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Sonnabend: Unruhe bei Quangels

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Auch den ganzen Freitag hatten die Eheleute Quangel kein Wort miteinander gesprochen – drei Tage Schweigen unter ihnen, nicht einmal Bieten der Tageszeiten, das war in ihrer ganzen Ehe noch nicht vorgekommen. So wortkarg Quangel auch gewesen war, er hatte doch hin und wieder einen Satz gesprochen, etwas über einen Arbeiter in der Werkstatt oder wenigstens über das Wetter, oder daß ihm heute das Essen besonders gut geschmeckt habe. Und nun nichts!

Anna Quangel spürte es je länger je stärker, daß die tiefe Trauer, die sie um den verlorenen Sohn empfand, sich zu zerstreuen anfing vor der Unruhe über den so veränderten Mann. Sie wollte nur an den Jungen denken; aber sie konnte es nicht mehr, wenn sie diesen Mann beobachtete, ihren langjährigen Ehemann Otto Quangel, immerhin den Mann, dem sie die meisten und besten Jahre ihres Lebens gewidmet hatte. Was war in diesen Mann gefahren? Was war los mit ihm? Was hatte ihn so verändert?

Am Freitag um die Mittagszeit war bei Anna Quangel aller Zorn und aller Vorwurf gegen Otto vergangen. Hätte sie sich den geringsten Erfolg davon versprochen, so hätte sie ihn wegen ihres vorschnellen Wortes «Du und dein Führer» um Verzeihung gebeten. Aber es war klar zu sehen, daß Quangel nicht mehr an diesen Vorwurf dachte, ja, anscheinend dachte er auch nicht mehr an sie. Er sah an ihr vorbei, er sah durch sie hindurch, er stand am Fenster, die Hände in den Taschen seines Arbeitsrocks und pfiff langsam, nachdenklich, mit großen Pausen dazwischen, vor sich hin, was er sonst nie getan hatte.

An was dachte der Mann? Was machte ihn innerlich so erregt? Sie setzte ihm das. Essen auf den Tisch, er fing an zu löffeln. Einen Augenblick beobachtete sie ihn so von der Küche aus. Sein scharfes Gesicht war über den Teller geneigt, aber den Löffel führte er ganz mechanisch zum Munde, seine dunklen Augen blickten auf etwas, das nicht da war.

Sie wandte sich in die Küche zurück, einen Rest Kohl zu wärmen. Gewärmten Kohl aß er gerne. Sie war nun fest entschlossen, ihn gleich jetzt ânzusprechen, wenn sie mit dem Kohl hereinkam. Er mochte ihr noch so scharf antworten, sie mußte dieses unheilvolle Schweigen brechen.

Aber als sie mit dem gewärmten Kohl wieder in die Stube kam, war Otto gegangen, der Teller stand halb leer gegessen auf dem Tisch. Entweder hatte Quangel ihre Absicht gemerkt und sich fottgeschlichen wie ein Kind, das weiter trotzen will, oder er hatte über dem, das ihn innerlich so unruhig machte, das Weiteressen einfach vergessen. Jedenfalls war er fort, und sie müßte bis in die Nacht auf ihn warten.

Aber in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend kam Otto so spät von der Arbeit, daß sie trotz all ihrer guten Vorsätze schon eingeschlafen wär, als er sich ins Bett legte. Sie wachte erst später auf von seinem Husten; sie fragte behutsam: «Otto, schläfst du schon?»

Der Husten hörte auf, er lag ganz still. Noch einmal fragte sie: «Otto, schläfst du schon?»

Und nichts, keine Antwort. So lagen sie beide sehr lange still. Jeder wußte von dem andern, er schlief noch nicht. Sie wagten nicht, ihre Stellung zu ändern, um sich nicht zu verraten. Endlich schliefen sie beide ein.

Der Sonnabend ließ sich noch schlimmer an. Otto Quangel war ungewohnt früh aufgestanden. Ehe sie ihm noch seinen Muckefuck auf den Tisch setzen konnte, war er schon wieder fortgelaufen zu einem jener hastigen, unbegreiflichen Gänge, die er früher nie unternommen hatte. Er kam zurück, von der Küche her hörte sie ihn in der Stube auf und ab gehen. Als sie mit dem Kaffee hereinkam, faltete er sorgfältig ein großes weißes Blatt, in dem er am Fenster gelesen, zusammen und steckte es ein.

Anna war sicher, daß es keine Zeitung gewesen war. Es war zuviel Weiß auf dem Blatt, und die Schrift war größer als in einer Zeitung gewesen. Was konnte der Mann gelesen haben?

Sie ärgerte sich wieder über ihn, seine Heimlichtuerei, all dies Verändertsein, das so viel Unruhe und neue Sorgen brachte, zu all den alten hinzu, die doch schon gereicht hatten. Trotzdem sagte sie: «Kaffee, Otto!»

Bei dem Klang ihrer Stimme wendete er sein Gesicht und sah sie an, ganz als sei er verwundert, daß er nicht allein sei in dieser Wohnung, verwundert, wer da mit ihm sprach. Er sah sie an, und er sah sie doch wieder nicht an. Es war nicht seine Ehegefährtin Anna Quangel, die er so ansah, sondern jemand, den er einmal gekannt hatte und dessen er sich mühsam erinnern mußte. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, in den Augen; über die ganze Fläche des Gesichts war dieses Lächeln ausgebreitet, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie war im Begriff zu rufen: Otto, ach Otto, geh doch nun nicht auch du von mir!

Aber ehe sie sich noch recht entschlossen hatte, war er an ihr vorübergegangen und aus der Wohnung fort. Wiederum ohne Kaffee, wieder mußte sie ihn zum Wärmen in die Küche tragen. Sie schluchzte leise dabei: Was für ein Mann! Sollte ihr denn gar nichts bleiben? Nach dem Sohne auch der Vater verloren?

Quangel ging unterdes eilig auf die Prenzlauer Allee zu. Ihm war eingefallen, daß er sich besser vorher solch ein Haus einmal ansah, ob seine Idee von einem solchen Hause auch richtig war? Sonst mußte er sich was anderes ausdenken.

In der Prenzlauer Allee ging er langsamer, sein Auge streifte die Schilder an den Haustüren, als suchten sie etwas Bestimmtes. An einem Eckhaus sah er die Schilder von zwei Rechtsanwälten und einem Arzt neben vielen Geschäftsschildern.

Er drückte gegen die Haustür. Sie öffnete sich sofort. Richtig: kein Portier in solch einem viel begangenen Hause. Er stieg langsam, die Hand auf dem Geländer, die Stufen der Treppe empor, eine ehemals «hochherrschaftliche» Treppe mit Eichenparkett, von der aber viel Benutzung und Krieg jede Spur des Hochherrschaftlichen genommen hatten. Jetzt sah sie nur schmierig und abgetreten aus, die Läufer waren schon längst verschwunden, wahrscheinlich bei Kriegsausbruch eingezogen.

Otto Quangel passierte ein Anwaltsschild im Hochparterre, er nickte, langsam stieg er weiter. Es war nicht so, daß er etwa allein dies Treppenhaus benutzt hätte, nein, immerzu eilten Leute an ihm vorüber, ihm entgegenkommend oder ihn überholend. Immer hörte er Klingeln gehen, Türen schlagen, Telefone läuten, Schreibmaschinen klappern, Stimmen sprechen.

Aber dazwischen kam immer wieder ein Augenblick, da Otto Quangel das Treppenhaus ganz für sich allein hatte, oder doch seinen Treppenabschnitt für sich allein, wo alles Leben sich in die Büroräume zurückgezogen zu haben schien. Das wäre dann der richtige Augenblick gewesen, es zu tun. Es war überhaupt alles richtig, genau wie er es sich gedacht hatte. Eilige Menschen, die einander nicht ins Gesicht sahen, schmutzige Fensterscheiben, durch die nur ein graues Tageslicht sickerte, kein Portier, überhaupt niemand, der an dem andern Interesse nahm.

Als Otto Quangel im ersten Stockwerk das Schild des zweiten Anwalts gelesen hatte und durch eine deutende Hand dahin belehrt worden war, der Arzt wohne noch eine Treppe höher, nickte er zustimmend. Er machte kehrt, er kam eben gerade vom Anwalt, er ging aus dem Haus. Unnötig, sich dort weiter umzusehen, genau das Haus, wie er es brauchte, und von solchen Häusern gab es Tausende in Berlin.

Der Werkmeister Otto Quangel steht wieder auf der Straße. Ein dunkler junger Mann mit sehr weißer Gesichtshaut tritt auf ihn zu.

«Herr Quangel, nicht wahr?» fragt er. «Herr Otto Quangel aus der Jablonskistraße, nicht wahr?»

Quangel knurrt ein abwartendes «Nu?», ein Laut, der beides, Zustimmung wie Ablehnung, bedeuten kann.

Der junge Mann nimmt ihn für Zustimmung. «Ich soll Sie von der Trudel Baumann bitten», sagt er, «daß Sie sie ganz vergessen. Ihre Frau möchte die Trudel auch nicht mehr besuchen. Es ist nicht nötig, Herr Quangel, daß ... »

«Bestellen Sie», sagt Otto Quangel, «daß ich keine Trudel Baumann kenne und nicht angequatscht zu werden wünsche ... »

Seine Faust trifft den jungen Mann direkt an der Kinnspitze, der sackt zusammen wie ein nasser Lappen. Quangel geht achtlos durch die Leute, die zusammenzulaufen beginnen, hindurch, direkt an einem Schupo vorbei, auf die Haltestelle der Elektrischen zu. Die Bahn kommt, er steigt ein, fährt zwei Haltestellen weit. Dann fährt er in der Gegenrichtung zurück, diesmal auf der Vorderplattform des Anhängers. Es ist, wie er gedacht: der größte Teil der Menschen hat sich in der Zwischenzeit verlaufen, zehn, zwölf Neugierige stehen noch vor einem Café, in das man den Angeschlagenen wohl geschafft hat.

Er ist schon wieder bei Besinnung. Zum zweitenmal innerhalb zweier Stunden hat Karl Hergesell sich einer amtlichen Person gegenüber auszuweisen.

«Es war wirklich nichts, Herr Wachtmeister», versicherte er. «Ich habe ihn wohl unachtsam auf den Fuß getreten, und er schlug gleich zu. Keine Ahnung, wer das war, ich hatte meine Entschuldigung noch nicht raus, da schlug er schon zu.»

Wieder darf Karl Hergesell unangefochten gehen, kein Verdacht besteht gegen ihn. Aber er ist sich klar darüber, daß er sein Glück so nicht weiter auf die Probe stellen darf. Er ist zu diesem Ex-Schwiegervater Otto Quangel auch nur deswegen gegangen, um wegen Trudels Sicherheit klarzusehen. Nun, was diesen Otto Quangel angeht, so darf er wohl unbesorgt sein. Ein harter Vogel das, und ein böser dazu. Und gewiß kein geschwätziger, trotz seines großen Schnabelhakens. Diese Art, wie er rasch und böse zuschlug!

Und weil ein solcher Mensch vielleicht plappern konnte, war die Trudel beinahe in den Tod gehetzt worden. Der plapperte nie – auch vor denen nicht! Und um Trudel würde er sich auch kaum kümmern, er schien von der Trudel nicht mehr viel wissen zu wollen. Was solch ein rascher Kinnhaken einem doch manchmal für Aufklärung bringen kann!

Karl Hergesell geht nun völlig unbesorgt in die Fabrik, und als er dort durch vorsichtige Umfrage erfährt, daß Grigoleit und der Säugling in den Sack gehauen haben, atmet er auf. Nun ist alles sicher. Es gibt keine Zelle mehr, aber er bedauert das nicht einmal sehr. Dafür wird Trudel leben!

Im Grunde hat er sich nie so sehr für die politische Arbeit interessiert, dafür um so mehr für die Trudel!

Quangel fährt auf der Elektrischen wieder seiner Wohnung zu, aber als er aussteigen müßte, fährt er an der Jablonskistraße vorüber. Sicher ist sicher, falls wirklich noch ein Verfolger an seinen Hacken hängt, will er sich mit ihm allein auseinandersetzen, ihn nicht in die Wohnung ziehen. Anna ist jetzt nicht in der richtigen Verfassung, mit einer unangenehmen Überraschung fertig zu werden. Er muß erst mit ihr reden. Gewiß, er wird das tun, Anna spielt eine große Rolle bei dem, was er vorhat. Aber erst muß er anderes erledigen.

Quangel, hat sich entschlossen, heute vor der Arbeit überhaupt nicht mehr nach Haus zu kommen. Er wird eben auf Kaffee und Mittagessen verzichten Anna wird ein bißchen unruhig sein, aber sie wird schon warten und nichts Voreiliges tun. Er muß heute was erledigen. Morgen ist Sonntag, da muß alles da sein.

Er steigt wieder um und fährt in die Stadt hinein. Nein, wegen dieses jungen Menschen eben, dem er so rasch mit einem Faustschlag den Mund gestopft hat, macht sich Quangel keine großen Sorgen. Er glaubt auch nicht so recht an weitere Verfolger, er glaubt vielmehr daran, daß dieser Mann wirklich von der Trudel kam. Sie hat ja schon so was angedeutet, sie müsse gestehen, daß sie ihren Schwur gebrochen habe. Daraufhin haben die ihr natürlich allen Umgang mit ihm verboten, und sie hat diesen jungen Burschen als Boten abgesandt. All das ganz ungefährlich. Die reine Kinderei das, wirklich Kinder, die sich in ein Spiel eingelassen haben, von dem sie nicht das geringste verstehen. Er, Otto Quangel, versteht ein wenig mehr davon. Er weiß, in was er sich da einlassen wird. Aber er wird dieses Spiel nicht wie ein Kind spielen, er wird sich jede Karte überlegen.

Er sieht die Trudel wieder vor sich, wie sie da in diesem zugigen Gang gegen das Plakat des Volksgerichtshofes lehnte – ahnungslos. Er empfindet wieder dieses unruhige Gefühl, als der Kopf des Mädchens von der Überschrift «Im Namen des deutschen Volkes» gekrönt war, er liest wieder statt der fremden die eigenen Namen – nein, nein, dies ist eine Sache für ihn allein. Und für Anna, für die Anna natürlich auch. Er wird ihr schon zeigen, wer «sein» Führer ist!

In der Innenstadt angekommen, erledigt Quangel erst einige Einkäufe. Er kauft nur für Pfennigbeträge, ein paar Postkarten, einen Federhalter, ein paar Stahlfedern, ein Fläschchen Tinte. Und auch diese Einkäufe verteilt er noch auf ein Warenhaus, eine Woolworth-Niederlage und auf ein Schreibwarengeschäft. Schließlich, nach langem Überlegen, ersteht er noch ein Paar ganz einfache, dünne Stoffhandschuhe, die er ohne Bezugschein bekommt.

Dann sitzt er in einem dieser großen Bierrestaurants am Alexanderplatz, er trinkt ein Glas Bier, er bekommt auch noch markenfrei zu essen. Wir schreiben 1940, die Ausplünderung der überfallenen Völker hat begonnen, das deutsche Volk hat keine großen Entbehrungen zu tragen. Eigentlich ist noch fast alles zu haben, und noch nicht einmal übermäßig teuer.

Und was den Krieg selbst angeht, so wird er in fremden Ländern fern von Berlin ausgetragen. Ja, es erscheinen schon dann und wann englische Flugzeuge über der Stadt. Dann fallen ein paar Bomben, und die Bevölkerung macht am nächsten Tage lange Wanderungen, um die Zerstörungen zu besichtigen. Die meisten lachen dann und sagen: «Wenn die uns so erledigen wollen, brauchen sie hundert Jahre dazu, und dann ist noch immer nicht viel davon zu merken. Unterdes radieren wir ihre Städte vom Erdboden weg!»

So reden die Leute, und seit jetzt Frankreich um Waffenstillstand bat, hat sich die Zahl derer, die so reden, stark vergrößert. Die meisten Menschen laufen dem Erfolg nach. Ein Mann wie Otto Quangel, der mitten im Erfolg aus der Reihe tritt, ist eine Ausnahme.

Er sitzt da. Er hat noch Zeit, noch muß er nicht in die Fabrik. Aber jetzt ist die Unruhe der letzten Tage von ihm gefallen. Seit er dieses Haus besichtigt, seit er diese paar kleinen Einkäufe erledigt hat, ist alles entschieden. Er braucht nicht einmal mehr groß nachzudenken über das, was er noch zu tun hat. Das tut sich jetzt von allein, der Weg liegt klar vor ihm. Er braucht ihn nur weiterzugehen, die ersten entscheidenden Schritte in ihn hinein sind schon getan.

Dann, als seine Zeit gekommen ist, zahlt er und macht sich auf den Weg in die Fabrik. Obwohl es ein weiter Weg ist vom Alexanderplatz aus, geht er ihn zu Fuß. Er hat heute schon genug Geld ausgegeben, für Fahrerei, für die Einkäufe, das Essen. Genug? Viel zuviel! Trotzdem Quangel sich jetzt für ein ganz anderes Leben entschlossen hat, wird er an den bisherigen Gewohnheiten nichts ändern. Er wird weiter sparsam bleiben und sich die Menschen vom Leibe halten.

Schließlich steht er wieder in seiner Werkstatt, aufmerksam und wach, wortlos und abweisend, ganz wie immer. Ihm ist nichts anzusehen von dem, was in ihm vorgegangen ist.

Jeder stirbt für sich allein

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