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Erster Teil. Rieke Busch

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4. Fahrt mit der Kleinbahn

Das letzte Winken von Minna war entschwunden – Karl Siebrecht konnte sich in einer Ecke des geräumigen Wagens hinsetzen und seine Tränen trocknen. Ja, er hatte nun doch geweint, wie auch die alte Minna beim Abschied geweint hatte. So leicht, wie er geglaubt hatte, war ihm die Trennung von der kleinen Stadt nicht geworden.

Er fuhr hoch und sah aus dem Fenster. Aber der Ausblick auf das Städtchen mit seinem roten spitzen Kirchturm war schon durch Wald versperrt, nun fuhr er wirklich in die Welt hinaus, hatte alles dahinten gelassen, was bisher sein Leben bedeutet hatte. Er musste schon wieder nach dem Taschentuch suchen, fand es aber nicht gleich, sondern statt seiner ein Päckchen, das ihm Minna im letzten Augenblick noch in den Zug gereicht hatte. Er knotete das rote Wäscheband darum auf und fand, in einem Schächtelchen, Vaters dicke silberne Uhr und darunter, unter einer Schicht Watte, zehn große Goldfüchse!

Zweihundert Mark! Er starrte ungläubig darauf – aber sie waren da, auf dem Schachtelboden, und es sah der Minna so recht ähnlich, ihm ihre Ersparnisse so zuzustecken, dass er weder die Annahme verweigern noch ihr danken konnte! Wie lange musste das alte Mädchen an diesen zweihundert Mark gespart haben! Denn sie hatte nur wenig verdient, und auch mit dem Auszahlen dieses Wenigen hatte es bei Vater in den letzten Jahren gar nicht mehr klappen wollen! Sobald ich in Berlin bin, schicke ich ihr das Geld zurück, dachte der Junge. Aber damit würde er sie nur kränken, fiel ihm gleich ein. Ich werde ihr das Geld schicken, sobald ich feste Arbeit und ein bißchen was gespart habe, dann freut sie sich um so mehr! Sorgfältig legte er das Geld in das Schächtelchen zurück. Alles in allem besaß er jetzt zweihundertsechzig Mark, er kam als reicher Mann nach Berlin! Vaters Uhr aber steckte er sorgfältig in die Westentasche – er würde sie gleich auf der nächsten Station stellen. Zum erstenmal in seinem Leben besaß er eine Uhr!

Der Zug fing kräftig zu bimmeln an, und eilig nahm Karl Siebrecht die Uhr wieder aus der Tasche. Sie fuhren jetzt über die Wegkreuzung kurz vor dem Dorfe Priestitz, gleich würden sie in Priestitz halten, und er konnte die Uhr stellen. Er war so beschäftigt damit, dass ihn erst eine scheltende, helle Stimme an eine andere Pflicht erinnern musste.

„Na, du langer Laban!“ schalt die helle Stimme unter einem kaputzenförmigen Hut hervor. „Siehste nich, det ick mir mit die Reisekörbe eenen Bruch heben tue?! Kiek nich und faß lieber an!“

Rasch griff Karl zu und zog den schweren Korb in den Wagen. „Entschuldigen Sie nur“, sagte er eilig. „Ich dachte –“

„Dachte sind keene Lichte! Hier, faß noch mal an – hau ruck! Siehste, den hätten wa ... So, un nu nimmste Tilda'n hoch!“ Und zu dem plärrenden Kind: „Weene nich, Tilda! Der Mann tut dir nischt – er is ja gar keen Mann, er is bloß dußlig, und dußlig is er, weil er nie aus seinem Kuhkaff rausjekommen is! Na, und nu jib mir ooch mal die Hand, du Kavalier – Hau ruck! Diese verfluchten Kleedagen!“

Als Karl Siebrecht diese energische Dame in den Wagen zog – sie hatte dabei die Röcke ungeniert hochgenommen und zwischen die Knie geklemmt –, sah er zum erstenmal ihr Gesicht. Nach der Stimme hatte er gemeint, es müsse eine junge Frau sein, eine sehr junge vielleicht. Nun sah er mit Staunen, dass es ein Kind war, ein Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren, schätzte er, in den viel zu weiten Kleidern einer alten Frau, aber mit dem ein bißchen frechen, vergnügten Gesicht einer Spitzmaus! Ganz hell – mit einer langen dünnen Nase, hellen flinken Augen und mit einem schmalen, sehr beweglichen Mund. „Na, wat grinste?“ fragte das Mädchen gleich. „Ach, du dachtest, ick war deine Jroßmutta! Nee, is nich! Wetten, du rätst nich, wie alt ick bin? Na, wie alt bin ick?“ Und gleich weiter, ohne eine Antwort abzuwarten: „Warum halten wir denn noch immer in disset Kaff?! Wejen mir kanns weiterjehn! Wär ick nich gewesen und die Tilda, hätt' er übahaupt nich halten brauchen! Er soll man machen, det wa weiterkommen, sonst vapassen wa in Prenzlau noch den Anschluß!“

„Sie müssen erst die Milchkannen einladen“, erklärte Karl. „Die sollen auch mit nach Berlin.“

„Ach, so is det! Du weest hier woll Bescheid? Biste von hier? Aber ick habe dir hier nie jesehen! Ick bin schon drei Tage hier, ick kenne jeden Schwanz in det Kaff!“

„Nein, ich bin eine Station weiter her. Aber ich weiß hier Bescheid, mein Vater hat hier mal den Bahnhof gebaut. Bei wem waren Sie – warst du denn hier?“

„Ach nee, den Bahnhof? So wat nennt ihr hier Bahnhof?! So wat nenn ick ne Sommerbluse – vorne offen und hinten ooch nich ville. Die kann dein Vater sich an den Hut stecken!“

Unwillkürlich sagte Karl Siebrecht: „Mein Vater ist am Montag gestorben.“

„Ach nee, det tut mir aba leid! Desterwegen biste so schwarz, ick habe jedacht, du bist beim Paster in de Lehre. Na ja, wa müssen alle mal abhauen, det is nicht anders! Bei uns is die Mutta verstorben – seitdem spiel ick die Ziehmutter zu det Jör. – Tilda, wenn du den Nuckel noch eenmal hinschmeißt, ballre ick dir eine! Siehste, wie die pariert?! Respekt muss sind – die jehorcht mir, als wär ick nich die Schwester, als wär ick die Mutta. Mutta haste noch?“

„Nein, meine Mutter ist schon lange tot.“

„Ach, du bist Vollwaise? Det kann janz jut sind, vastehste, wir haben Vata'n noch, aber manchmal denk ick, ohne Vata jings bessa. Er is Maurer, aber meistens macht er blau! Sonst een tüchtjer Maurer, allens, wat recht is, ooch jutmütig, bloß, det der Mann so wasserscheu is – . Na ja, wa haben alle unsre Fehler ...“

Der Zug fuhr wieder eifrig bimmelnd durch die Felder. Die kleine energische Person hatte sich auf ihren Reisekorb gesetzt, hatte aus der Tasche ihres Unterrockes einen Apfel geholt und biß eifrig davon ab. Darüber vergaß sie ihre Schwester nicht, die auch abbeißen durfte, während die flinken Augen der Großen bald zum Fenster hinaus, bald zum Jungen hinüber gingen. Nun musterte sie wieder sein Gepäck. Karl Siebrecht hatte den Eindruck, dass diesem Mädchen auch nicht das geringste entging: er hatte noch nie ein so waches, lebendiges Menschenkind gesehen. Und ein so redseliges! „Die Äpfel sind jut“, sagte sie jetzt. „Willste ooch eenen? Ick habe den halben Korb voll! Nee, nich? Na, laß man, nötigen tu ick dir nich, wer Hunger hat, frißt von alleene! Da staunste woll, wat ick in deinem Kaff jemacht habe? Det haste wohl jemerkt, det ick nich vom Lande bin? Nee, ick bin mit Spreewasser jetauft, det heeßt, et wird woll Pankewasser jewesen sein, ick bin mehr aus dem Wedding, bei de Pankstraße her! Weeßte, wo det is?“

„Ja, dass du aus Berlin bist, habe ich auch schon gemerkt!“ lachte Karl Siebrecht vergnügt. Er wußte nicht, wie es ihm erging, aber diese kleine Person ließ ihn all seinen Kummer und sein Abschiedsweh vergessen. Sie war eine so unglaubliche Mischung von Kind und Erwachsenem! Lebensklug – und doch kindlich!

Jetzt lachte sie auch. „Ach, du meinst, von wejen meine Sprache? Na, laß man, wa können nich alle uff dieselbe Tonart piepen! Det wäre zu langweilig! Übrijens, Friederike Busch is mein Name!“

„Karl Siebrecht“, stellte sich der Junge vor.

„Sehr anjenehm, Karl!“ Und sie gab ihm ihre kleine, graue, schon sehr verarbeitete Kinderhand. „Karl heeßt auch mein Vetter, in dem Kaff da, von dem ick komme, in Priestitz. Aber er is man doof uff beede Backen, mit dem kann ick keen Wort reden, mit dir kann ick jut reden, Karl –!“

„Ich mit dir auch!“

„Na, siehste! Und warum ick in Priestitz war? Da is doch Muttas Schwesta, Tante Bertha! Solange Mutta noch lebte, und ooch det Jahr nach ihrem Wegscheiden hat se uns imma von's Schlachtefest Pakete jeschickt. Aber letztet Jahr: Neese! Da ha' ick disset Jahr zu Vata'n jesagt: det gibt et ja nu nich, wenn so wat erst inreißt, denn kucken wa det janze Leben in den Mond! Ick fahre hin! Na, der Olla hat ja jenuschelt, aba da mach ick ma nischt draus. Ick ihm einfach 'nen Zettel hinjelegt, die Tilda uffjepackt und losjeschoben!“

„Und was hat die Tante gesagt, als du da so einfach ankamst? Du hattest dich doch nicht angemeldet, Friederike?“

„Rieke heeß ick, Friederike is bloß fors Amt, und wenn ick Schläje kriege, aber ick krieje keene mehr, jejen mir hebt keener mehr die Hand! – Die Frau hat Oojen jemacht, det kann ick dir flüstern, wie Mantelknöppe! Wat willste denn hier? fragt mir die Frau. Und denn noch mit det Balg?! – Erlobe mal, Tante Bertha, sare ick zu die Frau, der Balg is deine fleischliche Nichte und dir wie aus't Jesichte jeschnitten, und denn wollt ick mir man bloß die kleene Anfrage erlauben, ob hier unter deine Schweine Keuchhusten ausjebrochen is? – Na, da musste se doch lachen, und denn war se janz ordentlich. Det von't vorje Jahr, hat se wieder jutgemacht und mehr wie det. Und det nächste Jahr soll ick wiederkommen, mit det Schicken is et ihr zu umständlich. Na, laß se, die is schlecht mit die Feder, vastehste? Adresseschreiben und so! – Det Kleed is ooch von ihr! Schöne Wolle, er jing nich mehr in'n Korb, aba dalassen, keene Ahnung! Hab ick's über die andre Kleedage jezogen, haste det jemerkt?“

Aber ehe Karl Siebrecht noch antworten konnte, fing die Lokomotive wild zu klingeln an, die Bremsen schrien, es gab einen gewaltigen Ruck, und der Zug hielt ganz plötzlich: sie wankten auf ihren Sitzen, Tilda fiel schreiend von der Bank – „Det is die Höhe!“ schrie Rieke Busch. „Mir mein Kind von de Bank zu schubsen! Die Bande mach ick haftbar!“

Karl Siebrecht hatte zum Fenster hinausgesehen: der Zug, aber eigentlich war es nur ein Zügle, hielt auf freier Strecke. Ein Schaffner lief an ihm entlang, ein langer, schwarzer, jetzt sehr aufgeregter Mensch, der in jeden Wagen stürzte ... „Da ist was passiert“, sagte Karl Siebrecht zu Rieke Busch, die das weinende Kind zu beruhigen suchte.

Sofort ergoß sich die Schale ihres Zorns über ihn. „Wat soll den passiert sind? Hier passiert doch nie nischt! Hier saren sich bloß die Hühner jute Nacht – und denn passieren! Det ist ja lachhaft! Und mir schmeißen se det Kind von de Bank – so wat is doch rücksichtslos! Det Kind kann sich doch eenen Leibesschaden tun! – Hören Se, Männecken“, wandte sie sich ohne weiteres an den aufgeregten Schaffner, der jetzt in ihr Abteil für Reisende mit Traglasten gestürzt kam, „hören Se, Männecken, wat is denn mit ihre Klingelbahn los? Ihr Lokomotivführer hat woll eenen zu ville jekippt! Sie schubsen mir det Kind von de Bank –!“

Aber ohne das empörte Mädchen zu beachten, hatte sich der Schaffner an die Untersuchung der rotweiß bemalten Notbremse gemacht. Nun wandte er sich an die beiden. „Ihr habt die Notbremse gezogen!“ schrie er. „Wer von euch beiden hat die Notbremse gezogen? Das kost' Strafe – das kost' zehn Taler Strafe!“ Er fing an, den Boden abzusuchen. „Da liegt ja der Draht! Und da ist die Plombe! Das sieht ja jeder, dass ihr die abgerissen habt! Das kost' zehn Taler, und wenn ihr die nicht zahlen könnt, kommt ihr ins Loch!“

„Entschuldigen Sie“, sagte Karl Siebrecht, „wir haben bestimmt nicht an der Notbremse gezogen! Wir haben uns hier ganz ruhig unterhalten –“

Aber seine Gefährtin war nicht für höfliche Erklärungen. „Sie sind ja komisch!“ schrie sie im schrillsten Ton. „Sie sind ja 'n komischer Vertreta! Erst schmeißen Se det Kind von de Bank, und denn kommen Sie noch mit so 'ne Redensarten! Saren Se mal, haben Se keene Oogen im Koppe nich! Sehen Se vielleicht, wat für 'ne Jröße ick habe? Ick bin nich so'n langer Laban wie jewisse andere, ick reiche jar nich an Ihre dußlige Notbremse! Ja, kieken Se mir mit Ihre schwarzen Kralloojen ruhig an, ooch nich, wenn ick uff den Reisekorb klettre ...“

„Aber der Junge –“, wollte der Schaffner anfangen.

„Der Herr! meenen Se! Det is een jebildeter Herr, der is nich wie andere, der rennt nich 'rum und brüllt die Leute an, det er se ins Loch steckt. Der hat 'nen Todesfall in die Familie jehabt, dem is nich nach Notbremse, und da kommen Se hier reinjestürzt!“

„Aber man sieht doch deutlich, einer hat den Draht durchgerissen“, fing der Schaffner wieder an.

„So, det sehen Se? Wat Sie allet sehen, an so 'nem Stücksken Draht! Woran sehen Se denn det, det eener den abjerissen hat? Kann denn Draht nich von selber reißen? Ich weeß det nich, aber Sie wissen't: Draht reißt nie, der wird jerissen! Na ja, wer hier wohl jerissen is, Sie nich, Männecken, Sie nich!“

Sie stand in ihrer grotesken Frauentracht, funkelnd vor Zorn, mit ihrem ganz hellen, völlig furchtlosen Gesicht vor dem Mann, der sie mit einem einzigen Schlage hätte niederschmettern können. Aber er dachte gar nicht daran, sie hatte ihn wirklich in Verwirrung gebracht. Er probierte noch immer an Draht und Plombe herum, aber nicht mehr mit der richtigen Überzeugung. „Das melde ich aber in Prenzlau auf dem Bahnhof!“ sagte er noch drohend, aber seine Drohung klang nur schwach. „Euch werde ich das besorgen! Hier einfach die Notbremse ziehen!“ Damit stolperte er aus dem Wagen. Sie sahen ihn am Zug entlang gehen, immer noch Draht und Plombe in der Hand. Dann stand er neben der Lokomotive, verhandelte mit dem Führer. Sie meinten, ihn sagen zu hören: „Den hat doch einer durchgerissen, das sieht man doch!“ Dann setzte sich der Zug keuchend wieder in Bewegung, klingelte aufgeregt.

„Du kannst die Leute aber ausschelten!“ sagte Karl Siebrecht nicht ohne Bewunderung zu Rieke Busch. „Hast du denn keine Angst gehabt, er haut dir einfach eine runter?“

„Ick hab so ville Dresche in meinem Leben bezogen, früher, davor ha' ick keene Angst mehr! Und denn det Schimpfen, det lernt man, wo wir wohnen. Wenn de dir da nich wehrst, biste glatt erschossen. Na, du hast det nich nötig jehabt, for dir is immer jesorgt worden, det sieht man.“

„Aber vielleicht habe ich es jetzt auch nötig. Ich fahre nach Berlin, für immer.“

„Na, und –? Da haste doch sicher 'nen Onkel oder jehst uff 'ne bessere Schule?“

„Nein. Ich habe niemanden dort. Und ich muss mir selber mein Geld verdienen.“

„Wat du nich sagst! Aber du hast schon 'ne Stellung ausjemacht, wat? Du bist Koofmich oder so wat, mit deinem tipptopp jestärkten Halsabschneider –!“

Karl Siebrecht faßte unwillkürlich zu seinem hohen steifen Stehkragen, der ihm wirklich die Kehle fast abschnitt. Minna hatte verlangt, dass er das mörderische Ding umband: er solle in Berlin doch einen guten Eindruck machen! Aber ehe er noch Rieke Busch über seine gänzliche Unversorgtheit hatte aufklären können, fing die Lokomotive ein zweites Mal aufgeregt zu bimmeln an. Wieder gab es einen Ruck, aber nicht mehr ganz so schlimm wie den ersten – Tilda blieb auf der Bank –, und wieder hielt der Zug.

„Na, wat sagste nu?“ rief Rieke Busch empört. „So wat jibt's nu in Berlin nich! Paß mal uff, jleich haben wa den schwarzen Affen wieder hier!“

Und wirklich, schon wurde die Tür wieder aufgerissen, der Schaffner sprang herein, stürzte auf die Notbremse los, ohne die beiden auch nur eines Blickes zu würdigen, untersuchte sie, schob den Griff in die Höhe ... Bis hierher hatte Rieke Busch schweigen können, nun sagte sie in höchst vernehmlichem Flüsterton: „Det is bloß det eenzije Jlück, det keen Draht mehr dran is! Ohne Draht können Se uns nämlich nischt beweisen, Karl! da muss erst wat jerissen sind, denn kommen wa ins Loch –!“

Der Schaffner warf der Sprecherin einen wütenden Blick zu, zog einen Draht aus der Tasche und band mit ihm die Notbremse wieder fest.

„Na also!“ sagte Rieke Busch höchst befriedigt. „Nu muss noch 'ne Plombe ran! Ich bin scharf uff Plombe – ohne Plombe is det man der halbe Spaß!“ – Der Schaffner machte einen Schritt auf sie zu, überlegte sich dann den Fall und verließ überstürzt das Abteil. – „Haste det jesehen?“ lachte Rieke Busch. „Ebend hätte ick beinahe eene jeschallert jekriegt! Da hätte ick mir aber 'nen Ast jelacht. Wat so Leute komisch sind, die immer jleich wütend werden. Det macht mir Laune, so eenen zu kitzeln.“

„Und wirst du nie wütend?“

„Aber feste! Ick kann mir jiften, sare ick dir! Wenn se mir so for dumm koofen wollen, und ick soll beim Jrünkrämer immer det Verfaulte kriegen, oder bei die Preßkohlen jehen bei mir achtzig uff den Zentner, bei andere aber vierundneunzig, oder Vata hat wieda mal blau jemacht, wo keen Jeld im Hause is denn jifte ick mir! Denn merk ick ordentlich, wie ick anloofe wie 'n Löffel mit Jrünspan. Aber merken lassen, det die Leute merken lassen – nich in den nackten Arm. Denn wer' ick immer feiner, denn wer' ick so fein, fast wie der Paster in de Kirche. Nee, meine Dame! sare ick. Ick nich! Nich, wie Se denken, meine Dame! Mein Jeld stinkt nich anders wie det von andere Leute – wozu soll da mein Kohl stinken –?“ Soweit war Rieke Busch mit ihrer Charakterbeschreibung gekommen, als die Lokomotive zum drittenmal aufschrie, der Zug zum drittenmal plötzlich bremste und anhielt. „Det wird ja eintönig!“ rief Rieke Busch. Und mit einem raschen Blick zur Notbremse: „Siehste, da is der Draht wieder jerissen! Nu werden se uns bestimmt inspunnen!“

Sie lehnte sich aus dem Fenster. Sie rief dem Schaffner entgegen: „Wat saren Se nu? Der Draht is wieder jerissen!“

Diesmal brachte der Schaffner den Lokomotivführer mit. Aber er beachtete Rieke Busch gar nicht. Der Lokomotivführer sagte: „Wir müssen einfach die Luft abstellen, Franz!“ Und sie machten sich daran, die Preßluftschläuche am Waggon zu lösen. Die beiden – und viele andere lachende, spöttische und empörte Gesichter – sahen dem Werk interessiert zu.

Als die Männer aber wieder zur Lokomotive gehen wollten, rief Rieke Busch: „Du, Franz, hör mal her!“ Unwillkürlich blieb der Schaffner stehen, wütend starrte er das Mädchen an. „Wenn ick du wäre“, sagte sie mit ehrlichem Nachdruck, „ick täte mir entschuldigen – wat meenste?“

Auf dem Gesicht des schwärzlichen Schaffners kämpfte Zorn mit Lachen. Aber das Lachen gewann doch die Oberhand. „Du Aas, du!“ sagte er. „Du kleines Berliner Aas mit so 'ner süßen Schnauze! Wenn du meine Tochter wärst!“

„Und du mein Vata!“ lachte sie mit Überzeugung. „Du tätest was erleben!“

„Na, gib mir 'nen Süßen“, sagte der Schaffner, „bist ja noch ein Kind!“

Sie gab ihm ungeniert aus dem Abteilfenster einen Kuß. „Und nu mach een bißchen Dampf, Franz“, sagte sie. „Det wa noch rechtzeitig nach Prenzlau kommen! Und da hilfste mir bei die Körbe, vastanden? Det biste mir schuldig, Franz!“

Der Zug fuhr schon wieder, da sagte sie zu Karl Siebrecht: „Du, der sollte mein Mann sind! Der sollte aber een richtijer Mann werden, nich so'n Teekessel! Aber die meisten Frauen sind dumm. Nich so dumm wie die Männer, aber anders dumm, eben mit die Männer! – Und wat fängste nu in Berlin an, Karl?“

5. Auf der Reise

Sie hatten wirklich ihren Anschluß in Prenzlau nicht mehr erreicht, was niemand mehr bedauert hatte als der so freundlich gewordene Schaffner Franz. Aber tu etwas gegen eine wild gewordene Notbremse!

Trotzdem sie nun drei Stunden in Prenzlau auf dem Bahnhof sitzen mussten und trotzdem Tilda den beiden das Leben durch ewiges Plärren nicht leichter machte, wurde Karl Siebrecht die Zeit nicht lang. Und was die Rieke Busch anging, so schien es bei diesem Mädchen keine leeren Minuten zu geben, immer war sie quicklebendig, voller Interesse für alles. Immer flitzten ihre hellen Augen umher, mit jedem wußte sie gleich auf du und du zu kommen. Im kleinen Heimatstädtchen hätte sich Karl Siebrecht nur ungern mit einem so grotesk angezogenen, derart schnellzüngigen Mädchen öffentlich sehen lassen. In der großen Stadt Prenzlau saß er bei ihr im Wartesaal zweimal Zweiter, als gehörte er dazu, half ihr die Tilda beruhigen und lauschte mit unermüdeter Aufmerksamkeit ihrem Gerede. Aber Rieke Busch konnte nicht nur reden, sie konnte auch fragen, und nur schwer war ihren bohrenden Fragen zu widerstehen. Und Karl Siebrecht wollte gar nicht widerstehen, gerne erzählte er diesem – er hatte es nun erfahren – fast vierzehnjährigen Dingelchen von der abgeschlossenen Vergangenheit und von seinen großen Plänen für die Zukunft. Niemand schien ihm fähiger, zu raten, als dieses Kind mit seinem Mutterwitz, seinem nüchternen Lebensverstand, seiner Tüchtigkeit. Was er erst erreichen wollte, sich selbst ernähren, das hatte Rieke schon geschafft. Und sie ernährte nicht nur sich selbst, sondern die Schwester Tilda dazu und fütterte auch oft noch den blaumachenden Vater. Waren Karls Hoffnungen für die Zukunft aber noch reichlich vage, so hatte sie da ganz bestimmte Pläne, und sie war die Person dazu, sie durchzusetzen.

„Ick muss nur wachsen“, sagte Rieke Busch. „Noch zwanzig Zentimeter, denn kann ick mit Waschbalje und Waschbrett hantieren, ohne 'ne Kiste unterzusetzen, und denn nehm ick Waschstellen an. Da vadien ick mehr Geld, jetz mach ick bloß Halbtagsmädchen – von wejen Schule –, det klappert nich so! Aba Wäsche kann ick, alle Tage 'nen Taler und denn die Stullen, da mach ick uns dreie von satt. Und denn spar ick! Uff wat spar ick? Uff 'ne Nähmaschine, und denn leg ich mir uff die Schneiderei, damit wird Jeld vadient. Arbeet? Arbeet jenug, det wirste selba bald sehen, bloß genieren musste dir nich, aussuchen is nich. Und deine feinen Hände – na, det weeßte selba, die werden wohl nich lange fein bleiben!“

„Ich hätte gerne was mit Autos zu tun“, sagte Karl Siebrecht.

„Siehste!“ antwortete sie, und ihre Augen funkelten vor Spott. „Det lieb ick! Schon willste dir die Arbeet aussuchen! Erst nimm, wat de kriegst! Und wenn's Kinderwagenschieben is – Auto kommt denn von alleene! Und überhaupt Auto – det sind doch allet Schlosser und Mechaniker, jloobste denn, det kannste von alleene, wat die sich in vier Jahren Lehre beijebogen haben?! So mach man weiter, denn brauchste jar nich erst anzufangen, denn fahr man jleich bei deine Minna!“

Verdammt noch mal, die nahm kein Blatt vor den Mund, diese kleine Nüchterne! Ganz im geheimen hatte ja Karl Siebrecht wohl einen Traum in der Brust gehegt von einem sagenhaft reichen, edlen Mann, dem er irgendwie helfen konnte – manchmal rettete er ihm sogar das Leben! –, und dieser edle Einsame erkannte sofort die außerordentlichen Fähigkeiten des jungen Karl Siebrecht und ließ ihn aufrücken, bis er in ganz kurzer Zeit sein Nachfolger und Erbe wurde. Solchen Traum hatte er gehegt, manchmal. Aber Rieke Busch hatte nie geträumt, oder wenn sie geträumt hatte, war es um Waschfaß und Nähmaschine gegangen. Sie hatte eine außerordentlich feine Nase für verstiegene Erwartungen.

„Wenn de denkst, dir schenkt wer was“, sagte sie, und Karl Siebrecht hatte doch kein Wörtchen von seinem Traum verlauten lassen, „denn biste doof! Dir schenkt keener nischt, wat de dir nich nimmst, det kriegste nich. Und wat de jenommen hast, halt feste, sonst biste et jleich wieda los! Det is 'nen Haufen Jeld, wat de da hast, ick hab noch nie so 'ne Masse Jeld jesehen, aber wenn du's nich festhälst, bistet los, ehe de Piep jesagt hast. Und übahaupt – du kannst nich schnell jenug Arbeeter werden und wie 'n Arbeeter aussehen. Wat denkste, wat se dir mit deinem Stehkragen und deine feine Tolle vaäppeln werden. Mach deinen Korb mal uff, ick will sehen, ob de vanünftije Klamotten hast, die de anziehen kannst bei de Arbeet. Sonst vascheuern wa morjen deinen Schraps, und du kaufst dir wat Richtijet. Röllchen – haste Töne! Aba die manchesterne Hose is jut. Wat, zu lang ist die? Da näh iß dir 'nen Einschlag rin, wat denkste, wat du aussehen wirst, wenn de erst richtig arbeetest. Ick werde mit meinen Ollen reden, valleicht jeht er jrade uff den Bau, und valleicht brauchen se da 'nen Handlanger.“

Ja, sie waren noch nicht in den Berliner Zug gestiegen, da war es schon ausgemacht – übrigens ohne dass Karl Siebrecht gefragt worden wäre –, dass Rieke zu Schwester und Vater auch noch diesen Jüngling unter ihre schützenden Fittiche nehmen würde. Sie wußte auch schon eine Schlafstelle für ihn („Zimmer is nich, det mach dir man ab – wat denkste, wat du zu Anfang vadienen wirst?!“), und sein Geld brachte er morgen noch auf die Sparkasse! Karl Siebrecht war mit all diesen Verfügungen über seine Person ganz einverstanden, nicht etwa, weil er aus Schlappheit oder Feigheit gewillt war, sich gleich wieder unter ein neues Kommando zu begeben, sondern weil er das Gefühl hatte, in den ersten Wochen seines Berliner Aufenthaltes tue ihm eine Führung recht gut. Später würde er dann schon selber sehen ... Und außerdem gefiel ihm diese Rieke Busch sehr, sie kommandierte nicht etwa aus Herrschsucht, sondern aus gesundem Menschenverstand. Sie wußte Bescheid, und er hatte keine Ahnung.

Der Berliner Zug war proppenvoll. Sie mussten ihre Körbe übereinander stapeln, aber sie fanden dank Riekes Schlagfertigkeit doch Sitzplätze, und keine drei Minuten, so erheiterte Rieke den ganzen Wagen mit der Schilderung ihrer Kleinbahnfahrt. Karl Siebrecht vergaß den toten Vater, er musste Tränen lachen, wie Rieke Busch in ihrer Frauentracht den langen Laban von Schaffner nachmachte. Sie hielt ein imaginäres Stück Draht zwischen spitzen Fingern und sagte immer wieder: „Der is doch jerissen, det sieht man doch! Der is doch nich jeplatzt, i wo!“

Und kaum war diese Vorstellung vorüber, so war Rieke Busch schon zu Karl Siebrechts Überraschung in einer sehr offenherzigen Erörterung seiner vergangenen und zukünftigen Lebensumstände. Irgendwelche Geheimnisse schien es bei ihr nicht zu geben. Da im Wagen viele Berliner saßen, war bald die lebhafteste Besprechung im Gange. Siebrecht wurde viele Male prüfend von der Seite angesehen, musste Auskunft geben über seine Schulkenntnisse, die Rechenkünste, die Schönheit seiner Schrift, ja er musste das Jackett ausziehen und die Oberarmmuskeln spannen. Er tat das alles gutwillig und lachend. Es waren wohl alles kleine Leute, die da mit ihnen im Wagen saßen, aber sie dachtenwirklich darüber nach, ob sie was für ihn wüßten, sie wollten ihm gerne behilflich sein.

Leider stellte sich bald heraus, dass bei solchen Berufen, von denen die Mitfahrer Kenntnis hatten, mehr Kräfte verlangt wurden, als dem Karl Siebrecht zuzutrauen waren. „Ick habe jedacht“, sagte ein biederer Schnauzbart, „du könntest vielleicht bei uns in den Stall, Junge. Ick bin bei die städtischen Omnibusse, vastehste? Mit 'nem Lackpott hoch vom Bock, vastehste? Unsa Futtameista braucht mal wieder 'nen Jehilfen. Mit dem Putzen und dem Futterschütten, det jinge ja noch, aba all die Säcke vom Boden, jeder anderthalb Zentner, det kannste nich, da machste bei schlapp.“

„Ich habe schon anderthalb Zentner getragen“, sagte Karl Siebrecht.

„Ja, eenmal! Aba det weeßte doch, eenmal is keenmal. Und wenn de denn nacheinander zwanzig Säcke runterbuckeln musst, da wirste weich! Denn wat biste? Du bist weich! Det is keen Fleesch von 'nem Arbeeter, wat du auf dem Leibe hast, det ist so nüchterenet Kalbfleesch, vastehste? Allens Zadder, so is det.“

„Er wird schon ander Fleesch kriejen!“ rief Rieke Busch. „Der is nich schlapp!“

„Nee, vielleicht nich, aba für uns is er nischt. Unsa Futtameesta, der is nich jut, der haut jleich.“

„Vielleicht wüßte ich etwas für Sie“, ließ sich jetzt ein blasser, langer junger Mensch vernehmen, mit vielen Pickeln im Gesicht. „Wenn Sie fleißig sind, können Sie bei mir gutes Geld verdienen.“

„Bei Sie –?!“ antwortete Rieke Busch schnell, ehe noch Karl Siebrecht den Mund hatte auf tun können. Karl kannte nun schon den etwas gedehnten, schrillen Ton in ihrer Stimme – er kam immer, wenn sich ein Sturm bei ihr zusammenbraute. „Bei Sie kann er jutet Jeld vadienen?“ Sie musterte den Jüngling. „Von wat vadienen Sie denn erst mal Jeld?“

„Ich habe“, sagte der Jüngling bereitwillig, „die Generalvertretung für Berlin und die Mark Brandenburg des Pfiffikus-Sparbrenners. Spart bis zu sechzig Prozent des Petroleumverbrauchs ...“

„Ach, den Dreck kenn ick“, sagte Rieke rasch. „Wenn man so 'n Ding uff de Lampe setzt, is't duster, wie wenn Neumond scheint, oder blakt, als wenn Ruß schneit. Det is doch Mist, Sie!“

„Na, erlauben Sie mal“, protestierte der Jüngling. „Ich komme soeben aus Prenzlau und Umgegend, ich habe dreiundsechzig Stück von dem Pfiffikus verkauft.“

„Det wollen wa dahinjestellt sein lassen! Valleicht sind se in Prenzlau so helle, det se't jern een bißchen duster haben wollen. Wat vadienen Se denn nu an so een Stück?“

„Zwanzig Pfennige!“

„Det is achtbar! – Det is nich schlecht! – Zwölf Mark sechzig – det hat unsereener die ganze Woche nur! – Na, aba die Bahnfahrt jeht ab! – Wat denn, die Bahn ist doch nich teuer!“ So ging es hin und her im Abteil.

„Ick frage mir nur“, ließ sich Rieke Busch wieder vernehmen, „wenn Se uff Kundschaft jehn, wollen Sie ja doch 'nen juten Eindruck machen, wat?“

„Selbstredend!“

„Ick frage mir nur, warum Se sich da so 'ne olle Kluft anpellen? In der Jacke da haben Se direkt een Loch! Det ist wohl vom Pfiffikus? Bei zwölf Mark den Tag müssen Se doch Klamotten haben wie Jraf Kooks!“

„Aber, meine Dame“, sagte der Jüngling und fiel vor lauter Patzigkeit in das schönste Berlinisch, „Sie haben sich bei det Wetta ooch nich jrade fein injepuppt! Denken Sie, ick lasse mir mein bestet Zeug einweechen?“

„Da haben Se recht!“ rief Rieke Busch. „Und weil's so naß is, haben Se Schuhe mit Wasserlöcher anjezogen, det et nich so lange dauert, bis de Füße naß werden, wat?“

„Mit Ihnen spreche ich überhaupt nicht“, sagte der Jüngling wieder sehr fein. „Ich spreche nur mit dem Herrn. – Ich würde Sie anlernen“, sagte er überredend, „es ist ganz leicht, der Artikel geht reißend. Ich will sowieso mehrere Untervertreter anstellen. Ich lasse Ihnen den Pfiffikus mit neunzig Pfennig, wenn Sie fünfzig Stück abnehmen, Verkaufspreis ist eine Mark. Da ist überhaupt kein Risiko dabei!“

„Nein, danke wirklich!“

„Und Sie kost' er achtzig!“ rief Rieke Busch wieder. „Det is een Jeschäft ohne Risiko, det jloob ick – aber für Sie! – Nee, Karl, laß man. Uff so 'ne musste nie hören. Wenn schon eener und erzählt dir, du kannst zwölf Mark am Tag vadienen, und ohne Arbeet, und sieht aus, als hätte sein Magen seit sieben Wochen keene Schrippe nich jesehen – denn sag bloß: hau ab, dir kenn ick!“

„Na, erlauben Sie mal, meine Dame! Ich kann Ihnen beweisen –“

„Det können Se mir aba nich beweisen, det det Loch in Ihre Jacke keen Loch is und det Ihre Schuhe keen Wassa ziehen. Und det jenügt mir! – Nee, Karl, wir reden erst mal mit Vata'n. Wenn Vata seinen hellen Tag hat, is es ooch helle. Bloß, mir schwant, er ist mal wieda blau!“

6. Ankunft in der Wiesenstraße

Es war schon dunkle Nacht gewesen, als der Zug im Stettiner Bahnhof einlief. Mit unglaublicher Zungenfertigkeit hatte Rieke Busch einem Dienstmann, der Feierabend machen wollte, seine Karre abgeschwatzt. Das alte Gesicht unter der roten Mütze wurde immer verwirrter, dann stets vergnügter. „Na, Männecken, Sie sind doch ooch müde?“ hatte Rieke gefragt und ihre Hand ganz sachte neben die altersfleckige, ausgemergelte Hand auf den einen Holm des Handwagens gelegt. „Wat wollen Se da mit de Karre nach Haus zuckeln? Alleene jeht sich det doch ville besser?“

„Du bringst mir die Karre ja nich wieda, du freche Kröte, du!“ jammerte der alte Mann.

„Wo wohnen Se denn? In de Müllerstraße? Ooch 'ne feine Jejend! Und ick wohne in de Wiesenstraße – kennste de Wiesenstraße, Opa?“

„Det hab ick doch jleich jemorken, det du vom Wedding bist, du Aas du!“ strahlte der Alte.

„Na, siehste“, lachte Rieke, „da weeßte schon, wie ick heiße! Aas heiße ick! Und wie heißt du, Opa?“

„Küraß heiß ich. Nummer siebenundachtzig. Müllerstraße, vergiß nicht!“

„Küraß –?“ Rieke sprach den Namen wie Kieraß. „Kieraß, ick hab jedacht, so heeßen nur die Hunde. Na jut, Opa, det wer' ick schon nich verjessen, siebenundachtzig, Müllerstraße, Kieraß. – Schieb ab, Opa! Huste dir man sachte in den Schlaf!“

„So ein frechet Aas!“ hatte der Alte wieder gesagt und war ganz gehorsam abgeschoben, ohne Rieke auch nur nach ihrem richtigen Namen zu fragen. Aas aus der Wiesenstraße schien ihm als Pfand für seinen Handwagen völlig zu genügen.

Vereint hatten Karl und Rieke nun die Körbe aufgeladen, die fast schlafende Tilda wurde so dazwischengestopft, dass sie nicht herunterfallen konnte, und nun waren die beiden losmarschiert. Karl zwischen den Holmen des Wagens, Rieke bald nachschiebend, bald neben ihm, um ihm den Weg zu zeigen. Ihre überlangen Röcke hatte sie mit einem Strick wulstartig um die Hüften gebunden. Die Gaslaternen flackerten in einem böigen Wind, stumm, verschlossen sahen die dunklen Häuser auf sie herab. Ab und zu wusch ein plötzlicher Schauer die Gesichter der Kinder. Wenn Karl Siebrecht daheim in der kleinen Stadt sich je seinen Einzug in die große Kaiserstadt Berlin ausgemalt hatte, dann nie so! Nie hatte er daran gedacht, vor einem Handwagen, Körbe ziehend, durch dunkle Straßen zu schieben, als einzige Freundin und Bekannte eine echte Berliner kesse Nummer, als einzige Aussicht eine Schlafstelle, die er mit einem Bäcker teilen sollte: „Janz ordentlich, der Junge! Säuft nich, arbeetet, nur schwach uff de Beene mit de Mächens, da fällt er zu leicht um“, hatte Rieke seinen Schlafgenossen charakterisiert. Vormittags noch daheim, von der Minna betreut, in den altvertrauten Wänden, zwischen den Möbeln, die sein ganzes Leben um ihn gewesen waren – ach, fühlte er nicht noch Rias frischen Kuß auf den Lippen? –, und nun ganz draußen, für immer draußen, und seine Lippen schmeckten nichts als den faden Regengeschmack, der doch nicht rein nach Regen wie da draußen schmeckte, sondern nach Rauch, nach Ruß ...

„Wie heißt diese Straße?“ sagte er zu Rieke und sah fast scheu zu den dunklen Häusern hoch.

„Det is die Ackerstraße! Wenn wa die hoch sind, haben wa's nich mehr weit!“

„Ackerstraße? Wo ist denn hier ein Acker?“ Er empfand wirklich schon Sehnsucht nach einem wirklichen Acker, über den der Herbstwind weht.

„Acker? Ach, du meenst Feld, wo se Kartoffeln druff bauen? Det jibt's hier nich. Det war valleicht mal früha. Wir wohnen ja ooch Wiesenstraße, aba Wiese is nich, dafür haben wa de Palme!“

„Die Palme? Was ist denn das? Ein botanischer Garten?“

„Mensch! De Palme, det weeßte nich? Det is de Herberje zur Heimat, die haben wir jrade vis-à-vis! Wo die Penna und die Stroma schlafen, wenn se sonst keene Bleibe haben! So wat haben wa, aba Wiese haben wa nich. Und Acker ooch nich. Na, laß man“, sagte sie fast tröstend. „Wenn wa imma Kartoffeln satt haben, broochen wa keen Acker nich!“

Sie schoben stumm weiter. In so vielen Fenstern brannte Licht, rötliches vom Gas, schwach gelbliches vom Petroleum, manchmal auch strahlend weißes elektrisches – hinter den Fenstern bewegten sich Schatten, auf der Straße glitten Schatten eilig vorüber, in der Eckdestille grölte und schrie es. Ein Schutzmann in Pickelhaube mit herabhängendem grauen Schnauzbart trat nahe an die Karre heran, musterte stumm die kleine Fuhre – unwillkürlich sagte Karl Siebrecht „guten Abend“, und der Schutzmann drehte sich wortlos um und ging weiter. Niemand wußte von Karl Siebrecht, keiner nahm Notiz von ihm, jeder hatte seinen Arbeitsplatz, sein Heim, etwas Verwandtes, selbst die kleine Rieke. Er nur schob alleine dahin, ohne Rieke wäre auch für ihn die Palme dagewesen, die Heimat der Heimatlosen. Ein beklemmendes Gefühl schnürte ihm die Kehle zusammen, noch nie, selbst damals nicht, als er am Bett des Vaters begriffen hatte, dass der Vater tot war, dass er nicht mehr atmete – noch nie hatte er sich so einsam und verlassen gefühlt. Dieses verfluchte sentimentale Lied kam ihm nun auch noch ins Gedächtnis: „Verlassen bin i“, musste er summen, „wie der Stein auf der Straßen ...“ Er fühlte die Steine, Hunderte, Tausende unter seinen Füßen, sie wuchsen ihm zur Seite zu himmelausschließenden Mauern empor, Steine, nur Steine, nichts Lebendiges mehr ... Und er allein darunter, etwas Lebendiges, etwas Atmendes, mit Blut in den Adern, mit einem Herzen, etwas Gefühl – und doch nur ein Stein unter Steinen, verlassen, wertlos. Niemand wußte von ihm, wie niemand von den Steinen wußte, über die sein Fuß eben gegangen war!

„Da links um de Ecke!“ kommandierte Rieke Busch. „Rin in de Hussiten! Wie is dir denn, Karl? Du klapperst ja! Keene fünf Minuten, denn sind wa zu Hause, da koch ick dir wat Warmet!“

„Es ist nur, Rieke“, sagte der Junge, „es ist alles so viel, alle diese Häuser, und alles Stein, und keiner weiß von uns ...“

„Musste eben machen, det se bald von dir wissen! Det is deine Sache! Und det mit de villen Häuser, det muss dir nich imponieren, ob det fünfstöckige wie hier oder kleene Häuserkens wie bei euch sind, mit Wassa kochen se hier wie da, und wenn de dir nich unterkriejen lässt, denn stehste, hier wie da! – So, und det is nu de Wiesenstraße. Wie Blume riecht det hier nich, aber komisch, wenn ick hier komme, is mir det imma wie zu Hause. Der Jeruch is mir direkt sympathisch. – Halt, Karl! Bleib da bei de Karre, ick mach ruff bei Vata'n, wenigstens de Körbe kann der Mann anfassen. Und laß dir nicht listen und locken, die klauen hier alle wie die Raben, namentlich was de Penner sind! – Jib mir die Tilda, ick wer' ihr schon schleppen – det Kind muss in de Betten! Is ja ganz naß vom Regen! Komm, meine Tilda, jetz jeht's in de Heia!“

Damit verschwand die kleine groteske Gestalt in einem dunklen Torweg, und Karl Siebrecht stand allein auf der Straße. Er setzte sich auf die Karre, ihn fror. Er bohrte die Hände in die Taschen und malte sich aus, wie schön es sein würde, nach diesem langen Tag endlich behaglich im Bett zu liegen. Freilich, wie würde sein Bett aussehen? Und was für ein Mensch würde der Bäcker sein, der so leicht umfiel, wenn Mädchen in Frage kamen? Dieses Kind Rieke Busch schien über alles im Leben Bescheid zu wissen, wie eine Alte. Sie sollte nur machen und schnell kommen – ihn fror jetzt sehr. Eine Gestalt hatte sich aus dem Häuserschatten gelöst und hatte schon eine Weile vor Karl Siebrecht gestanden. Nun sagte der junge, geisterhaft blasse Bursche: „Na, Mensch?“

„Ja?“ fragte Karl Siebrecht, aus seinen Gedanken hochfahrend.

„Na –?“ fragte der andere wieder.

„Guten Abend!“ sagte Karl Siebrecht, der nicht wußte, welche Antwort von ihm erwartet wurde.

„Sore –?“ fragte der, trat noch einen Schritt näher und legte eine Hand auf den Korb.

„Hände weg!“ rief Karl Siebrecht scharf. Und als die Hand sofort zurückgezogen wurde, fragte er milder: „Was ist Sore?“

„Det weeßte nich? Na, Mensch! Jibste mir een Stäbchen, wenn ick dir sare, wat eene Sore ist?“

„Nein!“ erklärte Karl Siebrecht entschieden. „Was ist denn ein Stäbchen?“

„So grün!“ grinste der Bursche jetzt. „So grün und denn im November! Du kommst wohl grade vons Land?“

„Wirklich! Ich bin noch keine Stunde in Berlin!“

„Mensch!“ sagte der Bengel fast fieberhaft, drängte sich dicht an Karl Siebrecht und flüsterte ihm ins Gesicht: „Sei helle, hau wieda ab. Hier is nischt los, nur Kohldampf und Frieren! Det wird een Winter, sare ick dir!“

„Keine Arbeit?“ fragte Karl.

„Arbeet? Nich so ville hab ick letzte Woche vadient, wie ick Schwarzet unterm Daumennagel habe! Du rennst dir die Sohlen ab – aber nischt! Mensch!“ sagte der Bursche und drängte sich noch näher. „Mach und schenk mir 'nen Jroschen! Ick habe nich mal so ville, det ick in de Palme nächtigen kann. Weeßte, wat de Palme is?“

„Ja, es ist mir erzählt worden.“

„Det letzte Nacht ha' ick in 'ne Sandkiste im Tiergarten jeschlafen. Mensch, und es is so kalt! Ick bin janz verklammt uff dem nassen Sande, ich war krumm wie 'n Affe. Eenen Jroschen nur, det ick eenmal wieder warm schlafen kann!“

Der Bursche, kaum zwei, drei Jahre älter als Karl Siebrecht, hatte so fieberhaft, so eindringlich geredet, dass es für den Jungen kein Zögern gab. Flüchtig hatte er daran gedacht, wie abfällig er sich eben noch seiner Schlafstelle erinnert hatte, und der hier hatte in einer Sandkiste geschlafen ... Er zog das Portemonnaie aus der Tasche. „Ich will dir gerne einen Groschen geben“, sagte Karl Siebrecht –

– und bekam im gleichen Augenblick einen Faustschlag in den Bauch, dass ihm der Atem verging, dass er sich zusammenkrümmen musste. Das Portemonnaie wurde ihm aus der Hand gerissen. „Na, Mensch!“ rief der Bursche triumphierend. Und ebenso schnell kläglich: „Laß mir los! Ick habe bloß Spaß jemacht! Ick jebe det Jeld wieda! Es war bloß Spaß! Rieke, Ernst –!“

Karl Siebrecht richtete sich ächzend wieder auf. Ja, da war die kleine Rieke Busch und ein junger, blasser Mensch mit einer ungeheuren Rabentolle bei ihr. Sie hielten den Burschen, der jammerte: „Warraftig, Rieke, et war bloß Spaß! Ick wer' doch nich eenen, den du kennst, fleddern! Laß mir loofen, bitte! Rieke, Ernst, sagt's nich meenem Ollen. Meen Olla haut mir zuschanden.“

„Und det soll er ooch!“ sagte Rieke böse. „Jarnich genug kann der dir vertrimmen! Du faulet Aas – am Tage dir rumdrücken und nachts die Leute fleddern! Du jehörst uff den Alex, in de Plötze jehörste, nich bei uns Arbeeta!“

„Rieke, beste Rieke –“ fing der Bursche wieder an.

„Halt's Maul! – Zähl's Jeld nach, Karl, stimmt's? Und een Kamel biste ooch, Karl, nach allem, wat ick dir jesagt habe, zeigste dem Lulatsch in der Nacht dein Jeld! Dir kann man ooch nich eene Minute alleene lassen, so een Dussel biste. Da is ja Tilda hella.“

„Er hat mich nur um einen Groschen für die Palme gebeten“, versuchte der sehr beschämte Karl Siebrecht sich zu entschuldigen. „Er hat mir erzählt, er hat im Tiergarten in einer Sandkiste schlafen müssen –“

Die beiden, Rieke und der Rabentollige, brachen in ein Gelächter aus, selbst der gefangene Verbrecher grinste schwach. „Und det jloobste?!“ rief Rieke. „Dir können se wohl alles erzählen. Denn wirste nicht lange mehr Jeld haben, wenn de de Leute allens jloobst. Du fängst ja jut an, Karl. Weeßte, wer det is? Det is det Früchtchen von dem Schustameesta Krull in de Pankstraße, der is bei seinem Vata Lehrling ins letzte Jahr, der hat een Bett, bessa als du und ick, keene Sandkiste, du! Bloß, det is een fauler Knochen, der will und will nich arbeeten. Sein Vata hat ihn schon halbtot jeschlagen, aba det hilft nischt mehr. Ick jloobe, bei dir hilft nur noch die Plötze, wat?“

„Laß mir loofen, Rieke, dies eene Mal noch! Ick will ooch jewiß nich wieda ...“ bettelte der Bursche.

„Natürlich willste wieda! Aba hau ab, Jott sei Dank biste nich mein Sohn. Ich brächte dir zurecht, ick sare dir –!“ Und das kleine Wesen funkelte den langen Bengel so gefährlich an, dass er mit einem verlegenen Grinsen einen Schritt zurück trat. Gleich nutzte er die Gelegenheit und stürzte fort ins Dunkel. Sie sahen ihm alle drei einen Augenblick schweigend nach.

„Na ja, der Fritze Krull!“ sagte Rieke dann. „Weg mit Schaden! Den schnappen se ooch ohne uns. – So, Karl, und det is der Ernst, von dem ick dir berichtet habe, Ernst Bremer, wat? Det is der Bäcker, een juter Junge, wie ick dir gesagt habe, bloß zu leicht. Hinter alle kleenen Mädchen her.“

Der Bäcker Ernst Bremer, der einen so weißen Teint hatte, als sei er mit Weizenmehl bestreut, lachte recht geschmeichelt: „Det jloobe ihr nich, Karl“, sagte er und gab dem Jungen die Hand. „So fett fiddelt Voß nich. Ha' ick dir schon süße Oogen gemacht, Rieke?“

„Na, weeßte!“ antwortete Rieke im höchsten Ton. „Det wollte ick mir ooch sehr vabeten haben! Det wäre woll dein letzter Tag jewesen, wo de 'ne heile Fassage rumjetragen hast. – Und nu faß den Korb an, Karl. Ick dachte eijentlich, der Ernst soll de Körbe tragen, aba dir laß ick nich wieda alleene uff de Straße. Du musst Berlin erst bessa kennenlernen. Det war 'ne Lehre wie 'ne Ohrfeige for dir.“

„Wir können ja beide die Körbe rauftragen, und du paßt auf“, schlug Karl Siebrecht, doch wieder sehr beschämt, vor.

„Na ja, wenn ihr det wollt, denn mal los! Ick reiße mir nich darum.“

Es ging über zwei, drei dunkle Höfe, einer schien immer enger, riechender, trostloser als der andere. Karl schauderte. Dann ging es eine enge Treppe hoch, eine so vertretene, beschmutzte Treppe mit so scheußlicher Luft, dass es unbegreiflich schien, wie die offene, zungenförmige blaue Gasflamme in dieser Luft überhaupt brennen konnte. Türen über Türen, Gänge über Gänge, Lärm, Sprechen, Poltern, Töpfegeklapper. Frauen, die schweigend und, wie es Karl Siebrecht vorkam, mit feindlichen Augen den Korb an sich vorbeiließen. Immer höher hinauf, immer höher. Und die Luft wurde immer schlimmer. „Wollen wa nich mal vapusten?“ fragte der Bäcker. „Du bist det ja nich jewohnt!“

„Nein, laß man, es geht schon. Ist hier immer so schlechte Luft?“

„Ach, du meenst den Mief? Ja, det mieft hier immer, so'n Mief hält warm im Winta. Der hilft Preßkohlen sparen.“ Und wieder schüttelte es Karl Siebrecht.

„Da sind wa“, sagte der Bäcker und stieß mit der Schulter eine Tür auf, die nur angelehnt gewesen war. „Wa stellen den Korb nur ab, det die Rieke nich zu lange alleene is.“

Karl konnte nur einen hastigen Blick in eine von einem Petroleumblaker schwach erhellte Küche tun. Gottlob, hier sah es sauber aus, und es roch auch nicht so schlimm wie draußen. Aus einer Stube drang ärgerliches Brummen. „Det war der Olle“, erklärte der Bäcker, als sie wieder die Treppe hinabstiegen. „Der is ungnädig, die Rieke hat ihm schon 'ne Predigt vapaßt, aber aus der Mulle hat se ihn ooch nich gekriegt.“

Noch dreimal mussten die Jungen mit den Körben die Treppen hoch, denn Rieke hatte angeordnet, dass auch Karls Körbe zu ihr kämen. „Du kriegst nur, wat de brauchst, det kannste dir alle Tage von mir holen. Uff dir muss man uffpassen. Nich, dass ick deine Schlummamutta mißtraue, die Brommen is janz ordentlich, aber mit dir weeß man ja nich –“ Und Karl Siebrecht protestierte nicht.

Beim letztenmal blieb der Bäcker oben, als Wachtposten. „Dat du den Ollen nich ranlässt! Die Körbe pack ick alleene aus, Ernst! Und wir sind ooch schnell wieda da, wir müssen bloß die Karre abliefern, is ja nich weit bis in de Müllerstraße. Und die Karre is leer.“

7. Der alte Busch

„Setz dich doch auf die Karre“, sagte Karl zu Rieke.

„Nee, ick zieh bei dir. Is zu kalt zu's Sitzen. Is dir ooch kalt, Karl?“

„Ein bißchen.“

„Na, laß man, det jibt sich. Uff'n Heimweg hol ick jleich eenen Eimer Kohlen, sollst mal sehen, wie warm wa det noch kriejen. Ick hatt'n janz schönen Vorrat liejen, als ick zu Tante Bertha machte, aba der Olle hat allet wegjefeuert. Der kennt keene Einteilung, Männer sind so.“

„Er wollte wohl bei den Körben nicht anfassen?“

„Laß ihn. Det is sein schlechtet Jewissen, denn is er grade pampig, grade aus' schlechtet Jewissen. Der besinnt sich. Paß uff, wenn wa jetzt heeme kommen, weeß er nich, wat er mir zuliebe tun soll. Schlecht is er nich, da jibt's janz andere! Und überhaupt –“ Sie schwieg gedankenvoll.

„Was meinst du mit: und überhaupt?“

„Wat ick damit meine? Na ja, früher war er janz ordentlich, aba er hat sich det mit Mutta'n doch so zu Herzen jenommen, seitdem is er so.“

„Seit deine Mutter gestorben ist?“

„So kann man det ooch sagen. Aba de Wahrheit is, er hat Mutta'n doch rausgeschmissen, weil sie mit 'nem anderen Kerl jing. Tilda is ja nich von Vata'n, aba er lässt det Kind det nicht entjelten, allet, wat recht is. Und denn hat der Kaschube Mutta'n sitzenlassen, und Mutta is wieda jekommen bei uns, da war se schon in der Hoffnung. Na, Vata hat ihr nischt in den Weg jelegt, aba er hat nie wieda een Wort mit die Frau jeredet, ooch, als se alle machte, und det reut ihm nu. Darum säuft er, aba nur manchmal.“

Der Junge, Karl Siebrecht, schwieg überwältigt. Ihn packte die nüchterne, klagelose Selbstverständlichkeit, mit der die dreizehnjährige Rieke Busch von dem allem redete. „Und das trägst du alles so selbstverständlich, Rieke?“ rief er und legte seine Hand auf der Stange des Karrens sachte über die kleine verarbeitete Kinderhand.

„Wat denn sonst? Wat soll ick denn dabei tun? Det is doch so! Da kann keener wat bei machen! Bloß det eene sare ick dir, Karl: mir soll keener nischt von der Liebe erzählen. Die richt' bloß Unfug an. Wie der Ernst vorhin anfing – na ja, det wissen se alle, ick bin kalt wie 'n Eiszappen!“

„Aber du bist doch auch noch nicht vierzehn, Rieke!“ rief Karl Siebrecht.

„Na wat denn? Wat denkste, wat de Mächen hier schon früh rumknutschen? Is det denn bei euch nich so? Biste ehrlich, Karl, haste noch nie een Mächen jeküßt?“

„Doch – aber ...“

„Na siehste! Da gibt's jar keen Aba! Jünger als du wird se wohl jewesen sind! Aba det sare ick dir, hier paß uff! Und wenn de dir doch verknallst, denn komm bei mir! Ick wer' dir schon raten! Die Mächen hier kenn ick, und die anderen Mädchen seh ick mir eenmal an, dann weeß ick Bescheid. Komm man immer bei Rieke, Karl, die hilft dir!“

Karl Siebrecht musste lachen: „Du redest, Rieke, als wärest du meine Großmutter. Und außerdem werde ich mich hier bestimmt nicht verlieben.“

„Verrede es nich! Du bist een hübscher Junge, und det werden die Mächens hier ooch sehen. Und die in deinem Kaff is weit weg.“

„Ich verliebe mich bestimmt nicht!“

„Wart's ab, Karl, wart's ab!“

Trotzdem die Uhr schon halb elf war, trafen sie den alten Dienstmann doch unruhig vor dem Hause Müllerstraße 87 wartend. „Na, Opa“, sagte Rieke triumphierend, „du hast woll Angst jehabt? Da haste deine Karre. Und siehste, wat ick hier for dir habe: eene Wurscht. Aber keene von Aschinger, denk det bloß nich, die kommt direkt von't Land, di ha' ick dir mitjebracht, Opa!“

„Jott, Mächen“, sagte der Alte ganz gerührt. „Det war ja nu nich nötig jewesen. Jott, riecht die schön! War die im Rooch?“

„Natürlich war die im Rooch, und nich so Kiefernrooch, wie die Schlachter hier machen, nee, richtijen Buchenrooch. Na, nu jute Nacht, Opa!“

„Jute Nacht, Mächen. Dank ooch schön.“

„Nischt zu danken!“ rief Rieke schon im Gehen. „Weeßte übahaupt weswegen du de Wurscht jekriegt hast, Opa?“

„Na, von wejen meine Karre doch.“

„Keene Ahnung!“ schrie Rieke. „Weil de wie 'n Hund heeßt, und alle Hunde fressen jerne Wurscht!“ Sie pfiff durchdringend, dann lockte sie: „Komm, Kieraß, komm, mein Hundeken! Kieraß, kuschste –?“ Noch zwei Straßenecken weit hörten sie den Alten lachen. Karl Siebrecht konnte ihn sich recht gut vorstellen, wie er dastand, ausgemergelt und abgearbeitet, seine Wurst in der Hand, an der Schwelle der Siebzig, dankbar für jedes gute Wort.

Es war nach elf Uhr, als sie wieder über die engen, dunklen, riechenden Höfe, diese bloßen Lichtschächte des Hauses, in der Wiesenstraße gingen. In den Fenstern brannte kaum noch Licht, auch die Gasflammen auf der Treppe warenerloschen. Rieke musste Karl bei der Hand nehmen und ihn im Dunkeln führen; Streichhölzer, sich hinauf zu leuchten, hatte keines von beiden. Dann zog Rieke ihn in die Küche. „Wo is'n Ernst?“ fragte sie sofort den großen schweren Mann, der dort bei der kleinen Lampe am Tisch saß, den Kopf in den riesigen Händen. „Ick habe Ernsten doch jesagt, er soll uff mir warten!“

Der Mann hob den Kopf. Karl war erstaunt, einen verhältnismäßig jungen Mann, vielleicht Ende der Dreißig, vor sich zu sehen. Er hatte sich Riekes Vater uralt vorgestellt und fand nun einen kräftigen, fast blühend aussehenden Mann, mit einem rötlichen, kurz gehaltenen Vollbart, einer auffallend zarten, weiß und roten Haut und einer schönen Stirn. Nur die Augen, diese sehr hellen Augen, von einem verwaschenen Blau, wollten ihm nicht gefallen: der Blick, der auf den beiden Kindern ruhte, schien sie nicht zu sehen, er schien fast nichts zu sehen. „Der Ernst?“ fragte er. „Der Ernst? Den ha' ick jehen heißen, Tochter, den juckte det Fell! Den zog's weg! Wat soll er hier ooch sitzen? Brooch ick 'nen Wachtposten, Tochter?“

„Nee, Vata, broochste nich!“

„Ick bin nich bei die Schließkörbe jegangen, nee. Ick habe dir 'ne Suppe jekocht. Det Mehl hat mir Ernst noch von de Brommen jeholt, een halbet Pfund, du jibst ihr det wieda, Tochter.“

„Tu ick, Vata. Jleich morgen. Wat denkste, wat ick for feinet Mehl von Tante Bertha im Schließkorb habe, so'n Mehl hat hier nich mal Tamaschke! Vata, det is Karl, Karl Siebrecht, der sucht hier Arbeet in Berlin. Is'n Freund von mir, Vata!“

„Is recht, Tochter. Setze dir, Karl. Wie war'n Tante Bertha?“

„Die war richtig, Vata“, antwortete Rieke, die schon am Herde wirtschaftete. „Die ha' ick abserviert. Wat denkste, wat ich allens im Korbe habe, sogar 'nen janzen Schinken!“ Und jetzt strahlte Rieke Busch wirklich voll stolzer Freude.

Busch schien es kaum zu sehen. „Ja, du bist tüchtig, Tochter“, sagte er, immer in der gleichen leidenschaftslosen Sprechweise, die ohne Nachhall schien. Die Worte erloschen gleichsam, sobald sie seinen Mund verließen. „Du bist tüchtig, janz wie Mutta. Mutta war ooch tüchtig, det weeßte, Tochta, det ha' ick dir tausendmal gesagt.“

„Haste, Vata ...“

„Det ha' ick. Ha' ick je ein Wort jejen deine Mutta jesagt, Tochter?“

„Is ja jut, Vata! Ick weeß ja, is ja jut! Biste stille, Vata! Mutta war die beste! – Schläft Tilda?“

„Se schläft, Tochter, ick ha' ihr in meen Bett jepackt. Se wollte so jerne, weil's so scheene warm war. Ick ha's ihr een bißcken zurecht jezogen. Laß ihr drin liejen, Tochter, ick habe meine Tour rum, morjen jeh ick wieda arbeeten.“ Die letzten Worte hatte er fast belebt gesprochen, mit einer beinahe ängstlichen Betontheit.

„Is jut, Vata. Det machste, wie de willst. Da kann dir keener Vorschriften machen.“

„Und du reist nich wieda weg? Du bleibst jetzt hier, Tochter?“

„Natürlich, Vata. – Komm, Karl, nu ißte Suppe mit, die is schön heiß. Nachher tuste jleich det nasse Zeug vom Leibe, und wa puppen dich anders in. Mach bloß den Stehkragen los, Karl, du bist ja schon janz wund am Halse. – Vata, weeßte Arbeit for Karle?“

„Det is jut, Tochter“, sagte der Vater, der nichts gehört zu haben schien, „dass de nich wieder weg machst. Ick kann nich alleene sind. Wat heeßt hier Schinken – bei mir sollste sind!“

„Is ja jut, Vata. Wohin soll ick denn noch reisen? Ick bleib nu hier.“

Vater Busch hatte eine Hand gegen seine Wange gelegt, nun hob er die andere und zeigte damit auf Rieke. „Tochter!“ rief er fast aufgeregt, in aller Leblosigkeit fast aufgeregt. „Tochter! Sieh mir an!“

„Reje dir nich uff, Vata“, sagte das Mädchen und legte den Löffel aus der Hand. Sie sah den Alten aufmerksam an. „Reje dir nich uff, ick hole dir lieber noch 'ne Pulle. War se so schlimm?“

„Schlimm?“ fragte er. „Schlimm? Det nennste schlimm? Tochter, is det wahr, wat mir der Ernst erzählt hat, willste mir mit de Brommen vaheiraten?“ Die Hand, die auf die Tochter zeigte, zitterte so sehr, als habe der Mann einen Schüttelfrost, aber der Mann saß unbeweglich wie eine Mauer, nur die Hand bebte.

„Det machste, wie du willst, Vata, es is wahr, ick habe mit der Brommen jeredet. Ihr paßt jut, Vata, und die Brommen is tüchtig. Ick tu, wat ick kann, Vata, aba ne richtije Frau bin ick doch nich, wenn ihr mir alle ooch dafor nehmen tut: ick bin bloß een Kind. Und denn, wenn 'ne Frau hier wäre, könnte ick een bißcken mehr lernen, ick bin zu doof, Vata. – Aber det machste, wie du willst, Vata. Sagste nee, denn Schwamm drüber, weg is et.“

„Sie war bei mir, Tochter“, sagte der Mann, und die Hand bebte immer stärker. „Die janzen Tage war sie bei mir, im Suff. Jetzt weeß ick, warum se's so eifrig hatte, die janzen Tage, wo ick jing und stand, hat se mir über die Schulter jeflüstert: Du sollst bei keinem Weibe schlafen, Vata, hat se jeflüstert Ick ha' ihr nich vastanden, nu versteh ick ihr. Ick bin for ihr ohne Sünde, Tochter, in diesem bin ich ohne Sünde!“

„Biste, Vata! Es war man 'ne Idee von mir, Vata. Wenn se dir nich in Ruhe lässt, is erledigt. Schluß!“

„Is erledigt, Tochter. Du hast's jesagt, is jut.“ Die Hand sank schwer auf den Tisch herab, blieb dort liegen, wie vergessen. Die Augen schlossen sich fast. „Wat haste dir da anjepröhlt, Tochter? Jeh, zieh dir wat anderet an, wat Helles. Is erledigt, Tochter. Ick kann wieda atmen.“ Er sprach wie im Schlaf. Das Mädchen legte zu Karl hin den Finger auf den Mund und schlich auf Zehenspitzen in die Stube. Karls Löffel lag in der ungegessenen, kalt gewordenen Mehlsuppe. Wie gebannt sah er auf den Mann, der nicht ihn, der nichts zu sehen schien. Noch einmal murmelte der: „Is erledigt, hat se jesagt ...“ und seine Glieder entspannten sich. „Sie gibt wieder Ruhe ...“

Aus der Stube kam Rieke in einem weißen Kleid. Der Junge machte eine Bewegung der Überraschung: aus der grotesken, kleinen, verschrobenen Figur war ein helles, zartgliedriges Mädchen geworden, fast groß für sein Alter.

„Da biste, Tochter“, meinte der Vater. „Setze dir auf meinen Schoß! So, du weißt schon. Leg den Arm um meinen Hals, kraul mir'n Bart een bißcken, janz wie deine Mutta. Rieke, wat biste?“ Zum erstenmal nannte der Mann seine Tochter Rieke, aber selbst der unerfahrene Karl Siebrecht verstand, dass er nicht seine Tochter so nannte.

„Deine Beste“, antwortete Rieke.

„Wen liebste, Rieke?“

„Dir, Walter, bloß dir!“

„Ha' ick dir was Böses getan, Rieke?“

„Nie nich, Walter, immer jut. Immer jeduldig. Immer arbeetsam.“

„Jib mir 'nen Kuß, Rieke.“ Und sie gab ihm einen Kuß.

„Un nu schlaf in, Walter“, sagte das Mädchen und löste sanft den Arm von seinem Hals. „Komm, leg dir in de Klappe!“ Und sie führte den vor Schlaf fast Taumelnden nebenan in die Stube.

Als sie zurückkam, stand Karl Siebrecht am Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Das helle Mädchen stellte sich neben ihn und sah mit ihm, zum erstenmal auch sie wortlos, hinaus in die Nacht, über die Dächer fort, über die der Novemberwind stürmte. Vom Himmel war nichts zu sehen, noch lastete das Dunkel über der Stadt. Kein Stern, kein Mond – nur ein fahler Schein, der die Finsternis noch unterstrich. Schließlich sagte Rieke: „Von deine Arbeet ha' ick mit Vata nu nich reden können, det vastehste?“

„Natürlich.“ Er wandte den Blick vom Dunkel fort, sah in ihr helles Gesicht und sagte: „Wie du das alles aushältst, Rieke? Ich komme mir ganz schlapp vor. Ich bewundere dich!“

„For wat denn, Karl?“ fragte sie. „Sag bloß, for wat? Wejen de Arbeet und wejen Vata'n? Sei man bloß 'ne Weile bei uns, denn siehste andere Arbeet. Und Vata is doch jut. Vata tut keenem nischt.“

„Und du hast nie Angst vor ihm?“

„Vor Vata'n? Doch, Karl, manchmal. Der is ja oft nich janz von hier. Denn denk ick, er richt' noch mal een Unheil an. Darum hätt ick ihn ja jerne vaheirat', det er 'ne richtje Uffsicht hat, aba wat nich is, det is nich. Ick wer's der Brommen jleich saren, die is ne vanünftije Frau, se wird det bejreifen. – Un nu, Karl, packe nur aus, und du puppst dir um. Die Tracht hängen wa weg, bis de weiter bist. Vorläufig biste nischt als een unjelernter Arbeeta, da musste dir ooch wie so eena tragen.“ Nach einer halben Stunde war alles ausgepackt, und Karl trug die reichlich weite Manchesterhose des Vaters und eine Joppe. Erst hatte er protestiert, aber Rieke hatte gesagt: „Du musst aussehen, det se dir nich jleich uff de Schippe nehmen. Se werden dir noch jenug verasten von wejen deine Sprache und deine feinen Pfoten. Aba laß sie, da musste doch durch, det wirste schon schaffen.“

Nun ging er mit Rieke durch das dunkle, immer geräuschvolle Haus. Sie trug den kleinen Petroleumblaker, der Lichtschein fiel auf die ausgetretenen, beschmutzten Stufen und manchmal auf ihre kleinen Füße, die so müde sein mussten, ach, so müde!

„Wann gehst du schlafen, Rieke?“

„Jetzt jleich, wenn de versorgt bist.“

„Und wann stehst du auf?“

„Wo Vata wieder arbeet, um halb sechse. Hab keene Angst, ick weck dir rechtzeitig, wenn Vata wat for dir weeß.“

„Dann hast du kaum fünf Stunden Schlaf.“

„Det macht nischt, Karle, da schlaf ick een bißcken schneller zu. Det jleicht sich aus.“ Sie gingen über zwei Höfe zurück, dann in ein Quergebäude und fingen wieder an, Stufen zu erklettern. „De Brommen hat's jut, die hat 'ne feine Wohnung“, sagte Rieke. „Ick dachte schon, ick könnte mit Vata'n und Tilda bei ihr ziehen. Na, wieder mal nischt!“

„Aber es riecht hier genauso, und die Treppen sind genauso scheußlich wie bei euch!“

„Aber der Hof, Karl! Haste nich uff'n Hof jeachtet?“

„Der Hof? Der ist genauso düster wie bei euch.“

„Du hast 'nen Blick, Karl, dir sollten se zum Baurat machen – for Arbeeterwohnungen! Der Hof hier is fast doppelt so jroß wie unserer! Wenn de Brommen de Fenster uffmacht, kriegt se Luft, ick bloß Gestank, und sie hat im Sommer Sonne, ick nie!“ Damit waren sie an der Tür angelangt, Rieke klopfte leise, und die Tür ging auch gleich auf. Die Brommen war eine schwere Frau mit fast zu frischen Farben, sehr mit gestrickter Wolle bedeckt.

„Seid ihr endlich da?“ fragte sie. „Der Ernst hat ma schon Bescheid jesagt. Det Bett is frisch bezogen, und det du's jleich weißt: det Schlafen kost' vier Mark die Woche, immer im voraus. Alle vier Wochen wird frisch bezogen. Und wenn de Frühstück haben willst, kost' es 'ne Mark fünfzig extra, aber bloß Brot, mit Schrippen freßt ihr mir arm! Einverstanden?“

„Det is jerecht, Karl“, sagte Rieke. „Det is in Ordnung. Da schlag in und jib ihr jleich det Jeld for de erste Woche! Wie de dir sonst beköstigst, davon reden wa noch. Ick denke, du ißt bei mir und jibst mir Kostgeld! – Hier is ooch det Mehl, Brommen, wat se Vata'n jeliehen haben!“

„Na, so eilig war det nu ooch nich jewesen, Rieke. Det ist ja nich so bei mir, Rieke, det ick een halbet Pfund Mehl direkt entbehren tu!“

„Det weeß ick doch, Brommen. Et is nur von wejen die Ordnung.“

„Ja, ordentlich biste, Rieke!“

„Aba kieken Se sich det Mehl an, Brommen, det is een Mehl! Det ha' ick von Tante Bertha'n mitjebracht, so'n Mehl kriejen Se nich mal bei Tamaschke!“

Und nun ergingen sich die beiden über die Vorzüge ländlichen Mehls, und dann berichtete Rieke von ihren Anschaffungen bei Tante Bertha, und Karl Siebrecht stand stumm und ein wenig verdrossen und übermüdet dabei. Vorläufig konnte er noch nirgends mitreden, es war eine zu fremde Welt. Aber er fand doch, Rieke hätte nun Schluß machen und ins Bett gehen können, sie beide hatten den Schlaf nötig. Aber damit bewies Karl Siebrecht nur, dass er wirklich ein ahnungsloser Knabe war. Man fällt nicht mit der Tür ins Haus, weder auf dem Lande noch in der großen Kaiserstadt Berlin. Rieke wußte wohl, was sich schickt, und die Brommen wußte es auch. Eine ganze Weile verging, ehe die Bromme fragte: „Und wat sagt denn der Olle dazu, Rieke? Hat er sich denn jefreut über all det jute Essen, wat du anjeschafft hast? Da habt ihr doch den janzen Winter jut von!“

„Heute noch nich, Brommen“, antwortete Rieke Busch. „Aber det kommt noch.“

Eine kleine Pause entstand, dann sagte die Brommen: „Na ja, wenn't man kömmt! Unsereener is ja Warten jewohnt, wat, Rieke?“

„Det ja. Aber manchmal wart' man ooch umsonst, Brommen.“

„Ach nee –?“ Sehr gedehnt: „Du meinst –?“

„Ja, det meen ick, Brommen. Vata will nich.“

„Ach so!“ Tiefes gedankenvolles Schweigen. Dann: „Der Ernst hat mir jesagt, der Olle spinnt heute ...“

„Det ooch, Brommen.“

„Det jibt sich doch, Rieke!“

„Det nich, Brommen, det nich! Der Umstand ist der: sie hat's ihm verboten!“

„Wat hat se ihm vaboten? Mir hat se ihm vaboten?! Haste Töne, Rieke? Sich hat se doch nischt vaboten, oder –?“

„Nee, det nich! Aba, Brommen, det bild er sich doch bloß in!“

„Denn red ihm doch seine Inbildungen aus!“

„Det kann ick nich! Er sieht ihr wirklich, und er hört ihr ooch, da kann man nich gegen an reden.“

„Spricht se denn wirklich mit ihm? Nee so wat!“

„Ick weeß nich, ob er sich mit ihr unterhält, det jloobe ick eijentlich nich.“

„Wat hat se ihm denn jesagt?“

„Ick weeß ooch nich so. Det er keen Weib berühren soll oder so!“

„Nu schlägt's dreizehn! Die spinnt wohl? Wenn der Olle spinnt, die spinnt noch zehnmal mehr. Det is doch direkt unjesund, der Mann is doch in den besten Jahren! Nee, so wat ha' ick noch nich jehört! Uff wat die nich noch im Jrabe kommt – und gerade die!“

Und die geduldige, so müde Stimme Riekes: „Vata bild sich det doch bloß in, Brommen!“

„Det sage nich! So wat kann sich keen Mensch inbilden! Det is se, wie se leibt und lebt!“

„Na ja, Brommen, wie Se denken, Se können ja recht haben. Aba ick meine imma, wa lassen Vata erst mal zufrieden. Det se erst wieda Ruhe jibt. Der Mann is ja ganz durcheinander.“

„Da haste recht, Rieke! Den Jefallen tun wa ihr nich, det se ihn noch weiter ängstigt. Die soll man bleiben, wo se ist. Da liegt se gut. Und am Sonntag mach ick mal raus uff den Friedhof bei ihr und bring se Blumen, det besänftigt se valleicht.“

„Det tun Se man, Brommen, det is ne jute Idee. Jute Nacht, Brommen! Jute Nacht, Karl! Schlaf ooch schön, Karl!“

„Schlaf du auch schön, Rieke!“

„Hier is dein Bette, Jung!“ sagte die Brommen und führte, eine Kerze in der Hand, den Karl in eine Dachkammer, unter deren schräger Decke zwei Betten standen. Das seine stand aber ganz unter der Schrägung, so dass er im Bett nicht würde aufrecht sitzen können, das sah er gleich. „Det andre Bett hat Ernst, der is noch unterwejens. Deine Sachen legst du übers Bette, det wärmt ooch noch. Det zucht hier een bißcken durch't Dach. Na, du hast ja junget Blut, da macht det noch nischt. – Jute Nacht ooch.“

„Also denn jute Nacht, Frau Bromme!“

Das Bett war feuchtkalt. Karl Siebrecht hatte gemeint, sofort einschlafen zu können, aber nun zitterte er vor Frost. Der Wind stieß so nahe an die Schieferplatten, und unter der Decke war immer wieder ein Loch, durch das es eiskalt hereinkam, er mochte sich noch so fest einwickeln. Und schlief doch schon. Schlief und sah das weiße, wie mehlbestäubte Gesicht des Bäckers Ernst über sich, eine Hand lag fast ganz um die Kerzenflamme, ein schmaler Lichtstreif stach in seine Augen. Er blinzelte mühsam.

„Du!“ flüsterte der Bäcker. „Haste ooch schon wat mit die kleenen Mächen?“ – Ich will bloß schlafen, dachte er. Was will denn der? Er hatte es vielleicht auch laut gesagt. – „Haste wat mit die Rieke?“ flüsterte der Bäcker wieder. „Se hat dir so komisch anjekuckt, so hat se noch nie uff mir jesehen.“ Er gab dem Karl Siebrecht einen Stoß. „Hörste, Jenosse –?!“ – Aber Karl Siebrecht war trotz des Stoßes davon überzeugt, dass er nur träumte. Er warf sich herum gegen die Wand. – „Ick habe dir jewarnt“, hörte er den anderen noch. „Wenn ick wat merke, ick flüstre es dem Ollen, und der Olle bringt dir um!“ Aber das war nur Traum, Traum, Traum. Das war nichts Wirkliches.

Und am nächsten Morgen hatte Karl Siebrecht wirklich alles vergessen. Nur den Bäcker, den er am Abend doch noch ganz gerne gemocht hatte, konnte er nun nicht mehr ausstehen. Er wußte nur nicht warum.

8. Auf der Arbeitsuche

Der Junge meinte, kaum eingeschlafen zu sein, da riß die Brommen an seiner Decke und rief: „Sollst machen, mit dem ollen Busch uff Arbeet jehen! Die Rieke ist dajewesen!“

Karl Siebrecht fuhr hoch im Bett und gegen einen Dachsparren, dass sein Schädel krachte. Durch das schräge kleine Fenster fiel noch kein Tageslicht, das Bett des Bäckers war leer. In Hosen schlurrte er in die Küche und wusch sich kalt ab. Die Brommen drehte ihm den Rücken. „Genier dir nich und zier dir nich“, versuchte sie zu singen. „Ick kieke nich. – Jott, ooch Zähneputzen? Det muss ick die Rieke erzählen, so'n feinen Schlafburschen ha' ick noch nich jehabt. – Mach zu mit's Kaffeetrinken, Jung, der olle Busch muss um achten an der Baustelle sind, weil's erst so spät helle wird, aber det muss er.“

Der Kaffee schmeckte anders als der von Minna gekochte, und die Butter war keine Butter, sondern Margarine, aber Karl Siebrecht hatte den Appetit der Jugend und aß tüchtig. „Na, det is richtig, iß man tüchtig!“ sagte die Witfrau Bromme. „Und nu jeh los, den Weg zu Buschens wirste ja wohl finden.“

Es war aber gar nicht so einfach, diesen in der Nacht gemachten Weg wiederzufinden. Bei dem ersten schwachen Tagesschimmer sahen die Höfe womöglich noch trostloser, noch dunkler aus. Die vielen Eingänge verwirrten Karl. Erst als er eine Treppe bis ins oberste Stockwerk hinaufgelaufen war, merkte er, dass er sich geirrt hatte, und musste noch einmal treppab und treppauf. Als ihm Rieke die Tür, öffnete, keuchte er vom Laufen. Es war wieder eine ganz andere, sehr kindhafte Rieke, mit einer Schultasche auf dem Rücken. „Ick muss in de Schule – sonst müssen wa wieda Strafe zahlen. Muss Tilda alleen bleiben, die wird schön wat plärren. Aber ick sage unserm Frollein Bescheid – ick ha' nich so viel Zeit wie die, zur Schule zu jehen! Mach's jut, Karl!“ Sie gab ihm die Hand und lief schon die Treppe hinunter. Karl Siebrecht sah ihr nach. Der vor ihm liegende Tag schien ihm plötzlich ohne seine kleine helle Freundin sehr grau.

Maurer Busch saß, schon mit der kalkweißen Schirmmütze auf dem Kopf, am Tisch und fütterte die Tilda von einem Teller. „Na, Tilda“, sagte er, „da ist der Junge. Morjen, Junge! Nu legste dir noch schön in deine Betten und spielst mit deinem Püpping.“ Schon bei seinen ersten Worten hatte das Kind zu weinen angefangen, nun brüllte es lauthals. Einen Augenblick stand der starke Mann unentschlossen mit dem zornigen, strampelnden Kind auf dem Arm, den unbestimmten Blick seiner hellen Augen wie um Hilfe auf Karl gerichtet, dann murmelte er: „Det hilft nischt, Tilda! Brüllen hilft bei uns allen nischt.“ Er verschwand mit dem Kind in der Stube, das Brüllen verstärkte sich. Dann erschien der Mann rasch wieder, nahm seinen Rucksack, in dem das Maurergeschirr klirrte, und drückte dem Jungen ein Paket in die Hand: „Det sind deine Stullen, Jung!“

Er drängte ihn aus der Tür. Nicht zu früh, denn in der Stubentür erschien wie ein tobender Zwerg Tilda und schoß auf sie zu. Aber Busch hatte schon die Tür eingeklinkt und verschlossen. Es war erstaunlich, welchen Lärm mit Mund, Händen und Hacken so ein kleines Mädchen an der Tür vollführen konnte! Der alte Busch seufzte noch einmal schwer und stieg dann, ohne ein Wort an seinen Begleiter, die Treppe hinunter. Schweigend folgte ihm Karl Siebrecht.

Wenn der Junge aber gemeint hatte, Busch würde ihm irgendein Wort über das Ziel ihres Weges und die Art der möglichen Arbeit sagen, so hatte er sich geirrt Der Mann ging dahin, mit einem ruhigen, wie abwesenden Schritt, als gingen die Beine, ohne vom Kopf geführt zu werden, und nicht einmal sah er sich um nach dem Jungen. So plötzlich blieb Busch stehen, dass Karl schon fünf Schritte weiter war. Er kehrte um. Busch stand mit anderen an einer Straßenbahnhaltestelle. „Fahren wir mit der Straßenbahn, Herr Busch?“ fragte Karl, den es drängte, dies drückende Schweigen zu brechen.

Der Mann kramte in seinen Taschen, brachte eine kurze Pfeife zum Vorschein, stopfte sie umständlich aus einer Tabaktüte, brannte sie an, tat die ersten Züge – und längst waren Frager und Frage vergessen. Da er aber an der Haltestelle stehenblieb, so nahm Karl an, dass doch gefahren wurde. So war es auch. Manche Elektrische war schon weitergefahren, nun ging Busch auf die Fahrbahn, stieg in eine eben haltende ein, zwängte sich auf die volle Vorderplattform, und Karl sprang schnell nach. Graue Straßen glitten vorbei, nicht unterscheidbar, schien es dem Jungen, Dutzende, Hunderte, Tausende von Häusern, alle grau in grau im Novembernieseln, eines wie das andere. Und die Menschen, alle grau, alle grämlich oder verbissen, alle stumm ...

Dann stieg Maurer Busch ab. Hier war Berlin schon locker geworden. Die Reihen nüchterner fünfstöckiger Mietskasernen an der Straße waren zahnlückig, es gab zwischen ihnen eingeplankte Bauplätze, Holz- und Brikettlager, wüste Schuttansammlungen und auch einmal ein Stück Feld, das mißfarben, wie zum Tode verurteilt, unter dem grauen Novemberhimmel dalag. Noch immer sprach Maurer Busch kein Wort zu dem Jungen. Er ging mit demselben geistesabwesenden Schritt und grüßte auch die anderen Maurer nicht, die gleich ihm ihren Baustellen zustrebten. Sie riefen wohl einmal: „Na, Blaumachen alle, Walter?“ Aber er starrte halb schräg vor sich auf die Erde und schien sie nicht zu hören.

Sie waren zwei- oder dreimal um eine Ecke gebogen und gingen nun auf einer sandig zerfahrenen Straße, die ungepflastert war. Hier war noch nichts gebaut, es gab Feld, es gab Lauben, es gab Sandgruben, wieder viel Schutt und Müll – und nur gerade vor ihnen gab es einen ganzen großen Häuserblock in allen Stufen der Fertigstellung: halbhoch, hoch und ungedeckt, schon geputzt, mit Fenstern und Türen darin. Ja, es gab sogar schon ein paar jämmerliche Ziehwagen mit den zusammengestoppelten, verbrauchten Möbeln ärmster Leute. In manchen Fenstern glostete die rote Glut der Kokskörbe, die aus den noch feuchten Wänden das Wasser vertreiben sollte. Hier war Buschs Arbeitsstelle. Die anderen Maurer gingen in einen langen Schuppen, um ihre Säcke abzulegen. Busch aber blieb, mit gesenktem Kopf, in der Nähe eines schnurrbärtigen Mannes stehen, der eine ähnliche Joppe wie Karl Siebrecht trug, der also, der Junge erriet es, so etwas wie ein Polier oder Werkführer war. Der Mann sprach mit einem anderen, den eine Peitsche als Fuhrmann auswies. Nun drehte sich der Polier um, und sein Blick fiel auf den geduldig wartenden Busch. „Was, Sie, Busch?“ rief er. Busch stand unbewegt.

Der Polier trat hitzig einen Schritt näher. „Sie haben doch wohl Ihre Papiere und Ihr Geld gekriegt, Busch?“ rief er. „Machen Sie, dass Sie fortkommen! Für Sie gibt's hier keine Arbeit mehr!“ Der Mann stand wie zuvor, mit gesenktem Kopf, den Blick zur Erde. Noch einen Schritt näher rief der Polier: „Ich lasse mich nicht länger von Ihnen an der Nase herumführen, Busch! Ja, das glaube ich, jetzt beißt Sie die Reue! Aber das hilft Ihnen gar nichts – Sie lassen mich doch wieder sitzen, wenn uns die Arbeit am meisten auf den Nägeln brennt!“

Busch hob den Blick, diesen verwaschenen Blick, der nichts zu sehen schien. Da stand er, ein Bild der Kraft, mit einem rötlichen Vollbart, mit der Gesichtsfarbe eines Kindes, hübsch rosa und weiß, und genauso schuldbewußt wie ein Kind. „Sie lassen mich doch wieder sitzen, wenn uns die Arbeit am meisten auf den Nägeln brennt!“ hatte der Polier gerufen.

Und „Ja, Herr!“ hatte der Maurer Busch – ganz sinnlos – geantwortet.

„Dass Sie das verfluchte Saufen nicht lassen können, Busch!“ rief der Polier wieder und trat noch einen Schritt näher an den Mann. „Ein Kerl wie Sie, tüchtig – was könnten Sie für ein Geld machen, wenn Sie richtig arbeiteten! Aber so!“ Er sah den wortlos vor ihm Stehenden an. Dann zuckte er die Achseln. „Tut mir leid, Busch, aber ich kann Sie nicht wieder einstellen. Ich bekäme Krach mit dem Chef. Morjen!“ Und er wandte sich kurz um und ging auf die Baustelle.

Karl Siebrecht stand einen halben Schritt hinter dem Entlassenen. Einen kurzen Augenblick war der Blick des Poliers auf ihn gefallen, er hatte ihn aber nicht weiter beachtet. Nun kämpften Zorn und Mitleid im Herzen des Jungen. Solche Szenen waren ihm nicht neu. Auch sein Vater hatte auf der Baustelle manchmal einem Faulen oder Trunksüchtigen den Magen reingemacht. Aber es war ein gewaltiger Unterschied, ob man hinter dem Scheltenden oder hinter dem Gescholtenen stand! Hier, angesichts des Baues, auf dem nun schon überall die Maurerhämmer klopften, die Steine auf die Gerüstbretter fielen, die Schaufeln der Mörtelmischer in den schwappenden Kübeln klatschten, hier, angesichts einer Arbeit, die Hunderten ihr Brot gab, aber ihm nicht, ermaß er, wie tief unten er stand, wie hoch er klimmen musste, wie sich in wenigen Tagen sein Leben von Grund auf verändert hatte.

Der Maurer Busch verharrte noch immer mit gesenktem Kopf. Kein Glied hatte er gerührt, seit der Polier gegangen war. Aber der Junge warf den Kopf zurück, er sah noch einmal auf den Übergeduldigen, dann suchte er auf dem Gerüst mit den Augen den Polier und fing an, die Leitern emporzuklettern. Das konnte er, auf Baugerüsten war er schon als Knirps geklettert, er lief die Leitern hinauf wie nur einer vom Bau, eine Katze konnte nicht schneller und sicherer sein. Der Polier hatte die fremde Gestalt hochkommen sehen. Als Karl Siebrecht noch nicht von der Leiter im vierten Stock war, sagte er schon: „Hat keinen Zweck, Jung. Ich stell deinen Vater doch nicht ein.“

„Aber vielleicht stellen Sie mich ein als Handlanger, ich mache alles!“

„Mit den Händen –?“

„Einmal muss man anfangen. Ich weiß auf 'nem Bau Bescheid.“

„Das habe ich schon an deinem Klettern gesehen. Von wo bist du?“

„Mein Vater war auch – Polier. Er ist tot.“

„Nun musst du arbeiten? Bist auf die Schule gegangen?“

„Ja.“

„Junge, das ist doch nichts. Geh in irgendein Büro.“

„Irgendwo muss man anfangen! Ich muss Geld verdienen. Lassen Sie mich hier anfangen!“

Der Polier dachte nach: „Wie kommst du zum Busch?“

„Meine Wirtin wohnt im selben Hause. Wir dachten, er könnte mir Arbeit verschaffen.“

Der Polier sah den Jungen noch einmal an, von oben bis unten. Er zögerte sichtlich: „Mit so feinen Jungens macht man immer schlechte Erfahrungen ...“

„Ich bin kein feiner Junge!“

Das Auge des Poliers war, erst unachtsam, auf der manchesternen Hose des Jungen haften geblieben. „An der Hose“, sagte er lächelnd, „sehe ich, du schwindelst nicht. Das ist die Hose von einem Polier.“

„Ja, es ist Vaters Hose.“

„Na also, geh da drüben hin, wo der Umzugwagen vor der Tür hält, ich bin in fünf Minuten da. Aber mehr als zehn Mark gebe ich dir die erste Woche nicht, ich muss erst sehen, was du wert bist.“

Also zehn Mark die Woche bin ich doch schon wert! dachte der Junge und ging an dem Maurer Busch vorbei, der noch immer geduldig, unverändert auf demselben Fleck stand. Es ist vielleicht nicht viel, aber es ist ein Anfang, dachte er. „Er will mich einstellen, Herr Busch“, sagte er im Vorbeigehen.

Der Mann hob den Blick, etwas wie Leben war darin. „Sag der Tochter nischt – von dem hier“, flüsterte er.

„Natürlich nicht, Herr Busch“, antwortete Karl Siebrecht und ging zum Ziehwagen hinüber.

Sie luden einen Schrank, dann eine Kommode ab. Der Junge bekam gleich etwas zum Zufassen. Es war ein Mann, lang, mit hohlen grauen Backen, und ein Weib, das so schwach schien, dass es kaum stehen konnte. Immerzu hustete sie. Die beiden nahmen Karl Siebrechts Hilfe ohne Dank mit einer mürrischen Selbstverständlichkeit hin. Als einmal die Frau, von einem nicht enden wollenden Husten geschüttelt, an die Wand gelehnt dastand, sagte der Mann verbissen: „Det ist nu die neunte Wohnung, die wa trocken wohnen. Ick jloobe nich, det se noch die zehnte mitmacht.“

„Was tun Sie –?“ fragte Karl Siebrecht.

„Na wat wohl? Kennste det nich? Det weeßte wohl nich, du mit deine Samtpfoten? Wa wohnen die Wohnungen trocken for die, die Miete zahlen. Dafor blechen wa keene Miete, und die Schwindsucht jibts jratis zu! Det nennt man Trockenmieter – weil wa ewig ins Nasse sitzen!“

„Und das ist erlaubt?!“ rief Karl Siebrecht. „Sie gehen doch zugrunde dabei!“

„Meenste?“ fragte der Mann, und etwas wie ein grimmiger Spott wurde in seinen grauen, hoffnungslosen Augen wach. „Wenn de nich solche Samtpfoten hättest, Junge, denn wüßtest de, dass unsereenem nur det Krepieren erlaubt ist, sonst nischt! – Na, faß an, det wa den Schrank rinkriegen!“

Karl Siebrecht war so erfüllt von dem Erlebten, dass er auch den Polier, der ihn holte, mit der Frage bestürmte, ob denn so etwas wirklich erlaubt sei? Der Polier maß das junge, vor Entrüstung gerötete Gesicht mit einem Blick. „Det jeht mir nischt an“, sagte er, plötzlich urberlinerisch. „Ick baue; wat denn mit die Bauten wird, det jeht mir nischt an. Und dir ooch nich.“ Und wieder hochdeutsch: „Ich hab den Busch doch wieder eingestellt. Ich krieg bestimmt Krach mit dem Chef, aber ich kann den Mann doch so nicht stehenlassen!“

„Danke schön“, sagte der Junge.

Sie waren in einen ganz fertigen Neubau gekommen. Alle Fenster und Türen standen weit offen, der Zugwind pfiff durch die Räume, in denen die großen Körbe mit glühendem, knisterndem Koks standen.

„Hier trocknen wir vor – für deine Trockenmieter“, sagte der Polier mit einem trüben Lächeln. Er pfiff gellend auf zwei Fingern. Nach einer Weile schurrte ein kleiner buckliger Alter heran, grauschwarz vom Rauch und Kohlenstaub, mit hängenden langen Armen. „Edwin, da ist ein Junge, der kann dir beim Kokstragen helfen. Laß ihn machen, was nötig ist. Er hat gesagt, er macht alles. Und seht, dass ihr oben den fünften Stock bald fertigkriegt, der soll nächste Woche schon bezogen werden. Also los, Jung, der Edwin zeigt dir alles. – Und noch eins, Edwin! Dass du mir nicht mit dem Jungen stänkerst wie sonst. Wenn diesmal einer fliegt, dann bist du das!“ Damit ging der Polier.

9. Rein in die Arbeit! Raus aus der Arbeit!

Der kleine Buckel mit den hängenden Affenarmen stand vor Karl Siebrecht und sah ihn schräg von unten schweigend an. Dabei zeichnete sich das Weiß des Augapfels, das einzige Weiß in diesem kohlegeschwärzten Gesicht, stark ab – das gab dem Alten ein böses Aussehen! Nach einer Weile, als Edwin ganz sicher war, der Polier war wirklich fort, fragte er: „Wat bist denn du for eener?“

„Genauso einer wie du!“ lachte Karl Siebrecht.

„Det sare nich! Biste verwandt mit'n Polier?“

„Nein!“

„Aber aus seine Freundschaft biste?“

„Kein Gedanke!“

Der Buckel dachte nach. Dann: „Denn kennste den Chef! Kennste den Chef?“

„Auch nicht. Nie gesehen.“

„Wen kennste denn uff den Bau?“

„Keinen. – Doch – den alten Busch.“

„Den hat er doch jeschaßt!“

„Und heute früh wieder eingestellt!“

„Hat er? Wirklich?“

„Hat er! Wirklich!“

„Und dir hat er ooch injestellt? Woher kennste denn den Polier?“ „Kenne ihn gar nicht.“

„Den musste doch kennen! Ick soll dir doch sanft anfassen – det hat er noch uff keenen jesagt.“

„Du brauchst mich auch nicht anders anzufassen als die anderen!“

„Det sare nicht. Sare det nur nich.“ Der Buckel seufzte. Dann, dringlich: „Junge, sare bloß, warum hat er dir injestellt?“

„Wahrscheinlich, weil ich ihm leid getan habe, ich bin nämlich arbeitslos.“

„Und denn sanft anfassen!“ Der Buckel seufzte, noch kummervoller. „Ich sehe schon, du bist stickum ...“

„Was bin ich?“

„Du willst es nur nich sagen. Na, denn laß, aba det sare ick dir: wer uff mir jesagt hat, hier stinkt's, der hat jelogen!“ Er erregte sich stärker: „Hier schnüffelste nischt raus! Ick habe keenen Koks nich verschoben! Wer det sagt, lügt. Und sonst ooch nischt.“

„Ich bin kein Spion vom Polier.“

„Siehste! Nun ist's raus! Aber vom Chef biste eener! Ich hab's jleich an deine Pfoten jesehen, wie ich deine Pfoten jesehen habe, ha' ick mir jesagt, det is eener von's Büro, der kommt schnüffeln!“

„Aber bestimmt nicht! Ich weiß nich mal, wie der Chef heißt!“

„Det sare nich – ick bin reell bis uff de Knochen! Bei mir schnüffeln Se nischt aus! Wat wollen Se sich de schönen Pfoten dreckig machen?! Ich zeige Sie alles, und denn setzen Sie sich irgendwo ins Warme, und denn saren Se dem Chef: der Edwin is reell. Und det können Se mit ruhigem Gewissen sagen, ohne sich die Pfoten dreckig zu machen –“

Karl Siebrecht zog sich die Joppe aus. „Also jetzt fangen wir mit der Arbeit an. Das ist alles Gefasel von dir, Edwin! Wo liegt der Koks? Im fünften Stock sollen wir anfangen –“ Der Buckel starrte ihn mit einem so verzweifelten Augenverdrehen an, dass er lachen musste. „Wirklich! Ich arbeite. Zehn Mark soll ich die Woche kriegen – was kriegst du, Edwin?“

Edwin seufzte, sehr schwer. „Ick nehm dir's nich ab. Von meinswejen, wenn de dir partuh insauen willst! Aber desterwejen schnüffelste doch nischt raus!“

Und nun fingen sie wirklich an, die Kokskörbe herumzuschleppen, Glut von einem in den anderen zu tragen, mit einem Blasebalg loszufauchen, neue Feuerung in Körben aus dem Keller heraufzuholen. Es war eigentlich eine vergnügliche Arbeit, der Polier hätte Schlimmeres und Schwereres für Karl Siebrecht finden können. Der Koks prasselte so angenehm in den Körben, die rote Glut leuchtete und wärmte so freundlich in der kalten Novemberluft, friedlich ächzte und knarrte das Leder des großen Blasebalges, während freundliche Wärme Karls Gesicht und Hände bestrich ... Und nun hinein in die eisig pfeifende Zugluft der Treppen und Gänge, an den offenen Fenstern vorbei, hinab in die schwarze, naßkalte Höhle der Kokskeller, den Korb gefüllt und wieder hinauf im Trab zu der Wärme, der sanften Glut, dem behaglichen Ächzen.

Wenn nur dieser verfluchte Zwerg, dieser Edwin nicht gewesen wäre! Immer wieder, mitten in der Arbeit, im schönsten Laufen fing er an: „Sag es mir doch: wer hat dir jeschickt? Bloß, det ick es weiß!“

Bis es Karl Siebrecht zu dumm wurde und er ärgerlich rief: „Du musst ein verdammt schlechtes Gewissen haben, Edwin, dass du mit dem Quatsch nicht aufhörst! Nun halt endlich den Mund, oder ich erzähle wirklich dem Polier, wie du mir hier zusetzt mit deinem Gefasel!“

Von da an schwieg der langarmige Zwerg völlig. Er trennte sich sogar von Karl, wies ihm ein Stockwerk zu, das er allein besorgen sollte – und doch ertappte ihn Karl immer wieder, wie er schweigend unter einer Tür stand und mit hängenden Armen und verdrehten Augen ihn beobachtete, als könne er aus solchem Beobachten erraten, welche Bewandtnis es nun wohl mit seiner neuen Hilfskraft habe. Und einmal überraschte Karl Siebrecht den Zwerg dabei, wie der sich seine Joppe vorgenommen hatte. Er hatte sie sich über die Knie gelegt und fingerte mit seinen schwarzen Pfoten in der Brieftasche herum.

Das war nach der Frühstückspause gewesen. Karl hatte sie benutzt, um schnell noch einmal zu den Trockenmietern herumzuspringen, ob sie wohl noch Hilfe gebrauchten. Oh, sie gebrauchten schon Hilfe! Jetzt lag die Frau, völlig erledigt, im Bett, zitternd, am ganzen Leibe fliegend, und der Mann mühte sich ab, die verquollenen Fenster zu schließen, im Herd mit einer zerschlagenen Kiste Feuer zu machen und seiner Frau etwas Warmes aufzusetzen. Karl Siebrecht hatte sich nicht lange besonnen. Das bißchen Kistenholz war nur wie ein rasch aufflammendes, gleich wieder zusammenfallendes Papierfeuer, er holte von drüben aus „seinem“ Keller einen Arm voll Anmachholz und einen Korb Kohlen, ohne viel Nachdenken, ob das nun auch „zulässig“ war. Es schien ihm „recht“, und es war ihm ganz egal, dass der Buckel dabei zusah. Es war ihm auch egal, dass die beiden Trockenmieter ihm für sein Tun nicht mit einem Wort dankten, dass der Mann sogar noch sagte: „Ick habe dir nich darum jebeten, det weeßte, du!“ Karl Siebrecht hatte es nicht um Dank getan.

Aber als er da nun bei seiner etwas verspäteten Rückkehr aus der Frühstückspause den Zwerg Edwin mit seiner Brieftasche in den Kohlenpfoten fand – und in der Brieftasche war doch, neben manchem Gleichgültigen, die Aster der Erika Wedekind –, da hatte ihn Zorn erfaßt. Noch keine vierundzwanzig Stunden, und die kleine Stadt und die unbeschwerte Jugend waren so fern gerückt, so fern. Aber die Erika Wedekind, die saß fest in ihm, mit ihrem zutraulichen, halboffenen Kindermund – wie oft hatte er während der Arbeit nach einem bayrischen Jodler „Riariatiritiro!“ gesummt, und hatte doch nicht den Jodler gemeint ... Er riß dem Edwin die Brieftasche aus der Hand und schrie ihn an: „Nun ist aber Schluß mit deiner Schnüffelei, Edwin! Wenn ich dich noch einmal bei so was erwische, gibt's Krach!“

Der Buckel schien sich aber endlich davon überzeugt zu haben, dass hinter der neuen Hilfskraft nichts anderes steckte als eben eine neue Hilfskraft. Er stand ohne Verlegenheit auf und sagte nur mürrisch: „Bei wem det wohl kracht, du Neuer?! Mach lieber, det de nach deinem Feuer siehst, det verschmookt ja allens! Und übahaupt – es is bald 'ne Viertelstunde nach Frühstück –“ Drohendes murmelnd ging er.

Der Junge arbeitete munter fort und sang dabei sein „Riariatiritiro!“ immer lauter – keiner konnte ja wissen, was er sich dabei dachte! Und je mehr gegen die Mittagsstunde zu die Knochen von der ungewohnten Arbeit zu schmerzen, die Füße zu brennen anfingen, um so mehr steigerte er sein Tempo: er ließ sich nicht unterkriegen! Er sollte zehn Mark die Woche verdienen, und die wollte er auch wert sein.

Gegen zwölf, kurz vor der Mittagsstunde, wurde es laut im Bau: es kam Besuch. Es war der Herr Chef selbst, mit Spitzbauch und Gehpelz, laut in Sprache und Benehmen. Ach, Karl Siebrechts Vater war eine andere Art von Unternehmer gewesen, er hatte mit seinen Arbeitern so gesprochen, dass immer noch zu erkennen gewesen war, er war auch einmal ein Maurer gewesen. Er hatte ihre Sprache gesprochen, ihre Sorgen nicht vergessen. Darum hatte er es wohl auch nie zu einem Gehpelz gebracht und nie zu einem ganzen Häuserblock mit Hunderten von Wohnungen. Der Herr Kalubrigkeit schien nur schimpfen zu können, und was auch gemacht worden war, es war schlecht gemacht. „Ist das der Junge, den Sie mir wieder mal aufgeladen haben, Polier?“ bullerte er los. „Ich bin keine Wohltätigkeitsanstalt! Was soll ich denn mit so 'nem Jungen?!“

„Er ist ja billig, Herr Kalubrigkeit“, antwortete der Polier, der all dies wohl gewohnt war, gleichgültig. „Und wenn er sich erst eingearbeitet hat, wird er soviel schaffen wie ein Mann.“

„Immer machen Sie so 'ne Geschichten! Erst den Busch – wo ich Ihnen den Busch extra verboten habe, und nun diesen Bengel! – Halt keine Maulaffen feil, Junge! Siehst du nicht, dass das Feuer nicht brennt?! Da steht er und glotzt! Und überhaupt, wozu hier noch trocknen? Die Wohnung ist trocken!“ – Ein langer Herr mit einem scharfen Gesicht, aber dunklen, nicht unangenehmen Augen bemerkte, dass die Wände noch feuchte Flecken zeigten. – „Ach was! Die Wände schwitzen eben. Das kommt, weil die Feuchtigkeit rauszieht. Seit wann heizt ihr hier in der Wohnung, Junge? Das kostet alles ein Geld! Nu –?“

„Ich bin erst seit heute früh hier.“

„Hättest du dich erkundigt! Dieser andere soll kommen, wie heißt er doch, dieser schwarze Buckel! Da wird einfach losgefeuert, ohne Sinn und Verstand, Polier –!“

„Hier wird erst seit gestern geheizt.“

„Ach was, seit gestern! Das sagen Sie auch so aufs Geratewohl! Und immerzu ist der Koks alle, natürlich, der Kalubrigkeit bezahlt neuen! Nächstens heize ich ganz Berlin! Nu, wo ist der Zwerg?“ – Edwin war schon da. Mit hängenden Armen und rundem Rücken stand er vor dem Chef und verdrehte die Augen zum Gotterbarmen. – „Nu, seit wann heizt ihr hier – wie heißt du doch?“

„Edwin! Edwin Raabe, Herr Chef“, krächzte der Buckel und schoß einen schnellen Blick nach dem Polier. „Wir heizen –“

„Sieh nicht den Polier an! Sieh mich an. Seit wann heizt ihr diesen Abschnitt?“

„Ick jloobe, ick jloobe, ich ha' so'n schlechtet Jedächtnis –“

„Heizt ihr nicht erst seit gestern?“ sagte plötzlich zu dem sich Windenden der lange Herr mit den dunklen Augen.

„Ich bitte dich, Schwager –!“ schrie Herr Kalubrigkeit. „Steckst du mit der Bande auch noch unter einer Decke? Natürlich heizt ihr schon seit Dienstag oder gar seit Montag! Aber ich fasse euch, und wenn ich euch fasse, schmeiße ich euch alle raus, und Sie zuerst, Polier!“

„Sie haben mich schon oft rausgeschmissen, Chef!“ sagte der Polier gleichmütig. „Und die Wände sind eben noch naß. Wenn nachher die Baupolizei kommt, und es gibt Stunk, schmeißen Sie mich wieder raus, aber nur vor den Herren, weil ich nicht genug geheizt habe.“

„Einmal schmeiß ich dich aber zum letztenmal raus“, murrte Herr Kalubrigkeit. Er sah sich um und fand einen Anlaß, seinen Ärger auszutoben. „Da steht der verdammte Bengel noch immer!“ schrie er. „Steht und glotzt! Steht hier zehn Minuten und glotzt! Für mein Geld! Was ist mit dem Bengel?“ schrie er den Edwin Raabe an. „Sieh mich an, nicht den Polier! Tut er was, der Bengel, oder glotzt er bloß?“

Der Buckel wand sich. „Er tut schon was, Herr Chef“, sagte er, und mit plötzlichem Entschluß: „Aber von't Frühstück is er ooch 'ne Viertelstunde zu spät jekommen, allens, wat recht is, Herr Chef, aber ick bin reell.“

„So, vom Frühstück eine Viertelstunde zu spät und hier dann gleich wieder zehn Minuten glotzen! Das ist 'ne feine Arbeitsstelle, der Kalubrigkeit ist ja doof, der zahlt's ja! Alles mein Geld! Wo hast du denn gesteckt über Frühstück?“

„Ich war bei den Trockenmietern nebenan –“ fing Karl Siebrecht an, der seinen Entschluß gefaßt hatte. Er hatte diesen Unternehmer Kalubrigkeit vom ersten Sehen an gehaßt.

„Bist du stille von den Trockenmietern, Junge!“ schrie der Polier.

„Und was war bei den Trockenmietern?“ fragte Herr Kalubrigkeit fast sanft.

„Stille biste, Jung!“

„Schande war da“, sagte der Junge fast feierlich. „Schande für Sie und Tod für die Leute! Die Frau ist schon beinahe hinüber, und der Mann wird's auch nicht mehr lange machen. Die Wände sind naß, nicht ganz so wie hier, wo's schon so schön trocken ist, Herr Chef, aber noch so, dass die Hand feucht wird, wenn man drüber wischt. Und die Fenster sind so verquollen, dass sie nicht auf noch zu gehen. Die Frau ist ein paarmal umgefallen, jetzt hustet sie sich die Seele aus dem Leibe.“

„Und er hat denen 'nen janzen Korb Koks und zwei Arme voll Anmachholz rüberjeschleift“, krächzte der Zwerg.

„Das habe ich!“ rief der Junge. „Aber ich will's bezahlen, Herr, ich will gar nicht, dass Sie's denen schenken! Herr“, wandte sich Karl Siebrecht an den Langen mit den dunklen Augen, „Sie sehen doch anders aus – wie können Sie es mit anschauen, dass die Menschen in diesen nassen Löchern verrecken?“

„Mein lieber Freund“, sagte der Herr, aber ein wenig verlegen, trotz aller Sicherheit. „Ich fürchte, wir sind beide gleich wenig geeignet, die soziale Frage zu lösen ...“

Sein Schwager, der Unternehmer Kalubrigkeit, unterbrach ihn. Mit einem wahren Schrei stürzte er sich auf den Jungen. „Aber das ist ja ein Anarchist! Das ist ja ein roter Leuteaufhetzer! Raus! Raus aus meinem Bau! Auf der Stelle runter von der Baustelle! Und er wird wegen Diebstahls angezeigt! Nein, er wird nicht angezeigt! Ich will keinen Krach in den roten Blättern haben. Schmeißen Sie ihn doch raus, Polier! Machst du, dass du fortkommst, Bengel! Oder ich schmeiße dich eigenhändig die Treppe runter!“

„Wieviel“, fragte Karl Siebrecht in kaltem Zorn, „wieviel kostet es?“

„Was?! Was redet er? Was will er?“

„Was Koks und Holz kosten – ich möchte es Ihnen bezahlen; Herr Kalubrigkeit!“

„Schmeißen Sie die Trockenmieter auch raus! Er soll sehen, was er erreicht mit seiner Frechheit! Den Busch schmeißen Sie auch raus, Polier! Und Sie –“

„Mich schmeiß ich auch raus, jawohl, Chef!“

„Davon hab ich kein Wort gesagt! Das möchten Sie, mitten aus der eiligsten Arbeit, kurz vorm Frost! – Ist der Junge noch nicht weg?!“

„Also geh, mein Sohn“, flüsterte der lange Herr nahe bei Karl Siebrecht. „Du bringst deinen Freunden nur Unheil. Ich werde nach ihnen sehen. Und heute nachmittag, vier Uhr, Kurfürstenstraße zweiundsiebzig, Senden. Behältst du das?“

„Ja.“

„Also mach, dass du fortkommst!“ – Und Karl Siebrecht ging – von seiner ersten Arbeit.

10. Reue

„Da hast du es!“ hatte der Polier recht böse gesagt, als Karl Siebrecht frisch gewaschen in seiner Joppe von der Baustelle ging. „Den Busch habe ich eben auch rausgeschmissen, wie ein gestochenes Kalb hat er mich angesehen. Wie ich den Mann kenne, sitzt er in der nächsten Destille, und da bleibt er auch hocken, bis der letzte Groschen alle ist. Wenn du kannst, dann nimmst du ihn mit, aber das kannst du nicht.“

„Wo sitzt er denn wohl?“ hatte Karl Siebrecht gefragt.

„Bei der Haltestelle von der Straßenbahn. Im Grünen Baum heißt es. Aber er wird wohl nicht mit dir gehen.“ Der Polier hatte sich ein wenig beruhigt. Plötzlich streckte er dem Jungen die Hand hin: „Na also, Jung, dann mach's gut! Denk bloß nicht, ich verstehe dich nicht. Ich verstehe dich ganz gut. Der Kalubrigkeit ist ein Aas! Jetzt ist er bei den Trockenmietern. Na, laß ihn, du siehst ja, was unsereiner ausrichtet!“

„Da muss ich eben etwas werden, wo man was ausrichten kann“, sagte der Junge entschlossen.

Der Polier lachte, aber grimmig. „Vergiß nicht, was du dir da vornimmst! Das ist ein langer Weg bis dahin, da kann man leicht was vergessen.“

„Ich danke Ihnen auch, Polier!“ hatte der Junge gesagt und war von der Baustelle gegangen.

Einen Augenblick hatte er noch nach dem Neubau hingesehen, in dem die Trockenmieter saßen, jetzt wohl bedrängt von Herrn Bauunternehmer Kalubrigkeit. Der Hafer stach Siebrecht noch immer: er wäre zu gerne hinübergegangen und hätte denen geholfen, irgendwie. Nur dass er jetzt wußte, dass seine „Irgendwie-Hilfe“ bloß schadete, ein wenig positiver müßte sie schon aussehen. Der lange Herr mit den dunklen Augen hatte ihm ja auch versprochen, nach den Leuten zu sehen. Was freilich von einem solchen Versprechen zu halten war, besonders wenn es von einem Schwager des Herrn Kalubrigkeit ausging, darüber wollte Karl Siebrecht jetzt lieber nicht nachdenken. Ihm blieb noch der Grüne Baum mit dem einsam süffelnden Maurer Walter Busch, und beides fand er schnell genug, den Grünen Baum und in ihm den Busch. In der Kneipe war es still um diese Stunde nach der Mittagspause. Busch saß einsam an seinem Holztisch, auf der Bank neben ihm lag in dem grau bestäubten Rucksack sein Maurerzeug, auf dem Tisch vor ihm stand ein großes Glas Schnaps. Aber Busch hatte von diesem Glas noch nicht getrunken.

Karl Siebrecht rührte den Maurer an der Schulter an. „Herr Busch“, sagte er, „wollen wir nicht zusammen nach Hause fahren? Die Tilda freut sich bestimmt, wenn Sie kommen, und die Rieke, ich meine, Ihre Tochter, ist vielleicht auch schon wieder zu Hause.“ Zu spät war ihm eingefallen, dass Rieke für den Mann eine andere bedeutete.

„De Rieke?“ fragte der Mann und sah aufmerksam zu ihm auf. „Meinste wirklich, se wartet uff mir?“

„Doch!“ sagte der Junge nur.

„Na denn!“ meinte der Maurer und stand auf. Er hatte sowohl Schnaps wie Rucksack vergessen. Aber Karl Siebrecht hatte den Rucksack schon genommen. In der Tür wandte sich Busch noch einmal zu ihm. „Biste sicher mit de Rieke?“ fragte er und sah den Jungen an, sah ihn diesmal richtig an mit seinen verwaschenen Augen.

Und wieder spielte dem Jungen seine Ehrlichkeit einen Streich. Er hätte nur „ja“ zu sagen brauchen, und der Maurer wäre wohl mit ihm gegangen. Aber es kam ihm gemein vor, diesen verwirrten Mann zu täuschen, er sagte: „Ja, ich glaube, Ihre Tochter wird jetzt aus der Schule zurück sein, Herr Busch.“

„Ach so“, sagte der Mann und verfiel. Sein Auge glitt vage umher. Er ging nicht mehr weiter.

„Kommen Sie, Herr Busch!“ drängte Siebrecht. „Gehen wir nach Haus. Morgen finden wir andere Arbeit.“

Aber der Mann, der nichts zu sehen schien, hatte schon das einsame Schnapsglas auf dem fleckigen Holztisch entdeckt. Er schob den Jungen nur beiseite, nicht, als sei er ein Mensch, sondern etwa ein Stuhl, der im Wege stand. Busch ging auf den Tisch zu und trank im Stehen das große Glas leer. Er ging an die Theke und reichte es dem Wirt. Er legte, während der eingoß, Geld auf die Theke. Wieder im Stehen, diesmal an der Theke stehend, goß er das Glas hinunter. Und reichte es wieder dem Wirt, fingerte wieder nach Geld ... Leise ging der Junge aus der Kneipe.

Das ist kein guter Anfang, dachte er. Das ist alles kein guter Anfang. Seit gestern abend mit dem Schuster Fritz Krull ist alles, was ich tue, verkehrt. Wie kommt es, dass die Rieke alles richtig macht, und ich mache alles falsch? Ich glaube, ich bin dumm. Ich verstehe nichts von den Menschen, und ich verstehe nichts vom Leben, alles wird verkehrt, was ich tue. Die Rieke lügt auch nicht und schmeichelt auch nicht, und es wird doch richtig bei ihr. Wie hätte ich den alten Busch aus der Kneipe kriegen sollen, ohne zu lügen? Und wie hätte ich was für die Trockenmieter tun können, ohne Streit mit dem Kalubrigkeit zu bekommen? Ich will nicht kriechen, nie, und ich will doch etwas erreichen! Aber ich fange es falsch an.

So dachte der Junge, und es drängte ihn, zu Rieke Busch zu kommen und ihr alles zu erzählen. Er hatte solch ein Zutrauen zu dem kleinen Ding, sie würde ihm schon sagen können, was er falsch gemacht hatte, und sie würde ihm erklären, wie sie es angefangen hätte. Ich muss es lernen, dachte er. Wenn ich vorwärts will, muss ich das zuerst lernen, wie ich mit den Leuten hier umzugehen habe. Jetzt rede ich noch nicht richtig mit ihnen. Sie denken, ich bin bloß ein Junge. Ich bin ja auch nur ein Junge, aber ich will doch ein Mann werden, ein richtiger Mann. Rieke muss es mir sagen.

Aber obwohl es ihn drängte, zu Rieke zu kommen und sich mit ihr auszusprechen, fuhr er nicht mit der Elektrischen. Es war nicht der Fahrgroschen, den er sparen wollte, er gab sogar noch mehr aus: er ging in das nächste Papierwarengeschäft und kaufte sich einen Stadtplan von Berlin. Er musste ja doch diese Stadt kennenlernen, diese graue, tote, im Novembertrübsinn trotz allen Treibens wie ersterbende Stadt. Er wollte die Stadt sehen, er wollte sie bis in den letzten Winkel kennenlernen. So faltete er sich den Stadtplan zurecht und ging den Weg von der Baustelle in Pankow bis zum Wedding, den Rucksack des Maurers Busch hatte er sich auf den Rücken gehängt. Er ging und ging. Er verweilte sich nicht, aber immerzu ging sein Kopf hin und her. Die lockere Stadt schloß sich enger und enger um ihn, sie saugte ihn in sich hinein. Der Lärm wuchs, höher schienen die Häuser zu wachsen, grauer wurden ihre Fassaden, eiliger liefen die Menschen. Es schien ihm nicht eine Stadt zu sein, durch die er ging, sondern ein Gemisch von vielen Städten, fast jede Straße trug ein anderes Gesicht, nach breiten, in spiegelndem Asphalt liegenden kam er in enge, über deren Kopfsteine schwere Wagen donnerten.

Ein wenig bedrückt und trübe ging Karl Siebrecht durch die große Stadt, und es munterte ihn erst wieder auf, als er jetzt, gegen den Schluß seiner Wanderung, nach so viel Steinen einen grünen Fleck entdeckte mit Bäumen und Gebüsch, Humboldthain genannt. So etwas gab es also doch in allernächster Nähe der Wiesenstraße – ein wahrer Trost, auch für die Füße, die von dem ungewohnten Stadtpflaster höllisch brannten. Langsam ging er auf den regenerweichten Fußwegen, sah das entfärbte Grün des Rasens wohlgefällig an, als habe er so etwas schon Jahre nicht mehr gesehen, und besann sich schließlich sogar auf seine Frühstücksbrote, die noch immer die Taschen seiner Joppe strammten. Auf und ab wandelnd, verzehrte er sie. Berlin war nicht ganz so strahlend, wie er es sich erträumt hatte, aber es war auch nicht so schlimm, wie es an diesem grauen Novembertage aussah: er würde die Stadt schon kriegen! Freilich, als er dann den Humboldthain wieder verlassen musste, als er in die Wiesenstraße einbog, als er dann über die Höfe ging, als er die Treppe zur Buschschen Wohnung hinaufstieg und es ihm wieder klarwurde, dass er nun gleich der Rieke würde erzählen müssen, er hatte keine Arbeit, er hatte aber ihren Vater um seine Arbeit gebracht, und dass der Vater wieder in einer Schenke saß und trank – da fiel alle Aufmunterung von ihm ab, und er war nur noch ein Junge, der etwas ausgefressen hat, der sich seiner Taten schämt und der nur den Wunsch hat, die nächste Viertelstunde möchte erst vorbei sein.

Doch Rieke kam noch gar nicht, und das war ihm auch wieder nicht recht. Die Wohnungstür war verschlossen, drinnen hörte er Tilda trappeln und schwätzen, draußen hing eine Schiefertafel mit dem Satz „Bin um Fier wieder da“, was auf einen nicht völlig erfolgreichen Schulbesuch Riekes schließen ließ. Blieb als letzte Hoffnung nur die Witfrau Bromme, und die wußte auch nicht viel Tröstliches. „Der Schlüssel? Na, den einen hat die Rieke, die is uff ihre Abwaschstelle. Die kommt nur schnell um vieren vorbei und sieht nach Tilda und jibt ihr Milch. Und denn jeht se ins Büro von Rechtsanwalt Schneider reinmachen, da kommt se nich vor siebenen zurück –“ War also Beichte und Aussprache bis auf den Abend verschoben, und dann war vielleicht der alte Busch schon wieder in der Wohnung, aber in welchem Zustand! „– und den anderen Schlüssel hat der olle Busch, biste denn mit dem nich losjezittert, Jung?“ Doch das war er, nur ... „Hat wohl nich so jeklappt mit de Arbeet? Ha' ick mir jleich jedacht! Wat haste denn jemacht den janzen Morjen? Koks jetragen? Ick seh's an deine Hände! Wat haste denn dafür jekriegt? Nischt? Ach, red nicht – entweder biste doof oder du schwindelst!“

„Ich soll um vier bei einem Herrn in der Kurfürstenstraße sein“, lenkte Karl Siebrecht ab.

„In der Kurfürstenstraße? Det is ja der feine Westen! Da würde ick nich hinjehen, det ist doch nischt für unsereinen! Bleibe im Lande und nähre dich redlich!“

„Und da hätte ich gerne mein anderes Zeug angezogen ...“

„Ach so! Desterwejen der Schlüssel! Ja, Jung, da kann ick dir ooch nich helfen! Wenn de nich bis vieren uff Rieken warten willst? Det Zeug von meinem Seligen ist dir zu füllig. Aber der Bäcker, der Bremer, liegt ja uff sein Bette und pennt, weil er Frühschicht jehabt hat – vielleicht det der dir seine Klamotten pumpt. Dieselbe Jröße habt ihr ja, nur det der Bäcker breiter is ...“

Der Bäcker Ernst Bremer lag wirklich auf dem Bett, in seinem Arbeitszeug, das genauso weiß bestäubt aussah wie sein Gesicht, mit den traditionellen nackten Bäckerfüßen: die Latschen lagen vor dem Bett. Aber er schlief nicht, sondern blinzelte mit seinen dunklen Augen den Karl Siebrecht an. Der brachte, ein wenig stockend, sein Anliegen vor. „Nee!“ sagte der Bäcker und drehte sich mit einem Ruck zur Wand. „Ick kenn dir ja jar nich! Und überhaupt –!“

„Und was überhaupt?“ fragte Karl Siebrecht die Bremersche Rückseite, nun doch etwas verblüfft über die schroffe Abweisung. Gestern abend hatten sie doch noch ganz vergnügt und kollegial mit den Körben geschleppt. Aber er bekam keine Antwort. „Na, denn nicht!“ sagte Karl Siebrecht und wußte jetzt, warum er sein Anliegen vorhin nur so stockend vorgebracht hatte: er konnte diesen Bäcker Ernst Bremer einfach nicht ausstehen, gleich von Anfang an nicht.

Und Karl Siebrecht musste sich mit einer gründlichen Waschung in der Küche begnügen.

11. Herr von Senden, Schwager des Kalubrigkeit

Im Hause Kurfürstenstraße 72 hatte ihn natürlich als erstes der Portier von der marmornen und samtenen Vordertreppe gröblich heruntergeholt und ihn die Dienstbotentreppe hinaufgeschickt. All dies waren neue Erfahrungen für Karl Siebrecht, im ersten Augenblick ärgerlich, bei einigem Nachdenken sofort erträglich. Er war nun eben nicht mehr der Sohn des Bauunternehmers Siebrecht – obwohl er das natürlich noch immer war –, er war der Arbeiter Karl Siebrecht, der arbeitsuchende Karl Siebrecht.

Auch die dickliche Köchin, die ihm die Hintertür geöffnet hatte, schaute ihn recht mißtrauisch an. „Stimmt das auch?“ fragte sie. – Karl Siebrecht versicherte, er sei vom Herrn zu vier bestellt. – „Dann warte man!“ sagt sie und ballerte ihm die Tür wieder vor der Nase zu.

Es hatte höchst sympathisch nach Gänsebraten und Rotkohl gerochen – der Herr Senden, der Herr von Senden, wie das porzellanene Namensschild an der Hintertür auswies, musste ein wohlhabender Mann sein. Gänsebraten an einem Alltag – das hatten Siebrechts sich in ihren besten Zeiten nicht erlaubt. Es konnte übrigens auch Ente sein – und dem Jungen fiel ein, dass er heute, vermutlich zum erstenmal in seinem Leben, kein warmes Mittagessen bekommen hatte. Bei diesem Gedanken fing sein Magen, trotz der Stullen, auf das unverschämteste zu knurren an.

Karl Siebrecht machte den Mund weit auf und schluckte mehrmals hintereinander beträchtliche Mengen Luft, bekanntlich ein unfehlbares Mittel gegen solche Rebellion des Magens. Aber der noch immer spürbare Enten-Gänsebraten-Geruch erwies sich als stärker: der Magen knurrte fort. Er knurrte auch weiter, als die Tür aufging und ein grünlivrierter Knabe den Besucher von oben bis unten musterte, dann ziemlich unverschämt sagte: „Mitkommen!“ und den Karl Siebrecht erst durch die duftende Küche führte – das Knurren nahm bedrohliche Formen an –, dann durch einen langen Gang, in dem Schritte und Knurren hohl widerhallten, dann durch ein strahlend erhelltes Riesenzimmer – das Eßzimmer, das Berliner Zimmer –, in dem eine Dame mit einem Riesenhut mit zwei Riesenpleureusen einsam am endlosen, weißgedeckten Tisch saß und etwas Braungebratenes vom Teller aß – oh, dieses Knurren! –, und ihn schließlich in ein wiederum großes, aber dämmriges Zimmer brachte, in dem der Herr von Senden in einen Sessel gegossen lag, angestrahlt vom rötlichen Gasfeuer im falschen Kamin, die Füße in braunen knöpfbaren Halbschuhen auf dem Kamingitter.

„Hier ist der junge Mann, Herr Rittmeister!“ sagte der grünlivrierte Knirps.

„Raus!“ antwortete der Herr von Senden, der nun also auch noch Rittmeister war. Der Knirps verschwand. Der Rittmeister winkte, ohne hochzuzsehen, mit einer langen weißen Hand, an der viele Ringe saßen.

„Setz dich, mein Sohn. Du bist doch der vom Bau?“

„Jawohl!“ sagte Karl Siebrecht möglichst laut, denn der Magen knurrte wieder sehr. „Ich heißte übrigens Karl Siebrecht.“

„Sehr angenehm“, sagte der Rittmeister. „Sitzt du?“

„Ich stehe ebenso gern“, meinte der Junge, eine Spur trotzig. Der Empfang verdroß ihn. Trotzdem knurrte sein Magen unentwegt weiter; was die Dame im Eßzimmer auf ihrem Teller gehabt hatte, war bestimmt eine Gänsekeule gewesen.

„Aber warum denn?!“ rief der Herr von Senden erstaunt. „Zieh dir einen Sessel heran und setz dich. Wozu stehen, wenn man sitzen kann? Wozu sitzen, wenn man liegen kann? – Na also, das ist vernünftig! Ich dachte schon, nach deinen Taten heute vormittag, du seiest der geborene Rebell!“

„Ich bin überhaupt kein Rebell! Nie gewesen!“ erklärte der Junge mürrisch. Er war immer noch nicht mit seinem Gastgeber zufrieden.

„Und was bist du also gewesen?“ fragte der. – Der Junge sagte es, so gut es in vier, fünf Sätzen ging. – „Und so hast du denn“, meinte der Rittmeister von Senden, „dein Herz für die Armen und Elenden, als da sind Trockenmieter, erst entdeckt, seit du selbst arm und elend bist. Findest du das nicht komisch?“

„Nein“, sagte der Junge böse. „Bei uns zu Haus gibt es so was nicht! Ich finde das gar nicht komisch.“

„Oh! Oh! Oh!“ rief der Rittmeister zweiflerisch. „Du hast also im Himmel gelebt?! Bei euch gab's keine Ortsarmen? Und nicht den bekannten Stadttrottel, den die lieben Bürger in vorgerückter Stunde besoffen machten und in den Stadtteich stießen? Wirklich nicht –?“

In dem Jungen tauchte blitzartig das Bild des langen Ludwig auf, wie ihn alle nannten, eines mit der Fallsucht behafteten Armen. War er nicht selbst hinter dem Betrunkenen als Junge hergelaufen und hatte gedankenlos mit den anderen den Vers gegrölt:

Der lange Ludewig

Find seine Bude nich!

Linksrum! Rechtsrum!

Marsch! Arsch!

„Du bist ja so stille, mein Sohn Karl?“ fragte der Rittmeister nach einer langen Weile.

„Ja“, sagte der Junge leise. „Sie haben ganz recht. Wir haben so etwas auch bei uns, und ich habe sogar beim Verhöhnen mitgemacht!“

„Deswegen brauchst du dich nicht zu schämen“, sagte der Rittmeister freundlich. „Es ist nun einmal eine komische Tatsache, dass wir Menschen erst daran denken, wie schlecht es einem gehen kann, wenn es uns selber schlecht geht.“

„Aber Ihnen ist es doch bestimmt nicht schlecht gegangen!“ sagte der Junge überzeugt und dachte an die dufterfüllte Küche, die schöne Dame mit den Pleureusen in dem strahlenden Eßzimmer, dachte an den Gänsebraten und sah hinein in den rötlich strahlenden Kamin. „Und Sie wissen doch, wie schlecht es einem gehen kann!“

„Meinst du?“ fragte der Rittmeister nachdenklich. Und plötzlich lachend: „Sag doch, wie hat dir mein Schwager, der Herr Kalubrigkeit, gefallen?“

„Ach, mit dem haben Sie doch gar nichts zu tun!“

„Irrtum, mein Sohn! Mit dem baue ich nämlich zusammen die Häuser, wir sind Kompagnons. Er leistet die Arbeit, und ich verdiene Geld dabei.“

„Ich mag nicht, dass Sie so reden“, sagte der Junge nach einer Weile. „Entweder ekelt Sie das alles an, dann sollten Sie es hinschmeißen und nicht davon reden, oder Sie tun's um des Geldes willen, dann – gehe ich lieber!“ Er stand auf. Der Magen hatte das Knurren vergessen, er wußte auch nicht mehr, warum er hierhergegangen war, zu diesem Mann, der so vornehm durch die Nase säuselte.

„Ach, wie einfach ist doch das Leben in deinen Jahren!“ rief der Herr von Senden. „Immer entweder oder! Entweder wird den Trockenmietern geholfen, oder ich werde arbeitslos! Setze dich wieder. Übrigens ist deinen Trockenmietern geholfen.“

„Ja?“ fragte der Junge und setzte sich widerstrebend, aber hiervon wollte er doch noch hören.

„Soweit es noch möglich war. Sie hat einen Blutsturz gehabt und ist im Krankenhaus. Und er ist irgendwo trocken und warm untergebracht. Siehst du, so was kann ich nun doch tun, wenn's mich auch anekelt, wie du sagst.“

„Was ekelt Sie an? Das Tun?“

„Alles!“

„Was alles –?“

„Das ganze Leben!“

„Das ganze Leben?! Warum leben Sie dann noch?!“ rief der Junge.

„Vielleicht wegen so einer Unterhaltung wie jetzt. Glaubst du, ich war immer so? Ich war auch mal so wie du!“

„Und warum sind Sie so geworden? Wie wird man so?“

„Was willst du werden?“

Der Junge schwankte einen Augenblick. Dann richtete er sich auf und sagte: „Ich will Berlin erobern!“

„Dann“, sagte der Rittmeister und richtete sich auch auf, „dann bist du auf dem besten Wege, das zu werden, was ich geworden bin!“

„Nie!“ sagte der Junge. „Ich nie!“

„Doch! Dann immer!“ widersprach der Rittmeister.

Der Junge rief: „Ich lasse mir keine Angst machen!

Und der Herr von Senden: „Bin ich so, dass man Angst vor mir haben muss?“

Und wieder Karl Siebrecht: „Nie werde ich so werden, wie Sie sind!“

„Und wie bin ich, mein Sohn?“

„Zynisch sind Sie! Angeekelt sind Sie! Sie zweifeln an allem und glauben an gar nichts! Sie lachen über alles, und am schlimmsten finde ich, dass Sie über sich selbst lachen!“

„Einen Augenblick, mein Sohn Karl!“ sagte der Rittmeister fast lebhaft, nahm die Füße in veilchenblauen Socken vom Kamingitter und hängte sie über die Seitenlehne des Sessels, so dass er dem Jungen das Gesicht nun voll zuwendete. „Eine Frage nur, Karl Siebrecht! Was wirst du tun, wenn du Berlin erobert hast –?“

Der Junge schwieg verwirrt einen Augenblick, da sagte der Rittmeister schon: „Dann wirst du deiner Eroberung überdrüssig sein! Sie wird dich anekeln! Dann wirst du dasitzen, mit der Macht in Händen, mit dem Reichtum in Händen, und wirst dich fragen: wozu das alles? Was soll ich nun tun? Es ist todeslangweilig, alles. Ich war tausendmal glücklicher damals, als ich noch nichts war und hundert Hoffnungen hatte! Heute bin ich alles und habe nichts mehr zu erwarten.“

„Ich ...“ fing der Junge an.

„Noch einen Augenblick, Karl Siebrecht! Noch eine Frage! Glaubst du an Gott?“

„Ich ... ich weiß nicht ...“

„Nun stelle ihn dir immer vor irgendwo da oben im All, seinen Sternen die Bahn zumessend und seiner Menschen Geschicke lenkend. Und seit Äonen von Jahren laufen die Sterne auf ihrer leuchtenden Spur, und seit Äonen von Jahren werden die Menschen geboren, hoffen und sterben, sie lieben und hassen, und sie sterben dann, sie führen blutige Kriege und bauen Kulturen auf, die wieder vergehen – glaubst du nicht, dass Gott längst weiß, dass gar nichts geschieht? Dass alles gleichgültig ist? Er muss das zynischste, das ungläubigste, das am meisten angeekelte Wesen im Weltall sein, dieser Gott! Und das unglücklichste!“

„Warum sagen Sie mir das alles?!“ rief der Junge wild und sprang von seinem Sessel auf. „Warum haben Sie mich zu sich bestellt?! Warum haben Sie dann den Trockenmietern geholfen? Bloß um mich zu verderben?! Wollen Sie mir meine Hoffnungen nehmen? Ich habe es auch in der Schule gelernt, dass alles eitel ist! Aber das ist was für die Alten, die satt sind! Ich bin jung und ich bin hungrig ...“ Gerade als er dies in seiner Erregung und Empörung rief, fiel ihm die Gänsebraten essende Dame mit den Pleureusen ein, der Hunger überfiel ihn wie ein Wolf, und sein Magen kullerte ganz laut. Unwillkürlich aus all seiner Erregung heraus musste der Junge hemmungslos lachen. Er konnte gar nicht wieder aufhören mit Lachen, mit seinem Lachen übertönte er sogar das gierige Kullern des Magens.

Der Rittmeister musste mitlachen. „Warum lachst du nur, Mensch?“ rief er. „Sage mir doch, warum du so lachst, damit ich mitlachen kann!“ Aber er lachte schon mit.

Atemlos, immer wieder von krampfhaften Lachanfällen geschüttelt, erzählte ihm der Junge, dass er heute zum erstenmal kein warmes Mittagessen gehabt hatte und dass es hier in der Wohnung so schön nach Gänsebraten gerochen habe ... „Entenbraten“, verbesserte der Rittmeister. – Und dass, als er eben gerufen habe, er sei jung und hungrig, plötzlich die Vision des Entenbratens vor ihm aufgetaucht sei, dass sein Magen sofort sich gemeldet habe und dass er darüber habe lachen müssen, lachen ...

„Siehst du, mein Sohn“, sagte der Rittmeister behaglich. „Ich habe doch den richtigen Riecher gehabt. Du bist weder Rebell noch kaltherziger Streber, denn diese beiden Gattungen haben nie Humor. Du aber hast welchen, und deswegen gefällst du mir. Also sage, was ich für dich tun kann.“

„Warum wollen Sie denn etwas für mich tun?“

„Wie vorsichtig!“ rief der Rittmeister und goß sich wieder in seinen Sessel hinein. Der Junge empfand zum erstenmal wirkliche Sympathie für diesen Mann, weil er gar nicht daran dachte, ihm nun Entenbraten anzubieten. „Mißtrauisch wie ein junges Waldtier, das zum erstenmal ins Freie tritt und sogar der verlockenden Hafersaat mißtraut. Aber vielleicht hellt es meine Langeweile ein bißchen auf, wenn ich dir auf deinem Wege zur Eroberung Berlins vorwärts helfen kann.“

„Ich bin nicht dazu da, um Ihre Langeweile zu vertreiben!“ sagte der Junge störrisch.

„Sehr richtig! Aber vielleicht kannst du deinen Weg machen, ohne dich viel um mich zu kümmern? Ich würde schon auf meine Kosten kommen. So ein Schwätzchen wie heute abend alle Vierteljahre würde mir vollkommen genügen!“

„Ich mag nicht mit Ihnen schwatzen! Ich mag Ihre Art zu schwatzen nicht!“

„Zu gefährlich?“

„Ach was! Ich mag's einfach nicht – solch ein zynisches Geschwätz! Ich will etwas tun, nicht schwatzen!“

„Und was gedenkst du zu Anfang zu tun? Ich nehme an, dass diese Koksschlepperei nur ein Notbehelf war.“

„Natürlich.“

„Und was tätest du lieber?“

„Am liebsten“, sagte der Junge, „wäre ich Chauffeur von einem erstklassigen Auto!“

„Was?!“ rief der Herr von Senden ein wenig enttäuscht. „Das denkst du dir als den Anfang deiner Eroberung Berlins?! Und wie soll das etwa weitergehen?“

„Das weiß ich nicht. Das wird sich schon finden. Erst mal möchte ich Chauffeur sein.“

„Nun gut“, sagte der Rittmeister. „Ich finde zwar diese Automobile unausstehlich. Sie machen Krach und stinken. Sie sind unfein – nur Pferde sind wirklich fein. Aber da auch der Kaiser darin fährt – meinetwegen! Also, mein Sohn, wir werden beide morgen früh ein erstklassiges Auto erstehen, und du wirst mein Chauffeur werden.“

„Wie?“ fragte der Junge. „Sie wollen wirklich?“

„Ganz wirklich!“

„Aber ein wirklich gutes Auto kostet einen Haufen Geld – über zehntausend Mark!“

„Darum mach dir keine Sorgen. Das Geld wird da sein. Einverstanden, Karl Siebrecht?“ Und er streckte ihm die lange weiße, mit den vielen Ringen geschmückte Hand hin.

Dem Jungen war wie ein Traum. Was er sich sehnlichst gewünscht hatte, hier wurde es ihm am ersten Tag seines Berliner Aufenthaltes angeboten! Über jede Erwartung leicht! Aber, warnte es in ihm, das Leben durfte nicht wie ein Traum sein. Die gebratenen Hühner, die einem in den Mund fliegen, schmecken nicht wie die, die man sich erst erkämpft hat. Und überhaupt – was wollte dieser Mann? Er wollte sich seine Langeweile vertreiben, auf Geld kam es ihm nicht an! Er würde amüsiert zuschauen, wie sich dieser Jüngling Karl Siebrecht abstrampelte, und bei jedem Fehlschlag, bei jeder Enttäuschung würde er sagen oder doch denken: Ich habe es mir doch gleich gedacht! Wozu sich erst Mühe geben? Im gleichen Augenblick fiel dem Jungen die Rieke Busch ein. Die zweifelte weiß Gott nicht an sich, die hatte keine Zeit zur Langeweile. Die erlebte alle Tage Enttäuschungen und Fehlschläge, die fraß sie ohne weise Sprüche herunter, die arbeitete weiter. Und plötzlich hatte der Junge die unklare Vorstellung, als lägen da zwei Wege vor ihm und als müsse er bindend für sein ganzes weiteres Leben entscheiden, welchen Weg er gehen wolle: den glatten, bequemen, breiten Weg, auf dem der Herr von Senden sein Führer sein würde, oder den holprigen Pfad, auf dem Rieke Busch neben ihm ging, diesen Pfad, der sich sofort in Dickicht und Dunkel verlor ... Noch unklarer hatte der Junge etwas vor sich wie einen dritten Weg, er wollte an Erika Wedekind denken, aber schon hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung laut sagen: „Nein, danke, Herr Rittmeister. Ich möchte mir lieber allein helfen!“

Er hörte den Rittmeister leise lachen. „Das habe ich mir beinahe gedacht, mein Sohn Karl“, sagte er höchst zufrieden. „Du hättest mich enttäuscht, wenn du dich anders entschieden hättest. – Aber was machen wir jetzt?“

„Jetzt?“ fragte Karl Siebrecht. „Jetzt gehe ich nach Haus, und morgen versuche ich mein Heil anderswo.“

„Wieder auf einer Baustelle?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Oder irgendwas im Autofach?“

„Vielleicht. Aber ich will mir nicht von Ihnen helfen lassen!“

„Das sollst du auch gar nicht! – Sage mal, du hast mir doch gesagt, du bist der Sohn von einem Baumeister ...“

„Ja, aber ...“

„Da kannst du doch sicher mit Reißschiene und Zirkel umgehen?“

„Ja, aber ...“

„Und bestimmt kannst du auch Pausen von Bauzeichnungen machen?“

„Ja doch! Aber ...“

„Was würdest du dazu sagen, wenn du für den Anfang erst einmal auf dem technischen Büro von meinem Schwager Kalubrigkeit arbeiten würdest? Bloß so lange, bis du ein wenig in Berlin warm geworden bist? Du kannst dich ja dabei unter der Hand immer nach etwas anderem umsehen?“

Der Junge grinste. „Herr Kalubrigkeit würde mich wohl denselben Augenblick rausschmeißen, wo er mich zu sehen kriegte!“

„Dich zu sehen? Aber mein Schwager kommt nie auf sein technisches Büro! Glaubst du, das interessiert ihn? Kalubrigkeit ist doch kein Baumeister, Kalubrigkeit ist doch ein Bauunternehmer, den interessiert bloß Geld! Jawohl, er lässt sich mal auf dem Bau sehen, aber von der Bauerei versteht er gar nichts, er will nur Geld sparen, davon versteht er was! Nein, der Kalubrigkeit würde dich nie zu sehen kriegen, nach menschlichem Ermessen nie!“

„Ich möchte nicht gern ...“ sagte der Junge zögernd.

„Sei doch kein Schaf, mein Sohn!“ ermahnte ihn der Rittmeister milde. „Jetzt lehnst du doch nur ab, weil der Vorschlag von mir kommt. Aber ich sage dir, du bist mir zu gar nichts verpflichtet. Dein Feingefühl kann beruhigt sein. Ich weiß, sie haben augenblicklich irrsinnig zu tun auf dem Büro, sie planen eine riesige Geschichte im Bayrischen Viertel – weißt du, wo das ist?“

„Nein.“

„Das musst du dir mal ansehen, das wird das Feinste vom Feinen. Fünfstöckige Mietshäuser mit erstklassig imitiertem bayrischem Fachwerk und goldenen Zwiebeln auf dem Dach! Na, und meinen Schwager lässt der Ehrgeiz nicht schlafen, so was muss er auch bauen! Da planen sie nun und zeichnen. Warum sollst du keine goldenen Zwiebeln zeichnen? Es kostet mir nur einen Anruf!“

„Und nach einer Woche oder einem Vierteljahr soll ich zu Ihnen kommen und Bericht erstatten, nicht wahr? Und Sie reden mir alles kaputt, was mich gefreut hat!“

„Nein, nicht einmal das sollst du! Wenn du keine Lust hast, brauchst du dich nie wieder in der Kurfürstenstraße zweiundsiebzig sehen zu lassen. Trotzdem es mich freuen würde. Aber du bist mir zu nichts verpflichtet. Im Gegenteil. Wenn du morgen früh um neun in das Büro Krausenstraße zwölf von Kalubrigkeit & Co. kommst – Co., das bin ich und noch ein Haufen fauler Nichtstuer –, dann wirst du ein Schild an der Tür sehen: ›Bauzeichner und Pauser gesucht‹. Du siehst also, ich mache dir keinen Extraplatz frei. – Einverstanden?“

„Einverstanden!“ sagte Karl Siebrecht.

12. Der eifersüchtige Bäcker

Das Mädchen war müde gewesen, der Junge war müde gewesen: sie waren beide am Herd eingeschlafen. Das Feuer erlosch, der letzte Hauch von Wärme verflog, nebenan in der Stube rührte sich Tilda im Schlaf: sie erwachten beide, es war ihnen kalt. „Gleich elfe“, sagte Rieke Busch und reckte sich. „Und Vata imma noch nich da!“ – Der Junge hatte ein Schuldgefühl, er sagte nichts. – „Vata verträgt nich ville“, sagte das Mädchen wieder. „Und nu is er bald zwölf Stunden uff de Tour.“

„Soll ich noch einmal hingehen und versuchen, ihn fortzukriegen?“ fragte Karl Siebrecht.

„Haste ihn nich weggekriegt, als er noch nüchtern war, wirste ihn nich wegkriegen, wenn er blau is, Karl“, sagte Rieke, und wenn diese Worte auch ohne eine Spur von Vorwurf gesagt waren, empfand sie Karl Siebrecht doch als Vorwurf. Wieder schwieg er.

„De Elektrische jeht noch zwei Stunden“, meinte das Mädchen wie zu sich. „Ick könnte sehen, det ick ihn heimlotse.“

„Dann gehe ich mit!“ rief Karl Siebrecht entschlossen.

„Zu wat denn?“ fragte Rieke. „Schlaf dir lieber jut aus, det de morjen frisch bist for deine neue Stellung.“

„Und du, Rieke, brauchst du keinen Schlaf?“

„Ick bin wenig Schlaf jewöhnt, mir macht det nischt.“

„Horch!“ sagte der Junge. Ein aufheulender Windstoß hatte prasselnde Regentropfen gegen die Scheibe gejagt. „Wie das stürmt und regnet!“

„Ja – und wenn er blau is, haut er sich hin, wo er jeht und steht. Dann denkt er, sein Bette is überall. – Ick jeh los. Hau dir in de Falle, Karl, det de frisch bist morjen!“

„Ich gehe mit dir, Rieke!“

„Nee, du schläfst! Ick komme alleene zurecht! Ick bin immer alleene zurechtjekommen! Ick brooche dir nich!“

„Siehst du, Rieke, nun bist du mir doch böse, dass ich deinen Vater um seine Arbeit gebracht habe!“

„Du oller Dussel!“ sagte sie und sah ihn mit ihrem alten Mut und Humor an. „Wat du dir allens inbildest! Zu wat soll ick dir böse sind?! Da kannste doch nischt for!“

„Dann laß mich auch mitgehen, Rieke!“

„Nee, du sollst dir nich mit uns behängen! Det is nischt for dir. Jetzt, wo du 'ne feine Stellung hast –!“

„Nimmst du mir etwa die Stellung übel, Rieke?!“

„Du bist keen Arbeeta, Karl, und du wirst ooch keena! Ick habe mir det jestern anders jedacht. Aba wie de mir erzählt hast, det du mit dem Rittmeista gesprochen hast, janz uff du und du, ick könnte det nich!“

„Aber die Stellung hätte ich nicht annehmen sollen auf dem Büro, nicht wahr, Rieke?“

„Doch hättste! Jrade hättste! Bloß – det ick dabei injesehen habe, det ick dir bloß hemme, der hatt ick jestern abend noch nich kapiert. Aber heute hab ick's kapiert, und da sare ick: Schluß, Karl!“

„Rieke!“ sagte der Junge. „Jetzt will ich dir etwas sagen: wenn ich jetzt nicht mit dir gehen darf, und wenn ich nicht weiter zu euch kommen darf, dann trete ich die Stellung morgen nicht an!“

„Det tuste nich, Karl!“

„Das tue ich, Rieke!“

Sie sah ihn fest an. Er sah sie wieder an, mit leuchtenden Augen. Alle Müdigkeit war von den beiden abgefallen. Dann drehte sich Rieke kurz um. Sie nahm ein Tuch vom Haken, ein dunkles Umhängetuch mit langen Fransen, wie es die Arbeiterfrauen tragen. Sie legte es über Kopf und Schultern und sagte: „Na, denn komm, Karl! Laß det Kind die Bulette, sagt Mutta.“

„Und Mutta hat immer recht!“ lachte Karl Siebrecht, als er schon hinter ihr die Treppe hinunter stieg.

Auf den Höfen gurgelte und spülte und sprühte der Regen. Im dunkeln Torweg stießen sie an zwei, die dort eng nebeneinander standen. „Sieh jefälligst erst hin, ehe de einen umrennst!“ schalt eine zornige Stimme.

„Entschuldje man, Ernst!“ sagte Rieke, die Augen wie eine Katze haben musste. „Det nächstemal weeß ick det, in welche Ecke du knutschst!“ Es gab ein verlegenes Geräusch, ein Räuspern, und sie waren auf der Straße. Der Wind sprang sie mit aller Gewalt an, er jagte eisige Tropfen gegen ihre Gesichter, die sofort kalt wurden. Schulter an Schulter, vornübergebeugt, kämpften sie sich gegen den Sturm vorwärts. „Det war der Bäcker!“ rief Rieke. „Und det Mädchen is aus die Bügelei in der Jartenstraße!“

„Ich kann den Bäcker nicht ausstehen!“ rief Karl zurück.

„For wat denn nich? Det is doch een juter Junge! Wenn de noch een Mächen wärst – for junge Mächen is er nich so jut ... Die loofen ja alle bloß seine mehlichte Visage nach!“

An der Haltestelle der Straßenbahn standen sie allein. Aber gerade als sie einstiegen, kam noch ein dritter gelaufen, und hinter ihnen schob sich der Bäckergeselle Ernst Bremer in den fast leeren Wagen. – „Nanu, Ernst!“ rief Rieke. „Wat is denn mir dir los? Jehste denn jetzt ooch noch woanders uff de Tour?“

„Ick kann jehen, wo andere ooch jehen!“ sagte der Bäcker mürrisch und warf einen feindseligen Blick auf Karl Siebrecht.

„Und fahren kannste ooch!“ lachte Rieke. „Jott, haste denn die Lotte so einfach wegjeschickt?“

„Welche Lotte? Ick kenn doch keene Lotte!“

„Ach, det warst du wohl nich, ebend im Durchjang?“

„Den du umjerannt hast, det war ick! Vasteht sich!“

„Und keene Lotte nich? Da standste wohl janz alleene, Ernst?“

„Stand ick ooch! Oder –?“

„Oder wat, Ernst?“

„Oder stand ick nich alleene?“

„Doch! Du standst alleene, und die Lotte stand ooch alleene! Ihr habt euch bloß ein bißchen aneinanderjehalten, det ihr nich umjefallen seid, Ernst!“

„So 'n Stuß!“

„Und wohin fährste, Ernst?“

„Det wird sich zeijen. Immer de Neese nach, sagte Muffi, da kriegte er eenen druff.“

„Paß mal uff, Ernst!“ sagte Rieke jetzt energisch. „Wenn de mit mir fahren willst, det is nich. Ick hole Vata'n. Vata is blau. Da kann ick dir nich brauchen.“

„Aber den kannste brauchen?“

„Du machst dir ja lachhaft, Ernst! Wat denkste dir denn? Denkste, jetzt kannste mit mir anfangen? Bei dir piept er ja! Du bist een juter Junge, habe ick immer jesagt, aber wenn de so kommst, is't sofort alle!“

„Aber den kannste brauchen?“ fragte der Bäcker wieder beharrlich.

„Det kann ick ooch! Und warum, Ernst? Weil der nich an Mädchen denkt! Det ist mein Freund, Ernst –!“

„So plötzlich? Det is ja mächtig plötzlich!“

„Det jeht dir doch nischt an, Ernst, wat? Ha ick dir jefragt, wieso du deine Brautens so plötzlich wechselst?“

„Siehste, jetzt redst de schon von Brautens! Erst heeßt det Freund, und denn is det Bräutijam!“

„Du bist doof uff beede Backen, Ernst, det biste! Det kannste dir jar nicht denken, det man ooch wat anderet im Koppe hat als deine olle dußlige Knutscherei! Wat ick mir dafor koofe! Und denn, ick jeh noch uff Schule, Ernst, besinn dir!“

„Det hat mit Schule jar nischt zu tun! Ick habe jesehn, wie er uff dir jesehen hat, jestern abend – ick bin Kenner, een Blick jenügt mir!“

„Du spinnst ja, Ernst! Der is nich wie du.“

„Ick will dir was sagen, Ernst“, mischte sich jetzt Karl Siebrecht in diese sich ständig steigernde Zwiesprache. „Da irrt sich die Rieke, ich bin auch wie du.“

„Da siehste es, Rieke! Aba ...“

„Aber was du von der Rieke sagst, das ist Quatsch. Ich habe ein Mädchen zu Hause, da, wo ich her bin, und an die denk ich ...“

„Ist det wahr, Karl?“

„Das ist ganz gewiß wahr, Ernst!“

Ernst Bremer überlegte. „Det haste dir eben ausjedacht.“

„Das habe ich mir bestimmt nicht ausgedacht. Sie heißt übrigens Erika, ich nenne sie aber Ria. Da siehst du es!“

Der Bäcker war noch immer mißtrauisch. „Haste denn een Bild von ihr?“ fragte er. „Zeig mir mal det Bild!“

„Ich habe kein Bild von ihr.“ Und etwas unlogisch. „Sie ist doch die Tochter vom Pastor!“

Aber gerade dies schien den Bäcker zu überzeugen. „Wenn et so is!“ sagte er. Und noch einmal nachgrollend: „Man kann ooch mehr Mächen haben!“

„Nu biste aber stille, Ernst!“ sagte Rieke Busch energisch. „Du kannst det, du kannst zehne haben, und wenn de de elfte siehst, rennste schon wieda wie Franz Piependeckel! Aber Karl is nich so – wat, Karl, du bist nich so?“

„Nein, bestimmt nicht!“

„Na, Jott sei Dank! Det wäre ja ooch noch schöner, wenn du und hättest ooch mit Oojenverdrehen anjefangen! Wenn du wüßtest, wie du aussiehst, Ernst! Na, nu mach man, Lotte wartet – se wartet doch?“

„Ach die! Na ja, wenn't so is, Karl. Denn nischt für unjut, Rieke. Natürlich biste noch een Schulmädchen, bloß, det een anderer det manchmal vajißt ...“ Er quasselte sich aus der Elektrischen.

„So ein Schmachtfetzen!“ sagte Rieke hinter ihm drein. „Wat der sich inbildet, det möchte ich bloß am Sonntagmittag sind. – Aber det ist doch wahr, Karl, mit deine Erika?“

„Doch, Rieke, das ist wirklich wahr.“

„Und haste wirklich keen Bild von ihr?“

„Nein, wirklich nicht.“

„Is se dunkel oder hell, Karl?“

„Ich weiß nicht mal, Rieke. Doch, ich glaube, sie ist hell.“

„So seid ihr alle, ihr Männer, det wißt ihr nie! Is se denn sehr fromm, weil se vom Pastor is?“

„Ich weiß eigentlich nicht, Rieke. Wir haben nie darüber geredet. Fromm ist sie wohl.“

„Küßt se dir denn?“

„Doch, ja, sie hat mir schon einen Kuß gegeben.“

„Na, denn is't jut, Karl. Ick dachte schon, dafür wäre se zu fromm, det wäre ooch nich det richtige! Aber so is't jut, Karl, wenn se dir küßt.“

„Nächste Haltestelle müssen wir raus, Rieke“, sagte Karl, dem etwas ungemütlich bei diesem Verhör geworden war. Rieke war imstande, noch herauszubringen, dass es sich nur um einen einzigen Kuß gehandelt hatte. Sie war so verdammt kaltschnäuzig und sachlich!

„Ja, det müssen wa!“ sagte Rieke mit Seufzen und stand auf. „Schade, det war janz jemütlich hier! Der Ernst war zu drollig, wat? Und dann deine Erika – Erika ist ein feiner Name, wat? Von die musste mir noch alles erzählen, Karl, wat?“

„Du weißt doch schon alles, Rieke!“

„Ja nischt weeß ick! Det bißcken Küssen – aber bis et so weit war, da liegt et! Weeßte, Karl, det is komisch bei mir, det erkläre mir bloß: von Liebe will ick jar nischt wissen. Aber wenn ick so 'n Schmöker zu fassen kriege, von irgend so 'ne Liebe, und die Ollen wollen partuh nich, und ihr bricht det Herze – da heule ick mir weg wie ein Wasserhahn. Wie kommt det, Karl?“

„Wir müssen raus, Rieke!“

„Recht haste, Karl. Also rin in det Unwetta! Hoffentlich sitzt Vata noch im Grünen Baum!“

13. Suche nach Vater

Der Grüne Baum, so voll er auch war, beherbergte doch den alten Busch nicht mehr, sie mochten noch so sehr in jedem Winkel nach dem stillen Trinker Ausschau halten. Hier wäre Karl Siebrecht nun schon am Ende seiner Suche gewesen, Rieke Busch aber wandte sich entschlossen zur Theke: „Wart 'nen Oogenblick, Karl“, flüsterte sie. „Die müssen hier doch Vata'n kennen –!“

Vor der Tonbank standen die Männer in Doppelreihen, aber auch das konnte Rieke nicht hindern. Sie schlüpfte dahinter, dorthin, wo der schwarzbärtige wortlose Wirt und seine um so wortreichere Wirtin in Seidenbluse mit viel Schmuck ihres Amtes walteten. Es waren die richtigen reich gewordenen Berliner Budiker: sie ganz Majestät mit viel Brust und viel Lippe, die Sorte falschverstandener Dame, von der man in einem Albdruck träumen kann; er noch etwas unsicher in seinem neuerworbenen Reichtum, aber beide gleich erbarmungslos, gleich gierig. „Was willst du?“ herrschte sie sofort schrill die Rieke Busch an, während er vom Zapfhahn her einen giftigen Blick auf das Mädchen schoß.

„Können Se ma nich sagen, wann Vata weg is? Vata is der olle Busch. Vom Bau von dem Kalubrigkeit.“

„Da hätten wa ja ville zu tun, wenn wa uff alle Väta uffpassen wollten!“ rief sie und goß mit unglaublicher Sicherheit eine Runde Korngläser voll. Und „Hier kommt keen Busch!“ grollte der Budiker.

„Doch kommt er!“ beharrte Rieke entschlossen. „Heut mittag hat er erst hier jesessen.“

„Wenn de det weeßt, is't ja jut, mach dir dinne!“ schalt der Wirt.

Und seine Gnädige zu den Trinkern an der Theke: „Immer det Jefrage von die Mächen! Wenn de Leute bloß besser uff ihre Männer uffpassen möchten! Aba wir sollen allet wissen! Sind wir Auskunft?“

Die Trinker enthielten sich jeden Urteils, der Wirt aber fühlte sich bemüßigt, mit dem Fuß in der Richtung gegen Rieke zu stoßen, freilich nur drohend. „Hau ab, du!“ sagte er.

„Det laß!“ meinte ein Arbeiter. „Det Mächen is keen Stiebelknecht!“

„Wo se mir doch im Weje stehn tut!“ brummte der Wirt, aber nur als Entschuldigung.

Rieke hob ihre Stimme. Sie stand da hinter der Theke, das dunkle Tuch mit den nassen Fransen um das helle Gesicht, sie war ganz unverschüchtert. Alle diese Männer, nüchterne, angetrunkene, sehr betrunkene schreckten sie gar nicht. Sie stand auf den Zehen, sie rief: „Is denn hier keena, der den ollen Busch kennen tut?“

„Seid doch mal stille!“ rief einer. „Hört doch mal her! Hier is een Mächen, det fragt nach dem ollen Busch!“ Einen Augenblick war Stille. „Der olle Busch“, sagte dann einer langsam, „det is doch der Rote mit dem jestutzten Vollbart, der uff dem jroßen Block jearbeetet hat?“

„Det is er!“ rief Rieke. „Det is mein Vata!“

„Na, Mächen“, rief der Arbeiter ihr durch das Lokal zu. „Denn musste nich nach dem ollen Busch fragen, denn fragste nach 'm Dorsch. Denn kennen se 'n alle.“

„Der Dorsch?“ riefen sie. „Und ob wir den kennen! Der war heute hier!“

Und selbst die majestätische Wirtin sagte: „Det hättste jleich sagen sollen, Kleene. Den Dorsch kennen wa hier alle. Ich habe überhaupt jedacht, er heißt Dorsch. Ick habe immer Herr Dorsch uff ihn jesagt!“

„Nee“, sagte ein Arbeiter, nach einer weißen, kalkbespritzten Kleidung ein Maler. „Den haben se nur Dorsch jenannt, weil er nie den Mund uffmacht!“

„Woher soll ich denn det wissen?!“ sagte die Wirtin sehr spitz und aus unfaßlichen Gründen sehr beleidigt. „Ick kümmer mir nich, wie die Leute heißen tun. – Is recht, Karl, sechs Mollen und 'ne Runde Korn – und wer zahlt von die Herren? Steh mir nich im Weje, Mächen!“

Mit der Feststellung, dass der olle Busch eigentlich der Dorsch war, schienen Rieke und ihr Anliegen abgetan. Aber Rieke gab nicht nach, sie ging von einem Tisch zum andern, sie fragte unermüdlich mit ihrer hellen Stimme, sie ertrug Abeisungen wie plumpe Späße mit der gleichen freundlichen Gelassenheit. Karl Siebrecht blieb nun hinter ihr. Er konnte ihr nicht helfen, sie sprach zehnmal besser als er die Sprache der Leute hier, sie hatte am ehesten Aussicht, etwas zu erfahren. Aber er konnte hinter ihr hergehen, er konnte stehenbleiben, wo sie stand – es war, als beschütze er sie, wenn er sie auch in nichts beschützen konnte. Sie beschützte sich am besten selbst! Und doch war es gut, hinter ihr drein zu gehen! Schließlich fand Rieke den Tisch, an dem ihr Vater gesessen hatte, noch spät am Abend gesessen hatte. Und sie erfuhr dort, dass der Dorsch noch einmal auf den Bau zurückgegangen war, um etwas zu suchen.

Karl Siebrecht flüsterte: „Ich glaube, ich weiß, was er gesucht hat: nämlich sein Maurerzeug! Ich hab doch den Rucksack mitgenommen und bei euch zu Haus abgesetzt.“

„Da haste recht, Karl!“ rief Rieke, und ihre Augen leuchteten. „Du hast een kluget Köppcken. Uff sein Zeug is der Olle scharf, da kann er noch so blau sind. Komm, Karl, wir jehen uff den Bau!“

Der die Straße hinabfegende Wind sprang sie unbarmherzig an. Der Regen schlug gegen ihre Gesichter. Aber das war Wohltat nach dem Mief und Gestank der Kneipe. Sie atmeten tief. Als sie um die Ecke bogen, wehte der Wind noch stärker. Die beiden preßten sich Schulter an Schulter aneinander, blieben stehen, spähten in das tiefe Dunkel vor sich. Obwohl der Häuserblock nicht weit sein konnte, sahen sie nichts von ihm. Keine Straßenlaterne brannte mehr. Dann unterschieden sie langsam ein paar kleine, rotleuchtende Punkte und höher schwach schimmernde rote Rechtecke ... „Das sind die Koksöfen, an denen ich heute morgen gearbeitet habe!“ rief Karl Siebrecht. „Komm, Rieke, faß mich an. Ich glaube, ich weiß den Weg.“ Sie traten von der Pflasterung herunter in weichen, regengetränkten Schmutz. Er hielt ihnen die Füße fest, sie gingen vorsichtig ... Dann platschten sie tief in eine Pfütze. „Ach, Rieke!“ rief Karl Siebrecht. „Wir hätten uns mehr rechts halten müssen! Ich bin ein großartiger Führer!“

„Det macht doch nischt“, lachte sie. „Nu können wa lospatschen, nu sind wa eenmal naß!“

Und sie patschten los, Hand in Hand, durch Nässe und Dreck, durch stürmischen Regen, dem schwachen roten Lichtschimmer der Warnlaternen entgegen. Langsam zeichnete sich auf dem wolkendunklen Nachthimmel die schwarze Kontur des Häuserblocks ab, erst flach geduckt, dann immer mehr aufsteigend, drohend. Stärker leuchteten die Koksfeuer in den Fenstern. „Wir müssen jetzt aufpassen, Rieke! Hier stehen überall Steine, Karren, Baubuden –“ Und so plötzlich wuchs etwas Dunkles nah vor ihnen auf, dass sie schon dagegenrannten. Es waren Mauersteine, sie befühlten sie mit ihren Händen ... Sie lachten beide, atemlos. „Jedenfalls sind wir jetzt da. Hier, links um die Steine, müssen wir gehen.“

„Und wie finden wa Vata'n –?“

Ja, sie waren da, sie standen vor den Bauten, sie standen vor fünf, vor zehn, vor zwanzig, vielleicht vor fünfzig Häusern, die in einem Block vor ihnen lagen. „In manchen Häusern ist schon Elektrisch“, sagte Karl Siebrecht.

„Aber nich, wo Vata jemauert hat. Weeßte nich, wo Vata jemauert hat?“

„Nein, Rieke.“

„Det muss doch sind, wo noch Jerüste sind. Kannste nich sehen, wo Jerüste sind, Karl?“

„Das muss auf der anderen Seite sein, von den Koksfeuern weg. Hier ist schon alles fertig.“

„Na, denn komm, Karl! Faß mir an. Hier können wa überall jejen wat anrennen. Is doch jut, det de mit mir jekommen bist, ich bin nich jraulich, aber det hier ...“

Finster ragten die Bauten über ihnen in den dunklen Nachthimmel hinein. Sie hatte wie selbstverständlich ihre Hand durch seinen Arm gesteckt, und Karl Siebrecht führte das Mädchen nun höchst ungeschickt, denn dies war eine ganz ungewohnte Situation für ihn. Als sie aber gegen eine Karre angerannt und beinahe zu Fall gekommen waren, drückte er ihren Arm fester an sich, und von der Wärme des Mädchens floß ein ungewohntes, wohltuendes Gefühl in ihn. Sie tasteten sich vorwärts, hielten sich an Gerüststangen und riefen in leere Fensterhöhlen, in Türöffnungen, aus denen es säuerlich scharf nach frischem Kalk roch, hinein: „Vata! Herr Busch! Vata!“ Ein öder Widerhall antwortete schwach, erstarb ...

„Still mal! Det war doch so, als hätte er jeantwortet –?!“

„Vata! Herr Busch! – Vata!“

Ein öder, rasch hinsterbender Widerhall ...

„Das war bloß das Echo, Rieke!“

Sie tasteten sich weiter, der Sturm riß an ihren Kleidern, Gesicht und Hände waren eisig von der peitschenden Nässe. Und wieder Rufen und Lauschen und Tasten ... Dann blieb Rieke stehen. „Det hat doch allens keenen Zweck nich, Karl“, sagte sie. „Wenn der Olle blau is, hat er sich hingehauen. Da können wa uns dämlich rufen, der hört nich.“

„Wir können aber nicht in den Bauten suchen, Rieke! Wir kommen keine Leiter hoch. Man sieht ja die Hand nicht vor Augen!“

„Ebend! Und der Mann liegt in de Kälte und Nässe! Wat machen wa bloß?“

Karl Siebrecht überlegte. „Ich glaube, Rieke“, sagte er dann, „wir haben es falsch angefangen. Wenn dein Vater sein Zeug sucht, wird er es doch zuerst im Bauschuppen suchen. Dass es nicht mehr auf dem Gerüst liegt, wo er mittags gemauert hat, weiß er doch auch.“

„Meenste, Karl? Da kannste recht haben. Jloobst de, det de den Bauschuppen findest?“

„Ich glaube. Wir holen uns eine von den roten Laternen – das hätten wir überhaupt gleich tun sollen.“

Sie tasteten sich zurück. Sie stolperten oft, hielten sich aneinander und tasteten weiter. Sie waren übermüdet, durchfroren, mutlos. Um sie standen dunkel drohend die Bauten des Herrn Kalubrigkeit, ein winziger Bruchteil der Drei-Millionen-Stadt, die Karl Siebrecht zu erobern gedachte. Ach, er dachte jetzt nicht an Eroberung, er wollte nur einen Menschen finden und dann ins Bett gehen, schlafen, schlafen ... Sie holten sich eine rote Laterne, unter vielen Schuppen fanden sie endlich die Baubude. Sie stießen die Tür auf, zwängten sich hinein, krachend schlug der Wind hinter ihnen die Tür wieder zu. In der Baubude war ein bißchen Licht von einer Stallaterne mit hellem Glas. Sie schien auch sehr warm nach der nassen Kälte draußen, ein runder Eisenofen glühte rot in einer Ecke. Neben dem Eisenofen saß zusammengesunken ein Mann – sie taten einen raschen Schritt: „Vata –!“

„Herr Busch?“

Der eisengraue Alte neben dem Ofen hob schläfrig den Kopf. Blinzelnd fragte er: „Wer seid denn ihr? Was habt denn ihr hier zu suchen? Das Betreten der Baustelle ist verboten! Ich bin der Nachtwächter!“

„War hier mein Vater? Ich meene den Maurer Busch, so eenen mit rotem kurzem Bart. Die Leute sagen ooch Dorsch uff ihn.“

Der Nachtwächter, Nachtschläfer, machte eine Bewegung mit der Hand. „Dahinten auf den Säcken liegt einer. Wenn das dein Vater ist, dann nimm ihn mit! Das ist hier nachts auf der Baustelle verboten. Er ist aber blau. Junge, leg Preßkohlen auf, ein Wetter ist das!“ Und sein Kopf sank schon wieder schläfrig vornüber.

Die Kinder waren bereits im Winkel bei den leeren Säcken. Ja, da lag auf ihnen der Maurer Busch und schlief fest, den toten Schlaf des Betrunkenen schlief er. Langsam, röchelnd ging der Atem. Das mit Straßendreck und Kalkstaub beschmutzte Gesicht sah finster verschlossen aus. Eine Blutkruste an der Stirn bewies, dass auch der Maurer Busch in der Dunkelheit seinen Weg nicht gleich gefunden hatte. In der Hand hielt der schlafende Mann einen Maurerhammer. „Er hat sein Werkzeug gesucht“, flüsterte Karl Siebrecht.

„Kannst ruhig laut reden“, sagte Rieke. „Der wacht so bald nich uff, Karl.“ Sie setzte sich neben den Vater auf die Säcke. „Den kriegen wa so nich nach Haus, Karl. Vielleicht zu morgen. Fahr jetzt nach Haus, Karl, jetzt kriegste noch 'ne Elektrische. Ich bleib bei Vata'n.“

„Dann bleibe ich auch hier, Rieke!“

„Det hat doch keenen Sinn nich, Karl! Zu wat denn? Is jenug, wenn eener nich schläft! Wat kannste hier noch nützen?“

„Und was hat es für Zweck, dass du bei Vater sitzt, Rieke? Hilft das was? Ändert das was?“

„Ick weeß nich! Nee, jloobe ick; bloß, ich bin seine Tochter.“

„Und ich bin dein Freund, dein richtiger Freund, Rieke!“

„Ick weeß, Karl. Na, denn setze dir nahe bei mir, eene halbe Stunde, aber nich länger! Denn musste in de Betten.“

„Warte, ich werde erst noch Kohlen nachlegen.“ Dann kam er zurück. „Das ist auch eine Nummer Nachtwächter“, berichtete er. „Wegen dem können sie den ganzen Bau wegtragen! Er ist nicht mal aufgewacht, als ich Kohlen auflegte!“

„Wat weeßte, wat der Olle sich am Tage schindet? Laß ihn man schlafen, wir haben det Jute davon. Wenn er wach wäre, schmiß er uns valleicht raus aus de Bude!“

„Da hast du recht, Rieke!“

Eine Weile saßen sie schweigend. Um die Bude brauste der Wind, auf das Teerpappendach prasselte der Regen. Der Ofen fauchte. Der Schläfer röchelte schwer, den Maurerhammer hielt er in der Hand. Das Mädchen schauerte zusammen. „Mir friert, Karl! Friert dir nich?“

„Nein“, log der Junge. „Komm, leg deinen Kopf in meinen Schoß Rieke. Hier sind Säcke genug, ich decke dich warm zu. So ...“

„Det is jut, Karl. Du bist jut, det biste! So'n bißken verwöhnen is fein. Hat se dir ooch verwöhnt, deine Erika?“

„Das war alles so anders, Rieke.“

„Det vasteh ick. Se ist doch 'ne Pastorsche. 'ne Pastorsche is mächtig fein, wat, Karl?“

„Ach Gott, Rieke, sie ist ja noch so jung ...“

„Wie alt ist se denn?“

„Erst vierzehn.“

„Da is se noch een bißcken älter als ick! Aba se weeß wohl noch nischt –“

„Nein, sie weiß noch nichts –“

„Haste ooch noch nischt jewußt, bis du bei uns kamst, Karl?“

„Doch, ein bißchen, Rieke. Weißt du, Rieke, mein Vater hat nämlich Pleite gemacht ...“

„Det is komisch mit uns beede, Karl“, sagte Rieke langsam. „Wa passen. Du hast keene Mutta nich, wie ick. Und dein Vata jenau wie meina – darum paasen wa.“

„Ja, das ist wirklich komisch, dass ich gerade dich in der Bimmelbahn treffen musste.“

„Jloobst de, Karl, jloobst de, det't mit Vata'n noch mal anders wird?“

„Ich weiß nicht, Rieke. Vielleicht, wenn er richtige Arbeit findet?“

„Na, schließlich is't egal. Vata is nu mal Vata! Leicht hat der Mann det ooch nich. Morjen früh jeh ick mit Vata uff 'ne Baustelle, ick weeß schon eene, und seh, det er wieda Arbeet kriegt. Vata kann nich reden, det kann ick. Aba mauern kann Vata! Se saren uff ihn, er macht de beste Fuge von alle Berliner Maurer – nie een Loch, nie een Spritzer.“

„Mein Vater war auch tüchtig. Vater war nur zu gutmütig. Ich werde nicht gutmütig sein wie Vater, Rieke!“

„Du bist so jutmütig wie dein Vata, Karl! Du bist jutmütig wie een Schaf! Wenn de nich so jutmütig wärst, lag ick hier nich mit dem Kopp in deinem Schoß. Det liegt sich jut so, Karl! Mir wird schon wärmer.“

„Das ist ganz etwas anderes, Rieke. Mit dir ist es ganz etwas anderes. Bei dir kann ich so sein, du nützt es nicht aus.“

„Det denkste! Ich nütze dir ooch aus!“

„Und ich dich! Ich wäre ja ganz verlassen und verloren in dieser Stadt, Rieke, ohne dich!“

„Denkste det wirklich, Karl?“

„Ganz wirklich, Rieke?“

„Det is jut, Karl. Denn lieg ick noch mal so jerne in deinem Schoß!“ Eine ganze Weile schwiegen sie. Sie gaben sich dem Gefühl von Entspannung, Wärme und Zufriedenheit hin, das sich langsam in ihnen ausbreitete. In dieser grauen, stürmischen, nassen Novembernacht hatten die Kinder etwas wie ein Daheim gefunden, nicht in der Baubude, sondern ineinander. Es tat so gut, nicht ganz allein zu sein unter Millionen Menschen. Es tat so gut, nicht kämpfen, sondern vertrauen zu dürfen. Viel hoffnungsvoller sagte Rieke: „Ick kriege morgen Arbeet for Vata, bestimmt. Und denn mach ick aus mit dem Polier, det ick alle Woche sein Jeld hole, ick geniere mir nich.“

„Wird denn dein Vater damit einverstanden sein?“

„Denn halt ick for Vata'n Schnaps zu Hause. Wenn der Olle seine Tour kriegt und weeß, er hat keen Jeld, und der Schnaps wartet uff ihn zu Hause, dann kommt er heem, det is det Jute bei meinem Ollen, det er nie nich uff Pump säuft, wat Jutet hat jeder Mensch.“

„Und du hast keine Angst –?“

„Det haste schon mal jefragt, det weeßte doch? Jestern abend! Nee, mehrstens habe ick keene Angst! Und nu bin ick janz vergnügt, ick gloobe immer, du bringst mir Jlück, Karl.“

„Hoffentlich, Rieke, du kannst es brauchen.“

„Und nu paß uff, Karl! Jetzt zitterst de nach Hause! Red nischt, morgen früh um sieben trittste hier wieda an mit Vatas Werkzeug. Ick jeh von hier direkt uff de Baustelle. Willste det tun, Karl?“

„Ja, natürlich. Aber willst du hier wirklich allein bleiben, die ganze Nacht, Rieke? Wenn der Wächter dich nun rausschmeißt?“

„Er schmeißt mir schon nicht raus, Karl! Der kann froh sind, wenn ick ihn nich raussetze! Und, nich wa, Karl, heute nacht schläfste mal bei uns, nich bei de Brommen. Es ist wegen Tilda. Und denn setzte ihr, ehe du abhaust, Milch auf. Brot is ooch noch da, von der Tante Bertha, schönet Landbrot, und Butter und Speck. Da machste dir und Tilda'n Stullen. Und denn bringste Stullen for Vata'n mit ...“ Sie hatte noch zehn andere Weisungen für ihn, nur für sich hatte sie keine Wünsche.

Mit einem leisen Gefühl des Bedauerns sah Karl Siebrecht das helle lebendige Gesicht von seinem Schoß verschwinden. Das letzte, was er von ihr sah, war, wie sie neben ihrem Vater kniete. Sie hatte von dem Ofen warmes Wasser geholt, sie wusch das Gesicht des Schlafenden sachte ab. Das Licht der Stalllaterne erhellte ihr Gesicht, es war wie ein sanfter Stern in der düsteren Wirrnis der Bude. Karl Siebrecht trat in die Nacht hinaus.

14. Auf dem Zeichenbüro von Kalubrigkeit & Co.

Karl Siebrecht trägt wieder seinen weißen, steifen Kragen. Vaters manchesterne Hosen sind von Rieke Busch gewaschen und hängen im Schrank neben den Sonntagshosen von Busch. Während Karl alle Tage seine Sonntagshosen trägt, kann der Maurer Walter Busch, der Dorsch, mit vollem Recht seine Arbeitshosen tragen: dank Riekes Mundwerk hat er wieder Arbeit. Und er arbeitet auch. Schweigsam und nüchtern, mit dem immer abwesenden Blick seiner blaßblauen Augen fügt er Stein an Stein und lässt zwischen ihnen die berühmte Fuge ohne Fehl und Tadel. Das Leben lächelt – Karl Siebrecht verdient hundertundzwanzig Mark im Monat, er ist Hilfszeichner, vorläufig noch auf tägliche Kündigung. Aber Herr Oberingenieur Hartleben ist ihm günstig gesinnt, der Junge hat trotz seiner Jugend, trotz seiner lückenhaften Kenntnisse alle Aussicht, fest angestellt zu werden.

Er hätte seine Schlafstelle bei der Brommen neben dem zweifelhaften Bäcker Bremer gut aufgeben und sich ein möbliertes Zimmer mieten können: seine Einkünfte erlauben das. Und er hätte auch der alten Minna ihre zweihundert Mark zurücksenden können, auch das erlauben seine Einkünfte. Wenn sie statt dessen auf ein Sparbuch gelegt worden sind, das Rieke Busch versteckt hat, so ist daran nur Rieke schuld. Diese nicht umzubringende, immer wieder neu hoffende Rieke, die trotz allen Mutes ein gesundes Mißtrauen in jeder Periode des Glücks setzt: „Wart man lieber ab, Karl! Det muss nich immer so weiterjehen! Keener weeß, wat kommen kann. Wenn de dir zweihundert Mark jespart hast, denn schickste diese weg! Eher nich!“

Wenn Karl Siebrecht auch lange nicht so mißtrauisch gegen das Glück der kleinen Leute war wie die durch hundert Erfahrungen gewitzte Rieke Busch, so war er doch ohne weiteres mit dem Zurückbehalten des Geldes einverstanden gewesen. Ja, man war im ganzen zufrieden mit dem jungen Mann auf der großen Zeichenstube der Baufirma Kalubrigkeit & Co. – aber war er mit der Zeichenstube einverstanden? Er war sich dessen nicht ganz sicher, er konnte es sich einfach nicht denken, dass dies von Bestand sein würde! Zwar die ersten unangenehmen Tage lagen hinter ihm, da man den von Herrn von Sender empfohlenen Knaben mit unverhohlenem Mißtrauen angesehen hatte. Zwei lange Tage fast hatte man ihm keine andere Arbeit gegeben, als Bleistifte zu spitzen, mit einem Messer Bleistifte so zu spitzen, dass eine lange, tödlich drohende, nadelscharfe Spitze entstand! Er hatte sehr intensiv an all die unangenehmen und lästigen Arbeiten denken müssen, die Rieke Buschs Leben fast den ganzen Tag ausfüllten, um durch dieses nadelspitze Fegefeuer mit Humor hindurchzukommen. Aber dieser intensive Gedanke hatte ihm entschieden geholfen: wenn sein schärfster Bedrücker, ausgerechnet der knapp zwei Jahre ältere Wums ihm einen Bleistift zurückgegeben hatte: „Da mach mal erst 'ne ordentliche Spitze ran! 'ne Spitze, die auch spitz ist!“, so hatte er mit entwaffnender Freundlichkeit gesagt: „Also 'ne Spitze, die 'ne Spitze hat? Wird gemacht, Herr Wums!“ Und er hatte eben die Spitze noch einmal gespitzt, so dass sogar der picklige Wums nichts mehr hatte sagen können.

Am dritten Tage hatte dann aber der wortkarge, ältliche Oberingenieur Hartleben, der in einem heiligen Sonderraum neben dem Zeichensaal hauste, plötzlich losgeknurrt: Was denn das heißen solle? Die Herren Zeichner möchten sich ihre Bleistifte gefälligst selber spitzen wie üblich. Und der Oberingenieur hatte Karl Siebrecht persönlich an einen tiefen braunen Schrank geführt und ihn gefragt, ob er sich wohl zutraue, aus dem Wust von Bauzeichnungen, die dort ungeordnet aufgestapelt waren, die Zeichnung der Dachkonstruktion XYZ – Straße Nummer soundsoviel aufzufinden – man brauche sie höchst nötig für die Baupolizei, die mal wieder stänkere ...

Karl Siebrecht hatte sich das zugetraut. Am nächsten Morgen schon war die Dachkonstruktion gefunden, und nun war der Junge beauftragt worden, eine endgültige Ordnung in das Durcheinander dieses Schrankes zu bringen. Tagelang waren Zeichnungen über Zeichnungen durch seine Hände gegangen, diese Zeichnungen, auf denen die Daumen der Poliere und der Bauschlosser ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten – er hatte sie verglichen, geordnet. Nun lagen sie Fach bei Fach, wie sie zueinander gehörten, von den Fundamenten bis zum Dachfirst, jedes Fach säuberlich beschildert, ein wohlgefälliger Anblick. Ja, es tat auch Karl Siebrecht wohl, als er diese von ihm geschaffene Ordnung sah. Aber war das alles? Eroberte man so Berlin?

Wenn Herr Oberingenieur Hartleben in seinem Allerheiligsten über der Planung ganzer Häuserblocks und Straßenzüge versunken saß, wenn von dort das eifrige Klappern seiner überlebensgroßen Reißschiene und seines gewaltigen Dreiecks klang, wenn Herr Oberingenieur Planungen von derart ungeheuren Dimensionen entwarf, dass er auf einem Riesentisch auf dem Zeichenblatt selbst bald hockte, bald auf den Knien mit weit hingestrecktem Oberkörper lag, als bete er demütig eine Gottheit an, dann durfte ihn niemand stören. Dann führte an seiner Statt in der Zeichenstube der Herr Diplomingenieur Feistlein das Kommando. Diplomingenieur Feistlein dünkte sich sehr viel, denn er hatte auf einer richtigen Hochschule studiert, was noch manch roter Schmiß in seinem blühenden Antlitz bewies. Die anderen, auch Herr Oberingenieur Hartleben, hatten im besten Fall ein Technikum besucht, sie waren nichts gegen Herrn Feistlein. Karl Siebrecht aber, der nicht einmal eine richtige Lehre durchgemacht hatte, der war schon der reine Garnichts.

Die geplanten Bauten im Bayrischen Viertel der Stadt Berlin beschäftigten Herrn Oberingenieur Hartleben sehr stark: als Karl Siebrecht mit dem Ordnen des einen Schrankes fertig geworden war, schickte ihn Herr Feistlein einfach an einen anderen Schrank. Und von dem anderen Schrank an einen dritten. Da aber Herr Feistlein, wie er oft stolz von sich sagte, kein pedantischer Ordnungsmensch war, sondern ein Architekt, also ein freier Künstler, wurde die hinter Karl Siebrecht entstandene Ordnung fast ebenso rasch wieder zerstört, wie sie geschaffen worden war, so dass alle Aussicht bestand, dass er mit dem Ordnen der zehn oder zwölf Schränke eine Lebensstellung erworben hatte. Nicht genug damit! Herr Feistlein ging auch dazu über, den Knaben Karl, wie er ihn nur nannte, zu Botendiensten zu verwenden. Dann mussten Marken von der Post geholt, nun Briefe zur Post getragen werden, jetzt war Zeichenmaterial herbeizuschaffen, nun ein Stoß Pausen auf eine Baustelle zu bringen. Für all solche Wege gab es nur den Knaben Karl.

Der Knabe Karl erledigte diese Dinge eigentlich recht willig. Er war fast froh, aus dem endlosen, immer etwas düsteren Zeichensaal zu kommen. Er rannte in die frische Winterluft, er lernte immer neue Straßen kennen. In so vielen Häusern hatte er nun Geschäfte – wenn der Herr Feistlein dachte, ihn zu ärgern, so irrte er sich sehr. Das war des Karl Siebrecht Ehrgeiz nicht, ein perfekter Bauzeichner zu werden, um etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahre zum Vorsteher einer solchen Stube aufzurücken. Das alles war, er fühlte es, nur Durchgangsstation, eines Tages würde es zu Ende sein, mit oder ohne Herrn Feistlein.

Es sah beinahe so aus, als sollte es mit Herrn Feistlein zu Ende gehen. Denn der Ingenieur ging dazu über, den Knaben Karl auch zu persönlichen Besorgungen anzuhalten. Dann waren aus einem Geschäft in der Französischen Straße zehn ganz bestimmte Zigarren zu holen, dann aus der Weinhandlung des noch nicht lange eröffneten Hotels Adlon eine Flasche Cognac. Der Knabe Karl brachte Cognac und Zigarren, er war sowieso unterwegs, er war ohne Berufsstolz, er brachte, was Herr Feistlein verlangte. Bald aber musste er auch extra für Herrn Feistlein über die Straße laufen. Jetzt war es nach einem Glas Bier, das vorsichtig unter den Zeichentisch gestellt wurde, nun nach Schrippen und Leberwurst, nun nach zwei sauren Gurken und nun wieder nach einem Glas Bier. Siebrecht merkte die Absicht, und sein jugendlicher Trotz lehnte sich auf. Aber es war schwer, da böswillig aufzuhören, wo er gutwillig angefangen hatte. Der Ingenieur hatte seine Wünsche ganz allmählich vermehrt, der Punkt, wo sie das Erträgliche überschritten hatten, war längst vorbei – es musste ein besonderer Anlaß kommen, der Karl Siebrecht berechtigte, seinen Vorgesetzten den Gehorsam aufzukündigen.

Wer wartet, gewinnt. Es kam ein Nachmittag, an dem Herr Oberingenieur Hartleben nicht auf der Zeichenstube anwesend war, der Chef hatte ihn zu sich gerufen. Dies hatte Herr Feistlein zum Anlaß genommen, auch sich auf ein oder zwei Stunden von der Zeichenstube zu beurlauben, ohne vom Chef dazu berufen zu sein. Als Feistlein gegen vier Uhr nachmittags die Stube wieder beitrat, glühte ein Antlitz wie eine schöne rote Holländer Tulpe.

Herr Feistlein war nicht gesonnen, sich nun sogleich an seine Arbeit zu machen. Er ging erst eine Weile, gewaltig leuchtend, auf und ab, wobei er die Zeilen vor sich hinsummte: „Wo sind sie, die vom breiten Stein nicht wankten und nicht wichen, die ohne Moos bei Bier und Wein den Herrn der Erde glichen? Sie zogen mit gesenktem Blick in das Philisterland zurück. O jerum, jerum, jerum, o quae mutatio rerum!“ – „Knabe Karl!“ rief Herr Feistlein herumfahrend: „Übersetze: quae mutatio rerum!“

Der Knabe Karl hätte es sogar gekonnt, soviel Latein hatte ihm der Rektor Tietböhl immerhin beigebracht, aber er hatte keine Lust, sich hier zum Vergnügen der ganzen Zeichenstube examinieren zu lassen. So sagte er: „Keine Ahnung, Herr Feistlein!“

„Da sieht man's wieder!“ rief Herr Feistlein, rot strahlend. „Nicht humanistisch gebildet! Oh, welch ein Abgrund von Unwissenheit bist du doch, Knabe Karl! Du ahnst es nicht, wie unwissend du bist, aber ich weiß es, und es tut mir wehe, wenn ich dich ansehe! Unser Kaiser hat gesagt, dass er das Realgymnasium wohl fördert, aber mit Treue an dem humanistischem Gymnasium hängt! Uns Humanisten liebt unser herrlicher Kaiser nach seinen Herren Offizieren am meisten. – Da habt ihr's!“

Damit fuhr Herr Feistlein zu den grinsenden Zeichnern, deren Gesichter sofort ernst oder beifällig wurden, herum und vergaß eine Weile den Knaben Karl. Er ging nun von Zeichentisch zu Zeichentisch, tadelte vieles und fuhrwerkte gewaltig mit seinem Bleistift herum, hütete sich aber wohl, auch nur einen einzigen Strich zu tun. Denn so klar war er noch, seinem Zustand zu mißtrauen. Dann sank er in den Stuhl vor seinem Tisch, stützte das Haupt in die hohle Hand und versank in tiefes Sinnen. Es wäre nun alles gut abgelaufen, wenn Herr Feistlein nicht von dem Schlackerwetter draußen nasse Füße gehabt hätte. Ohne dies wäre er sanft entschlummert, eingelullt von dem warmen Sausen der Gasflammen.

Aber seine Füße störten ihn. Ein paarmal starrte er irritiert auf sie, dann richtete er sich auf und schrie: „Karl, Knabe Karl!“

„Jawohl, Herr Feistlein?“

„Mal herkommen!“ Der Knabe Karl kam, er stand vor seinem Herrn und sah ihn an. „Zieh mir mal die Dinger aus!“ sagte Herr Feistlein. Der Knabe Karl sah ihn an. „Du sollst mir die Stiebel ausziehn, verdammt noch mal! Hörst du nicht?!“

„Nein, Herr Feistlein!“

„Wie –?!!!“

„Nein, Herr Feistlein, das tue ich nicht!“

„Du tust nicht, was ich dir sage?“

„Nein, Herr Feistlein, dies nicht!“

„Dann soll dich und mich“, sagte Herr Feistlein mühsam, „der Teufel holen!“ Und Herr Feistlein stieß mit dem Fuß nach dem Jungen.

„Lassen Sie das lieber, Herr Feistlein!“ sagte Karl Siebrecht warnend.

Der Ingenieur hatte selbst das dunkle Gefühl, dass es besser wäre, dies zu lassen. Da aber die Anregung dazu von dem Jungen kam, vertrug es sich nicht mit seiner Ehre, auf sie einzugehen. Herr Feistlein schlug noch einmal aus und traf kräftig das feindliche Schienbein. „Da!“ rief er, von der Wucht seines Stoßes überrascht und begeistert.

„Da!“ rief auch der Junge und hatte den Fuß fest in Händen.

„Laß los, sofort!“ schrie Herr Feistlein.

„Nicht, ehe Sie nicht aufhören, zu treten!“

„Ich denke ja gar nicht daran!“ rief der Ingenieur. „Du kriegst noch ganz andere Tritte von mir!“ Und er bemühte sich, den Fuß aus den Händen des Knaben zu befreien. Dabei hatte er aber jede Rücksicht auf seinen durch Alkoholgenuß gestörten Gleichgewichtssinn vergessen: er rutschte vom Stuhl und landete mit einem Krach auf dem Stubenboden. „Da!“ rief er verblüfft. Karl Siebrecht aber hatte den Fuß losgelassen und lachte aus vollem Halse, so sehr amüsierte ihn das rote Gesicht, das fassungslos zu ihm emporleuchtete.

Die ganze Zeichenstube war in einem Aufruhr. Viele fanden sich, die dem gestürzten Gewaltigen dienstfertig aufhalfen. Spaßbolde klopften ihn von hinten sehr kräftig ab. Andere aber auch schoben sich um Karl Siebrecht und flüsterten ihm zu: „Das hast du recht gemacht! – Laß dir nur nichts gefallen von dem! – Dem Protz gehörte lange eine Abreibung!“

„Du bist auf der Stelle entlassen!“ schrie der Ingenieur, der sich ein wenig gefaßt hatte.

Karl Siebrecht wäre nicht ungern gegangen, aber so wollte er auch nicht entlassen werden. „Sie können mich gar nicht entlassen, das kann nur der Herr Oberingenieur!“

„Du hast mich tätlich bedroht!“

„Nachdem Sie mich getreten hatten!“

„Du hast mir den Gehorsam verweigert!“

„Nie in dienstlichen Dingen!“

„Ich verwende dich, in was du zu gebrauchen bist!“

„Ich bin als Hilfszeichner eingestellt!“

„Du hast ja keine Ahnung vom Zeichnen!“

„Eine Ahnung habe ich schon!“

„So!“ sagte Herr Feistlein. „So!“ Er sah sich suchend auf seinem Zeichentisch um. Er faßte nach einer Zeichnung. „Hier ist der Grundriß eines Wohnhauses. Mach mir die Berechnung für die Fundamente, und zeichne die Pläne für den Schachtmeister!“

„Sie wissen sehr gut“, sagte Karl Siebrecht, „dass ich das gar nicht zu können brauche. Keiner hat bei meiner Anstellung verlangt, dass ich selbständig berechnen und zeichnen soll ...“

„Du kannst nicht zeichnen!“ rief Herr Feistlein triumphierend. „Da musst du eben den Laufjungen spielen!“

„... aber ich habe bei meinem Vater so oft solche Zeichnungen gesehen, dass ich es vielleicht doch kann. Jedenfalls will ich es versuchen.“ Er nahm dem verblüfften Herrn Feistlein den Grundriß einfach aus der Hand, überlegte einen Augenblick, machte dann noch eine kleine, nur eine winzige Spur spöttische Verbeugung und ging an sein Tischlein im Winkel, das er bisher nur zum Bleistiftspitzen und Paketemachen gebraucht hatte. Er zündete das Gas an.

„Halt!“ rief Herr Feistlein. „Du verdirbst mir die Zeichnung bloß, Karl!“ Er fühlte viele Blicke auf sich. Fast verlegen sagte er: „Na, laßt ihn schon! Er wird einen schönen Bockmist anrichten, dieser Laufbursche!“ Und er wandte sich zu seinem Zeichentisch. –

Wenn der Oberingenieur Hartleben auch wortkarg war, so sah er doch viel. Möglicherweise hatte er aber auch seine Zuträger. Es konnte der reine Zufall sein, es konnte aber auch mit Vorbedacht geschehen, dass Herr Hartleben am nächsten Vormittag gerade am Tisch des jungen Siebrecht stehenblieb, erst weiterredete – er berichtete von neuen Bauplanungen des Chefs –, nun einen zerstreuten Blick auf diesen Tisch warf, dann seine Rede unterbrach und erstaunt rief: „I, ich glaube gar! Du machst ja wohl Zeichnungen für den Schachtmeister, Karl! – Herr Feistlein!“

Herr Feistlein fuhr hoch und lief rot an. „Jawohl, Herr Hartleben! Jawohl! Ich habe dem Jungen – dieser Junge behauptet nämlich, er könnte einfach alles zeichnen ...“ Karl Siebrecht sah den Herrn Feistlein fest an. Herr Feistlein verstummte. Eine grobe Stimme rief aus dem Hintergrunde „Oho! Oho!“ und verstummte auch. „Schließlich ist er als Hilfszeichner eingestellt“, sagte Herr Feistlein schwach.

Jemand säuselte vernehmlich: „Und holt Bier –!“ Ein paar lachten los.

Oberingenieur Hartleben hatte die Zeichnung in die Hand genommen. „Gar nicht so schlecht“, nickte er. „Aber – ist das nicht das Gelände, wo aufgefüllt werden muss, wo gar nicht ausgeschachtet wird? Wie, Herr Feistlein?“

„Ich glaube. Ich erinnere mich momentan nicht genau. Es ist immerhin möglich, Herr Hartleben.“

„Soso“, sagte der Oberingenieur. „Karl, gib diese Zeichnungen an Herrn Feistlein zurück.“

Unter tiefem Schweigen der ganzen Zeichenstube trug Karl Siebrecht die Zeichnungen zu Herrn Feistlein. „Bitte sehr, Herr Feistlein!“ sagte er.

„Danke!“ murmelte der. Er wollte nach den Zeichnungen fassen, besann sich und befahl, mit zwei Fingern zwischen Hals und Kragen, der ihn zu beengen schien: „Da, auf den Tisch!“ Karl Siebrecht ging an seinen Platz zurück.

„Von nun an, Karl“, sagte der Oberingenieur Hartleben, „bekommst du deine Arbeit von mir zugeteilt, und nur von mir, verstanden?“

„Ja, Herr Oberingenieur.“

Herr Hartleben nickte und fuhr in seinem Vortrag über die Bauplanungen des Herrn Kalubrigkeit fort.

Von Stund an war Karl Siebrechts Stellung im Büro gesichert. Niemand kam mehr auf den Gedanken, ihm Stifte zum Anspitzen anzuvertrauen. Als einzige Erinnerung an überwundene Zeiten verblieb der Stube die Redensart „und holt Bier“. Immer, wenn nach jemandem gefragt wurde, rief ein Spaßvogel: „Und holt Bier!“

Dann sahen alle Augen zu Karl Siebrecht hin. Er aber sah nicht hoch. Er hatte die angenehmste Arbeit, Herr Hartleben sorgte dafür, dass der Anfänger nicht in der öden Beschäftigung des Pausens steckenblieb. Auch das musste getan werden, aber dazwischen gab es Zeichnungen, bei denen nachzudenken und etwas zu lernen war. Dann stand der Oberingenieur wohl auch einmal fünf Minuten am Tisch des Jungen und erklärte ihm mit ein paar Worten dies und jenes, oder sein Zeichenstift löste mit einigen raschen sicheren Strichen ein für unlösbar gehaltenes Problem. Manche merkten, dass der Oberingenieur auf eine stille, unmerkliche Art den Laufburschen auszeichnete, und sie gingen dazu über, Karl Siebrecht mit Sie anzureden, unter ihnen als erster der Pickelhering Wums. Herr Feistling redete den Karl Siebrecht nicht mit Sie an, er redete ihn, wenn es irgend zu vermeiden war, überhaupt nicht an. Es hatte wohl noch eine kleine Aussprache unter vier Augen zwischen dem Oberingenieur und seinem Diplomingenieur gegeben. Eine lange Zeit ging Herr Feistlein gedrückt umher, sein Gesicht blühte weniger, und er ließ nichts mehr von der Überlegenheit des Akademikers über die Besucher eines Technikums verlauten. Nein, Karl Siebrecht hatte auf der ganzen Linie gesiegt. Er war im Besitz einer gesicherten Stellung, die tägliche Kündigung war in eine vierzehntägige verwandelt, er lernte etwas und hatte die besten Aussichten auf ein langsam ansteigendes Gehalt. Aber freute ihn das? Es freute ihn gar nicht. Es machte ihn unruhig. Solange seine Stelle noch etwas Provisorisches, Behelfsmäßiges gehabt hatte, war sie zu ertragen gewesen, aber jetzt, da alles in feste, sichere Bahnen gelenkt war, kam ihm immer wieder der Gedanke: Das habe ich doch nicht gewollt! An der Art Vorwärtskommen ist mir doch nichts gelegen!

Wenn er am Morgen seinen Weg aus der Wiesenstraße nach der Krausenstraße antrat, wenn er aus den engen, überfüllten, schmutzigen Arbeiterquartieren durch das verrußte Industrieviertel der Chausseestraße in den Geschäftstrubel der oberen Friedrichstraße kam und weiterging durch das reichbeschilderte Vergnügungsquartier bis in den Bezirk der Büros, wenn sich dies Tag für Tage wiederholte, die gleichen Läden, die gleichen Schilder, der gleiche mit Fuhrwerken und Autos brausende Verkehr, in dem er unbeachtet mitwimmelte – dann fühlte er, dass er jung war, dass er nicht so mitwimmeln durfte, dass er etwas anderes wollte. Manchmal blieb er stehen, als schüttelte es ihn, und er dachte: Nicht so! Nicht so! Nicht so!

Und wenn er dann auf die Zeichenstube kam, und leise summend begrüßte ihn das Gas mit seinem süßlichen, weichen Geruch, und wenn er über sein Jackett die Überärmel zur Schonung streifte, und wenn er immer die gleichen Gesichter sah, den Herrn Feistlein und den pickligen Wums und den Bechert und den Karbe, und wenn er dann dachte, dass er im Frühling, im Sommer, heute übers Jahr die gleiche Stube, das gleiche Gas, die gleichen Ärmel, das gleiche Reißbrett seiner wartend finden würde – dann hätte er am liebsten kehrtgemacht, wäre auf die Straße gelaufen und hätte geschrien: Ich will Berlin erobern! Heh, Berlin, hier bin ich! Ich bin kein Stubenhocker und will nie einer werden! Los! Aber dann fühlte er den Blick des Herrn Feistlein auf sich, rasch nahm er den Zeichenstift in die Hand und dachte mit jungenhaftem Trotz: Nun gerade nicht! Dem tue ich den Gefallen noch lange nicht! Der würde ja denken, ich bin vor ihm ausgerissen. Das andere hat noch Zeit, das kann ich jeden Tag anfangen. Jetzt bleibe ich erst noch ein paar Wochen hier und ärgere den, bis er platzt. Nein, er konnte wirklich noch nicht fort – schon um des Herrn Feistlein willen nicht. Und dann hätte er die Rieke Busch auch so betrübt, wenn er diese vorzügliche Stellung aufgegeben hätte – gerade jetzt zur Weihnachtszeit.

15. Bruder und Schwester

Ja, Rieke Busch hatte eine so gute Zeit wie noch nie in ihrem Leben. Obwohl nun schon der Dezembermonat gekommen war, in dem die Maurer oft feiern müssen, ging der alte Busch noch alle Tage zur Arbeit. Meistens war Dreckwetter, und wenn es einmal fror, so fror es nur so wenig, dass es der Maurerei keinen Eintrag tat. Unter vier Grad Frost bleibt kein Maurer zu Haus. Auch der alte Busch nicht, der sonst nicht nur den Frost zum Anlaß fürs Blaumachen nahm. Jeden Morgen ging er wortkarg und blicklos fort, und jeden Abend erwartete ihn daheim in der Wiesenstraße seine Schnapsflachse, aus der ihm die Rieke einschenkte; erst ganz nach Wunsch, später, als alles gut ging, schon zögernder, schließlich, als alles weiter gut ging, verdünnte sie den Schnaps mit Wasser und setzte dafür gestoßenen weißen Pfeffer hinzu, damit er auch scharf genug schmeckte. Das tat sie in aller Heimlichkeit, auch ihr Freund Karl erfuhr nichts davon. Das gab dann manchmal unruhige Nächte, lange Stunden musste sie auf Vaters Schoß sitzen, die Arme um seinen Hals, ihm den Bart kraulend, und statt der Tochter die Frau sein – auch davon erfuhr Karl Siebrecht nichts. Denn am nächsten Morgen ging der Maurer Busch wie sonst zur Arbeit. Ihm war nichts anzusehen, und die ein wenig blasse Rieke hatte dafür die Belohnung, am Freitag vom Polier eine wirklich volle Lohntüte abzuholen. Ach, wie die Familie vorwärtskam! Da war auch noch das Kostgeld, das Karl Siebrecht zahlte – sie lebten direkt üppig, es gab in diesen Wochen nicht nur am Sonntag Fleisch. Und Rieke hatte schon Kohlen für den ganzen Winter gekauft und Kartoffeln, sie hatte für Tilda und sich warmes Zeug angeschafft, und bei alledem hatte sie sogar noch Geld zurückgelegt. „Ick jloobe wirklich, du hast det Jlück in't Haus jebracht, Karl“, konnte sie am Abend sagen, wenn die beiden in der Küche zusammensaßen. Tilda schlief dann schon, und der alte Busch saß am Fenster, starrte in die Nacht hinaus, das Schnapsglas auf dem Fensterbrett, er sah und hörte nichts.

„Verrede es dir bloß nicht, das Glück“, sagte Karl Siebrecht warnend.

„Ach wat! Unglück kommt von alleene, jetzt freu ick mir erst mal.“

„Und was machst du mit all dem Geld, Rieke? Du musst ja reich werden!“

„Wer ick ooch! Karl, weeßte wat, aber det is noch tiefstet Jeheimnis, ick jloobe, ich riskier wat!“ Sie sah ihn mit unternehmungslustigen, vor Freude glänzenden Augen an.

„Was riskierst du denn, Rieke?“

„Ja, wat wohl? Karl, ick koof mir 'ne Nähmaschine uff Abzahlung!“

„Wirklich –? Was willst du denn mit einer Nähmaschine? Dein bißchen Näherei!“

„Doch, det tu ick, dazu bin ick imstande; Karl, ha ick dir denn det noch nich jesagt? Doch, det ha ick schon jesagt, haste bloß vajessen, oller Tranpott! Det ist doch mein Traum seit meine Kindertage. Immer, wenn ick bei andere Leute komme, und die Madam sitzt an de Maschine und ritsch, 'ne Naht ruft“, und ratscht, 'ne Naht runter, und denn meine fußlige Stichelei mit de Nadel – Karl, 'ne Nähmaschine, det is for mir det Höchste, danach kommt 'ne janze Weile jar nischt!“

„Aber was hast du denn soviel zu nähen, Rieke?“

„Ach, Karl, du bist doch bloß een Junge, darum redste ooch so dußlig! Zu nähen hat 'ne Frau immer, det merkt ihr Männer bloß nich! Und denn, wenn ick erst 'ne Maschine habe, denn mach ick all den Quatsch nicht mehr mit Reinmachen. Det bringt doch keen Jeld, Karl. Nee, denn nähe ick Konfektion ...“

„Was tust du? Konfektion?“

„Na ja, weeßte nich, wat Konfektion is? Ick denke imma, du weeßt allens! Denn näh ick Kindermäntel. Erst ha ick jedacht, ick näh Wäsche. Aber Wäsche ist mir zu poplig mit all die Knopflöcher und Spitzen an die weißen Hosen und Rüschen und Falten – det is nischt for mir. Bei mir muss allet fix jehen. Ick nähe Kindermäntel.“

„Ja, kannst du das denn auch?“

Sie warf ihre hellen Haare in den Nacken und lachte, lachte übermütig und siegesgewiß. „Du olla Dussel du! Und du willst wat Jroßes werden? Du willst janz Berlin erobern? Ja, kannste denn det? Haste det jelernt? Na, wenn du's noch nich kannst, denn lernste det. So schlau wie die anderen sind wir doch allemal! Oder nich –?“

„Doch!“ musste Karl Siebrecht zugeben. „Aber wirst du auch Arbeit kriegen?“

„Natürlich! Ick weeß schon 'ne Firma in de Jerusalemer, die nehmen mir jleich. Die machen det ohne Zwischenmeista, da vadiene ick noch extra wat bei. Jott, Karl, wenn ick erst meine Maschine habe, det soll ein Leben hier werden! Und immer bei Tilda'n – Tilda jar nich mehr alleene.“

Der alte Busch hatte schon eine ganze Weile am Fenster sachte vor sich hingebrummt und gemurrt, sie hatten im Eifer ihrer Unterhaltung aber nicht auf ihn geachtet. Jetzt schlug er mit der Hand zornig gegen die Fensterscheibe, dass sie klirrte. Rieke Busch sprang auf. „Ja doch, Vata! Kriegst noch eenen. Sei bloß ruhig, du erschreckst ja det Kind! – So, siehste, Vata! Und trink schön langsam, noch eenen jibt es heute abend nich.“

„Karl“, sagte sie dann und setzte sich wieder zum Jungen. „Kommste mit, wenn ich die Nähmaschine koofe?“

„Aber ich verstehe nichts von Nähmaschinen!“

„Doch nicht darum, Mensch! Bloß, weil ick so kleen bin! Weil ick se doch uff Abzahlung haben will! Du bist doch schon älter, und denn kannste jebildet reden. Wir machen denen einfach 'nen Schmus vor, det Mutta krank is und nich selba kommen kann.“

„Was kostet denn so 'ne Maschine?“

„Die, die ick möchte, zweihundertsechzig. Hundert Anzahlung, die ha ick nächste Woche zusammen, und der Rest alle Woche fünf Märker.“

„Das dauert ja endlos, Rieke!“

„Zweiunddreißig Wochen – det is nich sehr lange, Karl!“

„Weißt du, Rieke, nehmen wir das Geld doch einfach von meinem Sparbuch! Dass wir die Leute da ankohlen sollen, das möchte ich nicht. Du kannst es dann ja alle Woche auf mein Sparbuch zurückzahlen.“

„Det jibt et aba nich! Wat du dir bloß ausdenkst! Det is ja nich dein Geld, vastehste? Wa haben ausjemacht, daran jehn wa nur in de höchste Not. Biste jetzt in Not, Karl?“

„Das nicht. Aber ich möchte wirklich nicht gern ...“

„Ach, du mit dein feinet Jetue! Wollen wa denn die Leute rinlegen? Die sollen doch ihr Jeld kriegen, uff die Stunde kriegen se's! Det is doch bloß, weil ick noch so aasig jung bin! Na, Karl, zieh keenen Flunsch – willste oder willste nich?“

„Ich will schon.“

„Det is schön von dir, Karl, det freut mir. Du bist een richtiger Freund durch dick und dünn, so wat ha ick mir imma jewünscht. Ach, Karl, ick freu mir so! Komm, Karl, wollen wa eenen scherbeln?“ Und sie summte, sich vor ihm drehend, den Rock hob sie mit gespreizten Fingern: „Kumm, Karlinecken, kumm, kumm, kumm in meine jriene Laube. Ach nee, so jeht det nich. Wie jeht denn det, Karl? Wat stehste denn da und starrst mir an wie Muffi? Ha ick wat an mir?“

Ja, da stand er wie ein Stock und starrte sie an. Plötzlich war es ihm aufgegangen, wie hübsch seine kleine Freundin war, leuchtend von Leben, strahlend von Hoffnung. Er starrte sie an und begriff den Bäcker Ernst Bremer besser, dieser Bengel hatte einen Blick für hübsche Mädchen! Rieke Busch war schon jetzt ein verteufelt hübsches Mädchen, und sie würde noch zehnmal hübscher werden. Aber er wollte auf sie aufpassen, er wollte ihr ein rechter Bruder sein, ihr sollte kein Leid geschehen. Für solche wie den Bäcker war Rieke Busch nicht gewachsen. Und Karl Siebrecht zwang sich zu einer ernsten Miene, er sagte so steif wie der Rektor Tietböhl: „Ich glaube, Rieke, du hast deine Schularbeiten noch gar nicht gemacht, und es ist schon nach neun Uhr!“

„Ach, die ollen Schularbeeten!“ sagte Rieke und schob die Unterlippe verächtlich vor.

„Und morgen hast du auch Konfirmanden-Unterricht, kannst du denn deine Sprüche schon?“

„Ach, die ollen Sprüche! Wat ick mir for Sprüche schon koofe!“

„Los, Rieke!“ befahl er. „Hol deine Hefte und dein Neues Testament.“

Sie sah ihn von der Seite an und brach in Lachen aus. „Jott, Karl, du jefällst mir!“ rief sie. „Jenau wie Lehrer Jalle siehst du jetzt aus.“

„Wir haben ausgemacht, Rieke, dass du regelmäßig und ordentlich deine Schularbeiten machst.“

„Ja doch, Karl! Bloß, et hilft nischt.“

„Natürlich hilft es.“

„I wo! Ick bin dumm jeboren, und ick lerne ooch nischt zu.“

„Du weißt ganz genau, dass du nicht dumm bist.“

„Ja, allens wat ick for meine Arbeet brauche, det lerne ick sofort, aber die ollen Bucha –! Karl, schämste dir nich manchmal, det ick so unjebildet bin?“

„Du bist meine kleine Schwester, und ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht lange mehr ungebildet bist“, sagte er stolz.

„Bin ick det, Karl? Bin ick deine Schwesta?“ rief sie und lief auf ihn zu. „Det is jroßartig von dir, darauf jibst de mir 'nen Kuß!“ Sie legte die Arme um seinen Hals. „Na, 'nen richtigen, 'nen richtigen süßen ... Mach die Oogen zu und denk, ick bin deine Ria –!“

„Das darfst du nicht sagen, Rieke. Das schickt sich nicht! Du bist meine Schwester.“

„Na, det weeß ick doch, du olla feina Hammel! Det ick nich deine Jeliebte bin, det weeß ick. So liebste mir nich, nich uff die Art! Aber desterwejen kannste mir doch 'nen richtigen Kuß jeben, nich so wie een Stockfisch. Det hat mir schon imma jefehlt, det mir mal eena streichelt. Mit die olle Knutscherei habe ick jar nischt im Sinn. Also, Karl, nu mal los, nimm mir mal richtig in deine Arme ...“

Und Karl legte seine Arme um ihre zarte, ach, so zarte Gestalt, er näherte seinen Mund ihrem ihm entgegengehobenen Kindermund –

– und er fühlte sich losgerissen von ihr, er taumelte rücklings durch die Küche, schlug gegen den Herd und fiel schwer zu Boden ... Da aber, wo er gestanden hatte, stand jetzt der alte Busch, schwer atmend, seine Lippen bewegten sich. Er sprudelte undeutliche wilde Laute hervor, die Arme pendelten, als wollten sie sofort losschlagen ... Und da stand Rieke, schneeweiß ...

Ehe sich aber Karl Siebrecht aus seinem Sturz hatte aufraffen und ihr zu Hilfe eilen können, hatte sich Rieke schon gefaßt. „Wat fällt denn dir ein, Vata?!“ rief sie und hatte die Arme in die Seiten gestemmt, in der typischen Keifstellung so vieler Berliner Weiber, die sie ganz unbewußt übernommen hatte. „Du bist wohl janz verrückt jeworden! Kiek eena den an: nu wird er plötzlich eifersüchtig! Det jibt et bei mir aba nich, vastehste! Nimmste sofort die Arme runter, Vata! Wenn det so is, wenn der Schnaps so uff dir wirkt, denn jibt et jarkeenen mehr, vastanden?!“ Sie beruhigte sich. Sie besann sich. „Haste dir wat jetan, Karl? Nee? Nich? Na, is man jut. Vata meent et nich so.“ Und wieder zum Vata: „Wat machste bloß for Zicken, Vata? So wat musste nich wieda machen, da kannste mir wild mit machen! Det is mein Bruda, der Karl, vastehste det? Da haste jar nicht eifersüchtig zu sind!“ Sie nahm den Vater bei der Hand und führte ihn wieder zu seinem Stuhl am Fenster. „Na, nun beruhige dir man“, sagte sie sanft. „Hast wat Schlechtet jeträumt, Vata? Is allens nich wahr, ick bin deine Beste. Rieke is deine Beste, wat, Vata?“ Sie saß wieder auf des Vaters Schoß, die Arme um seinen Hals. Zu Karl Siebrecht sagte sie: „Jeh man schlafen, Karl. Det hat heute abend doch keenen Zweck mehr. Man muss sich ebend nich zu doll freuen, denn jeht's imma schief! Hau dir in de Mulle, Karl. Und ich mach meine Schularbeeten noch, ick vaspreche dir's, Karl, darauf kannste dir verlassen! Du sollst 'ne jebildete Schwesta kriegen! Jute Nacht, Karl!“

„Gute Nacht, Rieke. Gute, gute Nacht ...“

„Danke schön, Karl. Det war so jut wie 'n Kuß. Danke schön, Karl. Jute, jute Nacht.“ – –

Aber von diesem Abend an ging es mit dem alten Busch immer schlechter. Noch wanderte er morgens wie sonst zur Arbeit, aber nun sah er am Abend nicht mehr so sehnlich nach seinem Schnaps aus wie bisher, weil er nämlich schon welchen in sich hatte! „Ick weeß nich, wat det mit Vata'n is“, klagte Rieke: zu Karl. „Ick weeß nich, der Olle trinkt heimlich – det hat er doch noch nie jemacht!“

„Stimmt denn sein Lohngeld?“ fragte Karl.

„Det is et ebend – es stimmt! Ob der Olle Schulden in die Kneipen macht? Aba die pumpen ihm doch nischt, wo er nie 'nen roten Heller in de Tasche hat!“

Aber bald stimmte auch das Geld in der Lohntüte nicht mehr. Oder doch es stimmte schon, aber der Alte hatte blaugemacht, heut ein paar Stunden, dann einen halben Tag. Der Polier hatte die Rieke schon vermahnt, so ginge es mit ihrem Vater nicht weiter. Jetzt, wo jeden Tag Frost kommen könne, dürfe er einfach nicht fehlen. Busch würde zu den ersten gehören, die man entließ ... „Wo biste jewesen, Vata?“ fragte Rieke ganz aufgeregt. „Wo biste am Mittwochmorgen jewesen? Zu de Arbeet biste jegangen wie sonst, det weeß ick, bloß anjekommen biste nich bei de Arbeet!“

„Jott, Tochter“, sagte der Alte dann bloß. „Wie soll ick det wissen? Mittwoch – sagste Mittwoch?“

„Jawoll, Mittwoch vormittags haste blaujemacht.“

„Mir is een Tag wie der andere, Tochter!“ antwortete der Alte trotzig, und mehr war nicht aus ihm herauszukriegen.

Aber Rieke hatte nun in all den Jahren so viele „Touren“ vom Alten erlebt, dass sie sich nicht mehr sonderlich aufregte. „Der besinnt sich, Karl“, sagte sie. „Der besinnt sich von janz alleene! Dem musste bloß Zeit lassen! Der is nu mal so ...“

16. Die Nähmaschine

Vor dem Geschäft von Hagedorn hatten sie sich verabredet. Rieke Busch war auch darin bereits ganz eine erwachsene Frau: sie ließ Karl Siebrecht warten. Eine Weile hatte er nach ihr ausgeschaut, ob er nicht ihre schnelle, helle Gestalt im Gewühl der Weihnachtskäufer entdecken könnte. Aber sie kam nicht, sie kam noch immer nicht, und er hatte sich nur schwer auf der Zeichenstube von Herrn Feistlein freigebeten! Die Leute lachten. Mit Paketen beladen, drängten sie in einem endlosen Strom an ihm vorüber, eilig ausschreitend, denn es fror. Wenn sie lachten, flog eine Wolke Dampf aus ihrem Munde. Aber geschneit hatte es noch nicht, nun, dafür war noch Zeit. Es waren immer noch fünf Tage bis zum Heiligen Abend.

Sie kam noch immer nicht, und Karl Siebrecht wandte sich der Betrachtung der Hagedornschen Schaufenster zu. Es gab deren zwei, eines rechts, das andere links von der Ladentür. In dem rechts waren nur Nähmaschinen aufmarschiert. Es gab deren von allen Arten, riesengroße, deren stumpfes Schwarz nur von wenig glänzendem Nickel aufgehellt war, und ganz kleine, mit einem Rädchen an der Seite, mit der Hand zu drehen. Diese waren mit vielen bunten Bildern und Kanten geschmückt, aber alle, die großen wie die kleinen, waren nach den an ihnen befestigten Schildern „prima primissima“ oder auch „einfach pyramidal“, „pryramidale Erfindung der Neuzeit“. Und jede einzelne war leicht zu erwerben: „Bequeme Ratenzahlung ganz nach Ihrem Belieben!“ Karl Siebrecht versuchte die Maschine zu entdecken, auf die Rieke ihr Wünsche gerichtet hatte. Zweihundertsechzig Mark sollte sie kosten, er wußte es noch gut. Aber von Preisen war im Schaufenster nichts zu sehen. Karl Siebrecht wandte sich der Betrachtung des Schaufensters links von der Ladentür zu. Es schien ihm wesentlich interessanter, denn hier gab es Fahrräder zu sehen. Natürlich konnte er radeln, aber er hatte es nie zu einem eigenen Fahrrad gebracht, er hatte immer nur Vaters, auf hundert Baustellen leiderprobtes Rad benutzen dürfen. So sah er sich denn Rad für Rad aufmerksam an – die Zeit wurde ihm nicht lang. Rieke konnte ruhig noch eine Weile ausbleiben! Er nahm sich vor, nachher im Laden nach den Preisen und Zahlungsbedingungen von Rädern zu fragen. Es würde großartig sein, in die Zeichenstube mit einem Rad fahren zu können. Mit einem Rade würde er Berlin, diese Anhäufung vieler Städte, erst richtig kennenlernen. Er war bisher kaum über die paar Hauptstraßen, durch die ihn sein Weg führte, hinausgekommen. Und er musste jede Ecke von Berlin kennen, von dieser Stadt, die er eines Tages erobern würfle. Er seufzte schwer ...

„Junger Mann, det is aber nich det richtige Fenster!“ sprach Riekes helle Stimme neben ihm. Sie hatte schon eine Weile dagestanden, war seinem Blick gefolgt und hatte seinen Seufzer gehört. „Und nun kommste und siehst meine Maschine an! Ick weeß, Karl, ick bin zu spät dran, ick konnte nich anders. Se haben Vata'n jebracht, er is von der Leiter jefallen, natürlich molum! Hat sich nich ville jetan, 'ne Brüsche an de Stirn und de Hand verstaucht.“

„Das is aber schlimm, Rieke!“

„Wieso is det schlimm? Mit's Mauern wär's doch bei dem Frost jeden Tag alle jewesen, und nu ha ick den Mann doch unter Aufsicht. Die Männa, wo ihn jebracht haben, sagen ja, keena hat Vata'n zu Schnaps injeladen, nie nich. Aber det muss nich wahr sind, jegen 'ne Frau halten die Männa bei so wat immer zusammen. Na, nu ha ick Vata'n zu Haus, und nu wer ick ihn det Saufen schon wieder abjewöhnen. – Kiek, det is meine Nähmaschine.“ – Und sie zeigte auf eine ziemlich große schwere Maschine, die kaum Schmuck aufwies, ein sehr sachliches Ding für so ein junges Mädchen, dachte Karl Siebrecht.

„Die sieht aber viel zu schwer für dich aus, Rieke!“ meinte er. „Willst du nicht lieber eine leichtere nehmen? Die da links sieht doch viel hübscher aus.“

„Det is doch nischt für schwere Mantelstoffe, Karl! Na, laß man, dadervon verstehste nischt. Laß mir man machen. Komm rin, Karl. – Sage mal, det macht dir doch wirklich nischt aus, wenn ick sare, du bist mein Bruda? Karl Busch musste dir unterschreiben, vajiß nich!“

„Wenn es sein muss ... Aber vielleicht geht's auch so. Da steht ja: Ratenzahlung ganz nach Ihrem Belieben.“

„Dadruff musste nischt jeben, Karl! So wat schreiben die immer. Det is bloß, damit se eenen erst in den Laden kriegen, und denn reden se eenen doof und dußlig. Aba laß se, mir sollen se nich for dumm verkoofen.“

Das Weihnachtsgeschäft schien weder in Nähmaschinen noch in Fahrrädern sehr lebhaft zu sein. Rieke Busch und Karl Siebrecht, nein, jetzt Karl Busch, waren die einzigen Kunden und wurden sofort bedient von Herrn Hagedorn und von seiner Frau, einer kleinen, dicken Alten. „Diese Nähmaschine? Aber Frollein haben einen Blick, die beste Maschine, die ich auf Lager habe! Echt englisches Fabrikat, durch und durch englisch! Unter uns, Fräulein, die deutschenMaschinen taugen alle nichts! Aber das wissen Sie besser als ich! Nicht wahr, Mieze, das Fräulein hat den Blick –?“ Frau Mieze Hagedorn sah Rieke nur noch mürrischer an. „Aber nun, Mieze, zeig dem Fräulein mal die Bedienung!“ Er schob seine Frau schon wieder weg. „Das ist das Schiffchen. Frollein, sehen Sie das Schiffchen? Echt englisch! Rundschiffchen! Nicht die Langschiffchen wie bei den deutschen Maschinen! Und wenn Sie nun spulen wollen – Mieze, zeig dem Frollein doch das Spulen –!“

„Det weeß ick allens alleene“, sagte Rieke unerschüttert. „Reden Se sich bloß nich in Brand, Männecken. Wat soll denn die Maschine kosten?“

„Ach, kein Geld, kein Geld! Echt englisch, Sie müssen das bedenken, Frollein, die Zölle! Die Zölle fressen einen ja auf! Eine deutsche Maschine wie die da ist natürlich zwanzig Taler billiger! Mieze, rück doch mal die andere Maschine vor!“

„Lassen Se man, junge Frau, ick weeß schon, wat ick haben will. Wat soll die Maschine kosten? Nu mal ernsthaft!“

„Aber versuchen Sie doch mal, Frollein! Hören Sie bloß mal den Unterschied! Wie laut die näht – da hören Sie gar nichts bei der Engländerin! Mieze, hol doch mal ein Stück Stoff, das Frollein möchte Probe nähen!“

„Se sollen mir saren, wat die Maschine kostet, oder ick jehe bei die Konkurrenz!“ Rieke hatte sehr entschlossen gesprochen, sie ging schon auf die Ladentür zu.

„Geschenkt!“ rief Hagedorn eilig. „Ich verschenk die Maschine, so wahr ich hier stehe, Frollein! Neunzig Taler, weil Sie es sind, Frollein! Es ist meine letzte englische Maschine, ich sollte sie gar nicht weggeben –“

„Neunzig Taler!“ rief Rieke. „Denken Se, ick bin Ihr Affe? Zu meina Mutta –“ triumphierender Blick auf Karl Siebrecht – „haben Se am Montag gesagt, se kostet zweihundertfuffzig! Und nu neunzig Taler! Se denken wohl, ick bin ein Kind, det Se schaukeln können?“

„Aber, Frollein, Frollein!“ Herr Hagedorn war ganz entsetzt. „Hier muss unbedingt ein falscher Irrtum vorliegen! Die Maschine hat immer neunzig Taler gekostet. Ich kann Ihnen Rechnungen zeigen ...“

„Nu zeijen Se doch!“ lachte Rieke ganz ungerührt. „Zweihundertfuffzig, und denn uff Raten, hundert an und der Rest fünf Mark de Woche.“

„Und dann noch auf Raten!“ rief Herr Hagedorn. „Nein, an dem Geschäft verlier ich nur –“

„Also denn juten Abend!“ sagte Rieke entschlossen und faßte nach der Klinke der Ladentür. „Denn jeh ick ebent zur Konkurrenz! Komm, Karle!“

„Einen Augenblick, Fräulein!“ rief plötzlich die dicke kleine Frau Hagedorn. Sie wandte sich zu ihrem Mann und flüsterte eilig mit ihm. Er schien zu widersprechen, die Frau überredete, schalt dann ...

„Du, die hat was vor“, flüsterte Siebrecht zur Rieke. „Wollen wir nicht doch lieber zu einem andern gehen?“

„Wat soll die denn vorhaben? Hauptsache, ick krieje die Maschine so, wie ick se will!“

Frau Hagedorn hatte gesiegt. Sie hatte einen engbedruckten Bogen mit dem Abzahlungsvertrag vor sich hingelegt und sagte mürrisch: „Also meinetwegen, Fräulein, wir wollen mal 'ne Ausnahme machen. Was ist denn Ihr Vater?“

„Maurer.“

Klagend rief Herr Hagedorn: „Das ist auch kein Beruf bei dem Wetter!“

Seine Frau warf ihm einen verweisenden Blick zu und fragte weiter: „Und was ist die Mutter? Aufwartefrau? Warum kommt die denn nicht selber? So, sie ist krank, sie hat dich geschickt –?“

Wieder rief er: „Dann kann sie ja auch nicht nähen, dann hat es ja Zeit mit dem Vertrag!“

Und streng sagte sie: „Jetzt biste mal stille, Max!“ Und zu Rieke: „Ja, deine Mutter muss aber unterschreiben!“

Rieke bat fast: „Det jeht doch ooch, det ick for ihr unterschreib? Wo se's mir extra uff jetragen hat!“

„Wie alt bist du denn? Sechzehn? Du siehst aber nich wie sechzehn aus.“

„Und det is mein Bruder“, fuhr Rieke hastig fort. „Der is anjestellter Bauzeichner bei Kalubrigkeit und Co., 'ne janz jroße Firma.“

„Nie gehört!“ rief Hagedorn aus dem Hintergrund. „Diese Baufirmen verkrachen alle Tage, und denn sitzt so einer auf der Straße!“

„Stille biste!“ rief die Frau wiederum. „Also, denn unterschreiben Sie – hier Frau Busch, da Ihr Vater, der Maurer Busch.“ Und Frau Hagedorn ging vom Schreibtisch fort zu ihrem Mann.

„Rieke!“ flüsterte Karl Siebrecht flehend. „Unterschreib nicht. Laß uns gehen. Die legen uns nur rein!“

„Aba wie können die uns reinlejen, Karle?“ fragte Rieke bittend. „Wa wollen doch pünktlich bezahlen und können's doch ooch. Laß mir jetzt nich sitzen, Karle!“

„Es ist nicht richtig, Rieke“, flüsterte Karl wieder und zögerte doch schon unter ihrem flehenden Blick. „Man soll so was nicht tun, wir fallen rein!“

„Wie können wa rinfallen, Karle? Wa haben doch dein Sparbuch, wenn wirklich wat schiefjeht! Karl, blamiere mir nich for die Leute, wo ick soviel jequasselt habe!“

„Aber lesen möchte ich doch erst mal, was da gedruckt steht“, sagte Karl Siebrecht und griff nach dem Blatt.

„Lesen Sie man, junger Mann“, sagte der Händler gleichgültig. „Wegen Ihnen drucke ich doch keine andern Bedingungen im Abzahlungsgeschäft.“

„Hör mal zu!“ rief Karl Siebrecht aufgeregt. „Da steht, Rieke, dass die Maschine sofort zurückgeht, wenn wir eine Wochenrate im Rückstand bleiben, und dass dann auch alles bereits Bezahlte verfällt.“

„Das ist so üblich“, sagte Herr Hagedorn plötzlich wieder eifrig. „Das unterschreiben alle, das muss auch so sein! Ich kriege doch keine neue Maschine zurück. Und Sie wollen die Raten doch pünktlich zahlen, da kann Ihnen so 'ne Bedingung doch ganz egal sein.“

„Natürlich!“ sagte Rieke und schrieb schon. Halt! hatte Karl Siebrecht noch einmal rufen wollen, aber es war schon zu spät. Zögernd stand er da, den Halter in der Hand, eine Unruhe in der Brust warnte ihn. Aber da war der flehende Blick seiner kleinen Freundin, ihr felsenfestes Vertrauen auf ihn, er würde sie nie steckenlassen. Karl Siebrecht schrieb, er schrieb: Karl Busch.

„Wir hätten nicht unterschreiben sollen“, sagte er gleich darauf wieder, sie hatten kaum den Laden verlassen. „Es war dumm von uns!“

„Ach wat!“ lachte Rieke vergnügt. „Mir kleid't dumm, Karle, det weeßte doch. Die Hauptsache: ick hab meine Maschine!“

17. Der Laufbursche

Pünktlich am nächsten Vormittag war die Nähmaschine im dritten Hof der Wiesenstraße eingetroffen, und keine Viertelstunde, so saß Rieke an der Maschine und nähte probeweise darauflos. Erst behutsam, dann, mit leicht sich rötenden Wangen, immer schneller, immer mutiger. Oh, sie hatte nicht aus Prahlerei zu Karl Siebrecht gesagt, dass sie Maschinenähen konnte, sie konnte es wirklich! Nicht umsonst hatte sie auf ihren Aufwartestellen die Augen offengehalten: sie hatte mancher Hausfrau vieles abgesehen. Rieke trat schneller und schneller, ihre Augen blitzten. Der alte Busch, der, die verstauchte Hand in einer Binde, stumpf am Fenster saß, sah verwirrt herüber. Er schloß die Augen, schüttelte den Kopf, als störe ihn dies Geräusch, und sah wieder herüber. „Wat, Vata, det bringt Leben in de Bude!“ lachte Rieke triumphierend, und Herr Hagedorn war nun schon ganz vergessen. Tilda stand neben der Maschine und sah mit strahlenden Augen dies nickelblinkende, rumpelnde, schnurrende Ungeheuer. „Wat, Tildecken, det macht sich!“ lachte Rieke wieder. „Und det erste, wat ick nu richtig nähe, Tilda, det is 'n Wintermantel for dir aus Tante Berthas Kleid. Wat sagste nu –?“

Rieke tritt und näht, sie näht alte Lumpen, eine Naht rauf, eine runter, die Maschine näht wirklich wie Puppe. Und das Rumpeln der Maschine breitet sich aus in dem Hinterhaus an der Wiesenstraße. Überwohner und Unterwohner horchen auf das ungewohnte Geräusch aus der Buschschen Wohnung, die Nachbarn legen das Ohr an die Wand ... Nicht lange, so klopft die erste an die Tür: „Det war mir doch so wunderlich, Rieke, ick dachte schon, hier is wat passiert, weil det so rumpelt! Aber det du nu 'ne Maschine hast mit deine vierzehn Jahre! Ick bin elf Jahre verheiratet und hab noch immer keene! Immer, wenn ick dachte, nu is et soweit, nu haben wa de Kröten zusammen, denn kam wieda wat Kleenet und neese waren wa.“ Andere Nachbarinnen folgten, bald stand ein dichter Haufe Frauen bei Buschens in der Küche. Und die Kunde breitete sich im ganzen Haus aus, vom ersten Hof kam die Brommen, und aus dem Vorderhaus sogar die Frau des Vizewirts Spaniel, von der die Sage ging, sie trage nur seidene Wäsche. Rieke erlebte den stolzesten Tag ihres Lebens, sie wurde angestaunt, gelobt und bewundert. Und wenn sie auch mit ihrem nüchternen Menschenverstand gut wußte, wieviel Neid sich hinter all diesen rühmenden Worten verbarg, so tut Lob eben doch wohl, auch wenn's nicht ganz ehrlich gemeint ist.

Der alte Busch wurde unruhig von all den Frauen und ihrem Geschwätz. Er suchte nach seiner Mütze und verschwand, aber heute hinderte ihn Rieke nicht. Sie hätte ihm sogar noch eine Mark zugesteckt, wenn er darum gefragt hätte. Nimmermüde führte sie die Maschine vor, erklärte die Vorzüge des Rundschiffchens vor dem Langschiffchen, und wurde dabei immer rotbackiger und aufgeräumter. So fand sie Karl Siebrecht, als er von seiner Zeichenstube nach Hause kam. Die letzte Besucherin hatte sich verlaufen, und Rieke saß, schachmatt, aber selig, vor ihrer Maschine. „Karle“, sagte sie und kam ihm langsam entgegen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern. „Karle, det is mein schönster Tag! Die Maschine is da, und alle haben se mir bewundert, Karle, heute bin ick janz glücklich ...“

„Das ist großartig, Rieke! Ich freu mich auch, über dich!“

„Ja, Karle, und det det so jeworden is, daran bist alleene du schuld. Seit ick dir in eure Kleinbahn sah – weeßte noch die ulkichte Nudel mit ihre Notbremse? –, seitdem jeht det jut bei uns!“

„Ach, Rieke, rede nicht! Was habe ich wohl mit der Maschine zu tun?! Die hättest du auch ohne mich angeschafft! War übrigens der Hagedorn selber hier?“

„Och!“

„Und ging alles glatt? Hat er nicht nach deiner Mutter gefragt?“

„Ach der! Der kann ville fragen – for den weeß ick imma 'ne Antwort. – Nee, Karle, red nich, ohne dir war det mit de Maschine nischt jeworden. Es ist nich bloß von wejen deinem Kostjelde, trotzdem det ville hilft. Nee, nich bloß darum. Es is von wejen die Kurage – seit ick dir kenne, ha ick 'ne janz andere Kurage im Leibe. Det is et.“

„Ach, Rieke, das beruht ganz auf Gegenseitigkeit! Ich freue mich immer auf dich, wenn ich abends nach Hause gehe.“

„Tust du det, Karl? Wirklich? Det is fein, det hätt ick nie von mir jedacht! Ick bin doch bloß 'ne unjebildete Berliner Krabbe aus 'm Wedding, aber det is jut. Det macht mir Laune! – Und nu hör zu, Karl“, ohne weiteres ging Rieke Busch von den Gefühlen zur praktischen Seite des Lebens über, „ick wollt ja eijentlich erst zu Neujahr mit die Näherei for Feltens in de Jerusalemer Straße anfangen, aber ick habe mir det anders übalegt. Det sind noch elf Tage – wat soll ick de neue Maschine unjebraucht stehenlassen? Ick mache schon morgen bei Feltens, und wenn de Zeit hast, denn kommste mit. Det is ne janze Wucht Stoffe, die ick da kriege, die schaff ick nich alleene. Wenn de mir die buckeln hilfst, Karle, det soll mir ooch uff 'ne Molle nich ankommen, junger Mann!“

„Natürlich, Rieke, helf ich dir, und die Molle spendiere lieber dem Vater. Wo ist er denn? Schon wieder weg? Vater wird immer geheimnisvoller, um den müssen wir uns mal kümmern.“

„Recht haste, Karl, man müßte bloß mehr Zeit haben. Also morjen zittan wa bei Feltens.“

Und so zitterten sie denn am nächsten Tage wirklich zu Feltens. Karl Siebrecht entdeckte, dass auch bei dieser Firma schon alles auf eine Frau Friederike Busch vorbereitet war, aber zur Beruhigung seines Gewissens brauche er hier nichts zu bestätigen, er musste auch nicht den großen Bruder spielen. Nur als sich die Haufen zugeschnittener Mantelteile immer höher vor Rieke auftürmten, meinte Herr Feiten unzufrieden: „Deine Mutter hätte auch gut mitkommen können, Kleine. Das schafft ihr beide nicht – ihr schmeißt mir die Stoffe bloß in den Schneematsch!“

„Det schaffen wa alles, Herr Feiten“, antwortete Rieke ungerührt. „Wat denken Se, wat ick for Kräfte habe! Und mein Freund erst – der is nämlich uff 'n Zeichenbüro. Bauzeichner ist der –“ Nun ist allerdings nirgendwo bekannt, dass Bauzeichner über sonderliche Kräfte verfügen müßten, aber so frei Rieke von jeder Eitelkeit für die eigene Person war, so stolz war sie auf ihren Freund. Sie harrte das übrigens gleich wieder vergessen, sie stürzte sich in einen zornigen Streit mit Herrn Felten, der ihrer Ansicht nach nicht genug Nähgarn herausgeben wollte. „Det jibt et nich, Herr Felten!“ rief sie schrill. „Mir können Se nich belackmeiern! Drei Rollen Garn uff fuffzehn Mäntel?! Bei Sie piept's wohl?! Uff zehn Mäntel drei Rollen, und det is schon wenig, manche geben ooch vier Rollen uff zehn Stück!“

„Das hier sind aber alles Kindermäntel!“

„Als wenn ick det nich wüßte! Jlooben Sie, Sie haben alleene Oogen int Jesichte?! So blau! Nu her mit's Jarn, Männecken, noch zehn Rollen, sare ick ...“

Zu Anfang waren Karl Siebrecht solche Auseinandersetzungen seiner Rieke recht peinlich gewesen. Er war mit einem gewissen Feinheitstick aus seiner Kleinstadt nach Berlin gekommen, aber er hatte rasch begriffen, dass, was in der Kleinstadt galt, hier noch lange nicht genügte. In Berlin musste man schimpfen können, wer da dachte, mit flüsternder Vornehmheit sich zu behaupten, der lag schon unter dem Schlitten. Eine beliebte Redensart Riekes war es, dass fein von dünn kommt und: dünn toogt nischt, dünn reißt imma! So hörte Karl Siebrecht jetzt auch den Streit zwischen Rieke und Herrn Felten mit stillem Vergnügen an, fest davon überzeugt, seine kleine Freundin werde schon zu ihrem Recht kommen. So wurde es auch. Herr Feiten legte zwar keine zehn, aber er legte doch sechs Rollen zu. Beide grollten leise nach, und doch war beiden anzumerken, dass sie nicht unzufrieden waren und dass keines dem anderen böse war. Nur als die Stoffberge nun in zwei große schwarze Schneidertücher eingeschlagen waren, als Rieke und Karl sie auf den Rücken nehmen wollten, erwies sich, dass hier Herr Feiten recht gehabt hatte: die Last war zu schwer. „Ich habe es ja gleich gesagt“, meinte Herr Felten, überlegen lächelnd, „ihr schafft das nicht; ihr hättet eben die Mutter mitbringen sollen!“ Er war aber durch seinen Sieg gnädig gestimmt. „Dann soll euch für diesmal der Laufbursche die Mäntel mit dem Lieferrad hinfahren – aber nur diesmal, verstanden? Ausnahmsweise! Sonst ist Abholen und Bringen eure Sache!“

„Vasteht sich, Herr Chef!“

„Franz!“ schrie Herr Felten. „Franz, komm mal her!“ Aber kein Franz rührte sich in den dunklen Tuchgewölben. „Wo der Bengel bloß mal wieder steckt?! Der schläft auch ewig! Ich will doch mal sehen –“ Herr Felten ging auf sachten Sohlen in die immer tiefere Dunkelheit zwischen den düsteren Stoffregalen, und auf sachten Sohlen folgten ihm Rieke und Karl Siebrecht. Leise öffnete der Chef die Tür zu einem Verschlag, und da lag nun, matt von einem nur halb vorhandenen Gasglühstrumpf beleuchtet, der Botenjunge der Firma Felten. Aus Stoffballen, aus dem schönsten Aachener Samt, hatte er sich eine Lagerstätte bereitet, da schlief er, sanft und selig, in allem Dreck und Speck seiner völlig ungewaschenen siebzehn Jahre, aber wahrhaft fürstlich zugedeckt, wiederum mit Aachener Samt. Herr Felten war so erschrocken, dass ihm die Arme sanken. „Mein schöner Samt“, flüsterte er. „Zehn Mark der Meter – und dieser Schweinekerl legt sich ...“

Zum Schaden des Schläfers verwendet man in der Konfektion noch Maßstäbe, die aus hartem Holz geschnitten und auf einen Meter geeicht sind. Der Gedanke an den hohen Preis seines Aachener Samts hatte die Arme des Herrn Felten elektrisch belebt, ein Meterstock war zu Hand gewesen und fing schon an zu tanzen. Mit einem Schrei fuhr der Junge von seinem Samtlager hoch und begann zu springen unter dem Stock, der auch sprang. „Herr Felten, lassen Sie das!“ jammerte er. „Herr Felten, ich bitte Sie! Herr Felten, mir war so kalt! Herr Felten, ich lasse mir das nicht gefallen!“

Aber der Stock tanzte unbarmherzig weiter, und in dem engen Käfterchen gab es kein Entrinnen für den Jungen. „Zehn Mark –“ stöhnte Herr Felten. „Warte, Franz, dir will ich schon heiß machen! Bei mir sollst du nicht frieren! Zehn Mark, und legt sich mit seinen dreckigen Schuhen darauf –“ Die letzte Erwägung verlieh Herrn Feltens Armen besondere Kraft, der Stoff pfiff nur so durch die Luft, der Junge stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Mit der Kraft der Verzweiflung rannte er gegen seinen Peiniger an. Der kam ins Wanken, und zwischen Karl und Rieke entsprang der Knabe Franz in das weitläufige, düstere Lager. „Verfluchter Bengel, warte nur!“ rief Herr Felten und sprang ihm, den Stock fester packend, nach.

Aber jetzt half ihm der Stock nichts gegen die schnelleren Beine des Jungen. Eilig huschte der um die Regale, die ungeschickten Schläge fielen nur auf Holz, nie auf Fleisch, und während Herr Felten, immer knapper an Atem, nur noch leise ein „Zehn Mark –“ ächzte, schrie der Bengel ihm immer gellender seine Beschimpfungen ins Gesicht: „Sie alter Aasvogel, Sie! Sie Kinderausbeuter! Sie Blutsauger! Sie können mich –! Ich mach hier überhaupt Schluß! Machen Sie Ihren dreckigen Laden alleine! Ich zeige Sie auf dem Gewerbeamt an! Sie Stoffschinder! Sie alter Samthengst, Sie!“ Rieke und Karl Siebrecht hielten sich die Seiten vor Lachen. Denn nun war der Knabe darauf geraten, im Vorbeilaufen Stoffballen um Stoffballen aus den Regalen zu reißen. Dumpf polternd fielen sie zu Boden, sie wirbelten Staub auf, der den matten Schein der spärlichen Gaslampen verdüsterte. Manche entfalteten sich, sie legten sich um die Füße des nachstolpernden Felten, der nur noch leise jammern konnte. „Das will ich dir zeigen, du alter Papageienvogel!“ schrie triumphierend der Bengel. Er stemmte seine Schulter gegen ein Regal, es neigte sich – und dumpf polternd stürzte es. Aus einer alles verhüllenden Staubwolke, die sich über dem Kampfplatz erhob, tönte die klägliche Stimme des Chefs: „Höre auf, Franz! Bitte, höre auf! Ich will dich auch bestimmt nicht mehr schlagen –“

„So, willst du das nicht mehr?“ schrie schrill der Botenjunge. „Sei froh, wenn ich dich nicht schlage! Willst du mir meine Papiere geben, du alter Lohndrücker, du?! Du vertrocknete Maßelle, du!“

„Ja, ja! Bitte, Franz, schmeiß nicht noch mehr um!“

„Und willst du mir meinen vollen Wochenlohn geben? Zwölf Mark!“

„Franz, das geht nicht! Das ist Erpressung! Heute ist erst Donnerstag! Sechs Mark will ich dir geben – oh, du liebes Jesuskind im Himmel! Da schmeißt er schon wieder ein Regal um!“

Donnergepolter ertönte, der Staub verdichtete sich, kläglich schrie Felten: „Ja, ja, Franz! Du sollst zwölf Mark haben! Höre nur endlich auf!“

„Aber in drei Minuten, Chef“, klang drohend die Stimme aus der Staubsäule, „sonst fliegt wieder was hin!“

„Ja, ja doch, Franz, laß mich doch nur suchen! Man sieht ja nichts vor Staub!“ Sie hörten den Felten niesen, röcheln, husten, stöhnen, mit Papier rascheln. Auch sie husteten, rieben sich die Augen. Ein kalter, frischer Windzug fuhr in den Staub: Franz hatte die Ausgangstür aufgestoßen, um sich einen raschen Abgang zu sichern. Aus der sich senkenden Wolke tauchten zuerst die Häupter der Kämpfer auf, mit zerrauften Haaren, die Gesichter mit Staub und Schweiß verklebt. „Hier sind deine Papiere und dein Geld, Franz“, rief sanft der Chef und wedelte damit.

„Und was haben Sie in der anderen Hand? Die Elle! Du falscher Hund, du!“ schrie der Botenjunge. „Gleich legen Sie alles auf den Tisch – und nun gehen Sie ganz zurück, zu den beiden Hübschen da, sonst donnert's noch einmal! So ist es recht, Chef, immer hübsch artig!“ Der Junge nahm Geld und Papiere, sah sie flüchtig an. „Siehste, wie hübsch das geht, Chef!“ rief er noch. Er warf sich mit aller Kraft gegen ein Regal. Der Donner des Sturzes mischte sich mit einem Klageseufzer von Herrn Felten. Laut schlug die Ausgangstür zu: der Junge war entflohen.

„Da gibt es gar nichts zu lachen!“ sagte Herr Felten verdrossen. „Den Bengel zeige ich bei der Polizei an! Den mache ich haftbar! Na, hört schon auf zu lachen, faßt lieber an beim Aufräumen. Lieber Gott, wie sieht mein schönes Lager aus –“ Und zu diesem Seufzer hatte Herr Felten wirklich alle Veranlassung, das Lager sah aus, als hätten Räuber darin gehaust. Ganz unmöglich schien es, dass ein einzelner Junge in fünf Minuten eine derartige Verwüstung hatte herbeiführen können. „Na, nun faßt doch an!“ sagte Herr Felten ungeduldig. „Fangt an, die Ballen aufzuwickeln. Und bürstet die Stoffe vorher gut ab – hier sind Bürsten –“

„Hören Se mal, Herr Felten“, sagte Rieke, „Sie sind ja komisch! Wat jeht denn uns Ihr Lager an? Sind wir Ihre Anjestellten? Sie schnauzen uns hier an ...“

„Ich habe euch doch nicht angeschnauzt! Ich habe euch bloß gebeten, mir zu helfen –“

„Jebeten? Ick höre imma jebeten. Hast du wat von jebeten jehört, Karl?“

„Kein Gedanke! Angeschnauzt haben Sie uns, Herr Felten! Komm, Rieke, wir gehen nach Haus!“

„Aber nun seid doch nicht so“, bat Herr Felten nun wirklich flehentlich. „Ihr könnt mich doch nicht so sitzenlassen! Das dauert doch Stunden, bis ich das allein aufgeräumt kriege! Ich will euch ja gerne was geben!“

„'nen Taler für jeden!“ sagte Rieke rasch. „Det ist jemacht!“

„I wo, Rieke!“ rief Karl Siebrecht. „Fünf Mark für jeden – und das ist noch billig, was, Herr Felten? Wo wollen Sie denn jetzt am späten Abend noch Leute herkriegen?“ Karl Siebrecht fand, er musste nun auch anfangen, ein bißchen geschäftstüchtig zu werden, sich auf Berlin umzustellen. Rieke sollte ihm doch nicht in allem Praktischen überlegen sein!

Sie sprang ihm auch sofort bei. „Recht haste, Karl!“ rief sie. „Fünf Mark für jeden, det is noch billig, Herr Chef. Und denn überhaupt, wo mein Freund Bauzeichner is, der macht doch so 'ne Arbeit sonst überhaupt nich.“ Und nach einigem Zappeln und vielem Stöhnen willigte Herr Felten denn auch schließlich in den Preis. Eine Weile arbeiteten die drei fast schweigend, nur die kummervollen Seufzer des Herrn Felten unterbrachen von Zeit zu Zeit die Stille. Als wieder ein besonders schwerer Seufzer im Lager erklang, sagte Rieke: „Der kam aber von't Herze, Herr Felten.“

„Der verfluchte Bengel!“ seufzte Herr Felten nun laut. „Mich gerade zum Fest sitzenzulassen! Wo kriege ich jetzt einen Laufjungen her?“

„Daran hätten Se denken müssen, ehe Se den Stock in de Hand nahmen, Herr Felten“, sagte Rieke weise.

„Und der Dreckfink soll seine Füße ungestraft an meinem schönen Samt abwischen dürfen! Zehn Mark kostet mich der Meter!“

„Det wissen wa nu, Herr Felten. Aba wer woll am meisten jestraft is, Sie oder er?“ Felten seufzte nur.

Karl Siebrecht aber meinte: „Wenn Sie einen Handkarren hier haben, will ich unsere Stoffe schon nach Haus fahren, Herr Felten. Ich bringe den Karren dann morgen früh zurück, ehe ich aufs Büro gehe.“

„Es ist ein Dreirad“, seufzte Herr Felten. Und nach einigem Überlegen: „Sagen Sie mal, was sind Sie? Bauzeichner? Wann machen Sie denn da Schluß?“

„Meistens um fünf. Wieso?“

„Vielleicht sind Sie zu fein dazu – die jungen Leute sind ja alle zu fein heute fürs Geldverdienen –, aber wenn Sie dann abends noch drei, vier Stunden kämen und lieferten mir die Ware ab? Bloß, bis ich einen anderen Jungen habe?“

„Wat meenste?“ fragte Rieke.

„Was würden Sie denn dafür ausgeben?“ erkundigte sich Karl Siebrecht. „Na, fünf Mark habe ich gedacht.“

„Fünf Mark den Abend, det is nich schlecht! Det würde ick mir überlegen, Karl!“

„Den Abend! Bin ich denn wahnsinnig? Die Woche meine ich natürlich!“

„Das ist ja ein feines Geschäft, was Sie mir da vorschlagen, Herr Felten“, sagte Karl Siebrecht. „Ich mache Ihnen nach Feierabend die Arbeit von Ihrem Botenjungen, und statt zwölf Mark geben Sie mir fünf. Danke schön.“

„Recht haste, Karl!“

„Aber der Junge war zehn Stunden hier!“

„Reden wir nicht mehr davon, Herr Felten!“

„Ich meine doch nur, der Junge hat hier zehn Stunden gearbeitet und Sie –“

„Wir reden nicht mehr davon, Herr Felten!“

„Ich meine doch nur ...“

„Wo mein Freund Bauzeichna is – der verdirbt sich bloß seine Hände!“

„Wir reden nicht mehr davon, Rieke.“ – Nachdem sie noch eine Viertelstunde davon geredet hatten, war Herr Felten erledigt: für einen Wochenlohn von zwanzig Mark wurde Karl Siebrecht der Aushilfslaufbursche der Firma Felten.

„Paß uff, Karle“, sagte Rieke bei ihrem späten Heimweg. Sie ging eilig neben ihm, der ihre Mäntel auf einem Dreirad beförderte. „Paß uff, Karle, nu vadienen wa Jeld wie Heu!“

„Beruf es bloß nicht, Rieke“, sagte er warnend, aber auch er war zufrieden und stolz. Er hatte das Gefühl, als hätte er nun den Fuß auf die unterste Leitersprosse gesetzt. Hinauf, hinauf auf die Stadtmauer von Berlin!

18. Ein Zwischenfall im Zeichenbüro

Manchmal bedauerte es Rieke in der nächsten Zeit doch, dass sie sich ihre Näherei nicht durch einen Zwischenmeister hatte zuteilen lassen: man hätte sich da um ihre Arbeit gekümmert und ihr mit Rat und Tat beigestanden. So saß sie mitunter fast verzweifelt vor ihrer Näherei und wußte nicht aus noch ein. Dann ergriff sie eine panische Angst, ihre Arbeit könne wegen Pfuscherei zurückgewiesen werden und sie müßte dann all diese Stoffe ersetzen. Sie hatte schon immer wenig geschlafen, jetzt schlief sie fast gar nicht mehr, und auch durch dieses bißchen Schlaf spukten noch Abnäher, Kellerfalten und aufgesetzte Taschen. Aber Rieke biß die Zähne zusammen und sagte sich: Det hilft nu allens nischt mehr. Durch musste! Mir von dem alten Felten ankotzen lassen? So blau! Und sie bezog Posten vor dem Feltenschen Hause – die Aufsicht über den alten Busch kam mal wieder zu kurz –, paßte dort einer Schneiderin auf, die ablieferte, und heftete sich an ihre Sohlen. Sie schob mal wieder die kranke Mutter vor, für die sie um Rat fragen müßte, und erreichte, dass sie mit auf die fremde Schneiderstube genommen wurde. Sie war dort still und bescheiden, oh, wie gut konnte Rieke den Mund halten, wenn es nötig war! Sie machte sich enorm nützlich, und dabei hielt sie ihre Augen offen: ihr entging nichts. Es kostete sie zwei volle Arbeitstage, aber in diesen zwei Tagen lernte sie mehr, als manche andere in zwei Monaten gelernt hätte. Hinter Rieke Busch stand ein ehernes Muss. Die Schneiderin, eine ältliche, sonst nicht gerade süße Person, sagte zu ihr beim Abschied: „Na, Rieke, und wenn de wieder nich Bescheid weeßt, denn fragste mir direkt – det olle Hintenherum mag ich uff den Tod nich ausstehen!“

Rieke Busch machte ihren allerschönsten Schulmädchenknicks und sagte: „Denn dank ick ooch schön, Fräulein Zappow!“

„Und mit dem Bügeln von die schweren Stoffe kommste doch nich zurecht, Rieke“, fuhr Fräulein Zappow kategorisch fort. „Det is nischt for dir. Wenn de mit deine Arbeit soweit bist, denn schick ich dir meinen Bügler. Der is nich teuer, der macht dir det so, det kein Jemecker bei Felten is.“

Wieder ein tiefer Knicks, wieder ein: „Denn dank ich ooch schön, Fräulein Zappow!“

„Noch billiger kommste“, sagte Fräulein Zappow, milde gestimmt durch soviel Dankbarkeit, „wenn de 'nen Mann im Haus hast, dem kann mein Bügler det zeigen. Det lernt jeder. Haste nich noch 'nen Vater? Mir war doch so.“

„Mit Vata is for so wat nischt los, danke ooch schön, Fräulein Zappow. Aba vielleicht lernt's mein Freund ...“

„Wat, 'nen Freund haste ooch schon in deinen Jahren – ick muss saren, ihr Mächen vom Wedding –!“

„Doch nich so, Fräulein Zappow! Wat ick bin, for mir broochte de Liebe nich erfunden sein! Nee; det is so eener, mehr wie 'n Bruda, vastehn Se, Fräulein Zappow?“ Aber auf der Treppe schon steckte Rieke der Zappowschen Tür die Zunge heraus. Du olle Zieje, sagte sie bei sich, von deinetwejen hätt ick die beiden Tage bloß Knopflöcher nähen dürfen! Wenn ick und wäre nich so uff 'n Kien jewesen ... Und Rieke kehrte mit neuem Mut zu ihrer Näherei zurück.

Während seine kleine Freundin sich so mit mancherlei Sorgen plagte, von denen sie doch nie ein Wort – auch zu ihm nicht – laut werden ließ, freute sich Karl Siebrecht seiner Doppelverdiener-Existenz. Nach der süßlich lauen Luft der Zeichenstube in das abendlich lichterhellte Berlin sich zu stürzen, im Trab in die Jerusalemer Straße zu laufen, das schwere Dreirad zu holen, die vielen gewichtigen Pakete und Packen mit Konfektionsware aufzuladen, das war eine Wonne! Dann spürte er weder Hunger noch Kälte, Schnee mochte treiben, der Winterwind um die Ecke pfeifen: gewaltig klingend fuhr er los. Warm wurde ihm dabei, er hätte auch in Hemdsärmeln fahren können, das machte ihm gar nichts aus. Bloß kein Stubenhocker werden, dachte er. Und wenn er spät am Abend, meist schon in der Nacht, zu Rieke kam – sie hatte ihm seine Stullen hingestellt und saß noch immer bei ihrer Näherei –, dann sagte er wohl, eifrig kauend: „Dass du das aushältst, Rieke! Immer in der Stube hocken!“

„Im Winta?“ fragte sie dagegen, echtes Großstadtkind, das sie war. „Da verderbe ick mir doch draußen bloß mein Zeug. Det spart – in de Stube sitzen. Det wirste schon sehen, wie lange deine Klamotten halten, Karl, jetzt wo de alle Tage uff de Straße liegst.“

„Ach was“, lachte er. „Das tut gerade gut, sich ordentlich durchpusten zu lassen. Und wenn die Kleider hinüber sind, gibt's neue, ich verdiene ja genug Geld!“

„Jetzt noch“, sagte sie warnend. „Hat denn der Felten noch imma keenen neuen Jungen?“

„Ach, der! Der ist, glaube ich, mit mir so zufrieden, dass er gar nicht mehr nach einem neuen sucht. Nicht mal gejammert hat er, als er mir meine zwanzig Mark ausgezahlt hat!“

„Und wie is det uff de Zeichenstube?“

„Auch im Lot, Rieke! Alles im Lot! Beim Oberingenieur bin ich Hahn im Korbe. Da sitze ich fest, auf der Zeichenstube kann ich hundert Jahre alt werden.“

Ach, der ahnungslose Knabe Karl! Wohl hatte er bei Rektor Tietböhl die Schillersche Ballade vom Ring des Polykrates auswendig lernen müssen, aber die richtige Nutzanwendung dazu, das Inwendige gewissermaßen, musste ihm erst ein besserer Lehrer beibringen: das Leben selbst. Hundert Jahre sicherer Sitz in der Zeichenstube? Dieser ahnungslose Knabe – keine hundert Stunden saß er mehr sicher ... Denn gegen Mittag des nächsten Tages öffnete sich die Tür der Zeichenstube, und herein trat, an der Spitze einer Kommission, die er herumführte in seinem ausgedehnten Betriebe – herein also trat Herr Kalubrigkeit selbst, kurz, fett, schwärzlich, wiederum in einem Gehpelz, aber in einem noch viel feineren als damals auf der Baustelle, das sah Karl Siebrecht sofort. Karl Siebrecht trat in den Schatten eines großen Schrankes, Herr Kalubrigkeit machte eine umfassende, doch unsichere Geste durch den ganzen Raum: „Herr Oberbaurat! Meine Herren! Das sind nu alles meine Malersch!“ Er schwieg, schielte unsicher auf das nächste Reißbrett, sah hastig weg und schwieg weiter. In der Gruppe, der er sich nun wieder zuwandte, wurde einiges gemurmelt. „Na ja“, sagte Herr Kalubrigkeit. „Da ist ja wirklich nicht viel zu sehen. Das ist ja immer dasselbe. Ich komme nie her. Gehen wir rauf, meine Herren, Herr Oberbaurat! Eine Treppe höher, da ist meine Finanzabteilung. Siebenundzwanzig Angestellte, die beiden Prokuristen nicht gerechnet –“

Seine Stimme verlor sich im Füßescharren der Auswanderer. Karl Siebrecht atmete auf – es wäre ihm doch nicht angenehm gewesen, hier vor allen Kollegen ... Übrigens hatte er in der Gruppe der Besucher sehr wohl den Herrn von Senden gesehen, dem hätte er gern guten Tag gesagt, aber es hatte sich wirklich nicht so gemacht. Auch die anderen Zeichner atmeten auf: je seltener der Chef kommt, um so gefürchteter ist er, um so leichter schlug jetzt wieder das Herz. Sie steckten die Köpfe zusammen, das Wort von den „Malersch“ kursierte. Einige grinsten dazu, andere waren empört, vor allem Herr Feistlein. Oberingenieur Hartleben ging unermüdlich den langen Gang auf und ab, er sorgte dafür, dass allmählich wieder Ruhe wurde. Karl Siebrecht saß schon längst an seinem Zeichentisch, die Reißschiene klapperte, mit einem sanften Schnurren glitt die Reißfeder um das Kurvenlineal. Hinter ihm, über seine Schulter, sagte der Oberingenieur Hartleben: „Das war unser Chef, Karl. Kanntest du ihn schon?“

„Doch, ich habe ihn schon mal gesehen“, antwortete der Junge, ohne hochzublicken.

„Da regen sie sich künstlich auf“, sagte der Oberingenieur immer in seinem Rücken, „weil er sie ›Malersch‹ genannt hat, wo sie doch Zeichner sind. Sie sind empört, dass er ihre Arbeit nicht richtig würdigt. Aber keiner zieht die Konsequenzen und geht. Auch ich nicht. Verstehst du das, Karl? Es müßte dich eigentlich empören.“

„Jeder hängt an seinem Brot“, sagte Karl Siebrecht und blies sanft auf die Zeichnung, damit die Tusche schneller trocknete. „Auch ich hätte gerade jetzt meinen Posten ungern verloren.“

„Wir sagen alle immer ›gerade jetzt‹, Karl! Wir sind alle feige. Wir sind ein feiges Geschlecht geworden“, rief der Oberingenieur bitter.

„Gerade hier in Berlin habe ich das nicht gefunden“, antwortete Karl Siebrecht und dachte an Rieke Busch. „Ich finde, die Leute sind hier unglaublich zäh und mutig.“

„Und hast dich doch im dunklen Schrankwinkel versteckt, Karl!“ sagte eine andere, etwas schleppende, etwas näselnde Stimme hinter ihm. „Ich habe dich wohl gesehen.“

Karl Siebrecht sprang auf. Sein Ärmel verwischte die noch nicht trockene Tusche, aber das sah er jetzt noch nicht. „Herr von Senden!“ rief er und freute sich. „Ich habe Sie auch gesehen. Ich freu mich ...“

„Siehst du, Karl, das ist hübsch von dir“, meinte der Rittmeister, „und am hübschesten finde ich es, dass man dir deine Freude deutlich am Gesicht abliest. Die sitzen oben in ihrer Finanzabteilung und essen Kaviarbrötchen, wir können ruhig ein Wort miteinander plaudern. Wie gefällt es dir denn hier? Aber zuerst muss ich wohl den Herrn Oberingenieur Hartleben fragen, wie du ihm gefällst?“

„Er macht sich, er macht sich“, sagte der Oberingenieur lächelnd. „Seinen Jahren entsprechend, leistet er genug.“

„Nun, das freut mich zu hören“, meinte der Rittmeister. „Übrigens habe ich nie daran gezweifelt.“

Er hatte sich auf Karl Siebrechts Stuhl gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen. Heute trug er zart himbeerfarbene Socken mit einem purpurnen Zwickel. Karl Siebrecht sah es sofort. Herr von Senden zog ein goldenes Zigarrettenetui aus der Tasche und bot es dem Oberingenieur, der mit einem Hinweis auf die strenge Ordnung der Zeichenstube ablehnte. Der Rittmeister aber nahm sich eine. „Ich will es riskieren“, sagte er. „Ich bin zwar nur stiller Teilhaber der Firma, sehr stiller sogar, aber immerhin ...“ Nun brannte die Zigarette, und Herr von Senden wandte sich wieder an Karl. „Übrigens dachte ich gar nicht mehr, dich hier vorzufinden. Vor ein paar Tagen hatte ich abends eine Vision von einem Jungen, der dir glich wie ein Ei dem anderen. Dein Doppelgänger saß auf einem Dreirad und schob vor sich einen wahren Berg von Paketen her. Der bist du also nun doch nicht gewesen.“

„Doch, der bin ich auch gewesen!“ sagte Karl Siebrecht und wurde ein wenig rot. Vor dem Rittmeister machte es ihm nichts aus, aber der Oberingenieur hätte es nicht zu wissen brauchen.

„War das nur so per Zufall“, fragte der Rittmeister weiter, „oder ist das eine Dauerbetätigung bei dir?“ Er sah dabei nicht Karl, er sah die Asche seiner Zigarette an. Dann stippte er sie mit einem langen rosigen Fingernagel ab.

„Vorläufig mache ich das alle Abende“, sagte der Junge.

„Wegen Geld?“ erkundigte sich der Rittmeister immer weiter.

„Auch!“ antwortete der Junge immer wortkarger. Jetzt wußte er wieder, was er an dem Rittmeister auszusetzen hatte: der Mann war ein Bohrer. Er zerfaserte alles, schließlich blieb einem gar nichts Festes mehr in den Händen.

„Aber“, fragte der Rittmeister erstaunt, „sollte sich da nicht eine etwas würdigere und einträglichere Beschäftigung für dich finden lassen? Botenjunge auf einem Dreirad! Sicher hat Herr Hartleben dann und wann Überarbeit zu vergeben, die nicht schlecht bezahlt wird – nicht wahr, Herr Hartleben?“ Der nickte.

Der Junge überlegte einen Augenblick, dann stürzte er sich kopfüber in seine Antwort. „Aber“, rief er, „ich will gar keine andere Arbeit! Die gefällt mir, das finde ich gerade so schön in Berlin, dass man hier tun und lassen kann, was man will! Dass keiner nach einem fragt! Warum ist denn das unwürdig, Botenjunge zu sein? Warum ist es würdiger, Zeichnungen zu machen? Ich versteh das nicht, und der richtige Berliner, soweit kenne ich Berlin auch schon, versteht das auch nicht. Wissen Sie, Herr Rittmeister, wie mir ein Mann das erste Trinkgeld in die Hand gedrückt hat, da habe ich gezuckt. Da hat er zu mir gesagt: ›Bist du zu fein, Geld zu verdienen? Da biste wohl auch zu fein, Brot zu essen?‹ – Sehen Sie, Herr Rittmeister, das war ein richtiger Berliner – der hat recht! Das ist das einzig Unwürdige: Brot zu essen, das man nicht verdient hat! – Verzeihen Sie, Herr Rittmeister, Sie habe ich natürlich nicht damit gemeint!“

Der Herr von Senden hatte ein wenig von seiner überlegenen Blasiertheit eingebüßt bei diesem jugendlich feurigen Ausbruch. Herr Oberingenieur Hartleben machte mit den Armen runde, beschwichtigende Bewegungen, als scheuche er ein Huhn vor sich her. Dem Jungen kamen beide Herren unsäglich komisch vor in ihrer Bestürzung – er musste lächeln. Aber das Lächeln verging ihm, als eine fette, schleppende Stimme sagte: „Ach, Schwager, würdest du nicht einen Augenblick raufkommen und ein paar Worte mit dem Oberbaurat reden? Er macht nun doch Schwierigkeiten wegen der Bauerlaubnis. Nanu, wer ist denn das?“

Der Herr Kalubrigkeit mochte vom Bauzeichnen nichts verstehen und von der ganzen Bauerei wenig. Aber Menschenkenntnis hatte er, und ein Gesicht, das er einmal gesehen hatte, vergaß er so leicht nicht wieder. Er hatte einen von Koksstaub geschwärzten Karl Siebrecht gekannt, und nun sah er einen sauber gewaschenen Jüngling mit hohem Stehkragen, aber das konnte ihn nicht einen Augenblick irreführen. „Das ist ja der Kerl aus Pankow!“ schrie Herr Kalubrigkeit, und seine Stimme wurde gellend. „Das ist ja der rote Hetzer, den ich vom Bau geschmissen habe! Das ist ja der Lump, der meinen Koks und mein Holz verschenkt, das ist der Kerl, der mir meinen Polier abspenstig machen wollte, der mir tausend Schwierigkeiten mit diesen Trockenmietern gemacht hat! – Was machen Sie denn hier –?!“ Jetzt rückte der Kalubrigkeit dem Siebrecht direkt auf den Leib, und wie es sich gehört, wurde er dabei immer intimer. „Was hast du auf meiner Zeichenstube zu suchen?! Willst du etwa meine Maler aufhetzen, du Anarchist, du –?!“

„Einen Augenblick bitte, Schwager“, ließ sich Herr von Senden vernehmen, aber seine Stimme klang nur schwach gegen das Gebrüll des Selfmademannes.

„Keinen Augenblick, Schwager! Machst du, dass du von meinem Büro kommst, du Lümmel, du?! Auf der Stelle verschwindest du, oder ich lasse dich wegen Hausfriedensbruchs einstecken! Ich zähle bis drei – und wenn du dann nicht fort bist –! Eins – zwei – drei –!“

Vor sich das unabwendliche Ende, war Karl Siebrecht ganz ruhig geworden. Er hatte nicht die geringste Ursache, sich vor irgendwem zu verkriechen. So hatte er gelassen das „drei“ abgewartet, und als ihn nun der Kalubrigkeit ansah, vor Wut fast berstend und doch schon voller Hohn, weil der Junge sich eines; Hausfriedensbruches schuldig gemacht hatte, sagte er: „Ich bin hier Bauzeichner bei Ihnen, Herr Kalubrigkeit, fest angestellt. So ganz ohne weiteres können Sie mich nun wohl doch nicht heraussetzen, glaube ich!“

„Bauzeichner!“ schrie Herr Kalubrigkeit, nun brüllte er wirklich schon wie ein wilder Ochs. „Welcher Kerl hat die Unverschämtheit gehabt, diesen Lumpen hier einzustellen?! Ich schmeiße den Kerl raus!“

„Welcher Lump“, schrie nun auch Karl Siebrecht und trat dicht an Herrn Kalubrigkeit heran, „welcher Lump hat Ihnen das Recht gegeben, mich einen Lumpen zu nennen?!“ Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, er sah sich rasch um, es war die Hand des Rittmeisters. Unwillig schüttelte er sie ab, er schrie: „Sagen Sie das noch einmal, und Sie fliegen aus Ihrer Zeichenstube heraus, Herr Kalubrigkeit!“

Angesichts solcher Bedrohung hörte Herr Kalubrigkeit sofort mit Brüllen auf. „Ich will wissen, wer diesen Menschen eingestellt hat.“

„Ich, Herr Kalubrigkeit“, sagte der Oberingenieur, aber von irgendwelchem Männermut vor Fürstenthronen war aus seinen Worten nichts zu hören. Im Gegenteil, Herr Hartleben war sehr bleich, seine Stimme schwankte, er hielt das Auge gesenkt und sah weder seinen Brotherrn noch Karl Siebrecht an. Karl Siebrecht sah das wohl, er sah auch – mit einem flüchtigen Blick – die gespannten Gesichter seiner Kollegen, die erschrocken und doch irgendwie erfreut über diese anregende Unterbrechung ihrer Arbeit wirkten. Er sah aber auch den schmissigen Herrn Feistlein, der Schritt für Schritt leise der verhandelnden Gruppe näher zog: wo der Löwe jagt, wittert die Hyäne Beute.

„Warum haben Sie den Mann eingestellt?“ fragte Herr Kalubrigkeit.

„Ich ...“ Der Oberingenieur hob nun doch das Auge und sah in der Richtung des Herrn von Senden. Aber von da kam kein Wort. Herr von Senden betrachtete nachdenklich die Asche seiner Zigarette, dann schnippte er sie mit dem langen rosigen Nagel ab.

„Nun –?“ drängte Herr Kalubrigkeit.

„Der junge Mann ist ein ganz fähiger Zeichner – für seine Jahre“, sagte der Oberingenieur, als gar keine Hilfe kam. „Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass Sie ihn schon hatten tadeln müssen, Herr Kalubrigkeit.“

„Ich habe den Bengel vom Bau geschmissen!“ schrie in einem neuen Wutanfall der Unternehmer.

„Hätte ich das gewußt, ich hätte natürlich nie –“

„Und das nennen Sie einen fähigen Zeichner, Herr Hartleben?“ rief Herr Kalubrigkeit und deutete auf das Reißbrett des Jungen. „Dies Geschmier nennen Sie wohl eine Bauzeichnung?! Ich muss mich doch sehr wundern, Herr Hartleben, darüber sprechen wir noch –“

Und wahrhaftig, was da auf dem Reißbrett von Karl Siebrecht zu sehen war, sah nicht nach einer Bauzeichnung aus. Der Jackenärmel des hochfahrenden Jungen hatte gründliche Arbeit geleistet: es war Geschmier! „Ich verstehe es nicht“, stammelte der Oberingenieur. „Er hat sonst nie –“

Auch jetzt nicht die geringste Hilfe von Herrn von Senden. Dafür sagte Herr Feistlein schneidig: „Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Herr Kalubrigkeit! Ich möchte feststellen, dass ich mehrfach die schwersten Bedenken gegen den Jungen bei Herrn Hartleben erhoben habe. Freilich ohne Gehör zu finden. Meiner Ansicht nach ist dieser Bengel faul, unfähig, vor allem aber zu Widersetzlichkeiten geneigt.“

„Und das lassen Sie sich gefallen, Herr Oberingenieur?!“ rief Karl Siebrecht dem bedrückt Dastehenden zu. „Von diesem fetten Kerl, der raucht und säuft und sich immer, wenn Sie mal fort sind, von der Arbeit drückt?! Da meutern Sie nicht –?! Und Sie sagen kein Wort, wenn der feine Herr von Senden nicht verraten will, dass Sie mich auf seine Empfehlung eingestellt haben, jawohl, nur auf Ihre Empfehlung, Herr Rittmeister!“

„O heilige Einfalt ...“ murmelte der Herr von Senden.

„Hübsche Dinge hört man da, hübsche Dinge“, meinte Kalubrigkeit. „Nun, darüber werden wir später reden, wir müssen jetzt hinauf zum Oberbaurat, Schwager. – Herr Hartleben, geben Sie diesem – Jungen seine Papiere und soviel Geld, wie er eben zu kriegen hat. In fünf Minuten ist er aus der Zeichenstube – verstanden?!“

„Jawohl, Herr Kalubrigkeit“, sprach der Oberingenieur.

Ein paar Minuten später stand Karl Siebrecht vor dem Oberingenieur. „Ich habe“, sagte er eilig, „dir auch ein Zeugnis ausgeschrieben, das ist alles, was ich noch für dich tun konnte.“

„Es tut mir leid, dass Sie soviel Unannehmlichkeiten meinetwegen haben.“

„Ach! Es geht schon in einem hin. Ich werde eben alt, mein Junge, du weißt noch nicht, was das heißt, und Herr Feistlein ist mehr nach dem Sinne unseres Chefs.“

„Der Rittmeister hätte Ihnen beispringen müssen“, sagte der Junge. „Ich hätte nie gedacht, dass er so feige ist!“

„Er will sich wohl bei seinem Schwager keine Läuse in den Pelz setzen. Der Kalubrigkeit ist eben der, der das Geld verdient. Und darum hängen wir von ihm ab und haben keinen Mut vor ihm. Das sind eben die Menschen, Karl.“

„Nein, das sind sie eben nicht!“ antwortete der Junge. „Sie sind älter und viel klüger als ich, Herr Hartleben, aber das weiß ich nun doch besser. So sind die Menschen nicht, und so können sie auch gar nicht sein. Sonst kämen nur die Lumpen hoch und trampelten die anständigen Leute unter die Füße. Ich, ich werde anders hochkommen, und wenn ich hochgekommen bin, werde ich zu meinen Leuten anders sein.“

„Ich will es dir wünschen“, sagte der Oberingenieur trübe. „Also, mach es gut, Karl, du weißt, ich werde dich vermissen. Ich habe immer gerne an deinem Zeichentisch gestanden. Viel Glück, Karl!“

„Ich danke Ihnen auch schön, Herr Oberingenieur. Und ich wünsche Ihnen auch viel Glück!“ Der Oberingenieur seufzte bloß. Die Tür des Zeichensaales schlug hinter Karl Siebrecht zu. Die hundert Jahre seines Sichersitzens waren vorüber.

19. Kalli Flau tritt auf

Schon auf dem Wege zu Felten hatte Karl Siebrecht den Entschluß gefaßt, Rieke vorläufig nichts von seiner Entlassung zu erzählen. Er würde am Morgen wie sonst losgehen und sich den Tag über nach einer neuen Arbeit umsehen. Vorläufig hatte er den Felten und mit ihm zwanzig Mark in der Woche. Dazu hatte er den ganzen Tag frei, er würde noch einen zweiten Laufburschenposten annehmen, zwanzig und zwanzig macht vierzig, dann stand er schon beinahe wie vor seiner Entlassung aus der Zeichenstube! Er kam fast zwei Stunden früher als sonst zu Felten, und das war nur gut, denn die Pakete und Ballen türmten sich dort schon. „Nun mal ein bißchen fix, Karl!“ sagte Herr Felten verdrießlich. „Auf die Dauer geht das wirklich nicht so mit den paar Abendstunden. Die Kundschaft klagt auch, dass du immer erst so spät kommst.“

„Vielleicht“, sagte Karl Siebrecht vorsichtig, „vielleicht kann ich jetzt ein paar Tage lang auch vormittags kommen, Herr Felten, wir haben im Augenblick nicht soviel zu tun.“

„Ach nein?“ sagte der Felten sehr aufmerksam, und der Junge wußte sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. „Da haben Sie dich wohl rausgesetzt?“

„Keine Spur!“ rief Karl Siebrecht. „Was Sie bloß denken, Herr Felten. Ich müßte auch erst den Oberingenieur fragen. Sicher ist noch gar nichts.“

„Soso. Na ja, denn mach mal schnell, Karl. Du musst heute mindestens viermal fahren.“

„Es würde auch eine Kleinigkeit extra kosten, wenn ich dann vormittags käme“, bohrte Karl Siebrecht weiter.

„Was, noch mehr?!“ rief Herr Felten. „Kommt gar nicht in Frage, Karl! Zwanzig Mark sind mir schon lange viel zuviel!“

„Meine Arbeit ist bestimmt zwanzig Mark wert!“

„Stimmt! Alles, was wahr ist! Aber rechnen kannst du nicht, Karl! Wenn ich mir nun einen Laufburschen für zwölf Mark nehme –“

„Was der schon tut für zwölf Mark in der Woche! Das ist doch Bruch, Herr Felten!“

„Gewiß wird er weniger tun als du, Karl. Aber der ist dann zehn, elf Stunden hier, und in der Zeit schafft er für seine zwölf Mark eben doch soviel wie du für deine zwanzig in vier Stunden! Da habe ich doch recht, Karl?“ Karl schwieg. „Na, ich will nicht so sein, Karl. Ich will dich ja auch nicht auf zwölf Mark runtersetzen, aber von der nächsten Woche an sagen wir fünfzehn, was? Ich kann doch kein Geld an dir verlieren!“

Karl Siebrecht war so verblüfft über diesen unerwarteten Ausgang seiner Forderung auf Lohnaufbesserung, dass er eine ganze Weile schwieg. Dann sagte er ärgerlich: „Tut mir leid, Herr Felten. Für weniger als zwanzig Mark arbeite ich nicht. Dann mache ich Schluß!“

„Du wirst es dir überlegen, Karl“, sagte Felten gleichmütig. „Jetzt, wo das Fest vorbei ist und wir den stillen Januar haben, gibt es Laufburschen wie Heu.“

Während Karl Siebrecht mit seinem vollen Dreirad mühselig gegen den feuchten Wind anstrampelte, musste er immer an die letzten Worte von Felten denken: der Mann hatte ja recht! Es war Januar geworden, es war nicht mehr die überhastete Weihnachtszeit. An vielen Geschäften ging die Ladenklingel nur für die Umtauschenden, faule Geschäfte, stille Zeit. Es war ein verdammt schlechter Zeitpunkt, den sich Karl Siebrecht da zum Arbeitswechsel ausgesucht hatte. Schließlich musste er in den sauren Apfel beißen und sich mit den fünfzehn Mark einverstanden erklären. Aber nein, das tat er nicht, den Gefallen tat er dem Felten nicht! In der nächsten Woche würde ihn der Mann auf zwölf Mark heruntersetzen und so immer weiter! Felten hatte es eben doch gerochen, dass auf der Zeichenstube Schluß war. Es war eine Dämlichkeit gewesen, den Mann erst auf diesen Gedanken zu bringen – aber darum willigte er doch nicht ein. Zwanzig Mark oder Schluß. Und was dann? fragte eine leicht besorgte Stimme. Ach was! Gerade als Karl Siebrecht dies „Ach was!“ dachte, kippte das Dreirad. Von Natur kippen Dreiräder, namentlich wenn sie stark belastet sind, nicht leicht. Aber das Pflaster war durch den nassen Wind von einer leichten Eisschicht überzogen, bei der Fahrt um eine Ecke war das Rad erst gerutscht, dann gegen die Bordschwelle geschlagen, an dieser Bordschwelle kippte es ...

Ach was! hatte Karl Siebrecht gerade gedacht, und laut rief er: „Da haben wir den Salat!“ Da lag er schon auf dem Bürgersteig, halb begraben unter seinen Stoffpaketen.

„Da hast du den Salat!“ antwortete ihm eine andere lachende Stimme, und jemand machte sich daran, die Pakete von ihm abzuräumen.

Sofort dachte Karl Siebrecht an den Handwagen in der Wiesenstraße und den Dieb Fritz Knill. Mit einem Ruck machte er sich frei, sprang auf die Beine und schrie: „Hände weg von meinen Paketen!“

„Sachte, sachte!“ lachte der andere. „Denkst du, ich bin so einer? Von mir aus kannst du dir deine Pakete sauer kochen!“ Sie sahen sich lachend an, im Schein der Gaslaterne, und sie gefielen sich beide vom ersten Augenblick an.

Der andere war auch ein Junge, vielleicht zwei, drei Jahre älter als Karl Siebrecht und darum auch breiter, kräftiger, wennschon kleiner. Es war ein dunkler Junge mit einem ziemlich gebräunten Gesicht. Fein war er auch nicht gerade gekleidet. Er hatte braune derbe Schuhe an, eine blaue Hose, einen blauen Sweater, unter dem ein blaues Hemd hervorschaute, und eine blaue Schirmmütze. Eigentlich sah er wie ein Matrose aus. Unwillkürlich fragte Karl Siebrecht: „Du bist wohl nicht von hier? Du bist wohl aus Hamburg?“

„Nein!“ lachte der. „Aber ich komme aus Bremen. Ich bin vom Schiff ausgerissen, verstehst du. Zuviel Schacht, und der Smutje gab mir nie was zu fressen.“

„Was ist Schacht?“ fragte Karl Siebrecht. „Und was ist ein Smutje?“

„Schacht sind Prügel, und Smutje ist der Koch“, sagte der andere schnell. „Wollen wir nun die Pakete im Dreck liegen lassen, oder wollen wir sie wieder aufladen?“

„Aufladen!“ Der Junge gefiel ihm immer besser. „Aber wir brauchen sie nicht wieder zu packen. Zehn Häuser weiter lade ich ab – das Stück schiebe ich.“

„Gemacht!“ sagte der andere, und schweigend luden die beiden auf.

„Na denn! Ich danke dir auch schön“, sagte Karl Siebrecht, als sie damit fertig waren.

„Warte! Das Stück gehe ich noch mit“, meinte der andere und half schieben.

„Na denn!“ sagte Karl Siebrecht wieder, als sie vor dem Haus angelangt waren.

„Bringst du parterre oder höher?“ fragte der Matrose, aber er war wohl nur ein Schiffsjunge.

„Zweiter Stock!“

„Dann also los!“ sagte der und belud sich mit einem Stoß Pakete.

„Ich kann dir aber nichts geben –“ musste Karl Siebrecht nun doch sagen.

„Halt doch den Rand! Hab ich dich schon um was gebeten? Ich habe gerade eine Viertelstunde Zeit.“

Und sie buckelten gemeinsam die Pakete in den zweiten Stock.

„Na denn! Danke auch schön!“ sagte Karl Siebrecht zum drittenmal, als sie wieder unten auf der Straße waren.

„Welche Gegend fährst du denn?“ wurde er nun gefragt.

„Jerusalemer Straße.“

„Genau, wo ich hin muss! Laß mich vorn auf deinem Rad sitzen! Aber kipp mich nicht in den Rinnstein!“

Der andere lachte. Ein vergnügtes, sehr lautes Lachen. Aber diesmal lachte Karl Siebrecht nicht mit, er war mißtrauisch geworden. Bedenken stiegen in ihm auf über diesen anhänglichen Begleiter. „Gemeine Kälte heute!“ sagte der, während Karl Siebrecht fleißig trat.

„Ja“, wurde ihm nur kurz geantwortet.

„Na, in der Jerusalemer werde ich erst mal einen steifen Grog genehmigen“, meinte der Seefahrer. „Da gibt's doch was, wo man einen Grog kriegen kann?“

„Weiß ich nicht. Ich trinke nie Grog“, antwortete Karl Siebrecht abweisend, aber doch ein wenig erleichtert. Denn wenn der sich noch Grog spendieren konnte ...

„Ich bin nämlich ein großer Grogtrinker!“ fuhr der ganz unbekümmert fort. „Was meinst du, was ich Grog vertragen kann?“

„Keine Ahnung!“

„Taxier mal!“

„Ich sage dir doch ...“

„Bloß taxieren! Unser Käpten auf der ›Emma‹ – das ist so 'n Trawler – wurde schon von vierzehn Grog duhn, ich aber habe es auf einundzwanzig gebracht!“

„Du sohlst ja! Einundzwanzig Grog –“

„Es können auch dreiundzwanzig gewesen sein, nachher kam ich mit dem Zählen durcheinander.“

„Und überhaupt finde ich Saufen einfach ekelhaft! Ich habe genug davon gesehen. – Jetzt sind wir hier – wenn du absteigen willst? Ich muss noch auf den Hof!“

„Also denn!“ sagte der Seemann überraschend schnell, nickte noch einmal und schaukelte schon die Straße hinab.

„Auf Wiedersehen und danke schön!“ rief ihm Karl Siebrecht in einer Mischung von Reue und Befriedigung nach. Dann schob er das Rad auf den Hof und belud es für die zweite Fahrt. Es gab einen harten Abend, vier Fahrten waren zu machen. Der Wind wurde immer schneidender und kälter; wenn er die Finger nur drei Minuten um die Lenkstange gebogen hatte, war es, als könnte er sie nicht wieder geradestrecken. Und das Rad wurde immer schwerer.

Als er seine vierte Fahrt antrat, sagte Herr Felten: „Ich mache dann Schluß, es ist schon wieder nach zehn. Ich kann deinetwegen nicht immer die halbe Nacht hier sitzen. Wenn du das Rad zurückbringst, schließe gut ab und wirf die Schlüssel in den Briefkasten. Ich habe die Doppelschlüssel eingesteckt.“

„Ist gut, Herr Felten.“

Aber Herr Felten ging noch nicht. „Hast du dir das nun überlegt, Karl?“

„Was –?“ fragte Karl Siebrecht, obwohl er es sehr gut wußte.

„Das mit den fünfzehn Mark Wochenlohn.“ Herr Felten war ganz milde.

Der Junge aber hatte das Gefühl, für sein Frieren und Schleppen eine Zulage und nicht einen Abzug verdient zu haben. Er sagte abweisend. „Tut mir leid, Herr Felten, für weniger als zwanzig Mark in der Woche tu ich die Arbeit nicht!“

„Dann trennen wir uns also am Sonnabend, Karl“, sagte Herr Felten. „Tut mir auch leid, du bist ein tüchtiger Junge, aber Geld verlieren will ich nicht an dir. Gute Nacht, Karl!“

„Gute Nacht, Herr Felten.“

Einen Augenblick stand Karl Siebrecht wie angedonnert. Arbeitslos – Angst wollte ihn überkommen, die gleiche Angst, die dem Herrn von Senden und dem Oberingenieur vor Kalubrigkeit den Mund verschlossen hatte. Aber dann warf er den Kopf trotzig in den Nacken und lachte. Er hatte das Restgehalt von der Zeichenstube in der Tasche. Hier bekam er noch einen Wochenlohn, und Minnas Geld lag unangerührt auf der Sparkasse. Er stand besser da als im November bei seinem Berliner Anfang. Er hatte mehr Geld, und er kannte jetzt Berlin, zwar erst ein bißchen, aber so unerfahren wie im November war er doch nicht mehr.

Als er von dieser letzten Fahrt heimkehrte, froh, jetzt in die Wärme zu Rieke zu kommen, löste sich eine dunkle Gestalt aus dem Torweg. „Du, hör mal –“ sagte die.

„Was ist denn noch?“ fragte Karl Siebrecht und sah den Seemann mißtrauisch an. Der sah etwas verändert aus. Sein schönes Braun hatte eine graue, kranke Färbung angenommen, und die Stimme zitterte. Also wohl betrunken – ekelhaft!

„Ich wollte dir bloß noch was sagen ...“

„Was denn? Mach schon – mir ist saukalt!“

„Mir auch. Ich habe dich nämlich vorhin angesohlt: ich trinke gar keinen Grog. Ich vertrage keinen, verstehst du?“

„Ja ...“ sagte Karl Siebrecht zögernd. Das war alles etwas seltsam. Der Mensch sah auf einmal so erbärmlich aus.

Der machte plötzlich eine große, aber ungeschickte Bewegung. „Das wollte ich dir bloß sagen. Damit du nicht denkst, ich bin ein Lügner.“

„Na, das macht ja nichts. Ist schon gut“, meinte Karl Siebrecht etwas verlegen.

„Also denn!“ sagte der andere, schwieg, ging aber noch immer nicht. Nach einem Augenblick sagte er: „Was ich dich fragen wollte ...“ Er zögerte, dann sagte er rasch: „Wie heißt du eigentlich?“

„Karl Siebrecht.“

Das belebte den anderen. „Kiek mal an!“ rief er. „Ich heiße auch Karl. Karl Flau. Aber auf der ›Emma‹ – das war so 'n Trawler – haben sie mich immer Kalli genannt. Kalli Flau. Aber flau bin ich nicht, sonst nicht, bloß heute abend.“

„Das macht wohl die Kälte“, meinte Karl Siebrecht, bloß um etwas zu sagen.

„Ja“, sagte der andere gedankenlos. Und dann wieder: „Also denn –!“ Er wandte sich zum Gehen.

In Karl Siebrecht kämpften einen Augenblick Mißtrauen und Hilfsbereitschaft einen kurzen Kampf. „Du hör mal, Kalli!“ rief er dann. „Du wolltest mich doch noch was fragen!“

„Ich hab dich doch schon gefragt“, sagte der andere halb im Gehen, „wie du heißt.“

„Lüge nicht schon wieder!“ rief Karl Siebrecht. „Du wolltest mich was anderes fragen, das habe ich wohl gemerkt.“

Der andere wandte ihm sein Gesicht zu. Sie standen nahe beieinander, halb im Torweg, das Licht einer Gaslampe fiel auf ein vor Kälte bleiches Gesicht.

„Ja“, sagte Kalli Flau, „ich wollte dich wirklich was anderes fragen. Es ist bloß so verdammt schwer. Sage mal, Karl –“ er sprach immer langsamer und mühsam – „Karl“, er flüsterte nur noch, „glaubst du, dass es eine Schande ist, wenn man aus Hunger bettelt?“ Er starrte mit weitaufgerissenen Augen aus bleichem Gesicht den anderen an. Sein Mund stand halb offen, seine Lippen zitterten.

„I wo!“ sagte Karl Siebrecht plötzlich. „I wo! Eine Schande – sich mit Grog besaufen, das ist eine Schande! Komm her, Kalli, jetzt schieben wir erst das Rad in den Keller, und dann kommst du mit mir aufs Lager. Der Chef ist schon fort, und ich habe die Schlüssel. Mein Abendbrot habe ich auch noch nicht gegessen, ich bin heute einfach nicht dazu gekommen. Ach, stell dich bloß nicht an, ich kriege schon noch was zu essen, wenn ich nach Haus komme!“

Wenige Minuten später saßen dann die beiden in jenem Käfterchen, in dem Karl Siebrecht vor gut zwei Wochen seinen Vorgänger auf dem Samtlager schlafend gefunden hatte. In dem Kanonenofen brannte ein lustiges Feuer, und mit der ausstrahlenden Wärme nahmen die Backen des Seemanns allmählich wieder ihre schöne braune Farbe an. Kräftig kauend berichtete er seine Lebensgeschichte. Aber es war eigentlich nur wenig zu berichten. Sohn eines mecklenburgischen Tischlermeisters und vom Vater für das gleiche Handwerk bestimmt, hatte er sich den Kopf mit Geschichten von Seeabenteuern erhitzt. Er war nach Bremen durchgebrannt und hatte nach langem Suchen auf der „Emma“ angeheuert. Der Vater hatte schließlich die Papiere herausgerückt und seine Einwilligung gegeben, allerdings mit der strengen Weisung, der Sohn möge sich nicht eher wieder zu Hause sehen lassen, bis er etwas Rechtes geworden sei. Mit der „Emma“ aber war es Essig gewesen. Sie hatten über ein halbes Jahr auf den Sandbänken südlich von Island gefischt, aber so gut wie nichts gefangen. Das Unglück hatte sie mit einer seltenen Hartnäckigkeit verfolgt: wo die „Emma“ auftauchte, verschwanden die Fische, entstanden Stürme, riß der Schleppsack. Und an allem war nur diese verdammte Landratte, dieser Schiffsjunge Kalli Flau schuld. Mit dem an Bord würde es nie einen Fang geben. Schließlich ließen alle ihren Zorn an dem Jungen aus, von morgens bis abends und von abends bis morgens regnete es Prügel. „Ich bin von Vater eine ganze Wucht gewöhnt, Karl“, erzählte Kalli. „Darauf kannst du dich verlassen, aber was zuviel ist, ist zuviel, sagte der Pastor, da fiel er ins Jaucheloch. So bin ich denn ausgerissen, und heilfroh sind die, dass ich von Bord bin, darauf kannst du dich verlassen! Ich bin ja doch nur deren Jonas gewesen, verstehst du? So nennen sie den, der dem Schiff Unglück bringt. Weißt du, der Jonas gehört eigentlich in einen Walfischbauch und nicht an Bord.“

„Und was willst du nun anfangen, Kalli?“

„Mir hier Arbeit suchen! In Berlin gibt's für alle Arbeit. In Berlin kommt jeder hoch, so sagen sie doch überall, also wird es schon wahr sein. Ich hätte auch schon Arbeit, bloß –“

„Bloß –?“

„Es ist, weil ich nichts im Magen hatte, Karl! Auf der Spree liegen doch jetzt die Äppelkähne, das geht den ganzen Tag: der eine holt sich einen Sack voll, und die Hausfrauen kommen mit ihren Taschen. Da kann man einen guten Tagelohn machen, wenn man auf Draht ist.“

„Und warum hast du keinen guten Tagelohn gemacht, Kalli?“

„Weil ich umgekippt bin! Ich hab Pech gehabt. Gleich der erste, dem ich mich anbot, hat anderthalb Zentner Äpfel gekauft. Ich den Sack auf den Buckel – anderthalb Zentner sind sonst gar nichts für mich! Aber bedenke, seit Bremen – das sind nun drei Tage – habe ich kaum was in den Magen gekriegt. An der zweiten Straßenecke waren plötzlich meine Beine weg, ich lag da, und aus dem geplatzten Sack rollten die Äpfel über die ganze Straße. Da habe ich gleich wieder Dresche gekriegt, meine erste Berliner Dresche! Von da an war mein Mumm weg. Immer wenn ich mich wem anbieten wollte, dachte ich: der knallt mir wieder anderthalb Zentner auf den Rücken. Aber morgen, mit deinen Butterbroten im Leibe –“

„Was morgen wird, das werden wir noch sehen! Jetzt schläfst du erst mal hier, und morgen, ganz zeitig, bin ich wieder da und lasse dich raus. Ich schließ dich ein, das darfst du mir nicht übelnehmen.“

„I wo! Ich werde schlafen, sage ich dir!“

„Und paß gut auf, mit dem Licht und dem Feuer! Bist du auch wirklich satt? Na schön, morgen früh bringe ich mehr, Kalli, auch eine Kanne Kaffee. Gute Nacht, Kalli!“

„Gute Nacht, Karl! Gott, werde ich schlafen!“

„Ida auch, Kalli! Gute Nacht!“

20. Später Besuch und Streit

Karl Siebrecht stürmte in die Buschsche Küche, den Magen voll Hunger und die Zunge voll Plauderbedürfnis. Denn wenn er auch der Rieke nichts von seiner Entlassung aus dem Zeichensaal erzählen wollte, so doch um so mehr von seinem neuen Freunde Kalli Flau – denn dass der ein richtiger Freund fürs Leben werden würde, das fühlte er schon. Die Rieke aber stand auf seinen Gruß nicht von der Maschine auf, sondern rief nur „'n Abend“ und ließ das ewige Teufelsding weiterschnurren. Statt ihrer aber erhob sich ein langer Mann vom hölzernen Bretterstuhl am Herde, und der Rittmeister von Senden sagte: „Guten Abend, mein Sohn Karl. Spät kommst du, doch du kommst.“

„Guten Abend“, sagte Karl Siebrecht, übersah aber die ihm hingehaltene Hand, hatte die eigenen Hände auf den Rücken gelegt und sah den Rittmeister feindlich an. „Hat Ihnen Ihr Schwager, der Herr Kalubrigkeit, diesen Besuch auch erlaubt, oder sind Sie wieder einmal ohne sein Vorwissen unterwegs?“

„Ohne sein Vorwissen, Karl, ohne sein Vorwissen natürlich!“ lachte der Rittmeister ohne alle Übelnehmerei. „Ganz nach meiner verkrochenen und feigen Natur, nicht wahr, Karl?“

„Bei mir witzeln Sie das nicht weg“, antwortete der Junge böse, „dass Sie den Herrn Hartleben feige im Stich gelassen haben. Sie hatten mich ihm empfohlen. Ich habe auf der Schule nie recht kapiert, was ›zynisch‹ bedeutet – bei uns daheim in der Kleinstadt war keiner so. Aber seit ich Sie kenne, Herr von Senden, weiß ich es: zynisch heißt hündisch, und hündisch ist, wer sich auch seiner Schande nicht schämt!“

Einen Augenblick war es still in der Stube, sogar die Maschine hatte zu nähen aufgehört. Dann fing sie wieder an zu rattern, und der Rittmeister sagte sanft: „Du machst es einem Freunde nicht leicht, Karl.“

Wild rief der Junge: „Sie sind nie mein Freund gewesen, und ich will auch nicht, dass Sie je meiner werden!“

„Doch! Doch!“ sagte der Herr von Senden unbeirrbar. „Ich bin dein Freund, Karl, daran kannst du nun wirklich nichts ändern. Das hängt ja nun nicht allein von dir ab. Und was nun mein Eintreten für den Oberingenieur Hartleben angeht –“

„Ich will keine Erklärungen! Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, wie feige Sie sich benommen haben. O so feige – ich habe mich für Sie geschämt, Herr Rittmeister!“

„Was aber hätte es in jenem Augenblick dem Hartleben genützt, wenn ich für ihn eingesprungen wäre? Mein Schwager hätte ihn doch herausgesetzt, denn mein Schwager war im Zorn. Nun habe ich hinterher ruhig mit ihm gesprochen und habe Erfolg gehabt: Herr Hartleben bleibt.“

„Ja“, sagte der Junge bleich vor Zorn, „damit hat Ihr Schwager Sie dafür bezahlt, dass Sie den Oberbaurat bei den Kaviarbrötchen rumgeschwatzt haben! Oh, wie das alles stinkt – selbst wenn ihr etwas Anständiges tut, ist es noch unanständig!“

Er wandte sich ab und ging zum Fenster. Dabei sagte er im Vorbeigehen zu Rieke: „Mach mir ein bißchen zu essen, Rieke. Ich habe schrecklichen Hunger – der geht doch gleich.“

„Mein lieber Junge“, sagte der Herr von Senden, „ich glaube, du gehst ein wenig streng mit mir ins Gericht. Wäre ich arm und nicht der Schwager des Herrn Kalubrigkeit, du würdest milder über mich urteilen.“

„Aber Sie sind nicht arm, Sie haben es nicht nötig, Schlechtes zu tun, wie mancher Arme leider muss!“

„Was dir auch dein Gefühl über mich sagt, Karl, dein Verstand muss dir bestätigen, dass meine Methode die erfolgreichere ist. Trotz deiner Tapferkeit und deines Opfermutes lägen die Trockenmieter heute auf der Straße – verzeih, wenn ich dich daran erinnere! –, und Herr Hartleben wäre ohne Stellung!“ – Der Junge schwieg finster, er sah in die Nacht hinaus. – „Aber reden wir nicht mehr vom Vergangenen“, fuhr der Rittmeister fort, setzte sich wieder auf den Bretterstuhl und schlug die Beine übereinander. Schon hatte er sein goldenes Zigarettenetui in der Hand. Schon brannte die Zigarette. „Reden wir von der Zukunft, von deiner Zukunft, Karl. Du hast deine Stellung verloren – was gedenkst du zu tun? Oder besser: was kann ich für dich tun, Karl?“

„Nichts!“

„Sage das nicht“, meinte der Rittmeister. „Ich weiß, du hast Mut und gute Anlagen. Aber du wirst zehn Jahre deines Lebens verlieren, um dich aus dem Gröbsten herauszuarbeiten. Wenn ich dir beistehen darf, wirst du von diesen zehn Jahren sechs oder sieben ersparen. Denke, sieben Jahre mehr Lebensarbeit, die dich freut! Das kann dich doch nicht freuen, den Laufburschen zu spielen, Karl?“

„Doch, das freut mich, Herr Rittmeister!“

„Aber wieso? Jeder Stiesel kann sich auf ein Rad setzen und Pakete an irgendeiner Wohnungstür abgeben!“

„Aber ich lerne die Stadt dabei kennen! Berlin! Und die Leute, die Berliner!“

„Richtig, du willst ja Berlin erobern, und was man erobern will, das muss man kennen!“

„Ich hätte Ihnen das nie erzählen sollen, Sie verhöhnen mich bloß ...“

„Aber ich verhöhne dich nicht! Es ist doch wahr, was ich sage. Und auf meine eigene –“ er lächelte, „natürlich verkrochene und zynische Art, glaube ich sogar daran, dass du Berlin erobern wirst – auf deine Weise, nämlich für dich. Wahrscheinlich bin ich heute noch der einzige Mensch, der dir das zutraut.“

„Sind Se nich!“ rief Rieke. „Ick ooch!“ Nachdem sie Karl seine Stullen zurechtgemacht hatte, war sie nicht wieder an ihre Maschine gegangen. Sie war am Küchentisch stehengeblieben und hatte dem Gespräch zugehört. Nun wandte sie dem Besucher ihr schmales Gesicht zu.

„So?“ fragte der Rittmeister. „Sie auch, Fräulein? So sind wir also schon zwei, die an ihn glauben. Und bald werden es fünfzig sein, und später hundert und noch später Tausende. Aber dass das nicht zu spät wird, dass er dann nicht schon seine beste Kraft verausgabt hat, darum möchte ich ihm rascher vorwärtshelfen, das verstehen Sie doch, mein kleines Fräulein?“

„Det vasteh ick schon! Aba ...“

„Einen Augenblick! Meinen Sie nicht, er würde das vielfältige Gefüge einer Stadt wie Berlin besser kennenlernen –“ der Rittmeister sprach jetzt nur noch zu Rieke –, „wenn ich ihn beispielsweise in einer Großbank unterbrächte? Da würde er sehen, wie das Geld hierhin und dorthin fließt, wie es aus trockenem Sand Städte aufblühen lässt und Industrien entstehen, in denen Zehntausende ihr Brot finden. Er würde es lernen, diesen Geldstrom dorthin zu lenken, wo er am meisten Früchte trägt, zum Segen der Stadt Berlin. Ich könnte ihn gut in einer solchen Bank unterbringen, ich sitze zufällig in einem Aufsichtsrat –“

„Ich will mich nicht wieder auf ein Büro setzen. Ich tauge nicht dafür!“

„Nun gut, er sagt, er taugt nicht fürs Stillsitzen. Auch gut. Aber, Fräulein, sein Oberingenieur auf der Zeichenstube hat mir gesagt, dass er eine wirklich gute zeichnerische Begabung hat. Wenn er sich ein paar Jahre auf die Hosen setzte, würde ich ihn nach Charlottenburg auf die Technische Hochschule schicken. Er könnte Baumeister, Architekt werden, genau der andere Schlag als die Herren Kalubrigkeit. Und er könnte Häuser bauen, ganze Städte, wirkliche Wohnungen für die Arbeiter, mit Licht und Sonne –“ er sah in der Küche um – „statt solcher Höhlen! Wäre denn das nicht eine bessere Aufgabe für ihn? Und er will aus lauter Eigensinn bloß Pakete ausfahren, ist denn das richtig, Fräulein?“

„Mensch! Karl! Der Mann is nich dumm. Überleg dir det. Wenn er dir nur sagt, wat er for seine Hilfe will, denn for nischt is nischt, und ick jloobe nich daran, det Se so wat aus lauter Edelmut für Karlen tun.“

„Ihnen das zu erklären, wird wohl am schwersten sein, Fräulein“, sagte der Rittmeister lächelnd. „Denn nach Ihren Begriffen will ich wirklich nichts für meine Hilfe. Kein Geld, nicht einmal seine Gesellschaft. Meinetwegen kann er auch hier bei Ihnen weiterleben, Fräulein –“

„Sie sollen nicht mit der Rieke reden, Sie sollen mit mir sprechen!“ schrie der Junge plötzlich los. „Das möchten Sie, jetzt auch noch meine Freundin gegen mich aufhetzen! Das will er nämlich, Rieke! Was will so ein Mann mit Geld? Er hat so viel Geld, er würde sich nicht nach einem Hundertmarkschein bücken. Aber er will mich, er will in mich hineinkriechen, er will sein Spielzeug aus mir machen. Er möchte mich hin und her schieben wie eine Schachfigur. Er langweilt sich zu Tode, da will er doch was zum Spielen haben, und dafür bin ich ihm gerade gut genug! Und nun will er dich mir auch noch wegnehmen! Merkst du denn nicht, Rieke, er ist genau wie der Versucher, der Jesus auf einen hohen Berg führte, und zeigte ihm alle Schätze der Welt und sagte: Dies alles will ich dir geben, wenn du mir deine Seele gibst. Er hat keine, darum will er meine. Aber ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Herr Rittmeister: nie! Und Sie können noch hundertmal kommen, und immer werde ich sagen: nie!“ Karl Siebrecht hatte sich wieder in eine wilde Erregung hineingeredet, nun stand er da und sah den Rittmeister bleich und entschlossen an.

„Schade!“ sagte der und nahm aus seinem Etui eine neue Zigarette. „Du hast dich um ein paar gute Arbeitsjahre geredet. Aber wir sehen uns wieder, Karl. Das ist unvermeidlich, ob wir uns suchen oder nicht. Gute Nacht, Karl. Gute Nacht, mein kleines Fräulein, seien Sie ihm nicht gar zu böse.“ Er brannte die Zigarette an und ging aus der Küche.

„Schade!“ sagte Rieke, kaum dass die Tür geklappt hatte. „Det haste dumm jemacht, Karl!“

„Ich will keine Hilfe von diesem Mann!“

„Er is 'n Fatzke mit seine feinen Socken“, meinte Rieke beistimmend. „Aber der Mann hat et ehrlich mit dir jemeint, Karl.“

„Ich mag ihn nicht, und so soll er mir auch nicht helfen.“

„Wieso denn nich? Sei bloß nich doof, Karl! Wat de da jesagt hast, von Vasucha und alle Schätze dieser Welt, det klingt ja ganz schön, aba wat soll det? Du bist ohne Stellung, und der Mann hätte dir 'ne Stellung besorgt. Wenn du nich uff 'n Büro sitzen magst, hättste dir underdes 'ne andere besorgt, det nenne ick praktisch. Erst hättste mal durch den zu leben jehabt. Von die zwanzig Mark bei Felten kannste ooch nich fett werden.“

„Die Stellung bin ich auch am Sonnabend los!“

„Nu schlägt's aber dreizehn! Und du schickst den Mann aus de Stube! Karle, diesmal vasteh ick dir wirklich nich! Von wat willste denn nu leben?“

„Ich werde schon wieder was finden!“

„Ja, jetzt im Winta! Läufste drei Wochen rum, und denn haste wat mit fuffzehn Mark de Woche! Und den Mann schickste weg, als wärste der Jraf Koks selbst! Dir vasteh ick nich mehr, Karl! Een bißcken Unvanunft steht ja jut zu Jesichte, aba det is mir zu ville!“

„Aber sieh doch ein, Rieke, wenn ich mir von dem Mann helfen lasse, dann muss ich auch so leben und das werden, was er sich denkt.“

„Wieso musste –?“

„Ich will aber das werden, was ich will!“

„Und det kannste nich, wenn er dir 'ne Stellung besorgt? Det vasteh ick nich. Wo is denn da der Schiedunter, Karl, ob de nun rumloofst nach 'ne Stellung oder hast jleich eene? Deswejen kannste doch werden, wat de willst!“

„Nein, du verstehst mich wirklich nicht, Rieke, zum erstenmal nicht. Und daran ist nur der Kerl schuld, der hat dir den Kopf verdreht.“

„Mir hat keener den Kopf verdreht, Karle, dafor bin ick zu helle. Du hast Mist jemacht, Karl, det redste mir nich aus.“ Sie seufzte tief. „Det Jahr fängt jut an, det muss ick saren. Du ohne Arbeet, Vata säuft, und der Hagedorn war heute nachmittag ooch wieder da.“

„Der Hagedorn? Was wollte der denn? Der hat doch seine Rate pünktlich gekriegt.“

„Ja, wat wollte der wohl? Dußlig reden! Mutter wollte er sehen! In welchem Krankenhaus se liegt, wollte er wissen. Du, Karl, dem trau ick nich mehr, der führt wat im Schilde ...“

„Das habe ich gleich gesagt, dass dem nicht zu trauen ist!“

„Ja, det haste jleich jesagt, aber unterschrieben haste darum doch! Ick jloobe, Karl, der will uns wegen die Unterschriften an den Karren fahren!“ Wirkliche Angst klang aus Riekes Stimme.

„Also nehmen wir doch das Geld von meinem Sparbuch“, sagte Karl Siebrecht, „und zahlen den Kerl aus, dann haben wir unseren Frieden. Trotzdem–“ er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Eigentlich hatte ich einen anderen Plan, Rieke.“

„Wat haste denn for 'nen anderen Plan, Karl?“

„Also, paß mal auf, Rieke. Ich habe da 'nen Jungen getroffen.“ Bei der Erinnerung an Kalli Flau belebte sich Karl Siebrecht. „Achtzehn Jahr ist der. Er war Schiffsjunge, aber nun ist er in Berlin und sucht nach Arbeit. Ein feiner Kerl, der wird dir auch gefallen.“ Riekes Miene wurde immer abweisender, je lebendiger Karl Siebrecht wurde. „Der hat mir nun erzählt, dass auf der Spree jetzt Obstkähne liegen und dass da immerzu jemand gebraucht wird, der den Leuten die Äpfel nach Haus schafft. Da kann man einen Haufen Geld verdienen. Bloß mit dem Auf-dem-Buckel-Schleppen, das schafft nichts. Da habe ich nun gedacht, wenn ich mir von dem Sparbuch ein Dreirad kaufe, oder besser noch zwei, für den Kalli Flau auch eines –“

„Wieso denn ooch for den?“

„Der hat jetzt gar kein Geld, wo er doch gerade vom Schiff ausgerissen ist. Ich habe ihn erst mal in der Kammer bei Felten schlafen lassen, und mein Abendbrot habe ich ihm auch gegeben. Der war ja so verhungert, Rieke –“

Aber Rieke war nicht mehr zu halten. „Det is ja jroßartig, Karl!“ schrie sie los. Sie hatte die Arme in die Seiten gestemmt und keifte, gerade als sei Karl nicht ihr Freund. „Da haste dir ja wat Feinet anjehandelt, det muss ick sagen, Karl! Vata arbeitslos, du arbeitslos, fast nischt zu Fressen mehr in't Haus, und denn sammelste dir noch so 'n Straßenläufer auf, jibst ihm deine feinen Stullen und lässt ihn bei Felten schlafen! Wenn der nu morjen mit 'nem Puckel voll Stoffe losjelaufen is, wat dann, Karl?“

„So ist Kalli Flau nicht! Und außerdem habe ich ihn eingeschlossen!“

„Injeschlossen! Karle, wenn ick so 'n Stuß bloß höre! Wo det Lager parterre liegt, der broocht doch nur 'n Fenster uffmachen! Nee, Karl, heute biste vernagelt wie 'ne olle Eiakiste!“

„Du hast den Kalli ja noch gar nicht gesehen –“

„Ick will ihn ooch jar nich sehen! Hau bloß ab mit solche Freunde! Det sich so eener nich schämt, jleich den ersten Abend mit's Betteln anzufangen!“

„Es ist ihm sauer genug geworden, Rieke!“

„Wat heeßt hier sauer? Denke doch bloß an den Fritze Krull und an seine Sandkiste im Tierjarten! Dem haste ooch jleich jeglaubt, und denn hättste deinen Knuff im Bauch weg! Der wird dir noch ganz anders eenen vasetzen, dein neuer Freund da!“

„Das wollen wir abwarten, Rieke.“

„Abwarten, ja, aber von wat? Erst beköstigen wa ihn, und denn koofen wa ihm ooch noch 'n Rad! Uff Abzahlung natürlich – als wenn ick mit dem Hagedorn nicht schon Sorjen jenug hätte!“

„Aber, Rieke, mit den Äpfeln kann man wirklich viel Geld verdienen, das leuchtet mir ein.“

„Wenn dir det bloß einleuchtet, dir und deinem Freund! Ihr seid ja beide doof! Mensch, wa sind doch im Januar, alle Tage kann det Pickelsteine frieren, und wat wird dann mit deine Appel? Weg sind se! Appel sind doch keene Eisfrucht nich! Den Tag, wo zehn Jrad Frost im Kalenda stehen, is det Jeschäft alle, und ihr sitzt da mit eure Räder und eure Abzahlung.“

„Dann findet sich eben etwas anderes!“ sagte Karl Siebrecht, aber etwas schwächer, denn Riekes sehr richtiger Hinweis auf einen drohenden stärkeren Frost hatte ihn doch getroffen.

„Ja, find sich!“ höhnte Rieke jetzt ganz offen. „Aba den Mann, der det jut mit dir meint, der dir 'ne Stellung bringt, den schmeißte aus der Küche! Jetzt weeß ick doch, warum du dem seine Stellung nich wolltest: mit deinem neuen Freund willste zusammen sein! Aba daraus wird nischt! Ick jebe det Sparbuch nich raus, und wenn de mir in Stücke haust, Karl!“

„Ich werde dich schon nicht in Stücke hauen, Rieke“, sagte Karl Siebrecht trübe lächelnd. „Aber mit dir ist heute nicht zu reden.“

„Mit dir ist heute nicht zu reden, Karl, det is et! Janz unvanünftig biste!“

„Also gut, Rieke, ich bin unvernünftig. So laß mir meine Unvernunft ...“

„So redet ihr Männer alle, wenn ihr jar nischt mehr zu sagen wißt! Aba ick habe doch recht, und det Sparbuch kriegste nich!“

„Wir reden morgen weiter darüber. Gute Nacht, Rieke.“

„Wa reden nich mehr darüber, det is erledigt! – Iß erst deine Stullen, Karl, eh de ins Bett jehst!“

„Danke, ich habe keinen Hunger mehr. – Gute Nacht, Rieke.“ Sie schwieg. „Ich habe gute Nacht gesagt, Rieke!“ Schweigen. „Wir wollen doch nicht verzankt ins Bett gehen, Rieke! Es wäre das erste Mal!“

„Eenmal muss det erste Mal sind, sagte det junge Mächen, da fiel se! Nee, Karl, jute Nacht sare ick dir heute nich, det wäre bloß äußerlich. Ich bin Schuß mit dir!“

„Also denn nicht gute Nacht“, sagte Karl Siebrecht unter der Tür. „Aber es tut mir leid.“ Er stieg die Treppe hinunter.

Oben riß Rieke die Tür wieder auf. Ohne Rücksicht auf die Nachtruhe der Mitbewohner schrie sie ihm durch das Treppenhaus nach: „Denkste, mir tut det nich leid, du olla Dussel?! Denkste, ick werde 'ne jute Nacht haben, bloß, weil du se mir wünschen tust? Det denkste?! Sei lieba vanünftig, du olla Boomaffe du!“ Oben knallte die Tür. Nun doch ein wenig erleichtert, trat Karl auf den Hinterhof.

21. Schlag um Schlag

„Das ist der Kalli Flau“, sagte Karl Siebrecht. „Und das ist also die Rieke Busch. – Guten Morgen übrigens, Rieke.“

„Morjen, Karle! Morgen, Kalli! Oder muss ick Herr Flau sagen? Mir is det ooch recht.“

„Zu was denn, Rieke?“ lachte Kalli und schüttelte Rieke die Hand. „Wir sind doch beide Freunde vom Karl Siebrecht, da werden wir uns doch nicht siezen.“

„Ja, ick bin ein Freund von Karle“, sagte Rieke mit Betonung. „Na, denn will ick euch man Frühstück jeben, es is allens fertig. Ick habe mir schon jewundert, det du jar nich bei mir reingeschaut hast heute uff 'n Morjen. Aba du hattest wohl keine Zeit for mir.“ Sie setzte die Kaffeebecher mit einem Puff auf den Küchentisch, mit einem Schwung folgte der Stullenteller. Karl Siebrecht schaute seine Freundin besorgt von der Seite an, er fand, sie sah blaß und verweint aus. Sie zürnte ihm immer noch.

„Ich wollte auch zu dir, Rieke“, sagte er. „Aber ich habe verschlafen und musste machen, dass ich den Kalli rausließ. Ich bin gerade vor Herrn Felten hingekommen.“

„Na, und hat der nischt jemerkt, der Felten?“

„Gar nichts, Rieke!“

„Im Gegenteil, Rieke“, lachte Kalli Flau. „Er hat mich sogar als Boten angestellt – für fünfzehn Mark die Woche!“ Diese Mitteilung war nicht zum richtigen Zeitpunkt gemacht ...

„So?“ sagte Rieke, und ihre Stimme wurde wieder einmal ganz schrill. „So?! Dem haste den Posten verschafft, Karl, und was machst du?! Du kuckst in' Mond, und wir mit! Det is mit euch Männern doch ewig dasselbe: wenn ihr dußlig seid, dann seid ihr ooch egal dußlig, da jibt et jar kein Uffhören. Die schönen fuffzehn Mark, die hättest du ooch jut gebrauchen können, aber nee, dein neuer Freund muss se kriegen.“

„Ich hatte dem Felten schon gesagt“, verteidigte sich Karl Siebrecht, „dass ich nicht für fünfzehn Mark arbeiten würde, lange, ehe ich Kalli Flau kannte.“

„Kalli!“ höhnte sie. „Kalli! Wat det schon for een Name is! Wenn ick det bloß höre! Kalli! Det wird ja nun woll in eene Tour jehen, Kalli vorne und Kalli hinten! Ick bin ja froh, det ick den nich ooch Karl nennen muss wie dir. Aba Kalli – det is 'n Name for 'n Hanswurst, nicht for 'n Menschen!“

„Und ich bin auch ein Hanswurst, Rieke“, lachte Kalli Flau, der ungerührt dem Streit der beiden zugehört hatte. Er hatte dabei fleißig Brote vertilgt, während Karl Siebrecht fast nichts gegessen hatte. „Warte nur, du wirst dich schon an mich gewöhnen, Rieke, und dann lachst du auch über mich. Und du sollst von mir dein richtiges, reelles Kostgeld kriegen, wenn du mich hier sitzen haben willst, heißt das, Rieke.“

„Und ich werde bestimmt etwas finden –“ fügte Karl Siebrecht hinzu. „Ganz schnell werde ich etwas finden.“

„Wat du schon finden wirst!“ sagte Rieke wegwerfend, war aber durch Kallis Ansprache doch etwas besänftigt. „Kuck dir lieber an, wat ick heute früh jefunden habe.“ Sie zog die Tür zur Stube auf. „So haben se 'n mir jebracht, heißt det. Schon heute früh um vieren. Auf 'm Hof hat er jelegen, toll und voll, der Olle –“ Der alte Busch lag auf dem Bett, noch halb in seinen Kleidern. Er sah wirklich ganz greulich aus, zerschlagen und gedunsen, wie ein Leichnam, der aus dem Wasser gezogen ist. „Und denn hat er hier noch anjejeben, jetobt hat der Mann, ick sare dir, Karl! Ick habe Tilda'n bei die Reinsberg bringen müssen, imma hat der Mann uff det Kind losjewollt! – He, Sie junger Mann!“ plötzlich sprach Rieke wieder mit ihrer hellen scharfen Stimme, während sie bis dahin leise und verzweifelt geflüstert hatte. „Det is hier keen Anblick for Sie! Vorläufig jehören Se noch nich zu meine Familie! Machen Se, det Se hier rauskommen.“ Und sie schloß die Stubentür mit einem scharfen Ruck vor Kalli Flau. Gleich fuhr sie, ohne allen Übergang, mit ihrer leisen verzweifelten Stimme fort: „Wat mach ick mit dem Mann bloß, Karle? Die Nachbarn saren ja, et is Dilirjum, und ick muss uff de Polizei melden, det der Mann wegkommt in de Trinkerheilstätte.“

„Das wäre vielleicht ganz gut!“

„So? Det sagst du? Du hast doch nich 'n Troppen Vastehste in deinem Kopp, Karle! Und wat mach ick, wenn Vata weg ist? Jloobste, die lassen mir Tilda'n? Jloobste, die lassen mir die Wohnung? Die stecken mir und Tilda'n in't Waisenhaus! Und denn ist allens futsch, wat ick mir hier zusammenjerackert habe. Det hier alles, det wird vakooft, und denn bin ick een Armenkind! Ha ick det nötig, een Armenkind zu werden?! Wo ick so jeschuftet habe – jeder Jroße hätte den Kram lange hinjeschmissen!“

„Rieke, wir finden bestimmt einen Ausweg. Du sollst nicht in ein Waisenhaus kommen, ich verspreche dir das! Wir müssen eben besser auf Vater aufpassen. Jetzt habe ich mehr Zeit, wir müssen rauskriegen, wer ihm zu trinken gibt.“

„Ja, sare bloß, Karle, wer jibt dem Mann zu trinken? Der Mann is doch keene Jesellschaft nich, det se ihn zu ihrer Unterhaltung mit Schnaps uffüllen! Und alle Tage toll und voll! Ach, Karl“, weinte sie, „verlaß mir bloß nich! Wenn ick dir nich mehr habe, denn hau ick den Kram ooch hin! Denn dreh ick den Jas uff ...“

Sie hatte die Arme um seinen Hals geworfen und weinte fassungslos an seiner Brust. Es war ein sehr ungewohntes Gefühl für Karl Siebrecht. Hastig strich er über ihren Scheitel. Es war doch ein schönes Gefühl! Dass er einem Menschen so viel bedeutete, das hatte er noch nicht gekannt in seinem Leben. „Weine doch nicht so, Rieke“, tröstete er. „Ich gehe doch nicht weg von dir! Warum wohl? Das sieht nur alles jetzt so dunkel aus, es wird auch wieder hell.“

„Nie, Karle, nie!“ schluchzte sie. „Wir sind hin, Karle, det fühl ick!“

„Aber nein, Rieke! Denke daran, wie kurze Zeit ist es erst her, dass du dich über deine Maschine gefreut hast! Nun ist es dunkler, aber bald wird es wieder hell.“

„Schick den anderen weg, Karle!“ bat sie unter Tränen. „Schick ihn bloß weg! Wat soll'n wa denn mit dem?! Det ist doch jenug, wir beede, Karl!“

„Aber, Rieke, warum soll er denn nicht bei uns sein? Das ist doch ein guter Junge, verlaß dich darauf. Warum soll ich denn nicht auch einen Freund haben, der nimmt dir doch nichts weg.“

„Doch, der will dir nur ausnützen – det kenn ick. Du bist so jutmütig, Karle, alle wollen se dir bloß ausnützen. Ick ooch – ick am allerersten –“

Sie weinte immer weiter an seinem Halse, aber schon leiser. „Schick ihn doch weg, Karl!“ bat sie noch einmal. „Tu mir den einzigsten Jefallen!“

Ehe Karl Siebrecht diesen neuen Angriff abwehren konnte, klopfte es kräftig an die Tür, und Kallis Stimme rief: „Da ist ein Herr, der Rieke Busch sprechen möchte!“

Mit einem Ruck machte sie sich von seinem Halse los. Mit weit aufgerissenen Augen, geisterbleich, sah sie den Freund an. „Jetzt kommt es, Karl!“ flüsterte sie. „Jetzt kommt det Unglück, ich spür et!“ Sie bückte sich zu der Waschschüssel und spülte sich das Gesicht ab. „Na, denn man los, Karl! Du hast mir wackeln jesehen, aber det sollen die nich! Immer Forsche in die Brust, wenn't ooch schwerfällt! Denn komm, Karl, wollen mal hören, wat der Hagedorn will.“ Sie hatte es ganz richtig erraten: in der Küche stand Herr Hagedorn, und neben ihm ein junger Mann ... „Morjen, Herr Hagedorn“, sagte Rieke. „Det is aber noch nich die Zeit for die nächste Rate. Die is erst Donnerstag!“

„Die Rate geht mich nichts mehr an“, sagte Herr Hagedorn. „Ich will die Maschine holen!“

„Auf wat hin denn?“ fragte Rieke noch ganz sanft. „Wat ha ick denn vabrochen, det Se mir die Maschine wegholen wollen?“

„Ich habe die Maschine an eine Frau Busch verkauft ...“

„Mutta ist in't Krankenhaus. Wenn Se wat mit Mutta'n besprechen wollen, müssen Se warten, bis se wieder hier is, Herr Hagedorn.“

„Deine Mutter ist seit Jahren tot, ich habe mich erkundigt“, sagte Herr Hagedorn, und es war nun nichts mehr mit „Sie“ und „Frollein“. „So was ist Betrug.“

„Se haben Ihr Jeld jekriegt, jenau, wie wenn't von Mutta'n käme – stimmt det oder stimmt det nich, Herr Hagedorn?“

„Ich schließe keine Verträge mit Kindern, das ist gesetzlich verboten. Sie haben mich auch betrogen, junger Mann, Sie sind gar nicht der Bruder von dem Mädchen! Das ist eine Urkundenfälschung, das wissen Sie sehr gut. Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht ins Zuchthaus bringe. Ich hole meine Maschine wieder.“

„Se haben Ihr Jeld bekommen, Herr Hagedorn“, sagte Rieke noch einmal, aber nur schwach.

„Der Vertrag ist ungültig. Ich nehme mir die Maschine wieder.“

„Halt!“ rief Karl Siebrecht. „Sie haben immer gewußt, dass es gar keine Frau Busch gab! Das ist jetzt bloß ein Kniff von Ihnen!“

„So eine Frechheit! Ich soll gewußt haben, dass die Frau Busch nicht lebt –? Seh ich aus wie ein Mann, der sein Geld aus dem Fenster wirft? Mache ich Geschäfte mit Kindern? Ich verlange meine Maschine! – Fritz, faß mal die Maschine mit an!“

„Ihr faßt die Maschine nicht an, oder –“ rief Karl Siebrecht und stellte sich drohend neben sie. Vor ihr stand schon bleich, aber entschlossen Rieke Busch. Voller Bedeutung streifte Kalli Flau die Ärmel seines Sweaters hoch.

„Ach, ihr wollt nicht?“ fragte Herr Hagedorn. „Prügeln werde ich mich nicht mit euch! Fritz, hol den Herrn Wachtmeister vom nächsten Revier. Der kann dich dann gleich mitnehmen, Junge, wegen Urkundenfälschung! Und deine Freundin auch!“

„Sie werden es sich überlegen, Herr Hagedorn“, sagte Karl Siebrecht kalt.

Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Es musste ein Mittel geben, diesen Mann vom Äußersten zurückzuhalten.

„Sie würden auch reinfallen. Man wird uns glauben, wer weiß, wie bekannt Sie schon vor Gericht sind, wie oft Sie schon solche Geschichten gehabt haben. Und wir werden beweisen, dass die Rieke vor Ihren Augen unterschrieben hat. Wir werden die Tinte von der Unterschrift untersuchen lassen.“ Er sah den Mann an.

„Ach, die Tinte! Was du dir ausdenkst!“ Aber er schien nicht mehr so sicher.

„Fragt sich, wem der Richter mehr glaubt. Seien Sie vernünftig, Herr Hagedorn, nehmen Sie das Restgeld.“

„Ich verliere bei dem Geschäft! All die Zeit, die ich versäumt habe, und jetzt wieder das Abholen, das kostet doch alles mein Geld!“

„Wie hoch ist der Rest? Hundertdreißig Mark, nicht wahr, Rieke?“ – Rieke nickte. – „Ich will Ihnen was sagen, Herr Hagedorn: ich gebe Ihnen mein Sparbuch – das lautet auf zweihundert Mark, und Sie geben mir dafür den Vertrag zurück und bestätigen schriftlich, dass die Maschine uns gehört.“

Rieke rief: „Karle, det tuste nich! Hundertdreißig Mark, mehr nich!“

„Wir haben eine Dummheit gemacht, Rieke, dafür müssen wir jetzt bezahlen! Es ist Lehrgeld, du kannst sicher sein, ich bezahle es nur einmal – still jetzt, Rieke! – Wie ist es, Herr Hagedorn: ja oder nein?“

„Also her mit den zweihundert. Der Mensch macht mich kaputt!“ Und Herr Hagedorn sank auf den Küchenstuhl und trocknete sich sein Gesicht ab.

„Das Sparbuch, Rieke!“

„Karle!“ sagte sie flehend. „Es ist doch dein Jeld! Wie kommst du dazu?! For meine Maschine, for mir!“

„Das Sparbuch –“ wiederholte er nur.

„Ich würde das Aas verdreschen und die Treppe runterschmeißen!“ sagte Kalli Flau und betrachtete seine Arme. „So ein feiger Hund, wenn der erst fühlt, es gibt Senge, der reißt aus.“

„Laß man, Kalli!“ sagte Karl Siebrecht. „Dies mach ich, wie ich will.“

Rieke war vor dem Küchenschrank hingekniet und hatte einen Stoß Wäsche herausgenommen. Sie griff in den Schrank, tastete, aber ihre Hand kam leer zurück. Sie stutzte, dann fing sie an, die Wäsche auseinanderzulegen, Laken um Laken, Handtuch um Handtuch. Alle sahen ihr schweigend zu. Zwischen dem Stoß Wäsche lag nichts. Rieke nahm sehr schnell den Stoß Wäsche daneben heraus, es waren Arbeitshemden des alten Busch, Unterhosen. Sie griff in den Schrank, die Hand kam wiederum leer zurück. Immer schneller legte sie Hemden und Hosen auseinander. Alle schwiegen, alle sahen ihr zu. Und wieder lag nichts zwischen der Wäsche. Nun war nur noch ein kleines Häufchen im Schrank: Riekes und Tildas Wäsche. Sie nahm sie eilends heraus. Ihre Hände zitterten so, dass sie die Stücke nicht mehr ordentlich auseinanderlegen konnte, sie wühlte in ihnen.

Der junge Mensch sagte: „Paß auf, Vater, die haben gar kein Sparbuch. Alles fauler Zauber.“ Herr Hagedorn auf seinem Küchenstuhl seufzte schwer.

Rieke stand jetzt vor dem Schrank, sehr bleich, die Hände gegen die Brust gepreßt. Ihre Kinderstirn lag in Falten. „Rieke –“ sagte Karl Siebrecht sanft.

„Ach –“ sagte Rieke. Sie drehte sich rasch um und ging aus der Küche in die Stube. Die Tür klappte scharf, dann hörten sie drüben Rumoren und Poltern. Dann Stille. Dann einen hellen, klagenden Schrei.

„Hierbleiben!“ sagte Karl Siebrecht und ging rasch in die Stube, deren Tür er hinter sich zuzog.

Rieke stand am Fenster. Ihr Gesicht sah erbärmlich aus, in ihren hellen Augen war ein fassungsloser, angstvoller Ausdruck, als sei sie ein Hund, der sich vor Schlägen fürchtet. Sie hielt das Sparbuch aufgeschlagen in den Händen. „Karle“, flüsterte sie. „Ach, mein lieber Karle ...“

Er warf einen Blick in das Buch. Was er in der letzten Minute geahnt und gefürchtet hatte, war Wahrheit geworden: nur Auszahlungen standen auf der Seite. Unwillkürlich warf er einen Blick auf die Schlußsumme. „43 Mark“ stand da. Gott sei Dank, dachte er. Es ist nicht alles fort.

Sie hatte angstvoll in seinem Gesicht zu lesen versucht. „Karle!“ flüsterte sie. „Wat mach ick nur? Vata hat dein janzet Jeld vasoffen! Und ick hab jesagt, bei mir is dein Jeld sicher! Schlag mir, Karle, ick bin der Dussel jewesen, und dir habe ick jeschumpfen – schlag mir tüchtig in't Jesichte!“

„Tochter“, sagte der alte Busch. „Tochter ...“

Karl Siebrecht sah erst jetzt, dass der Maurer aus seinem Rausch erwacht war. Er lag da, das Kinn in seine Hand gestützt, ein weinerliches Grinsen auf dem Gesicht. „Det macht nischt! Det mach ick jrade! Dafor komm ick dir uff, Tochta! Morjen jeh ick uff 'n Bau, ick jeh gleich jetzt, wenn de willst!“

„Vata! Vata!“ rief Rieke. „Wat haste bloß anjerichtet?! Du hast mir unjlücklich jemacht, du hast mir in Schande jestürzt ...“

„Stille, Rieke!“ sagte der Junge hastig. „Jetzt nicht.“ Er nahm ihr das Buch aus der Hand und steckte es in seine Tasche. „Bleib hier, halte ihn ruhig. Das da draußen bringe ich in Ordnung.“ Und er ging rasch in die Küche. „Herr Hagedorn“, sagte er. „Es tut mir leid, ich kann Ihnen Ihr Geld im Moment nicht geben. Der alte Busch ist krank geworden, und der hat das Sparbuch in Verwahrung! Aber Sie kriegen Ihr Geld heute abend noch vor Ladenschluß, das verspreche ich Ihnen.“

„Dann nehme ich die Maschine mit!“ rief der Händler. „Und den Kaufvertrag behalte ich auch!“

„Lassen Sie die Maschine hier, Herr Hagedorn! Das Mädchen braucht sie doch zum Nähen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sie bekommen heute abend zweihundert Mark. Das ist doch ein Geschäft für Sie!“

„Was heißt hier Geschäft!“ schrie Hagedorn. „Zweihundertfünfzig muss ich haben!“

„Gut“, sagte der Junge verzweifelt. „Ich verspreche Ihnen zweihundertfünfzig Mark! Gehen Sie schnell und lassen Sie die Maschine hier –!“

„Zweihundertfünfzig und die Maschine!“ schrie der Händler. „Sag schnell ja, oder Fritz holt die Polizei!“

„Herr Hagedorn ...“ fing Karl Siebrecht an.

Da ging die Stubentür auf, und der alte Busch kam in die Küche. Er sah schrecklich aus, mit seinem zerstörten, gedunsenen Gesicht, vornübergebeugt, die Arme baumelnd, mit nackten Füßen, nur in Hose und offenem Hemd, das die rotzottige Brust sehen ließ.

„Ich will meine Maschine!“ schrie Herr Hagedorn noch.

„Nehmen Sie sich in acht! Er hat das Delirium“, flüsterte der Junge hastig.

So voll die kleine Küche war, der alte Busch sah niemanden. Er schlich mit patschenden Füßen, er lauschte, mit schrägem Kopf, die Augen zur Decke ... „Rieke –?“ flüsterte er. „Bist du det, Rieke?“

Herr Hagedorn hatte schon genug. „Lauf, Fritz, lauf!“ schrie er und stürzte aus der Tür, den eigenen Sohn beiseite stoßend. Der stürzte ihm nach.

„Rieke?“ flüsterte der Maurer. „Rieke? Wo biste denn? Haste dir vasteckt?“

„Ick bin ja da“, sagte Rieke. „Hier bin ick ja. Siehste mir denn nich, Walter? Komm, setze dir. Dachtste, ick war weg? Ick bin imma da! Deine Rieke valässt dir doch nich, Walter. Du bist doch mein Bester –!“ Und sie warf einen flehenden Blick zu Karl Siebrecht hinüber.

22. Es geht um Geld

Der alte Busch schlief wieder. Tilda war noch bei der Nachbarin. Es ging auf Mittag, aber keines hatte Hunger. Die Küche war kalt, aber keines dachte daran, das ausgegangene Feuer wieder anzuzünden. Sie saßen alle drei um den Tisch herum. Kalli Flau hatte beide Unterarme auf den Tisch und das Kinn daraufgelegt, mit fest geschlossenen Augen blinzelte er ein Häuflein Geld an, das in der Mitte des Tisches lag. Dazu pfiff er leise und melancholisch.

Rieke Busch saß vornübergebeugt mit gesenktem Kopf. Die fleißigen Kinderhände lagen halb geöffnet und tatenlos in ihrem Schoß. Auch sie sah auf das Geld, aber mit weit offenen Augen, die blaß schienen. Ihre Zähne nagten an der Unterlippe, auf ihrer Stirn stand eine senkrechte Grübelfalte.

Karl Siebrecht schließlich hatte sich ganz zurückgelehnt, er wippte auf den zwei Beinen des Stuhls. Als einziger sah er nicht auf das Geld, sondern zur Decke. Die Geldansammlung auf dem Tisch stammte fast ganz von Karl Siebrecht. Es waren die

60,– Mark halber Monatslohn, die er gestern auf der Zeichenstube ausbezahlt erhalten hatte,

43,55 Mark, die er auf sein Sparbuch geholt hatte, und

7,62 Mark, die noch in seiner Tasche gewesen waren. Dazu kamen

13,17 Mark aus Riekes Besitz;

–,62 Mark aus Tildas Sparbüchse;

–,06 Mark aus Kalli Flaus Vermögen; und

5,11 Mark, die sich in des Maurers Busch Taschen gefunden hatten.

130,13 Mark lagen dort auf dem Tisch. Jedem von den dreien hatte sich diese Zahl fest eingeprägt; mit ihren beiden 13, die eine Null umgaben, schien sie ihnen von unheilvoller Vorbedeutung zu sein.

Nach einer langen Zeit sagte Rieke: „Er wird ooch mit zweihundert zufrieden sind, Karle. Verlaß dir druff.“

„Ich habe ihm zweihundertfünfzig versprochen, und er kriegt auch zweihundertfünfzig!“ sagte Karl Siebrecht. „Ich will auch so einem Kerl Wort halten.“ Und wieder wurde es still in der Küche.

119,87 Mark – das war die zweite Zahl, die sich den dreien in der Küche eingeprägt hatte. Das war die Summe, die bis zum Abend herbeigeschafft werden musste, Karl Siebrecht hatte es versprochen. 119,87 Mark, eine phantastische Summe, weit über die Möglichkeiten von Handerwerb hinaus. „Ich werde meinen Sonntagsanzug und meine guten Schuhe verkloppen“, sagte Karl Siebrecht.

„Nischt!“ antwortete Rieke sofort. „Denn kannste nie 'ne bessere Stelle annehmen, Karl! Eher verklopp ick die Maschine!“

„Einmal gehört die Maschine dir noch nicht, und dann bleibt sie überhaupt hier!“ Und wieder herrschte Schweigen in der Küche.

Dann sagte Rieke Busch vorsichtig: „Ich wüßt 'nen reichen Mann, der dir gleich helfen täte, Karle.“

„Nie“, sagte Karl Siebrecht, ohne seine Stellung zu verändern. „Nie!“

„Nicht jeschenkt, Karl, bloß jeborgt!“

„Nie, Rieke, das weißt du wohl.“

„Ick will dir ooch nich zureden. Ick meine bloß ...“ Und wieder Schweigen.

Dann stand Karl Siebrecht mit einem Ruck auf. „Also los, Rieke, es hilft nichts. Wir werden deine Mäntel so, wie sie sind, bei Felten abliefern: fertig, halbfertig, unfertig. Wir machen einen letzten Schwindel von deiner Mutter – und dann ist mit allem Schwindel Schluß für immer!“ Vor Mitleid wurde er ärgerlich: „Ach, kuck nicht so, Rieke. Heule dann lieber! Du wirst noch viele Mäntel in deinem Leben nähen können!“

„Er wird uns so jut wie nischt dafor zahlen, der Felten, wenn er merkt, wir broochen Jeld!“

„Wir lassen es ihn eben nicht merken! Los, Kalli! Rieke, sage uns, was wir zusammenpacken sollen. Wir machen zwei große Packen für uns, Kalli, und einen kleinen für Rieke!“

„Jehn wa alle drei, Karle?“

„Natürlich. Für zwei ist's zu schwer. Wieso?“

„Denn muss Vata mit. Ick laß Vata'n nich eine Minute mehr alleene. Ick hab meine Backpfeife weg.“ So hielten sie denn ihren Auszug, Karl und Kalli gebeugt unter ihren schweren Packen, Rieke führte den Vater an der Hand. Zitternd, flüsternd ging der alte Busch neben ihr.

Dann, zwei Stunden später, saßen sie wieder um den Tisch. Noch immer war es kalt, noch immer hatten sie nichts gegessen, noch immer war Tilda bei der Nachbarin. Nur der alte Busch saß jetzt am Fenster, er spielte mit seinen Fingern. Nie wieder wird der Mann mauern! dachte Karl Siebrecht, als sein Blick auf ihn fiel. Der muss nun auch durchgefüttert werden, dachte er und wandte, beschämt über diesen Gedanken, den Blick fort zu dem Geldhaufen, der wieder auf dem Tisch lag. Er war nicht viel größer geworden. Es waren dazugekommen:

11,70 Mark für Riekes fast dreiwöchige Näherei;

10,– Mark Vorschuß auf Karl Siebrechts Wochenlohn;

6,– Mark Vorschuß auf Kalli Flaus künftigen Wochenlohn.

27,70 Mark, das war das ganze Ergebnis ihres Weges zu Felten!

Und wie schwer waren die erkämpft! Ach, Karl Siebrecht hatte noch in anderer Bedeutung recht gehabt: es war wirklich noch zu früh gewesen mit Riekes Näherei! Sie hatte ihr Können überschätzt, alles war doch nicht in zwei Tagen von der Näherin Zappow zu lernen. Feiten war genau gewesen, knickerig genau, aber er war nicht gemein gewesen, er hatte ihre Lage nicht ausgebeutet. Er hatte Rieke Fehler auf Fehler an ihren Mänteln gezeigt, die Jungen hatten es schon gar nicht mehr sehen mögen, wie Rieke abwechselnd rot und blaß wurde. Sie hatte sich so geschämt: wie hatte sie vor Karl Siebrecht mit ihrem Können geprahlt! Was musste der Freund von ihr denken! Ach, die kleine, arme, mutige Rieke – das Leben ersparte ihr nichts. Sie traf Schlag um Schlag, 11,70 Mark als Lohn für fast drei Wochen Schuften; 11,70 Mark, das war das Ergebnis von so viel hochfahrenden Träumen!

„Zweiundneunzigsiebzehn müssen wir noch schaffen“, sagte Karl Siebrecht gedankenvoll. „Jedenfalls sind die verdammten Dreizehn aus der Zahl weg!“

Und Kalli Flau: „Wollen wir nicht den Herd anstecken und ein bißchen Kaffee kochen, Rieke? Ich denke immer, wenn wir erst was Warmes im Magen haben, fällt uns auch was ein.“

„Ick hab keen Brot mehr im Haus“, sagte Rieke und sah scheu das Geld auf dem Tisch an.

„Na, auf die paar Groschen kommt's nun auch nicht an, Rieke!“ rief Kalli und griff nach dem Geld.

„Halt!“ befahl Siebrecht. „Bis der Hagedorn bezahlt ist, kommt's auf jeden Groschen an! Koch Kartoffeln, Rieke, oder was du hast, Kaffee – meinethalben auch gar nichts. Aber das Geld bleibt hier.“

„Ick werd Kartoffeln kochen, Karl“, sagte Rieke, und so tat sie, während die Jungen stumm den Geldhaufen bewachten.

Nach einer Weile hatten sie dann gegessen, Kartoffeln mit Salz, aber doch nicht nur Kartoffeln mit Salz, sondern Karl Siebrecht hatte noch eine Mettwurst beigesteuert, die letzte aus einem sehr umfangreichen Paket, das die getreue Minna ihrem Karl zu Weihnachten gesandt hatte. Die getreue Minna, deren Geld nun dahin war, für eine lange, lange Zeit, denn die wirtschaftliche Lage der drei sah nicht nach Ersparnissen aus.

„Ach ja –“ seufzte Karl Siebrecht, und die beiden anderen sahen ihn erwartungsvoll an. Es war nun doch so, dass Karl Siebrecht aus irgendwelchen unbekannten Gründen die Führung in dieser Sache hatte, obwohl Kalli Flau älter und Rieke Busch viel weltklüger war. „Ach ja!“ sagte er noch einmal, aber wacher – sie sollten nicht merken, dass er mit seinen Gedanken weit fort von dieser dringenden Geldbeschaffung gewesen war. „Jetzt haben wir gegessen, und warm sind wir auch geworden – ist euch nun was Vernünftiges eingefallen?“

„Mir nichts“, sagte Kalli Flau. „Man könnte eine ganze Menge anfangen, wenn bloß die Zeit nicht so kurz wäre. Es sind gerade noch vier Stunden.“

„Ja, wenn!“ sagte Karl Siebrecht. „Und du – Rieke?“

„Nischt, Karl. Und du?“

„Ja, Rieke ...“ sagte er langsam. Er sah sie nachdenklich an, wie sie da vor ihm an der anderen Tischseite saß, das Gesicht in die Hand gestützt, sehr blaß. Nach Jungenart hatte er selten auf ihr Aussehen geachtet, aber jetzt fiel ihm doch auf, wie dunkle Ringe um ihre Augen lagen, wie dünn der Arm war, auf den sie den Kopf stützte. „Ja, Rieke ...“ sagte er noch einmal.

„Wat is, Karl? Du weeßt wat! Sag schon!“

„Es wird dir aber weh tun, Rieke.“

„Als wie mir –? Mir tut jar nischt mehr weh – nach dem Theata!“

Und sie sah zu dem alten Busch am Fenster hinüber. „Mach schnell, Karle! Laß mir nich zappeln! Es ist wat mit die Maschine, ick weeß schon! Willste se doch verscheuan?“

„Nicht verkaufen, Rieke, aber wir könnten sie versetzen, auf dem Leihamt.“ Einen Augenblick war Stille. Die beiden Jungen blickten auf Rieke. Deren Gesicht zog sich zusammen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Jungen sahen fort.

Dann sagte Rieke: „Wenn se erst mal weg ist, kommt se ooch nich wieda, det weeß ick, ebensojut können wa se gleich vakloppen!“ Die Jungen schwiegen mit gesenktem Blick. Und wieder Rieke: „Wat werden die Leute über mir sagen! Det janze Haus wird über mir lachen! Knappe vier Wochen hab ick die Maschine jehabt, ick trau mir keenem Menschen mehr ins Jesichte zu sehen!“ Noch immer schwiegen die Jungen. Rieke stampfte mit dem Fuß auf, zornig rief sie: „Det is 'ne beschissene Welt, die taugt nischt! Imma jib ihm uff de Kleenen, die können strampeln und sich schinden, aus die wird doch nischt. Aber die Großen, die können angeben wie Jraf Koks ...“ Ihre Stimme brach. Schluchzen kam. Sie sprang auf, lief durch die Küche, blieb bei der Maschine stehen. „Wat ick mir über die jefreut habe!“ Sie strich mit der Hand schüchtern darüber. „Det war die jrößte Freude meines Lebens! Und nu – nach knapp vier Wochen ...“ Der Schmerz überwältigte sie. Sie konnte nicht mehr weitersprechen.

„Sie kommt ja wieder, Rieke“, sagte Karl Siebrecht sanft. „Wir versprechen dir, wir wollen nicht eher ruhen, bis du deine Maschine wieder hast – nicht wahr, das versprechen wir ihr, Kalli?“ Kalli Flau nickte ernst mit dem Kopf.

Aber Rieke war nicht besänftigt. Rieke war nicht getröstet. Im Gegenteil, sie stampfte mit dem Fuß auf, sie rief: „Wat ihr schon vasprechen könnt! Ihr seid ja ooch nischt, und ihr habt ja ooch nischt! Bloß Einbildungen, die habt ihr! Und du am meisten, Karl! Jawoll, kuck mir noch an! Du brauchst bloß uff stehen und zu dem reichen Fatzken hinjehen und ihm sagen ›Jib mir 'n blauen Lappen!‹ und du hast'n. Aber nee, det jeht nich! Und warum jeht det nich? Von wejen deine Einbildungen! Weil de dir einbildest, du bist zu fein für so wat, darum werd ick meine Maschine los!“ Sie sah ihn zornig an, und Karl Siebrecht sah sie wieder an, aber er sagte kein Wort. Noch einmal rief sie: „Ja, kiek mir nur an! Det is so, wie ick sare!“ Aber sie wendete sich schon ab, dem Fenster zu. Und wieder war Schweigen in der Küche. Dann kam Rieke vom Fenster zurück. Sie legte ihre Hand schüchtern auf Karl Siebrechts Schulter und sagte leise: „Det hätte ick nich saren sollen, Karle. Det ick det jesagt habe, det tut mir von Herzen leid. Det is alles jar nich wahr.“

„Vielleicht ist es aber doch wahr, Rieke.“

„Nee, sag det nich! Det musste machen, wie du denkst. Bloß manchmal bin ick een wahrer Deibel, denn muss ick loslejen, ob's stimmt oder nich, det is denn ejal. Biste mir böse, Karl?“

„Nicht die Spur, Rieke.“

„Siehste, det kann mir schon wieder ärgern. Warum biste mir nich böse? Det muss dir doch böse machen, wenn ick so zu dir bin! Ist dir denn det janz egal?“

„Egal gar nicht, Rieke, aber –“

„Na laß, ick vasteh dir doch nich. Ick bin so, und du bist anders, det is so, und det bleibt so. – Und nu, Jungens, macht rasch, det ihr mit die Maschine aus meine Küche kommt. Ick will ihr nich mehr sehn! Wat muss, det muss! Aber mitjehn tu ick nich, det bring ick nu doch nich übers Herze. Ick bleibe bei Vatan, da ha ick doch ooch wat!“

Und sie lachte, aber böse. Die Jungen eilten sich, mit der Maschine aus der Küche; zu kommen, und als sie erst ein Stück die Treppe hinunter waren, öffnete Rieke leise die Tür und lauschte. Sie hörte die halblauten Kommandos: „Jetzt heb sie ein bißchen, Kalli! – Faß sie doch unten an, Karl! So kriegt sie ja Übergewicht!“

Sie nickte, und nun hörte sie das, vor dem sie sich gefürchtet hatte: die Stimme einer Nachbarin. Aber sie hörte auch die Antwort Karl Siebrechts. Sie war so laut gesagt, als wüßte er, dass sie hier in der Küchentür stand und lauschte. „Kommt zur Reparatur“, log Karl Siebrecht. „Eine Feder ist kaputt.“

Rieke zog leise die Tür zu. Einen Augenblick stand sie da, die Hand auf dem Herzen, aber lächelnd. Dann seufzte sie, drehte sich um und fing an, die Küche aufzuräumen.

23. Alles am Ende

„Wat is denn nu los –?“ fragte Rieke Busch fassungslos. Schon eine ganze Weile hatte sie das Poltern auf der Treppe gehört, aber sie hatte nicht darauf geachtet. Sie war damit beschäftigt gewesen, nach der Küche den Vater ein wenig in Ordnung zu bringen. „Wat is denn nu los –?!“ fragte sie, als die beiden Jungen wieder mit der Maschine in die Küche hereinkamen.

Karl Siebrecht sagte finster: „Sie nehmen die Maschine nur, wenn wir eine Bescheinigung bringen, dass sie uns auch gehört. Zu deutsch also eine Quittung von Hagedorn.“ Er warf sich auf einen Stuhl, streckte die Beine von sich und starrte vor sich hin.

„Das ist 'ne komische Maschine“, sagte Kalli Flau und wärmte über der Herdplatte seine froststarren Hände. „Haben sollt ihr sie nicht, und loswerden könnt ihr sie auch nicht. Unser Käpten von der ›Emma‹ – das ist so 'n Trawler, Rieke – sagt immer: die Fische, die man fängt –“

„Halts Maul, Kalli!“ schnauzte Karl Siebrecht.

„Jawohl, Karl ...! Die Fische, die man fängt, sind zu klein, und die großen zerreißen das Netz -“

„Halts Maul, Kalli!“

„Im Moment, Karl. – Wozu fängt man eigentlich Fische?“

„Und wat nu, Karl?“ fragte Rieke.

„Ja, wat nu, Rieke?“ äffte er ihr nach.

Und dann wurde es endgültig still in der Küche. Lange, lange war es still. Langsam wurde es dämmrig, dann schneller dunkel. Karl Siebrecht saß auf seinem Stuhl und schien vor sich hinzudösen. Kalli Flau hatte sich darangemacht, aus einer alten Kiste Kleinholz zum Feueranmachen zu schnitzeln, Rieke stopfte irgendein Wäschestück. Nur der alte Busch wurde immer unruhiger. Er wollte fort, seine Stunde, zu trinken, war gekommen. Dreimal schon hatte ihn Rieke von der Tür zurückgeholt. „Soll ick den Jas anstecken, Karle?“ fragte sie dann. Er antwortete nicht.

„Der is eingepennt, Rieke“, flüsterte Kalli Flau.

„Der soll man schlafen“, flüsterte sie zurück. „Mit uns is doch nischt mehr zu machen.“

„Du, Rieke ...“

„Ja, Kalli?“

„Was ist denn das für ein reicher Knopp, von dem Karl ohne weiteres Geld kriegen kann?“

„Ach, laß doch, Kalli. Der jeht ja doch nich!“

„Gibt der ihm wirklich soviel Geld, wie Karl haben will?“

„Det jloobe ick stark! Der hat sich sogar anjeboten, Karlen studieren zu lassen, uff Baumeesta. Aba Karl will ja nich.“

„Und warum will Karl nicht?“

„Ach, ick weeß nich. Er hat da wat von de Bibel jesagt, det der Herr der Vasucha is – ick vasteh det nich. Würdste Jeld liegenlassen, wat de kriegen kannst – und denn in unsre Lage?“

„Ich nicht, Rieke! Ich bestimmt nicht!“

„Ick ooch nich, Kalli. Aber det is det: Uns, die wir't nehmen, wird nischt anjeboten, und er, der't kriegen kann, der nimmt et nu wieda nich. Komisch is det injerichtet uff de Welt, Kalli.“

„Ich höre alles, was ihr sagt“, rief Karl Siebrecht ganz vergnügt. „Denkt ihr, ich habe geschlafen? Ich habe nicht einen Augenblick geschlafen!“

„Natürlich haste geschlafen, Karl! Ick habe dir doch schnurkeln jehört.“

„Nicht habe ich geschlafen!“

„Doch haste! Von wat haben wa denn jeredet?“

„Ihr habt geredet, warte mal – ach, weißt du, Rieke, vielleicht habe ich doch einen Augenblick geschlafen. Mir war so, als wäre ich wieder in dem Hühnerschuppen von Vaters Garten, weißt du, ich habe dir davon erzählt, wo ich mal mit Ria war –“

„Ick weeß schon, Karl!“

„Aber Ria war nicht bei mir. Siehst du, ich habe doch nicht geschlafen! Ich hörte euch deutlich reden, dass ich nicht zum Rittmeister wollte, um Geld bitten. Aber ich dachte, das brauche ich ja auch gar nicht. Hier sind ja die Hennen, die Eier legen. Und ich fing an, nach den Eiern zu suchen. Es war ganz dunkel, und ich stieß mich an der Gießkanne und an der Karre, aber dann fand ich doch ein Ei. Es war sehr schwer, ich merkte gleich, dass es aus Gold war, und ich dachte, nun haben wir genug Geld für den Hagedorn und für alles.“ Er schwieg, völlig zufrieden.

„Und denn, Karle?“

„Dann bin ich eben aufgewacht, und nun bin ich wieder hier bei euch in der Küche. Du bist doch auch da, Kalli –?“

„Bin ich, Karl. Immer zur Stelle, wenn Kalli gebraucht wird.“

„Ja, Karle“, sagte Rieke. „Nu biste wieder bei uns in de Küche! Aba hier findste keene joldenen Eier ins Dustere. Die Uhr is bald sechse, um sieben will der Hagedorn sein Jeld, und zweiundneunzigsiebzehn fehlen uns noch imma!“ Sie hatte bitter und erbarmungslos gesprochen, ach, sie war wohl so unglücklich, die kleine Rieke, dass sie ihrem Freund sogar seinen schönen Traum mißgönnte!

„Also dann!“ sagte Karl Siebrecht. „Dann muss ich also das Geld schaffen.“ Er stand auf. „Wo ist denn meine Mütze? Ach, hier! Also dann wartet hier, kurz vor halb sieben bin ich wieder zurück.“ Und er ging zur Tür.

„Karle!“ rief Rieke und lief ihm nach, hielt ihn fest. „Wohin willste? Jeh nich bei den! Vajiß, wat ick gesagt habe! Wenn de bei den jehst und überwindst dir und holst det Jeld meinetwejen – det vazeihste mir dein janzet Leben nich! Lieba soll der Hagedorn uns alle ins Kittchen stecken!“

„Rieke“, sagte Karl Siebrecht. „Rieke! Du sagst immer, du verstehst mich nicht. Aber dich verstehe ich auch nicht. Nun soll ich wieder nicht zu ihm gehen? Aber wenn ich nicht zu ihm gehe, das verzeihst du mir doch auch nicht? Das vergißt du doch auch in deinem ganzen Leben nicht?“

„Doch, Karle, bestimmt! Jeh nich bei den!“

„Ich gehe ja auch nicht zu ihm. Ich gehe zu ganz jemand anders.“

„Det sagste jetzt bloß so, um mir zu beruhigen, Karle.“

„Nein, Rieke, ich gehe wirklich zu jemand anders. Komisch, ich habe nie an den gedacht, und ich habe auch nicht von ihm geträumt, aber als ich aufwachte, da wußte ich: zu dem musst du gehen, der gibt dir das Geld! – Und nun muss ich laufen, Rieke, sonst verpasse ich ihn.“ Und damit war Karl Siebrecht aus der Stube und lief in einem Trab bis vor das Haus in der Krausenstraße, in dem die Firma Kalubrigkeit ihre Büros hatte. Er kam auch wirklich noch ein paar Minuten vor sechs dort an und sah sie alle, eilig oder langsam, aus dem Flur gehen, seine ehemaligen Kollegen, von dem pickligen Wums an bis zum schmissigen Herrn Feistlein, der eine schöne Zigarre rauchte.

Zuletzt aber kam der Oberingenieur Hartleben, und den sprach Karl Siebrecht an, und es wurde ihm nicht einmal schwer, diesen Mann um Geld zu bitten. Der Oberingenieur freilich war sehr überrascht, und so ohne weiteres sagte er nicht etwa ja, sondern Karl Siebrecht musste alles Warum und Wieso haarklein berichten, und dann gab es erst eine Menge Tadel, Ermahnungen, Warnungen. So erfuhr Karl Siebrecht gleich, dass, wer Geld borgt, einen ganzen Sack ungebetenen Rat dazubekommt, den er doch mit dem Gelde nicht zurückzahlen darf. „Nun, ich sehe schon, Karl“, sagte der Oberingenieur schließlich, „ich muss dir diesmal das Geld geben. Aber es ist das einzige Mal, dass ich dir Geld leihe, das merke dir. Ich bin auch nicht so gestellt, dass ich das Geld entbehren kann. Du wirst es mir wiedergeben müssen, Karl, und je eher du das tust, um so lieber ist es mir. – Nein, einen Schuldschein will ich nicht, ich borge dir das Geld auf deine Anständigkeit hin.“

Das war schon in der Wohnung des Oberingenieurs, dass diese Rede gehalten wurde. Herr Hartleben trug natürlich eine solche Summe nicht mit sich in der Tasche herum. Sein Lebtag würde Karl Siebrecht nicht das kleine, schlecht erhellte Eßzimmer vergessen, in dem sie beide verhandelten. Der Tisch war schon gedeckt zum frühen Abend- oder späten Mittagessen, und alle Augenblicke steckte ein Kind oder auch die Frau den Kopf durch die Tür, um zu sehen, ob der Vater noch immer nicht mit dem unerwünschten Besucher fertig war. Nun schloß der Oberingenieur ein Seitenfach des häßlichen, grün verglasten, gelben Büfettchens im Jugendstil auf, und da stand auf ein paar Weingläsern eine Zigarrenkiste. Die nahm er heraus. In der Zigarrenkiste lagen ein paar Scheine und Münzen. Der Oberingenieur zählte – er seufzte beim Zählen – und sagte: „Hier sind also fünfundneunzig Mark, Karl!“

„Ich brauche aber nur zweiundneunzig Mark siebzehn!“

„Nun, nimm schon die fünfundneunzig!“

„Ich möchte aber nicht mehr, als ich brauche!“

„Ich sage dir, nimm! Zwei Mark dreiundachtzig sind schon wenig genug, wenn das alles Geld ist, von dem ihr in den nächsten Tagen leben wollt.“ Und hastig setzte Herr Hartleben hinzu: „Aber mehr kann ich dir nicht geben, Karl!“

Er brachte den Besucher selbst über den engen Gang zur Wohnungstür, und aus der Küche sahen Frau und Kinder schweigend auf Karl. Ihm kam vor, als sähen alle ihn böse an, und er hatte ein so schlechtes Gewissen, als habe er ihnen ihr Geld und damit ihr Brot fortgenommen. Noch auf der Straße grübelte er, wieso es ihm leichter geworden war, den Oberingenieur Hartleben, dem das Geld knapp war, um Hilfe anzugehen als den Herrn von Senden, der ihm wahrscheinlich einen Hundertmarkschein ohne alles Fragen in die Hand gedrückt hätte. Aber freilich, da lag es wohl: er wollte nichts in die Hand gedrückt haben, ihm sollte nichts geschenkt werden. Jetzt war es schwer entbehrtes Geld, das zurückgegeben werden musste, mochte es noch so schwer angehen!

Die beiden warteten schon sehr auf ihn, denn die Uhr war schon fast sieben. Er erzählte nur mit ein paar Worten, wie er es nun doch geschafft hatte, gab Rieke die restlichen 2,83 Mark zum Brotkaufen und lief mit Kalli Flau zu Hagedorn. Von dort mussten die beiden sofort zu Felten, der würde schon böse sein, weil sie so spät kamen. Aber da sie zu zweien waren, würden sie die verlorene Zeit schon wieder einbringen. –

Es war spät in der Nacht, als die beiden Jungen müde und hungrig heimwärts schlichen. Sie hatten noch schwer arbeiten müssen, Felten hatte ihnen nichts geschenkt. „Gottlob, Karl“, sagte Kalli Flau. „Heute abend hat Rieke Stullen, nicht bloß Kartoffeln. Kartoffeln halten nicht vor. Hast du auch so 'nen Hunger?“

„Ich könnte auf der Stelle einen Elefanten anbeißen!“

„Morgens auf der ›Emma‹ – das ist –“

„– so 'n Trawler, ich weiß schon, Kalli. Sage mir nun endlich, was ist eigentlich ein Trawler –?“

So halfen sie sich über den Heimweg. Dann rissen sie die Küchentür auf und riefen: „Hunger, Rieke, Stullen! Stullen, Rieke! Stullen!“

„Brot? Ick hab keen Brot, ick hab gar nischt. Ein paar Kartoffeln sind noch da!“

„Aber ...“

„Die zwei Mark dreiundachtzig ...“

„Denkt ihr! Aba Vater hat wieder jetobt, und ick hab ihm Schnaps koofen müssen, det er bloß ruhig war. For det schöne Jeld Schnaps! Und nu stehn wa da ...“

„Ohne Essen ...“

„Ohne Geld ...“

„Ohne Arbeet ...“

„Na, wieso?“ fragte Kalli Flau. „Dann essen wir eben Kartoffeln. Und morgen gehen wir zu den Äppelkähnen an die Spree. Du sollst sehen, da ist was zu machen! Schön warm ist's hier. Und am Sonnabend kriegst du noch zehn Mark von dem Felten, Karl. Die Maschine können wir jetzt auch versetzen, denn nun haben wir die Quittung von Hagedorn. Ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich finde, wir stehen eigentlich ganz gut da!“

Hans Fallada: Ein Mann will nach oben

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