Читать книгу Im Herbst verblühen die Rosen - Hans Ernst - Страница 6
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Der erste Schmerz war überwunden. Es ist merkwürdig, wie schon wenige Wochen alles lindern können. Irene hatte am Anfang die schwarze Kleidung aus wirklicher Trauer getragen und nun findet sie, dass sie zu ihrem aschblonden Haar gut passt. Das Gesicht des Mannes, das zwanzig Jahre um sie gewesen ist, verblasst ein wenig. Natürlich wusste sie, wie Felix ausgesehen hatte. Aber sein Gesicht und seine Statur hätten auch anders sein können. Schlanker vielleicht und kraftvoller. So wie der Sägewerksbesitzer Anton Antretter, der vor kurzem seine Frau verloren hatten, die jahrelang krank gewesen war.
Auch etwas umsichtiger hätte der gute Felix sein dürfen, nicht so künstlerhaft leichtfertig, dass Irene trotz allen eifrigen Suchens nichts unter den vielen Papieren finden konnte, das der Police einer Lebensversicherung gleichgesehen hätte, die ihr nun eine beträchtliche Geldsumme ausbezahlen müsste.
Nein, es war nicht schön von ihm gewesen, denn Felix hätte ja bedenken müssen, dass nach ihm das Leben für die Seinen weitergeht. Warum hatte der Mann nicht vorgesorgt? Gewiss, er hatte immer so viel verdient, als man brauchte, aber nun war er nicht mehr da und brachte nichts mehr her.
Wenn wenigstens der Sägemüller sein Bild bezahlen würde! Aber gerade vor zwei Tagen hatte er sagen lassen, dass er bereit wäre für das Gemälde Brennholz zu liefern. Und weil Irene aus einer falschen Scham heraus nicht den Mut fand zu sagen, dass ihr damit jetzt nicht gedient sei, sondern dass sie Geld brauche, weil ja die Beerdingung doch allerhand gekostet habe, darum hatte der Sägemüller gestern drei Klafter Scheitholz anfahren lassen.
Drei Tage später kam er selber vorbei und fragte, ob sie mit dem Gelieferten zufrieden sei.
»Ja, sehr«, antwortete Irene. »Und es ist ganz gut, dass Sie da sind, dann können wir das gleich in Ordnung bringen. Das Bild nehmen Sie doch noch?«
»Ja, natürlich. Das Brennholz ist ja weiter nichts als eine kleine Abschlagszahlung.« Das Bild sei ihm immer noch etwas wert. Nein, nein, nur keine falsche Bescheidenheit. Ob sie denn glaube, dass er etwa nichts von Kunst verstünde? Das Bild, er habe schon darüber nachgedacht, sei sicher mehr wert, als der Sebald ihm dafür hatte berechnen wollen.
Das tat gut. Es war ein tröstlicher Nachgesang auf die Kunst des Verstorbenen und es gab durchaus keinen Grund zu zweifeln, dass der Sägemüller über sie etwas anders dachte als der Goliath. Wie er schon dastand, groß und schlank, kein grauer Faden in seinem dunklen Haar, das Gesicht rot und gesund. Er trug statt der üblichen kurzen Lederhose eine lange aus Hirschleder, unter den Knien zusammengebunden, dazu graue Wadenstrümpfe und Schuhe mit Silberschnallen.
Jawohl, Silberschnallen am hellen Werktag! Sonnenumflossen stand er am Gartenzaun, Daumen und Zeigefinger zwischen die oberen Knöpfe seiner Weste geschoben. Am dritten Finger trug er einen schweren Siegelring, auf dessen breiter Platte der heilige Christophorus, mit dem Jesuskind auf der Schulter, eingestanzt war. Freundlichkeit und Entgegenkommen der ganze Mann, von den Silberschnallen der Schuhe bis hinauf zu dem grünen Plüschhut mit der kurzen Spielhahnfeder. Es ließ sich nicht gut umgehen, dass Irene ihn zu einer Tasse Kaffee einlud.
Anton Antretter sah auf seine Uhr, als müsse er nachsehen, ob er dafür Zeit habe. Unnachahmlich seine Gebärde, wie er den goldenen Deckel aufspringen ließ und dann die Uhr wieder einsteckte!
»Gern, ich habe noch etwas Zeit.« Langsam stieg er die Stufen durch den Blumengarten hinauf, blieb dann noch mal stehen und sagte: »Sie müssten eigentlich hier noch ein paar Zimmer anbauen. Das Bauholz könnte ich Ihnen billig liefern und das andere spielt bei Ihnen sowieso keine Rolle.«
»Wie bitte?«
»Ich meine, das geht in einem hin. Wollten Sie nicht auch einen Wintergarten anbauen? Ich glaube, Ihr Mann hat einmal davon gesprochen. Warum auch nicht? Mit schönen Steinfliesen, das macht sich gut. Wenn schon, denn schon.«
Irene plapperte es mit einem leichten Unterton von Spott nach: »Ja, wenn schon, denn schon.«
Eigentlich war es ja schön, mit einem Ruck auf die Stufe hinaufgehoben zu werden, von der aus man die Nichtigkeit des Lebens ein wenig anders ansah. Es war aber ihre unbedingte Ehrlichkeit, die sie sagen ließ: »So reich sind wir ja nun auch wieder nicht, wie Sie denken.«
»Aber immerhin reich genug um so eine Kleinigkeit wie einen Wintergarten anzubauen. Er wird Ihnen danach unentbehrlich sein. Ihr Mann hat ja mit seinen Bildern, wie man so hört, Heidengelder verdient.«
»Hört man das?«
»Allgemein. Na ja, er konnte ja malen, darüber lässt sich nicht streiten.«
»Es ist nicht immer alles wahr, was die Leute reden.«
Da dreht er das Gesicht zu ihr um und sieht sie an. »Warum denn so bescheiden, Irene?«
Wie kam der Mann dazu, ihren Vornamen zu gebrauchen? Sie trat einen Schritt zur Seite und griff nach der Tür.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Ich werde das Kaffeewasser aufstellen.«
Der Sägemüller legte seinen Hut auf das breite Fenstersims und sah sich dann im Atelier um. Er sah die »Birken im Sturm« und verschwendete für den Anblick des Bildes nicht mehr Zeit als bei der Betrachtung des eingelegten Mahagonitischleins in der Ecke. Er wusste, dass es sein Bild war, aber er wusste nicht, ob es gut oder schlecht war. Er hatte es bestellt, weil er glaubte, dass es zum guten Ton gehöre, ein Bild zu kaufen, so wie er sich auch etliche Dutzend Bücher gekauft hatte ohne jemals eines davon gelesen zu haben. Aber es gefiel ihm und es schmeichelte seiner Eitelkeit, wenn jemand in seine gute Stube kam und die Bücher betrachtete.
»Oh, den ganzen Goethe haben Sie gleich hier«, hatte kürzlich ein Holzgroßhändler aus der Stadt gesagt, der geschäftlich bei ihm war. Und der Sägemüller hatte darauf kühn geantwortet: »Ja, wie könnte man ohne Goethe überhaupt leben.«
Ja, er ist nicht ganz so bieder und ehrlich, wie er sich gibt, der Sägemüller. Jetzt, da er so allein saß, war sein Gesicht nicht so sorglos und hell wie vorhin. Er hat die Brauen scharf zusammengezogen, das Kinn ist wie im Krampf vorgestreckt und um seinen Mund liegt ein verbissener Zug. Aber da hörte er Schritte vor der Tür und riss sich zusammen.
Irene brachte den Kaffee und rückte dann seinen Stuhl so, dass er in die Sonne sehen musste. Das gab ihr ein wenig Sicherheit ihm gegenüber.
»Darf ich Ihnen Zucker geben?«
»Ja, zwei Stück, bitt schön.«
Nachdenklich rührte er in seiner Tasse. Wenn er den Kopf so gesenkt hielt, glitten die Sonnenbänder über sein dunkles Haar. Nach einer Weile hob er den Kopf.
»Wollen wir das wegen des Bildes heute ausmachen?«
»Wenn Sie meinen? Sie haben mir bereits Holz geliefert.«
»Drei Klafter, ja. Ich berechne sie mit hundert Mark.«
Überrascht sah Irene auf.
»Soviel ich weiß, kostet ein Klafter schon sechzig.«
Er sah sie an und lächelte.
»Donnerwetter, Sie wissen genau Bescheid und wollen sich von mir nichts schenken lassen. Also gut dann. Zwölfhundert Mark noch für das Bild. Ist es recht so?«
Irene sah nervös zum Schrank hinüber, denn sie konnte Antretters Blick nicht länger standhalten. In seinen Augen spiegelte sich die Sonne. Sie hatte nicht gewusst, dass das Sonnenlicht einen Blick so warm und leuchtend machen konnte.
»Es ist mir recht so«, antwortete sie nach einer Weile, die viel zu lang war um dem Mann nicht aufzufallen.
Er zog eine Brieftasche und zählte zwölf neue Hundertmarkscheine auf den Tisch. Sie blieben zunächst liegen, weil Irene keine Anstalten machte, sie wegzunehmen. Erst nach einer langen Weile fragte sie:
»Wollen Sie eine Quittung?«
»Nein, ich habe bezahlt, und dass Sie es nicht zweimal verlangen, das weiß ich.« Er griff plötzlich über den Tisch hinüber nach ihrer Hand. »Ein Handschlag von Ihnen genügt mir vollkommen.«
In diesem Händedruck aber, den der Mann über das übliche Maß ausgedehnt hatte, erkannte Irene, dass es vielleicht doch verkehrt war, ihn zum Kaffee eingeladen zu haben.
Er hob die Hand und fuhr mit dem Zeigefinger in seinen Hemdkragen, als wäre ihm plötzlich zu heiß geworden. Dabei fiel das Licht auf seinen Siegelring und warf gleißende Reflexe zurück. Dann sah er sie wieder an und in seinen Augen war etwas wie Schwermut.
»Ich kann Ihnen nachfühlen«, fuhr er dann fort, »wie schwer es für Sie gewesen sein mag, einem gesunden Mann ins Grab nachsehen zu müssen. Ich aber habe jahrelang im Schatten einer Frau gelebt, die nicht leben und nicht sterben konnte.«
»Das tut mir wirklich Leid.«
»Wenn ich bedenke, da hat Ihr Leben doch einen anderen Sinn gehabt. Sie haben wenigstens einen Sohn. Und was habe ich? Ach – sprechen wir nicht mehr davon. Haben Sie Dank für den Kaffee, es war eine schöne halbe Stunde.«
Die Hand gab er ihr nicht mehr. Er griff nach seinem Hut, nickte ihr zu und wollte gehen. Da fragte sie noch:
»Lassen Sie das Bild abholen?«
»Ja, gelegentlich. Und – wenn ich wieder einmal vorbeischauen darf?«
»Ja, gerne«, antwortete Irene schnell und wusste sogleich, dass sie es anders hätte ausdrücken sollen.
Von der Schwelle des Hauses aus sah sie ihm nach, wie er mit raschen, federnden Schritten dahinging. Felix war schwerfälliger gegangen und hatte die Schultern immer ein wenig eingezogen. Felix war ja auch älter. Er war bei seinem Tod fünfundfünfzig.
Die erste Not schien gebannt, weil der Sägemüller Antretter das Bild bezahlt hatte.
Als sich aber Irene in der Kreisstadt erkundigte, was ein Grabstein aus carrarischem Marmor koste, und ihr der Preis genannt wurde, erschrak sie doch sehr.
Tief bedrückt fuhr sie wieder nach Hause. Ach ja, das Leben war gar nicht so einfach. Sollte sie vielleicht ein hölzernes Grabkreuz beim Zimmermann bestellen? So ähnlich, wie wirklich arme Leute es haben?
Das Beste wird wohl sein, wenn sie sich zuerst mit Adrian darüber besprach. Vielleicht hatte der Junge irgendeine Idee oder Verbindungen, wie man die Bilder an den Mann bringen könnte.
Ach ja, was sollte nun überhaupt aus dem Jungen werden?
Adrian hatte sich in dieser Zeit auch so seine Gedanken gemacht. Den Plan, irgendwo auf einem Einödhof als Knecht zu arbeiten, hatte er längst wieder verworfen.
Am Sonntagnachmittag saßen Irene und Adrian auf der Terrasse und tranken Kaffee. Die Sonne schien warm und Adrian rückte den Sonnenschirm, dass seine Mutter komplett im Schatten war.
Irene sagte plötzlich: »Habe ich dir schon gesagt, dass der Sägemüller hier war?«
»Nein. Was wollte er?«
»Eigentlich nichts. Das Bild hat er bezahlt.«
»Welches Bild?«
»›Birken im Sturm‹. Er hatte es noch bei Vater bestellt. Und es ist gut so, so haben wir wenigstens ein klein wenig Geld.«
»Aber was machen wir dann?«
»Das – weiß ich wirklich nicht, Adrian.«
»Steht es denn so schlimm um uns, Mutter?«
»Schlimm? Soll ich denn wirklich die Notflagge aufsetzen, damit es jeder sieht, wie es um uns steht? Trotz aller Redlichkeit und aller Fürsorge hat Vater doch vergessen für uns auch nach seinem möglichen Ableben zu sorgen.«
»Bist du ihm böse deswegen?«
»Ach, böse. Man spricht eben davon. Aber es ist die Zeit abzusehen, wo ich mich nach einer Arbeit werde umsehen müssen.«
Adrian schaute über die Terrasse hinaus in den Blumengarten, dessen Wege von niederen Rosenbüschen umsäumt waren. Seine Brauen bewegten sich nachdenklich. Dann sah er seine Mutter an.
»Das kommt gar nicht in Frage. Ich habe meinen Entschluss schon gefasst und werde in den nächsten Tagen in Siebenzell fragen, ob man mich nicht in den Forstdienst aufnehmen will.«
»Jäger willst du werden?«
»Du sollst darüber nicht lachen, Mutter. Ich bereue es heute, mit Vater nicht schon früher darüber gesprochen zu haben. Eigentlich habe ich mir nie vorstellen können einmal in irgendeinem Büro sitzen zu müssen. In einer Sparkasse vielleicht oder im Bezirksamt. Es würde mein Leben nicht ausfüllen.«
»Und die Jahre auf dem Gymnasium?«
»Im Leben kann nichts umsonst gewesen sein, Mutter. Meine Kenntnisse werden mir auch in dieser Laufbahn nur zugute kommen.«
Da senkte Irene den Kopf. Sie hatte nämlich außer ihrem Volksschulwissen nichts mehr gelernt, hatte sich nur von dem überreichen Wissen ihres Mannes so manches angeeignet. Es war ihr immer ein wunderbarer Trost gewesen, dass der Mann sie aus wirklicher Liebe geheiratet hatte. Wie hatte doch der Sägemüller gleich gesagt? Sie habe immer nur im Licht und in der Sonne leben dürfen.
»Eigentlich könnten wir ein wenig spazieren gehen«, meinte sie nach einer Weile, »und auf den Friedhof schauen.«
»Ja, Mutter, gerne.«
Adrian sprang auf und schnitt im Garten einige von den herrlichen Donald-Prior-Rosen ab, tat noch ein paar von den lachsfarbigen Climbing Testuot dazu.
Dann gingen sie.
Der Weg führte am Sägewerk Antretter vorbei. Heute war dort alles still und wie ausgestorben. Nur ein elektrischer Motor surrte irgendwo leise. Im Hof lagerten neben Bretterstapeln riesige Baumstämme, die den Weg durch die Sägegatter noch zu gehen hatten. Das Wohnhaus lag etwas abseits, ein mächtiger Bau aus Quadersteinen, mit einem weiten, vorspringenden Dach und großen Fenstern. Es sah aus wie ein prachtvolles Gutshaus. In breiten Strömen lag das Sonnenlicht über dem marmorgepflasterten Vorplatz des Hauses. Aber niemand war zu sehen. Nur ein Hund lag faul in der Sonne und rekelte sich träge, als er die Schritte auf der Straße hörte.
Hinter dem Sägewerk führte die Straße ein ganzes Stück an dem Bach entlang, der dann von einer hölzernen Brücke überquert wurde. Und da waren sie bereits in der Gemarkung des Schlossgutes, dem sie immer näher kamen. Hinter einem mächtigen Park mit rauschenden Ulmen verbargen sich das Schloss und die Verwaltungsgebäude. Früher war es der Stammsitz eines Grafengeschlechtes gewesen. Es ging dann durch mehrere Hände, bis es vor etwa einem Vierteljahrhundert von den Aschlebens gekauft worden war.
Früher war Adrian öfter hierher gekommen, denn er war mit Isabella, der Tochter des Freiherrn, befreundet gewesen. Erst als Isabella zu ihrer Mutter in die Stadt gezogen war, hatte sich dieses Verhältnis gelockert.
»Eigentlich wundert es mich«, meinte Adrian, »dass im Leben alles so sang- und klanglos aufhören kann. Früher, du weißt es ja, war ich fast unzertrennlich mit Isabella.«
»Du vergisst, dass sie mittlerweile eine junge Dame geworden ist. Ihre Eltern werden ihr wohl gesagt haben, dass sich der Umgang mit Leuten aus dem Dorf für sie nicht mehr schickt.«
»Dame? Isabella ist ein Jahr jünger als ich.«
»Ja, aber dort wird mit einem anderen Maß gerechnet. Wer weiß, ob sie überhaupt noch daran denkt, dass sie einmal mit dir in unserem Garten gesessen und mit Farben gekleckst hat, die ihr dem Vater gestohlen hattet.«
Adrian lächelte in der Erinnerung an diese herrlich gelebte Kinderzeit. Wie oft waren sie ungebärdig durch die weiten Gänge des Schlosses gestürmt. Sie hatten Forellen gefangen und über offenem Feuer gebraten. Isabella war für jeden Streich zu haben gewesen. Und nun hatte er sie schon fünf Jahre überhaupt nicht mehr gesehen.
In einem weiten Bogen kamen sie wieder auf das Dorf zu. Glasklar standen die Berge über dem dunklen Fichtenwald. In herrlicher Bläue spannte sich der Himmel über dem Land. Einmal war der helle Ruf eines Hühnerhabichts zu hören, der seine weiten Kreise über einer blühenden Wiese zog.
Danach standen sie vor dem Grab, auf dem der Stein noch fehlte. Und hier verlor Irene die Haltung, die sie vorhin beim Gang durch das Dorf noch gezeigt hatte. Ihre sonst so lebendigen Züge erschienen wie verflacht. Es war das Gesicht einer müden Arbeiterfrau, die sich Sorgen macht, woher sie das Geld für einen anständigen Grabstein nehmen soll.
Gerade um diese Zeit, als die beiden vor dem Grabhügel standen und Adrian seine Blumen niederlegte, schob der Kammerdiener Siegmund Eberlein auf Schloss Siebenzell den gummibereiften Teewagen auf die Terrasse der Südseite.
Freiherr von Aschleben legte die Zeitung weg und rückte seinen Stuhl näher an den Tisch. Er hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht, das durch die schweren Augenlider etwas schläfrig wirkte. Während Eberlein ihm den Tee einschenkte, fragte Aschleben:
»Na, Siegmund, was gibt es Neues?«
Sofort zog Siegmund das Notizbüchlein aus der schwarzen Lüsterjacke und begann vorzulesen.
»Am Donnerstag sechzigster Geburtstag des Gutsinspektors Huber. Am Freitag –«
»Ist gut, Siegmund. Was am Freitag ist, weiß ich schon. Ankunft der Herren vom Aufsichtsrat. Bleiben wir also beim Huber. Es würde mich wundern, wenn Sie noch nicht darüber nachgedacht hätten, was man dem Inspektor zu seinem Fest schenken könnte. Er ist nun dreißig Jahre hier.«
»Zweiunddreißig Jahre, Exzellenz.«
Aschleben blickte überrascht auf. Wenn Eberlein ihn so betitelte, dann hatte der sicher etwas auf dem Herzen.
»Na, sehen Sie, Siegmund«, lachte Aschleben. »Sie wissen alles viel besser als ich. Sie sind tatsächlich ein wandelnder Kalender. Also, was denken Sie?«
»Wenn ich mir erlauben darf, Exzellenz, ich habe an ein Bild gedacht. Ein schönes Ölgemälde vielleicht.«
»Gut, ausgezeichnet. Übrigens – Bild? Könnte man das nicht vielleicht aus der Hinterlassenschaft des verstorbenen Malers erwerben? Meinen Sie, dass man dort was Richtiges bekommen kann?«
»Davon bin ich fest überzeugt, gnädiger Herr.«
»Gut, dann gehen Sie morgen hin. Ich bin sicher, dass Sie den Geschmack unseres Inspektors erraten werden.«
»Jawohl! Es ist nur, wenn ich noch wissen dürfte – wegen des Preises. Wie weit darf ich im Höchstfall gehen?«
»Tja, ich denke, dass man unter zweitausend nichts Besonderes bekommt. Herr Sebald hatte doch einen Namen und den muss man bei einem guten Bild immer mitbezahlen«, sagte Aschleben.
»Sehr richtig«, pflichtete Siegmund voller Eifer bei.
»Erinnern Sie mich morgen früh noch mal, dann gebe ich Ihnen einen Blankoscheck. Die Summe können Sie selbst einsetzen. Übrigens – was ist denn mit Ihnen, Siegmund? Wollen Sie immer noch einspännig durchs Leben gehen?«
Siegmund wurde ein wenig rot. »Es wäre immerhin möglich, Exzellenz, dass sich in nächster Zeit etwas ändern könnte.
»Jawohl, heiraten Sie nur. Allein ist’s im Himmel nicht schön«, lachte der Freiherr und griff wieder nach der Zeitung.
So machte sich also Siegmund Eberlein am Nachmittag des folgenden Tages auf den Weg zum Malerhäusl. Er zog zu diesem Zweck einen dunklen Anzug an und stand dann dürr und hager vor Irene, voller Hochmut und Herablassung. Diese Haltung war ihm keineswegs aufgetragen worden, aber Irene sollte den Eindruck haben, dass es einzig von ihm, vom Kammerdiener Siegmund Eberlein, abhinge, ob ein Bild gekauft würde oder nicht.
»Tja«, sagte er. »Dann wollen wir mal sehen, ob für meinen Geschmack das Richtige dabei ist.«
Für Irene war es im ersten Augenblick klar, dass das richtige Bild gefunden werden musste. Der Grabstein fiel ihr ein und anderes mehr. Sie bot ihre ganze Überredungskunst auf. Siegmund aber spitzte dazu nur den Mund, als ob er pfeifen wolle, und klappte die Augendeckel herunter.
»Ich bitte, gnädige Frau, meinen Geschmack nicht beeinflussen zu wollen.« Er zog seine Brille mit dem goldenen Gestell aus seinem Rock, hob sie vor die Augen und ging neben Irene mit hölzernen Schritten durchs Atelier. Zuweilen blieb er stehen und machte mit schief geneigtem Kopf kurze Bemerkungen über die Entwicklung der Malkunst im Laufe der Jahrhunderte um dann einen gedrechselten Vortrag über die Umwälzungen in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts zu halten.
An Irene schwirrten Worte vorbei, die sie bisher nie gehört hatte. Sie musste verzweifelt gähnen und hob erschrocken die Hand vor den Mund.
»Sie gähnen, gnädige Frau? Soll ich das als Zeichen gänzlicher Interessenlosigkeit deuten?«
»Nein, ich bedaure in diesem Moment nur, dass mein Mann nicht mehr lebt. Ihre kunstsinnigen Betrachtungen würden für ihn zweifellos von großem Interesse sein und …«
»… würden ihn befruchten«, unterbrach Herr Eberlein. »Würden ihn ohne Zweifel außerordentlich befruchten. Ein Künstler braucht ja immer wieder Antrieb von außen her. Aber, um zur Sache zu kommen. Dieses Bild dort, ›Birken im Sturm‹, würde mir für meine Zwecke am besten geeignet erscheinen.«
Irene erschrak heftig, hatte aber unverständlicherweise nicht den Mut, zu sagen, dass das Bild bereits verkauft sei, sondern versuchte vielmehr Herrn Siegmund Eberlein zu beschwatzen.
»Birken im Sturm«, sagte sie und neigte den Kopf zur Seite, als wolle sie das Bild auf etwaige Fehler mustern. »Es ist nicht gerade schlecht. Aber der Bergsee ist besser. Auch der Feldblumenstrauß dort. Diese beiden Bilder hängen nur etwas ungünstig im Licht. Auf alle Fälle würde ich eines davon den Birken unbedingt vorziehen.«
»Sie vielleicht. Aber ich nicht«, antwortete Siegmund Eberlein mit hoch gezogenen Brauen. »So handeln Bauern, gnädige Frau, wenn sie eine schlechte Milchkuh an den Mann bringen wollen. Ich habe gesagt: die Birken; und dabei bleibt es. Wenn Sie das Geschäft nicht machen wollen, tut es mir Leid. Was soll es kosten?«
Da verlangte Irene in kalter Entschlossenheit einen hohen Preis und dachte, dass der Verkauf daran sicher scheitern würde. Sie verlangte sechzehnhundert Mark.
Herr Siegmund setzte wieder seine Brille auf, trat ganz nahe an das Bild heran und dann zurück bis zur anderen Wand, hielt den Kopf eine Weile nach rechts und dann nach links. Dann zog er seine Brieftasche und fragte, ob er einen Augenblick Platz nehmen dürfe, zückte seinen Füllfederhalter und sagte:
»Sie sollten den Nachlass nicht verschleudern, gnädige Frau. Ich bezahle zweitausend Mark. Das Bild wird morgen abgeholt.« Er reichte ihr den Scheck hin.
Einen Augenblick war Irene zumute, als verbrenne sie sich die Finger daran. »Herzlichen Dank.«
Siegmund Eberlein sah sie groß an. »Nichts zu danken. Man tut was für die Kunst. Es war mir eine große Freude, Ihnen ein wenig helfen zu können.«
»Zu nett von Ihnen. Wenn ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen darf? Oder wollen Sie lieber Tee?«
»Kaffee, wenn ich bitten darf.«
Als Irene draußen war, verlor sein Gesicht allen Hochmut und sein Mund wurde wieder so spitz, als ob er pfeifen wolle. »Donnerwetter«, sagte er vor sich hin. »Eine gut aussehende Frau!«
Dann kam Irene mit dem Kaffee und Herr Siegmund hatte inzwischen den Kammerdiener vollständig abgelegt und war Mensch, nur mehr Mensch und Mann in den besten Jahren. Und er hatte Umgangsformen, darüber war kein Zweifel. Irene bewunderte geradezu, wie er die Kaffeetasse an den Mund führte und wie korrekt der Scheitel seines Haares wie mit einem Metermaß gelegt war. Jetzt zog er ein silbernes Etui hervor und bot Irene eine Zigarette an.
»Danke, ich rauche eigentlich nicht.«
»Rauchen Sie nur. Es ist eine gute Sorte. Der Freiherr von Aschleben raucht sie auch.« Schon knipste sein Feuerzeug, eine kleine, bläuliche Flamme schlug hoch und beleuchtete Irenes Gesicht für einen Augenblick.
Dann sagt der Siegmund: »Dieses Schwarz steht Ihnen ausgezeichnet zu Ihrem blonden Haar. Ich habe Sie schon ein paar Mal bewundert, gnädige Frau.«
»Mich? Bewundert? Ich wüsste nicht …«
»Nein, das wissen Sie natürlich nicht. Und ich weiß nicht, ob Sie besonderen Wert darauf legen, von mir zu hören, dass Sie eine schöne Frau sind.«
»Danke für das Kompliment. Aber Sie dürfen mir glauben, dass es mir lieber wäre, ich brauchte nicht in Schwarz zu gehen.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, gnädige Frau, war doch Ihr Verstorbener ein grundgütiger Mensch, soweit ich ihn gekannt habe. Eine Säule der Zuverlässigkeit und der Fürsorge für die Seinen, wenn ich so sagen darf.«
»Ja, und es ist sehr schwer, wenn man plötzlich mit einem halb erwachsenen Sohn allein dasteht.«
»Schwer insbesondere dann, wenn man nicht weiß, dass einem gute Freunde zur Seite stehen würden.«
Irene wurde ein wenig unsicher. Was wollte er denn eigentlich?
»Ich stelle mir das so vor«, sprach er weiter, indem er seine Fingerspitzen gegeneinander stemmte, »dass man sich im ersten Augenblick wünscht auch sterben zu können. Aber dann mildert es sich mit der Zeit, wie sich alle Schmerzen mildern. Man beginnt wieder an das Leben zu glauben – und dass es auch über ein Grab hinweg so etwas geben kann wie ein Aufblühen eines neuen Glückes.«
»Eines neuen Glückes?«
»Ja, ja, gnädige Frau. Glauben Sie, mir ist die menschliche Seele vollständig vertraut. In meinem Beruf erlebt man so vieles. Und gerade Sie, gnädige Frau, Sie sind viel zu jung und – wenn ich mir erlauben darf, es soll beileibe keine Schmeichelei sein – viel zu schön um das Leben schon als abgeschlossen zu betrachten.«
Irene lächelte müde und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Wohin verirrt sich unser Gespräch?«
»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie verwirrt haben sollte. Das lag nicht in meiner Absicht. Es ist nur manchmal so, dass einem das Herz durchgeht. Es ist mitunter ein ganz eigensinniges Ding«, sprach Siegmund Eberlein voller Eifer weiter. »Es gaukelt uns oft Sachen vor, die wir zuerst nicht glauben wollen und dann doch glauben müssen, weil das Herz sich nicht irrt.«
»Glauben Sie das wirklich, Herr –?«
»Eberlein«, half er ihr aus. »Siegmund Eberlein. Ja, das glaube ich wirklich, weil ich es an mir selbst erleben darf. Erschrecken Sie bitte nicht, gnädige Frau, wenn ich Ihnen sage, dass sich meine Gedanken in letzter Zeit dauernd mit Ihnen beschäftigen. Ich bedenke meine eigene Einsamkeit. Sehen Sie, was bin ich denn? Ich habe eine gute Stellung und mir stünde eine Sechszimmerwohnung im Schloss zur Verfügung, wenn ich –«
Da stand Irene auf. »Herr Eberlein! Sie vergessen, dass mein Mann erst knapp drei Wochen tot ist.«
Siegmund Eberlein schlug die Augendeckel nieder. »Entschuldigung. Das weiß ich natürlich. Aber das Herz, das Herz. Bitte, seien Sie mir nicht böse.«
»Nein, aber ich finde doch alles ein wenig verfrüht. Wie soll ich wissen, ob ich jemals wieder heiraten werde! Vorerst ist das andere noch viel zu neu.«
»Ja, natürlich, selbstverständlich. Nur wenn Sie jemals wieder daran denken sollten, ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, dass ich Sie auf Händen tragen würde.« Er stand auf und knöpfte seine Jacke zu. »Vielen herzlichen Dank für die Bewirtung. Und das Bild, ja das wird morgen abgeholt.«
Siegmund Eberlein neigte sich über Irenes Hand. Das hätte ein Prinz nicht formvollendeter tun können. O ja, er war ohne Zweifel ein Mann von Welt. Als er schon beim Gartentürchen draußen war, drehte er sich nochmals um: »Ich werde mir erlauben mich von Zeit zu Zeit in Erinnerung zu bringen, wenn Sie gestatten.«
Irene sah ihm nach, wie er mit leicht tänzelnden Schritten die Straße entlangging, und lächelte um gleich darauf erschrocken zusammenzufahren. Das Bild fiel ihr wieder ein, die »Birken im Sturm«, die eigentlich bereits dem Sägemüller gehörten. Sie hätte es unter gar keinen Umständen zweimal verkaufen dürfen. Die Hände an die hämmernden Schläfen gepresst ging sie langsam ins Haus zurück und setzte sich ins Atelier.
Zu dumm, dass sie sich hatte überrumpeln lassen. Unter Brüdern gesagt, war es einfach ein Betrug. Sie hätte auf ihrer Weigerung bestehen und ehrlich bekennen müssen, dass das Bild bereits verkauft sei. Woher hatte sie plötzlich diese Geldgier?
Sie überlegte hin und her und fand keinen Ausweg. So traf Adrian sie an, als er heimkam. Er merkte sofort ihre Bedrücktheit und fragte, was los sei. Da erzählte sie es ihm. Und Irene sah, wie die Stirn des Knaben rot anlief, wie seine Augen sich umschatteten und sein Mund immer trauriger wurde.
Sie sah ihn an und musste erleben, dass sie zum ersten Mal den Blicken ihres Sohnes ausweichen wollte.
»Warum hast du das getan, Mutter?«, fragte er leise.
»Ich weiß es nicht«, meinte sie. »Das Geld, Adrian. Wir brauchen es notwendig.«
»Nein, das ist nicht wahr«, schrie Adrian auf. »Ich habe dir gesagt, dass ich nicht mehr zur Schule gehen werde, sondern Geld verdienen will.«
»Aber was soll ich jetzt tun?«
»Zur Wahrheit stehen. Dem Sägemüller reinen Wein einschenken und ihm das Geld zurückgeben. Anders ist es Betrug. Und ich will mich nicht für meine Mutter schämen müssen!«
Da senkte sie den Kopf. Innerlich gab sie ihm Recht. Ob sie aber den Mut haben würde dem Sägemüller die Wahrheit zu bekennen? Was sich dann daraus ergab, das musste sie eben auf sich nehmen.