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Vorspiel. Die kleine Stadt

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1. Staub zu Staub

„Asche zu Asche! Erde zu Erde! Staub zu Staub!“ rief der Pastor, und bei jeder Anrufung menschlicher Vergänglichkeit warf er mit einer kleinen Kinderschippe Erde hinab in die Gruft. Unerträglich hart polterten die gefrorenen Brocken auf das Holz des Sarges.

Den jungen Menschen, der hinter dem Geistlichen stand, schüttelten Grauen und Kälte. Er meinte, der Pastor hätte dem Vater die Erde sanfter ins Grab geben können. Doch als er nun selbst die Erde auf den toten Vater hinabwarf, schien sie ihm noch lauter zu poltern. Ein Schluchzen packte ihn. Aber er wollte nicht weinen, er wollte nicht hier weinen vor all diesen Trauergästen, er wollte sich stark zeigen. Fast hilfeflehend richtete er den Blick auf den Grabstein von rötlichem Syenit, der senkrecht zu Häupten des Grabes stand. „Klara Siebrecht, geboren am 16. Oktober 1867, gestorben am 21. Juli 1893“ war darauf zu lesen. Von diesem Stein konnte keine Hilfe kommen. Die goldene Schrift war vom Alter schwärzlich angelaufen, das Sterbedatum der Mutter war zugleich sein Geburtstag; er hatte die Mutter nie gekannt. Und nun würde bald auch der Name des Vaters auf diesem Stein zu lesen sein mit dem Todestag: 11. November 1909.

Asche zu Asche! Erde zu Erde! Staub zu Staub! dachte er. Nun bin ich ganz allein auf der Welt, dachte er, und wieder schüttelte ihn ein Schluchzen.

„Gib mir die Schippe, Karl“, flüsterte der Onkel Ernst Studier und nahm sie ihm schon aus der Hand.

Karl Siebrecht trat verwirrt zurück neben Pastor Wedekind. Der gab ihm fest die Hand, sah ihm ernst ins Auge. „Ein schwerer Verlust für dich, Karl“, sagte er. „Du wirst es nicht leicht haben. Aber halte die Ohren steif und vergiß nicht, dass Gott im Himmel keine Waise verlässt!“

Und nun kamen sie alle, der Reihe nach, schüttelten ihm die Hand und sagten ein paar Worte, meist ermahnenden Inhalts, stark zu sein; sie alle, von dem gelblichen Onkel Studier an bis zu dem dicken Hotelier Fritz Adam. Und keiner von ihnen allen sagte auch nur ein nettes Wort über Vater, der ihnen doch immer gefällig und hilfreich gewesen war, viel zu gefällig und viel zu hilfreich, dachte der Sechzehnjährige mit Erbitterung. Aber ich will nicht so gutmütig sein wie Vater, dachte er. Ich werde in meinem Leben stark und hart sein!

Sein Herz wurde gleich wieder weich, als nun nach all den Männern als einzige Frau die alte Minna am Grabe stand, Minna mit ihrem wie aus Holz geschnittenen Gesicht, die schon bei seiner Mutter gedient und ihn großgezogen, die jahraus, jahrein den heranwachsenden Sohn betreut hatte. Ein sanftes Gefühl machte ihn beben, als er sie so starr und tränenlos am Grabe stehen sah. Arme alte Minna, dachte er. Was wird nun aus dir? Sie umfaßte seine Hand mit einem Griff. „Mach schnell, dass du nach Hause kommst, Karl –“, flüsterte sie. „Du siehst schon ganz blau aus. Ich setze gleich was Warmes für dich auf!“

Nun gingen alle. Karl Siebrecht sah das Barett des Geistlichen schon nahe der Kirchhofspforte, ihm folgte in kleinem Abstand der Troß der Trauergäste. Alle hatten es eilig, aus dem eisigen Novemberwind zu kommen. „Nun mach schon zu, Karl!“ drängte der Onkel Ernst Studier. „Deinem Vater ist auch nicht damit geholfen, dass wir hier stehen und frieren.“

„Recht hast du, Ernst!“ stimmte der Hotelier Adam zu und setzte sich auf der anderen Seite Karl Siebrechts in Marsch. „Wir wollen sehen, dass wir rasch ins Warme kommen!“

Aber der Junge achtete gar nicht auf die lieblosen Worte der beiden. Ihm war es, als habe er hinter einem Grabstein etwas huschen sehen, nach dem Grabe des Vaters zu. Wirklich, es war Erika, seine kleine Nachbarin, die vierzehnjährige Tochter des Pastors Wedekind. Sie hatte sich heimlich zum Begräbnis geschlichen, und sie hätte doch in dieser Nachmittagsstunde im Handarbeitsunterricht sein müssen! Gute, kleine Erika – jetzt warf sie Blumen in das Grab ...

„Was hast du denn, Karl?“ rief der Onkel und hielt den Stolpernden. „Wo hast du denn deine Augen?“

„Süh mal süh“, sagte der Hotelier, und seine Augen waren vor heimlichem Vergnügen ganz klein geworden. „Ist das nicht Wedekinds Erika? Das sollte Pastor Wedekind wissen! Um deinen Vater ist die auch nicht hierhergekommen, Karl!“

„Das finde ich nicht hübsch von dir, Karl!“ Onkel Ernst Studier führte den Jungen fast gewaltsam aus der Kirchhofspforte. „Am Begräbnistag deines lieben Vaters solltest du andere Dinge im Kopf haben! Und überhaupt: Du bist erst sechzehn, und sie kann kaum vierzehn sein ...!“

„Was ihr auch immer gleich denkt!“ rief der Junge zornig. „Wir sind nicht so, wie ihr – denkt!“

„Wir denken schon das Richtige – leider!“ antwortete der Onkel streng. „Überhaupt, eine Pastorentochter steht viel zu hoch für dich“, erklärte er. „Du kannst froh sein, wenn dich irgendwer in die Lehre nimmt!“

„Das kannst du!“ stimmte Adam zu. „Für einen Lehrling bist du mit deinen Sechzehn zu alt, und für die Schule ist kein Geld da!“

Aber Karl Siebrecht achtete nicht mehr auf ihr Geschwätz, er war nur froh, dass sie nicht mehr von Erika Wedekind sprachen. Mit Abneigung sah er auf die nüchternen Backsteinfassaden der märkischen Kleinstadt, auf die dürftigen Ladenauslagen der kleinen Krämer, wie der Onkel Ernst Studier einer war. Dreimal war er mit dem Vater in Berlin gewesen, immer nur auf ein paar Tage, aber doch hatte ihn die Großstadt bezaubert. Der Vater hätte gar nicht erst zu sagen brauchen: „Mach es nicht wie ich, Karl, setz dich nicht in einem solchen Nest fest. Alles wird klein und eng dort. Hier hat man Platz, hier kann man sich rühren.“ Oh, er wollte sich rühren, die sollten ihn nicht halten können!

Vor dem Hotel „Hohenzollern“ stand wartend ein ganzer Trupp der Leidtragenden. „Das hab' ich mir doch gedacht!“ rief Fritz Adam. „Ja, kommt nur alle 'rein, meine Alte hat das Grogwasser schon heiß! Das wird uns guttun! – Du darfst auch mitkommen, Karl! Heute darfst du ausnahmsweise ein Glas Grog trinken!“

„Nein, danke!“ sagte Karl Siebrecht. „Ich geh schon nach Haus!“

„Wie du willst!“ sagte der Hotelier etwas beleidigt. „Viel Grog wird dir in den nächsten Jahren bestimmt nicht angeboten!“

Und der Onkel Studier: „Um fünf sind wir dann alle bei dir und besprechen deine Zukunft. Sage der Minna, sie soll uns einen guten Kaffee kochen.“

Hinter der nächsten Hausecke wartete Karl Siebrecht, bis sie alle in Adams Hotel verschwunden waren. Dann lief er im Trab zum Friedhof zurück. Aber sosehr er sich dort auch umsah, es war alles leer und still. Seine kleine Freundin war schon gegangen. So schlich er leise an das Grab. Es lag, wie er es verlassen, die Totengräber waren noch nicht dagewesen. Er sah hinab auf den Sarg. Über der hinabgeworfenen Erde lagen drei Blumen, die sie gebracht, drei weiße späte Astern. Zwischen Schauder und Verlangen kniete er an des Vaters Grab nieder, beugte sich tief in die Gruft und nahm sich eine Blume vom Sarg.

2. Die Zukunft in der Küche

In der Stube redeten sie immer lauter; sie wurden wohl über seine Zukunft nicht einig. Der Junge starrte aus dem Küchenfenster in die vom Wind durchpfiffene nasse Novembernacht. Hinter seinem Rücken wirtschaftete die alte Minna mit ihren Töpfen am Herde. Jetzt schraubte sie den Docht der Petroleumlampe niedriger, dass die Küche fast im Dämmer lag. Sie sagte: „Es ist bald Abendessenszeit, soll ich dir Stullen machen, Karl?“

„Ich kann nicht essen – wenigstens so lange nicht, bis über meine Zukunft entschieden ist!“

„Da wird nicht viel zu entscheiden sein! Du wirst Verkäufer werden müssen bei deinem Onkel Ernst!“

„Nie, Minna! Das nie! Hast du wirklich gedacht, ich würde bei Onkel Ernst unterkriechen und in seinem Kramladen grüne Seife verkaufen? Nie – nie – nie!“

„Aber was dann, Karl? Du weißt, es ist kein Pfennig da. Wenn alles verkauft ist, reicht es vielleicht gerade für die Schulden. Was willst du denn anfangen?“

„Ich gehe fort, Minna. Minna, verrat mich nicht, ich gehe nach Berlin!“

„Das werden die nie erlauben!“

„Ich gehe, ohne sie zu fragen!“

„Aber was willst du denn in Berlin anfangen? Du hast nichts gelernt, du bist nur ein Schüler gewesen, du bist körperliche Arbeit nicht gewohnt!“

„Ich bin stark, ich bin stärker als alle, Minna. Ich will raus hier aus der Enge! – Ich hasse hier jeden Stein, jedes Haus, jedes Gesicht – nur dein gutes, altes Gesicht nicht, Minna! Ich will fort von dem allen, es hat den Vater kaputtgemacht, ich will nicht, dass es mir ebenso geht!“

„Du weißt nicht, Karl, wie schwer ein Leben ist, in dem man ganz auf sich allein gestellt ist!“

Karl Siebrecht rief mit heller Stimme: „Es soll ja schwer sein, Minna! Ich will gar kein leichtes Leben haben. Ich will viel werden, ich fühle dazu die Kraft in mir!“

Unbeirrt fuhr das alte Mädchen fort: „Und dann das Leben in der großen Stadt! Du, der nie ruhig sitzen kann, der jede freie Stunde draußen war – du willst immer in solchen hohen Steinhäusern hocken, ohne Licht und Sonne – du wirst todunglücklich dabei, Karl!“

„Und wenn ich dort unglücklich werde, Minna, so weiß ich, es hat sich gelohnt. Hier wäre ich auch jeden Tag unglücklich, und wofür, Minna, wofür? Was kann ich denn hier werden –?!“

„Man kann überall etwas Rechtes werden, Karl!“

„Das ist so ein Spruch, wie ihn der Pastor Wedekind sagt. Ich kann mit solchen Sprüchen nichts anfangen. Ich hab's hier in der Brust, Minna, ich muss fort von hier, wo mich jedes Gesicht, jeder Baum an den Vater erinnert, wo sie alle in meinem Rücken flüstern: Das ist der Junge vom Maurermeister Siebrecht, der Bankrott gemacht hat!“

Sie hatte die Hände auf seine Schulter gelegt, sie sagte: „Also geh, mein Junge, geh! Ich halte dich gewiß nicht, wenn du musst!“

„Ja, ich muss, Minna, weil ich etwas werden will – ein wirklicher Mann! Die hier werden schon nachgeben, der Onkel Studier, mein Vormund, und der dicke Fritz Adam, Vaters Freund. Ich werde ihnen nie lästig fallen, ich werde sie nie um etwas bitten! Ich komme nicht eher zurück, bis ich etwas geworden bin, etwas Richtiges! Und dann besuche ich dich, Minna, dann hole ich dich zu mir nach Berlin, vielleicht in einem Automobil ...!“

Minna sah in seine leuchtenden Augen. Plötzlich – sie wußte selbst nicht, wie das gekommen war –, plötzlich hatte sie ihn umfaßt, sie hatte ihn gegen ihre Brust gedrückt, sie preßte ihn fest an sich. „Ach, du Kind, du“, flüsterte sie und war froh, dass er die ungewohnten Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. „Ach, du großer, kleiner Junge, du! Willst du mir jetzt aus dem Nest fliegen?! Paß nur auf, es gibt so viele große, böse Vögel, und es kommen Stürme, für die deine Flügel zu schwach sind ...! Aber fliege nur fort, du hast ja recht; besser fliegen als kriechen!“

3. Abschied von der Jugend

Der Tag war grau, es wollte nicht hell werden. Am Fenster der Schlafstube stand Karl Siebrecht, sah hinaus in den kleinen Garten, dessen kahle Bäume von immer neuen Stößen des Novemberwindes erzitterten, sah über den Garten fort, zu der Rückseite des Wedekindschen Hauses ... Hinter ihm packte Minna Anzüge und Wäsche in einen Reisekorb. Sie hielt eine Hose aus gelblichem geripptem Samt in die Höhe und sagte: „Dann ist da noch Vaters Manchesterhose, die ist noch ganz gut. Wenn du ein bißchen wächst, wird sie dir passen!“

„Pack bloß nicht zuviel ein, Minna!“ rief, ohne sich umzuwenden, der Junge ungeduldig. „Was soll ich mit all dem Zeug?“

„Es ist schon nicht zuviel Zeug da, Karl!“ antwortete Minna trübe und legte die Hose in den Korb. Sie griff nach einem Stoß Wäsche.

Der Junge hielt in der Handfläche verborgen einen kleinen runden Taschenspiegel. Von der kahlen, leeren Rückwand des Pastorenhauses sah er ungeduldig empor zum vorwinterlichen Himmel, auf dem sich graue, lockere Wolken jagten. Er flehte um eine, um eine halbe Minute Sonnenschein ...

An seinem Stehpult, mit der Ausarbeitung der Sonntagspredigt beschäftigt, stand der Pastor Wedekind – ihm fuhr der im Spiegel gefangene Sonnenstrahl zuerst blitzend ins Auge. „Da ist doch wieder dieser infame Bengel mit seinem Taschenspiegel zugange!“ rief er, empört auffahrend. „Und so was am Tage, nachdem wir seinen Vater zur Ruhe geleitet haben!“

Der Sonnenfleck war schon über die Stubendecke fortgetanzt, er glitt, von dem mißbilligenden Blick des Geistlichen verfolgt, am Kachelofen hinab und blieb einen Augenblick auf der Stirn der Frau Pastor ruhen. Sie schlug nach ihm, als sei er eine lästige Fliege. „Erika!“ rief der Geistliche entrüstet. „Erika! Sofort gehst du – –“

Den Geistlichen, der zwischen Fenster und Tisch getreten war, traf ein zweites Mal das Licht des Novembertages, diesmal bestrahlte es die fleischige Backe. Er fuhr mit dem Kopf zurück, und der goldene Fleck ließ sich auf der Tischplatte nieder, gerade vor Erikas häkelnden Händen. Er zitterte ein wenig hin und her, schob sich nahe an die Hände heran, berührte, vergoldete, umspielte die Finger – – „Sofort gehst du in das Siebrechtsche Haus und sagst dem infamen Bengel, dass ich mir diesen Unfug verbitte – ein für allemal! Ich sei empört, dass er heute, an einem solchen Tage – ich meine, nach einem solchen Tage – –“

„Jawohl, Papa!“ sagte Erika und löste mit einem leichten Bedauern ihre Hände aus dem Lichtgruß. Sie ging zur Tür.

„Aber in zwei Minuten bist du wieder hier!“ befahl die nicht ganz so ahnungslose Mutter.

„Jawohl, Mama!“

„Ach nein, laß mich lieber selbst gehen!“

Doch war Erika schon aus der Stube. Leise und eilig lief sie die Treppen hinunter, trat in den winderfüllten Garten, schwang sich, ihre langen Röcke rücksichtslos raffend, über das Mäuerchen, das die beiden Gärten trennte, und lief durch den Siebrechtschen auf den Schuppen zu, in dem sowohl spärliches Gartengerät verwahrt wurde, als auch den Hühnern mit Stangen und Nestern eine Stätte des Verweilens bereitet war.

Nicht nur den Hühnern. Denn als sie in das halbe Dunkel hineinfragte „Karl?“, antwortete er sofort: „Ria!“, und der Freund zog sie an der Hand zu einer Karre. „Setz dich, Ria! Ich habe direkt zu Gott gebetet, um einen Moment Sonne! Ich glaube ja sonst nicht an Gott, aber diesmal –“

„Diesmal hast du Vater schön wütend gemacht! Ich soll dir sagen ...“

„Laß ihn! Es war das letztemal, Ria!“ Mit einer gewissen Feierlichkeit wiederholte der Junge: „Es war das letztemal. Ich gehe fort, Ria! Ganz fort!“

„Du, Karl? Warum denn – –? Wer soll mir dann meine Schularbeiten machen?! Ich bleibe bestimmt zu Ostern kleben! Bleib doch hier, Karl, bitte!“

„Ich muss fort, Ria! Ich gehe nach Berlin!“

„Ach, Karl, warum denn? Hier ist es doch auch ganz schön – manchmal –!“

„Ich will was werden, Ria!“

„Und wenn ich dich bitte, Karl?! Bleib hier, Karl! Ich bitte dich!“

„Es geht nicht, Ria, es muss sein!“

Einen Augenblick schwieg sie, auf ihrer Karre hockend. Er, vor ihr stehend, zu ihr niedergebeugt, sah gespannt in ihr dämmriges, doch helles Gesicht. Dann stampfte sie mit dem Fuß auf. „Also geh, geh doch in dein olles Berlin!“ rief sie zornig. „Warum gehst du denn nicht? Ich bin froh, wenn du gehst! Du bist genauso ein ekliger Junge wie alle andern!“

„Aber, Ria!“ rief er ganz bestürzt. „Sei doch nicht so! Versteh doch, dass ich fort muss! Hier kann ich nie etwas werden!“

„Ich muss gar nichts verstehen! Du willst wohl bloß weg, weil du uns alle über hast, mich auch – und ich habe gedacht, du möchtest mich ein bißchen gern ...“ Bei den letzten Worten versagte ihr fast die Stimme. Sie sprang von ihrer Karre auf und zog sich tiefer in das Dunkel des Schuppens zurück, damit er nicht ihre Tränen sehen sollte. Sie scheuchte eine Henne von ihrem Nest auf, die mit lautem Protest gackernd aus der Tür flüchtete.

Karl Siebrecht hatte ihre Hand gefaßt und streichelte sie ungeschickt. „Ach, Ria, Ria“, bat er. „nimm es doch nicht so! Ich muss doch wirklich fort. Hier sollte ich Hausdiener im Hotel Hohenzollern werden.“

„Das tust du nicht, Karl, unter keinen Umständen!“

„Und ich will doch viel werden, und dann komme ich wieder.“

„Dauert es lange, bis du wiederkommst?“

„Es dauert wohl seine Zeit, Ria – ziemlich lange!“

„Und dann, Karl –?“

„Dann frage ich dich vielleicht etwas, Ria ...!“

Pause. Dann sagte das Mädchen leise: „Was willst du mich denn fragen, Karl?“

Er wagte es nicht. „Es ist noch so lange hin, Ria! Erst muss ich etwas geworden sein.“

Und sie, ganz leise flüsternd: „Frag es doch schon jetzt, Karl. Bitte!“

Er zögerte. Dann zog er vorsichtig etwas aus der Innentasche seines Jacketts. „Weißt du, was das ist?“

„Was soll das sein?“

„Das ist eine von den Blumen, Ria“, sagte er feierlich, „die du in Vaters Grab geworfen hast. Ich nehme sie mit nach Berlin und werde sie immer bei mir tragen!“

Der Wind jagte mit Schnee vermischten Regen zur Türöffnung herein. Sie drängte sich enger an ihn, sie flüsterte angstvoll: „Das ist doch eine Totenblume, Karl!“

„Aber ich habe sie von dir, Ria, sie bringt mir bestimmt Glück! Und hier habe ich einen kleinen Ring von meiner Mutter – willst du den nicht tragen, Ria, damit du immer an mich denkst?!“

„Ich darf doch keinen Ring von dir tragen. Vater würde es nie erlauben!“

„Du kannst ihn tragen, wo dein Vater ihn nicht sieht. Ich trage deine Blume auch auf dem Herzen!“

Sie schwiegen eine Weile. Dann flüsterte sie: „Ich danke dir für den Ring, Karl. Ich will ihn immer tragen.“

Und wieder Schweigen. Nahe sahen sie sich in die blassen Gesichter, ihre Herzen klopften sehr. Nach einer Weile flüsterte Siebrecht: „Möchtest du mir wohl einen Kuß zum Abschied geben, Ria?“

Sie sah ihn an. Dann hob sie langsam die Arme und legte sie sachte um seinen Hals. „Ja ...“ flüsterte sie.

Krachend warf der Wind die Tür des Schuppens ins Schloß, gerade vor dem nahenden Pastor Wedekind, der in Sturm, Regen und Schnee seine Tochter suchte. Er rüttelte an der Tür. Mit Mühe öffnete er sie gegen den Winddruck und rief in den dunklen Schuppen. „Bist du hier, Erika?“ rief er.

Der Junge, im Dunkeln das Mädchen im Arm, trat mit dem Fuß nach den Nestern. Laut gackernd flatterte eine Henne auf und torkelte gegen den geistlichen Herrn. Eine andere Antwort gab der Schuppen nicht.

Hans Fallada: Ein Mann will nach oben

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