Therapeuten hat sich darüber vermutlich niemand gewundert.
Nun gut, wir leben in Zeiten der Spezialisierung. Gesunder Menschenverstand ist da wenig gefragt, denn darauf lässt sich kein Fachgebiet aufbauen. Ausser natürlich, man versieht ihn mit einem möglichst gefragten Label wie zum Beispiel Therapie, denn so was lässt sich verkaufen. Am Ende ist alles eine Frage des Marketings, sagte mir einmal ein Finanzspezialist aus New York. Das ist nicht nur in der Finanzwelt so, das ist heutzutage so recht eigentlich überall so.
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Ob eine Alkoholtherapie nützt oder nicht, lässt sich nicht beweisen. Schon deswegen nicht, weil es keinen allgemeinen Konsens über die Natur, die Ursachen und die Behandlung des Alkoholismus gibt. Und was versteht man eigentlich unter Genesung? Ein Jahr Abstinenz, oder fünf Jahre, oder gar kontrolliertes Trinken?
Und überhaupt: Wie will man wissen, ob jemand aufgrund einer Therapie mit dem Saufen aufgehört hat? Die meisten Kliniken/Therapeuten verlangen von den Süchtigen Abstinenz, bevor sie mit der Behandlung beginnen.
Eine Therapie ist also erst dann möglich, wenn jemand mit dem Trinken aufgehört hat. Doch braucht so jemand überhaupt noch eine Therapie? Falls Abstinenz nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung für ein selbstverantwortliches Leben ist, dann ist Hilfe nötig, irgendeine Hilfe.
Mit dem Trinken aufzuhören, gelingt wenigen. Und die, denen es gelungen ist, können selber nicht sagen, wie es gelungen ist. Mein eigenes Aufhören erkläre ich mir heute so: Ich hatte einen Moment der Klarheit und aus Gründen, die ich nicht kenne, hatte ich den ergriffen, mich daran festgekrallt. Ob das wirklich so gewesen ist, weiss ich nicht.
Ich hatte zudem Glück: Das Bedürfnis zu saufen war weg. Und kehrte bis heute nicht zurück. Für mich ist das ein Wunder. Auch weil ich weiss, dass es anderen ganz anders geht. Und einige, auch nach Jahren der Abstinenz mehrmals pro Tag versucht sind, zur Flasche zu greifen.
Alkoholiker brauchen kein Expertenwissen, sie sind selber Experten; sie brauchen eine grundsätzlich neue Sichtweise. Walther H. Lechler schreibt in „Nicht die Droge ist's, sondern der Mensch“: „Die Metapher 'Alkohol' heisst übersetzt nicht allein C2H5OH oder Äthylalkohol, oder aqua vitae, sondern ist ganz schlicht Synonym von Lebenslüge, Selbstbetrug und Selbsttäuschung. Sie bezeichnet alles, was dazu dienen kann, unseren Blick vor der Wirklichkeit zu verstellen.“
Süchtige sind Lebensverweigerer.
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„Lassen Sie mich es so sagen: Man kann nicht auf der Welt sein, ohne in Schmerzen zu leben, seelischen und körperlichen Schmerzen. Wir haben Mechanismen entwickelt, um mit diesen Schmerzen umzugehen, sie irgendwie zu überwinden. Therapie, Religion und Spiritualität, Beziehungen, materiellen Erfolg. All das kann funktionieren, aber auch selbst zum Problem werden“, notierte David Foster Wallace in „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“.
Wer realisiert und akzeptiert, dass er unter einem Alkoholproblem leidet, hat Glück, denn Alkohol ist konkret, eine chemische Substanz. Eine Neurose oder eine Depression ist wesentlich schwerer zu fassen. Beim Alkoholiker ist klar, was er zu tun hat: Keinen Alkohol trinken. Und wie macht man das? Indem man das erste Glas stehen lässt. Das ist die erste Voraussetzung, ohne diese geht es nicht. Das ist schwierig? Ist es nicht, die Alkis sind schwierig.
Gemeinsam ist psychischen Störungen, von der Depression bis zu Borderline, von der Sucht bis zur Neurose, dass die darunter leidenden Menschen ständig mit den Bedingungen des menschlichen Lebens hadern, dass sie die Realität (und damit auch sich selber) nicht akzeptieren können.
Ist Burn-out eine Krankheit, ist ADHS eine Krankheit?
Kommt ganz drauf an, wen man fragt, denn es gibt keinen biologischen Test, der Normalität nachweisen könnte. Das heisst, dass es nur subjektive Diagnosen gibt und diese sind naturgemäss fehlerhaft. Und häufig von Profitinteressen motiviert. Da wären zum Beispiel die Pharmafirmen: Die Pathologisierung oder Krankheitserfindung sei die hohe Kunst, psychiatrische Krankheiten zu verkaufen, weil sie der effizienteste Absatzmarkt für lukrative Psychopharmaka sind, schreibt der Psychiater Allen Frances in „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“. Und da wären dann ja auch noch die vielen Therapeuten, die sich Arbeit beschaffen müssen.
Eine zutreffende Diagnose, so Frances, könne ein Leben retten, eine falsche eines ruinieren. Nur eben: Auch wenn die Diagnose einer seelischen Störung zutreffend ist, heisst das noch lange nicht, dass deswegen die Krankheit geheilt werden kann, denn aus ganz vielen Diagnosen lassen sich nicht notwendigerweise konkrete, erfolgsversprechende Handlungsanleitungen ableiten.
Dazu kommt, dass, was als psychische Störung gilt, auch dem Zeitgeist unterliegt. So war etwa Schizophrenie die Modediagnose der Sechzigerjahre. Heute ist es, gemäss Frances, der Autismus, die bipolare Störung, ADHS sowie die schizoaffektive Störung.
Eine Diagnose kann natürlich auch stigmatisieren. Meiner Ansicht nach ist die Stigmatisierung nicht wirklich problematisch (auf der sozialen Ebene geschieht vieles, was wir nur in geringem Ausmass beeinflussen können; wir können jedoch lernen, uns sozialen Zuschreibungen nicht widerstandslos auszuliefern). Auch ob die Diagnose hundertprozentig stimmt (kann sie das überhaupt?), erachte ich nicht als so zentral. Wichtiger erscheint mir, konkretes Tun auszuhandeln und dann zu sehen, ob dieses hilft. Wenn nicht, versucht man es eben mit einem anderen Handeln. Konkret: Wenn jemand mit einer geringen Frustrationstoleranz geschlagen ist, ist unwesentlich, ob diese wegen einer Borderline-Störung oder einer Neurose besteht. Wichtig ist allein, dass man sie pragmatisch handelnd angeht.
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Olivier Ameisen, Arzt, Wissenschaftler und Alkoholiker, hatte so ziemlich alles versucht, was an gängigen Angeboten zur Suchtbekämpfung vorhanden ist – Psychopharmaka, Rational Recovery, Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA), Aufenthalte in Entzugskliniken – zudem betrieb er Sport und Yoga, doch nichts davon hielt ihn für längere Zeit vom Trinken ab. Dies lag nicht daran, dass er zu wenig motiviert war.
Wie viele Alkoholiker hatte er sein Leben lang an Unzulänglichkeitsgefühlen gelitten, war sich vorgekommen wie ein Hochstapler, der demnächst enttarnt werden würde. Lange bevor er mit dem Trinken angefangen hatte, hatte er Therapien gemacht. Bei seinen Ängsten hatten sie nicht viel geholfen. Sprach er mit Medizinern oder mit den AA über seine Ängste, meinten sie meist, diese würden verschwinden, wenn er mit dem Saufen aufhöre. Doch dem war nicht so. „Ich litt an Ängsten, lange bevor ich Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch wiederholte“, schreibt er in „Das Ende meiner Sucht“.
Ich kenne das, mir geht es genauso. Auch nachdem ich mit dem Saufen aufgehört hatte, war ich nicht frei von Ängsten. Manchmal bilde ich mir ein, es seien jetzt andere. Gewiss bin ich mir jedoch, dass sie wegzusaufen heute keine Option mehr ist.
Ameisens Saufen wurde, trotz vieler dramatischer Versuche, Gegensteuer zu geben, schlimmer; die Abstürze wurden dramatischer – er brach sich Rippen und Handgelenk (für einen begabten Pianisten wie Ameisen eine ganz besondere Katastrophe) – , doch verfügte er immer über genügend privilegierte Verbindungen, um jeweils wieder glücklich aus dem Schlamassel herauszukommen.
Nüchtern konstatiert er, dass Abhängige nie so viel Zeit zum Entzug bekommen, wie sie brauchen, sondern nur so viel, wie sie sich leisten können. Zudem: „Da es keine bewährte Therapie gibt, liegt der Hauptnutzen einer Entzugsklinik darin, dass sie dem Süchtigen die dringend nötige Pause vom Alkohol oder einer anderen Substanz oder Verhaltensweise bringt.“ Sicher, das auch, doch den wirklichen Hauptnutzen hat der Klinikbetreiber, für den der Entzug oft einfach nur ein Geschäft ist.
Es ist ein Wunder, dass Ameisen aus seiner Abwärtsspirale schliesslich herausfand. Dass er es schaffte, hatte mit ganz verschiedenen Faktoren zu tun, doch entscheidend damit, dass er durch einen Artikel in der „New York Times“ auf ein Medikament namens Baclofen stiess, welches das Verlangen (Craving) nach Alkohol unterdrückt. Craving umfasst körperliche, emotionale und mentale Symptome, die in schlimmen Fällen dem Hunger eines verhungernden Menschen vergleichbar sind: „Die gleichen Hormone werden freigesetzt und die gleichen Gehirnregionen aktiviert. Das Nationale Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholismus (National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism, NIAAA) hat festgestellt, dass das Verlangen nach Alkohol sogar schlimmer sein kann als Hunger oder Durst und dass, wenn der Alkoholismus den Betroffenen im Griff hat, das Gehirn Alkohol als lebensnotwendig ansieht.“
Baclofen, ein Mittel, das gegen Muskelkrämpfe verschrieben wird, soll das Craving unterdrücken können? Ameisen hatte es im Selbstversuch getestet, und ja, es hatte gewirkt. Ein paar wenige Ärzte haben es bisher an Patienten ausprobiert, und ja, es hat gewirkt. Nein, nicht bei allen. Denn auch wenn man, wie Ameisen das tut, Abhängigkeit als eine biologische Krankheit versteht, muss ein Patient zuallererst immer noch ausreichend mit dem Saufen aufhören wollen.
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Hätte er besser auf Tante Luci gehört, die Augen fest verschlossen und seine Nase gut abgedichtet, wie es die Delphine tun, wenn sie abtauchen, und nicht am Likörglas gerochen, als Tante Luci es ihm unter die Nase hielt, wäre er vielleicht davongekommen, mutmasst Peter Wawerzinek in „Schluckspecht“. Nur hat er das eben nicht und ist deswegen auch nicht davongekommen. „Vielleicht“, wie er treffend schreibt, denn mit Gewissheit lässt sich so was ja nicht sagen.
Andrerseits weiss und/oder merkt und/oder spürt er, dass er anders trinkt als die anderen aus seiner Gruppe. Er kann nicht aufhören, greift gerade aus dem Koma erwacht zur Flasche, trinkt weiter, wo die Mittrinker längst aufgehört haben.
Am Anfang sei der Säufer noch Mensch, am Ende nur noch Säufer, notiert er einmal und säuft weiter, verflucht seine Inkonsequenz. An hellsichtigen Erkenntnissen mangelt es ihm nicht: „Suff ist Vergessen. Suff nimmt das Leid anderer Menschen nicht wahr. Suff erzeugt Wut auf sich. Suff bringt einen in Schwierigkeit. Man kennt keine Beschaulichkeit mehr ...“.
Der Suff beginnt seinen Alltag zu bestimmen, er ist sich dessen bewusst, gibt weiterhin Unsummen für seinen Alkoholkonsum aus und landet schliesslich im Ulenhof, einer therapeutischen Einrichtung für hoffnungslose Fälle.
Einmal Alkoholiker immer Alkoholiker, meint sein Doktor. Säufer seien ständig in Gefahr, auch wenn sie sich geheilt vorkämen. Gefangene in ihrer Trockenzelle, von angsteinflössenden Suchtträumen heimgesucht. Sie radikal trocken zu setzen, davon hält sein Doktor nichts. „Je länger der Trockenzustand anhält, desto grösser sind die Gefahren. Man schafft es, jahrelang trocken zu bleiben. Und dann, durch allzu grosse Freude, durch Kummer, Trauer, Gram, greift man nach dem einen Schnaps. Und schon beginnt alles mit diesem Einglasschadetnicht wieder von vorne und endet heilloser als je zuvor.“
Ich halte die Überzeugung „Je länger der Trockenzustand anhält, desto grösser sind die Gefahren“ für ausgemachten Blödsinn, denn es ist nicht die Länge der Trockenheit, die zählt, sondern die tägliche Lebensqualität. Mit dem Saufen aufzuhören ist für Säufer die Grundbedingung, ohne die ein anderes, neues, gesünderes Leben nicht möglich ist.
Peter Wawerzinek sieht das anders. In einem Interview mit dem 'Deutschlandfunk' meinte er, er habe sich die 'Drei-Drinks' angewöhnt. „Das heisst also drei Gin Tonic, wenn ich abends weg bin, oder höchstens drei kleine Sektgläser. Immer drei, drei, drei. Wähle 333 am Telefon. Das hat sich dann so ergeben mit diesem Therapeuten, mit dem Dr. Gredig, der so ein Hippie-Typ gewesen ist und das Problem von mir gleich erfasst hat. Vollalkoholiker auf ein Mass zurückzubringen, das ist schon ein Erfolg. Ich will nicht trocken sein ...“.
Nur eben: es geht nicht darum, trocken zu sein. Es geht darum, sich mit sich selber wohlzufühlen. Und ohne sich dabei selber zu betrügen.
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Wie alle Alkoholiker, wollte Bernd Thränhardt keiner sein. Ein Alkoholproblem zu haben, klang akzeptabler. Er versuchte es mit kontrolliertem Trinken und merkte, dass das nur an Tagen ohne Probleme, Belastungen und Erschütterungen, in denen ihn seine Freundin nett und liebevoll behandelte, und seine Auftraggeber allesamt dankbar und zahlungswillig waren, funktionierte. Nur waren die meisten Tage seines Lebens nicht so. „Kränkungen, Enttäuschungen und Niederlagen gehörten unverzichtbar dazu. An diesen Tagen zerriss mich die Gier nach Alkohol, die von den abendlichen Bieren eher angefacht als eingedämmt wurde“, notiert er in „Ausgesoffen“.
Er landete auf der Suchtstation eines städtischen Krankenhauses, wo er die Erfahrung machte, dass unter den Leidensgenossen schnell eine grosse Vertrautheit entstand und es ihm im Raucherraum leichter fiel, offen über seine Schwächen, Probleme und Ängste zu reden als im Arztzimmer. Eine Erfahrung, die er später in Selbsthilfegruppen fortsetzen sollte. Doch kaum war er aus der Klinik raus, begann er wieder zu saufen.
Mit 44 zog er wieder bei seinen Eltern ein, schlief in seinem Jugendzimmer und brach nachts in den elterlichen Weinkeller ein. Der Alkohol hatte sein Leben verwüstet, es gelang ihm nicht, davon zu lassen. Dann fand er Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern, von denen er sich jedoch nach einigen Jahren wieder trennte: sie wirkten auf ihn zu ideologisch, zu religiös geprägt, zu wenig das Individuelle berücksichtigend. Ich teile zwar seine Aversion gegenüber den AA-Hardlinern, doch dass das Individuelle bei den 12-Schritten auf der Strecke bleibt (und womöglich bleiben muss), hat seinen Sinn und Zweck, denn was alle Alkis verbindet, ist bekanntlich, dass sie alle glauben, ganz anders als alle anderen zu sein.
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„Der Depressive hält an einem verzerrten Wunschbild seines Lebens fest ... Falsche, aber lange Zeit verlockende Illusionen und Zerrbilder aufzugeben, ist der Preis für ein normales Leben“, behauptet Holger Reiners in „Das heimatlose Ich. Aus der Depression zurück ins Leben“.
Das erinnert an Suchtkrankheiten: Auch wer diese überwinden will, muss Illusionen und Zerrbilder aufgeben. Und das tut man, indem man Hilfe von aussen sucht. Der erste Schritt ist, zu erkennen, der Krankheit nicht alleine gewachsen zu sein. Was Horst Zocker in „betrifft: Anonyme Alkoholiker“ über die Alkoholsucht notiert, gilt meines Erachtens für alle seelischen Leiden: „'Nur du allein schaffst es', sagen sie, 'aber du schaffst es nicht allein.' Das ist auch so eine Kalenderweisheit. Sie stimmt . Ich habe es erlebt.“
Will man Depressionen oder Suchtkrankheiten überwinden, muss man lernen, sich für das Leben zu entscheiden. Nötig ist also eine grundsätzliche Neupositionierung. Ob etwa die Psychoanalyse in dieser Hinsicht hilfreich sein kann, ist mehr als fraglich. Denn diese, so ein anonymer New Yorker Analytiker in Janet Malcolms „Psychoanalysis. An Impossible Profession“, gehe davon aus, dass wir unser Leben einem Wiederholungszwang folgend leben und durch die Analyse kleine Abweichungen möglich würden, etwa fünf bis zehn Grad, vielleicht sogar fünfzehn Grad nach rechts oder nach links. Auch Holger Reiners hat beobachtet, dass Menschen, die sich im fortgeschrittenen Alter ändern wollen, zwar eine Richtungsänderung vornehmen können, allerdings höchstens in einem Winkel von zwei, maximal drei Grad. Jedoch: „Beim Depressiven verhält sich die Situation anders – und das kann Mut machen. Einem einst Depressiven traue ich eine Änderung seines Lebenskurses sogar um 180° zu, und nicht nur das, ich bin heute davon überzeugt, dass er eine solche Kursänderung nicht nur irgendwann akzeptiert, sondern sie auch aus gewonnener Erkenntnis ganz selbstverständlich anstrebt.“
Das schreibt einer, der zwanzig Jahre tiefer Depression überlebt hat. Und mittlerweile sogar schon länger ohne Todessehnsucht lebt. Man sollte also die praktischen Anregungen, die er gibt, zumindest wohlwollend prüfen. So schlägt er etwa vor, den Arzt fragen, wie sein Behandlungskonzept und der zu erwartende Zeitrahmen bis zum Behandlungsende in etwa aussehen. Und er regt an, immer wieder die vom Therapeuten vorgeschlagenen Behandlungsschritte zu hinterfragen. Sich zu erkundigen, warum wann welcher Schritt aus Sicht des Arztes notwendig ist.
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Zehn Jahre lang suchte der Journalist Holger Senzel in Therapien die Lösung für seine Probleme und Konflikte. Doch da die Innenschau ihn nicht aus der Depression zurück ins Leben brachte, versuchte er es von aussen. Nicht etwa, dass das dann sofort funktioniert hätte, doch er wusste, dass um Niederlagen zu kreisen, ihn selten weiter gebracht hatte. Und dass es keine Rolle spielte, warum er gestern schwach gewesen war. Heute stark zu sein, war das Einzige, das zählte.
In Therapien, so Senzel in seinem Erfahrungsbericht „Arschtritt“, gehe es um Erkenntnisgewinn. Wie das Leben nach der Klinik aussehen sollte, darüber werde kaum gesprochen, dafür um so mehr über Gefühle und die möglichen Ursachen seines selbstzerstörerischen Verhaltens. Sehr verkürzt gesagt: In seiner Sicht log und betrog er, weil er Liebe und Anerkennung suchte. Seine Freunde erlebten ihn dagegen als unreif und rücksichtslos auf den Gefühlen anderer herum trampelnd, weshalb er sich auch nicht wundern müsse, dafür die Quittung zu bekommen.
Zehn Jahre sucht Senzel Therapeuten auf, bevor er merkt: „Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wühlen in alten Wunden viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum grossen Lebensthema – statt einfach einmal die Zähne zusammenzubeissen und sie wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören.“
Woran liegt's, dass viele nicht merken, dass Therapien oft alles andere als hilfreich sind? Nun ja, wir leben in aufs Ich fixierten Zeiten, in denen uns beigebracht wird, dass, falls eine Therapie nichts bringt, die Schuld bei uns liegt. Dazu kommt, dass eine Therapie zu machen in gewissen Kreisen sehr schick ist – den Dingen auf den Grund zu gehen, adelt einen da geradezu.
Doch dann macht sich Holger Senzel sein eigenes Programm. Vorbild ist ihm dabei seine Omi, die ganz einfach gemacht hat, was gemacht werden muss. Und so macht er einen Vertrag mit sich selbst: Kein Alkohol, kein Tabak, keine Süssigkeiten, gesunde Ernährung, Sport etc. Für vier Wochen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, wird wieder neu angefangen.
Am 1. Tag scheitert er. Und beginnt gerade noch einmal mit Tag 1 und scheitert dann am Tag 2. Also wieder zurück zu Tag 1, zu einem neuerlichen Anfang. Der Autor lässt den Leser an seinen Erfahrungen mit seinem Drillsergeant („Mach einfach! Dein Gejammer ändert nix!“) und seinen Allerweltseinsichten („Manchmal muss man sich zu neuen Erfahrungen auch zwingen, denen man sich zuvor aus Trägheit und Angst verschlossen hat.“) teilhaben und macht damit vor allem klar, dass es bei der Genesung ums Tun geht. Und dass tun von tun kommt. Ja sicher, das ist banal, aber es ist eben auch wahr. Das wissen alle, die gehandelt haben.
Ganz besonders beherzigenswert ist übrigens Holger Senzels Credo: „Den Schlüssel zu meinem Herzen – nah bei seinen Gefühlen sein, würde es in der Therapie heissen – finde ich nicht durch das Graben in der eigenen Seele. Sondern durch offene Augen und das Interesse an anderen Menschen.“
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Mir selber wäre nie eingefallen, einen Therapeuten aufzusuchen. Das hat auch damit zu tun, was George Steiner in einem Gespräch mit Laure Adler (in: „Ein langer Samstag“) zur Psychoanalyse gesagt hat und für mich auf Therapien generell anwendbar ist: „Seinen Sack zu leeren, wie man im Französischen sagt, sein Herz in die Hände eines anderen auszuschütten, und zwar gegen Geld, lässt mir die Haare zu Berge stehen. Für mich bedeutet das, sich auf eine in meinen Augen unentschuldbare Art und Weise ernst zu nehmen.“ Überhaupt betreibe man in den Todeslagern oder auf den Schlachtfeldern, während des wirklichen Horrors also, keine Psychoanalyse; man finde da in sich selbst fast unbegrenzte Kräfte, fast unbegrenzte Ressourcen menschlicher Würde.
Nichtsdestotrotz: Immer mal wieder stosse ich auf Therapeuten, die mir Eindruck machen. Einer davon ist „Der weise Narr“, den Jacqueline C. Lair in ihrem gleichnamigen Buch zu Wort kommen lässt. „Ich war wütend auf das Leben, auf viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend, weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war.“ Auch heutzutage ist er noch auf sich selbst wütend, und zwar immer dann, wenn er an alle die Versuche denkt, seine innere Wut zu verleugnen und zu verdrängen, nur weil er soviel Angst vor dieser Wut hatte.
Schon mal von einem Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken, dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht nur aus Büchern. Dazu kommt, dass ich mich mit der Wut dieses Mannes bestens identifizieren konnte, Meine eigene Wut richtet sich vor allem gegen meine Faulheit und Feigheit. Sie hilft mir manchmal, mich dagegen zu wehren und das zu tun, von dem ich weiss, dass es getan werden muss: immer gerade das, was mir vor der Nase liegt.
Den Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt Jaqueline Lair für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch. In Gesprächen mit dem weisen Narr erfährt sie dann, dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht, ja, ihm misstraut, denn intellektuelles Wissen, das gleichzeitig gefühllos ist, ist kein Verstehen, das einem den emotionalen Schmerz nehmen kann. „Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen, die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren. Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag ein Sommererlebnis zu machen – und zulassen und aushalten lernen, dass das manchmal wehtut.“
Eine hilfreiche Maxime, nicht nur für Alkoholiker, Drogenabhängige, Borderliner oder Depressive, sondern so recht eigentlich für alle. Und das bringt mich zu dem Punkt, um den es mir in meiner Suchtberatung/meiner Therapie/meinem Coaching geht: dass man nicht das Saufen, den Drogenkonsum, die Depression in den Vordergrund stellt, sondern den Menschen, dem aufgegeben wurde, die Balance zu finden zwischen Kopf, Körper und Seele.
Und auch die Balance zwischen Konfrontation und Ablenkung. Sich dauernd mit seinen Problemen – so wissen wir aus Untersuchungen zu 9/11, dass die Angehörigen der Opfer, die damals keine psychologische Hilfe in Anspruch genommen haben, am besten mit dem Verlust umgehen konnten – auseinanderzusetzen, ist genau so wenig hilfreich, wie sie ständig zu ignorieren.
In ihrem Essay „Über das Porträtieren und über das Zeichnen und Malen im Allgemeinen“, notiert die Malerin Anna Keel: „Von Matisse stammt der Satz, dass jeder Maler (wenn überhaupt) nur zwei, drei eigene Ideen habe und er diese immer wieder festhalten müsse, damit sie ihm nicht entschwinden.“ Mir selber reicht schon diese eine Idee: dass es im Grunde immer nur darum geht, bei sich zu sein.
Es gibt übrigens genau sieben Gründe, weshalb einer säuft, schlecht drauf ist oder ganz einfach an der Welt leidet: Montag, Dienstag, Mittwoch …