Читать книгу Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski - Ханс Фаллада - Страница 7

Zweites Kapitel – Die Entlassung – 1

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Zweites Kapitel – Die Entlassung – 1

Ob Kufalt, am Morgen um fünf erwacht, sich den Reizen eines nackten Mädchenkörpers verweigert hätte, bleibt zweifelhaft. Denn er wacht erst um dreiviertel sechs auf, als die Glocke mit zwei scharfen Schlägen Signal zum Aufstehen und Waschen gibt. Er fährt hoch, in die Hosen, besonders gut wird das Bett gemacht, denn heute ist die große Zellenabschiedsrevision. Dann das Waschen im Emailleessnapf statt in der blinkenden Nickelwaschschüssel, die nun zu putzen keine Zeit mehr ist.

Als die Kalfaktoren um sechs nach den Kübeln und Wasser laufen, die Zellenriegel zurückdonnern und die Schlösser knacken, ist Kufalt schon längst beim Reinigen des Zementfußbodens. Noch einmal muss das Muster drauf gewichst werden, alles ist von der Nacht verdorben. Dann baut er das Inventar nach einem heiligen System auf, damit der Hauptwachtmeister auf einen Blick überschaue: siehe! alles ist da.

Und bei all dieser Tätigkeit denkt er doch nur ununterbrochen an den Traum, den er gehabt hat in der Nacht. Der Traum aus den ersten Wochen seiner Untersuchungshaft ist wiedergekommen, jetzt in dieser Nacht.

Er läuft auf einen dunklen, tief verschneiten Wald zu. Er muss sehr rasch laufen, die Polente ist auf seiner Spur. Es ist Nacht, es ist bitterer Winter, der Wald vor ihm ist sehr groß, auf einer Karte hat er gesehen, achtzehn Kilometer läuft die Chaussee durch Wald. Aber er muss hinüber nach der anderen Seite, dort geht eine andere Bahnlinie, dort vermuten sie ihn nicht, dort kann er vielleicht noch entkommen.

Ehe er in die ungeheure Waldung eintaucht, die ihn für vier Nachtstunden umschließen wird, muss er durch ein Dorf. Und im Gasthof des Dorfes sind die Fenster noch hell. Er geht hinein und lässt sich einen Schnaps geben. Und noch einen. Und noch einen. Es scheint, er kann nicht mehr warm werden. Er kauft sich eine Flasche Kognak. Er verstaut sie in seine Aktentasche und zahlt.

Dabei merkt er, dass ihn zwei Männer aufmerksam betrachten, ein blasser, fuchsgesichtiger, junger, und ein alter, gedunsener mit nur noch ein paar Haaren auf der schorfigen Platte. Zwei Pennbrüder.

„Viel Schnee auf den Wegen“, krächzt der Alte.

„Ja“, antwortet Kufalt und sieht, wo das Wechselgeld auf seinen Hunderter bleibt. Er hat die Geldtasche dabei in der Hand, und der Blick des jungen Fuchses liegt auf ihr, haltlos gierig.

„Gibt noch mehr Schnee, Nachbar“, brummt der Alte. „Keine Nacht zum Spazierengehen.“

„Nein“, sagt er kurz und steckt die Brieftasche ein. Er sagt „guten Abend“ gegen den Wirt und geht hinaus. Als er an dem Tisch der beiden vorbeikommt, steht der Junge auf und sagt bittend: „Geben Sie einen Schnaps aus für zwei Durchgefrorene. Wir wollen auch noch auf Quanz.“

Er geht rasch vorbei, als hätte er nichts gehört.

Draußen empfängt ihn der Wind mit einem scharfen prasselnden Trieb Schnee direkt ins Gesicht. Er muss sich Schritt um Schritt gegen ihn ankämpfen, der Wald steht dunkel über dem Feld, ein paar hundert Meter ab.

‚Ich hätte ihnen einen Grog geben lassen sollen’, macht er sich Vorwürfe. ‚Dann wären sie noch eine Viertelstunde sitzen geblieben und ich hätte Vorsprung gehabt. Die sind scharf auf mein Geld. Warum hat er gesagt, wir gehen auch auf Quanz? Woher weiß er, wohin ich will?’

Er versucht, den Weg zurückzusehen, den er kam. Aber es ist nichts zu erkennen, der Schnee treibt jagend schräg vorbei.

‚Im Wald wird es stiller sein. Aber der Schnee wird hoch liegen. Noch achtzehn Kilometer! Ich bin wahnsinnig, wie gut saß ich in Berlin! Sobald ich im Wald bin, nehme ich die Tausender aus der Brieftasche und verstecke sie an mir. Dann finden sie nur das Wechselgeld von dem Hunderter und das sollen sie gerne haben!’

Er läuft gegen den Wind und Schnee stürmend an. Der Alkohol flammt in ihm hoch, er dampft von Wärme. Der Schnee kühlt das Gesicht gut.

Dann plötzlich ist es ganz still um ihn, er ist in die ‚Geduld’ gekommen, in den Windschatten des Waldes. Nur noch ein paar Schritte. Da steht ein Tannenbusch gleich am Wege, er will hinter ihm Deckung nehmen, bricht in die metertiefe Schneeverwehung des Chausseegrabens ein und kämpft, immer wieder abrutschend und einsinkend, um festen Boden.

Als er den hat, nimmt er sich nicht erst die Zeit, den Schnee abzuklopfen von den Kleidern. Er setzt einen Fuß auf den Chausseestein und knüpft hastig die Schnürsenkel auf. Seine Schuhe sind gut mit langen wasserdichten Schäften, der Fuß darin ist trocken und warm. Vorsichtig schiebt er das flach gekniffte Paket mit den Tausendern – es sind leider nur noch drei – zwischen Strumpf und Haut, fühlt, ob alles gut und glatt sitzt und zieht den Schuh wieder an.

Dann richtet er sich auf. Er nimmt einen tüchtigen Schluck aus der Flasche. Er ist ganz ruhig jetzt und seiner Sache sicher. Die kriegen ihn nie, weder die noch die. Er ist der Schlauste. Er muss nur forsch ausschreiten, die holen ihn nie ein.

Und so beginnt seine Wanderung. Sie ist schwieriger, aber auch leichter, als er dachte. Von den beiden sieht und hört er nichts wieder, doch der Schnee liegt schrecklich hoch, bei den Schneisen in breiten Wehen, in denen er bis zu den Armen versinkt. Und von der Chaussee gleitet er so oft ab, dass er schließlich darin Routine hat: sobald er den Boden unter den Füßen verliert und in den Graben rutscht, wirft er sich mit aller Gewalt in die frühere Gehrichtung, dann landet er meist noch auf fester Erde.

Von Zeit zu Zeit macht er einen Chausseestein frei und leuchtet die Zahl an. Er kommt langsam vorwärts. Mehr als drei Kilometer schafft er nicht in der Stunde. Gut ist, dass er den Kognak hat, aber trotz alledem: den Frühzug bekommt er nicht mehr in Quanz, und vor allem: er muss dort erst in ein Hotel und schlafen und schlafen!

Als er die geleerte Flasche in den Schnee wirft, hat er noch vier Kilometer vor sich. Vor acht kann er nicht in Quanz sein. Die letzten Kilometer fällt er nur vorwärts, von einem Fuß auf den anderen, trotzdem zum Schluss die Chaussee fast schneefrei ist, außerhalb des Waldes reingeweht vom Winde.

Dann sitzt er im ‚Deutschen Adler’ in Quanz auf der Bettkante, das Zimmer ist eisig, der eben angezündete Ofen qualmt. Er schläft immer wieder, zur Seite fallend, ein, aber er muss sich ausziehen, er kann nicht schlafen in dem nassen Zeug. Seine Glieder sind starr, seine Knochen voll Eis.

Er streift den Strumpf ab...

Er starrt, er sitzt da, verständnislos. Dann helfen die Finger den Augen suchen. Sie finden – einen weichen zerriebenen Papierbrei, fast farblos, Papier, das acht Stunden zwischen feuchtem Fuß und Strumpf zerarbeitet wurde.

Dreitausend – sein letztes Geld, der letzte Rest vom Unterschlagenen! Er wirft sich aufs Bett und bleibt liegen, wie er hinfällt, ohne Denken. Etwas später bestellt er sich Kognak aufs Zimmer, auch heißen Rotwein und Nelken und Zucker.

Drei Tage bleibt er in seinem Bett, immer trinkend, dann ist das kleine Geld aus der Brieftasche alle. Er geht los und stellt sich der Polizei, genauer dem Oberlandjäger von Quanz, einem Städtel mit dreitausend Einwohnern. Es ist zu Ende.

Dies hat er erlebt, es ist etwas über fünf Jahre her. Und dies hat Kufalt geträumt, viele, viele Nächte lang, die ganzen ersten Monate nach seiner Verhaftung: den Nachtmarsch durch den Wald und den Augenblick, da er aus dem Strumpf die zermatschten Tausender holte.

Es hat ihm einen Stoß versetzt, es ist das Schlimmste, was er je erlebt hat. Es hat seinen Stolz für immer geknickt, die Einbildung, er wäre wer. Nicht einmal zum Ganoven taugt er. Nie wird er jemandem dies Erlebnis erzählen, stets hat er erklärt, er habe alles Geld verludert, auch diese drei.

Später ist der Traum seltener gekommen, aber immer einmal kam er wieder. Auch heute nacht. Auch diese Nacht. Da das neue Leben beginnt, klirrt das alte Kettenglied.

Aber seltsam, der Traum hat sich gewandelt, ein wenig nur, eine geringe Kleinigkeit war anders.

Er erinnert sich genau: auch heute Nacht hat er den Fuß auf den Chausseestein gesetzt, den Senkel gelöst, den Schuh abgestreift. Nur ... es waren keine drei Tausender, die er in den Strumpf schob, es war ein Hunderter...

Es war der Hunderter!

* * *

2

Willi Kufalt sitzt in Gedanken verloren da. Zögernd bückt er sich nach seinem Strumpf. ‚Eigentlich müsste ich ihn dem Netzemeister wiedergeben. Aber das kann ich nun doch nicht. Lieber zerreiß ich ihn.’

Er hat ein deutliches Gefühl von dem neuen Leben, das nun beginnen soll. Es ist etwas wie das Mondlicht heute Nacht. ‚Klar’, fühlte er. ‚Nichts mitschleppen.’

Er fasst in den Strumpf...

Er lässt die Hand wieder vom Strumpf. Er steht mit einem Ruck auf und stellt sich unter das Fenster, in aufmerksamer Haltung, denn Hauptwachtmeister Rusch kommt in die Zelle.

Der Stationswachtmeister bleibt an der Tür stehen.

Der Hauptwachtmeister sieht die Gefangenen nicht an. Er betrachtet erst den Kübel, dann die Inventaraufstellung auf dem Tisch, dann das Arrangement aus Schüsseln, Bürsten, Dosen, Putzkasten auf dem Fußboden. Irgendetwas missfällt ihm, er klappert erst mit den Schlüsseln, dann stößt er mit der Fußspitze die Bürsten durcheinander.

„Erst Wichse, dann Kleider“, befiehlt er.

Kufalt geht hin, bückt sich und legt die Bürsten in die geforderte Ordnung.

„Was gelernt, was?“ fragt Rusch gnädiger. „Kein Schwein mehr?“

„Nein“, sagt Kufalt und denkt daran, dass er hier beispielsweise gelernt hat, sich in der Essschüssel zu waschen und mit dem Netzemesser, einem schwärzlichen Stummel, zu essen, bloß um den befohlenen Paradeglanz der Dinge nicht zu zerstören.

Der Hauptwachtmeister geht gegen die Tür. Aber er hat noch etwas, er bleibt stehen und betrachtet nachdenklich den Wandschrank. Er fasst mit dem Finger hinauf und wischt die Kante entlang.

„Herr Suhm“, sagt er, „Briefbogen ausgeben. Ich mach' allein weiter.“

Der Stationswachtmeister verschwindet.

„Der Sethe. Der Sethe“, sagt Rusch und betrachtet die Decke.

„Nimmt er an?“

Kufalt überlegt einen Augenblick. Er weiß es zwar nicht, ob der alte Kartoffelschäler seine drei Monate Strafe wegen Beleidigung des Küchenwachtmeisters annehmen oder ob er Berufung einlegen wird, denn der spricht ja mit ihm nicht mehr. Aber davon erzählt er dem Rusch lieber nichts.

„Glaube nicht, Herr Hauptwachtmeister“, sagt er. „Wird wohl Berufung einlegen.“

„Soll er nicht. Soll nicht dumm sein. Mit ihm reden. Strafe annehmen, dann Bewährungsfrist, morgen raus. Sonst – bleibt er hier. Untersuchungshaft – Verdunkelungsgefahr.“

‚Kieke da’, denkt Kufalt, ‚das haben die ja wieder fein hingedreht. Acht Jahre hat der olle Sethe abgerissen, da wissen die ganz genau, dass ihm jetzt wieder jeder Tag zuviel wird. Damit wollen sie ihn kriegen.’

Und laut: „Ich kann ja heute Mittag mal mit ihm reden. Aber ich glaub' nicht, Herr Hauptwachtmeister, dass da was zu machen ist. Der hat einen Rochus im Leib.“

„Soll nicht dumm sein, annehmen. Dann Bewährungsfrist. Sonst – weiter Knastschieben!“ Der Hauptwachtmeister macht eine Pause. Darauf sagt er bedeutungsvoll: „Und dann...“

Er bricht ab. Sehr bedeutungsvoll.

‚Ja, und dann ...’, denkt Kufalt. ‚Ich weiß schon, was du meinst. Es ist nämlich noch gar nicht sicher, dass der Sethe dann in einem Vierteljahr rauskommt. Erst mal werden ihn wohl die Küchenhengste ein bisschen erledigen in seinem dunklen Keller, und ein Gefangener ist kein Zeuge. Bisschen in die Mache nehmen, dass er sein eigenes Geschrei mal hört. Und dann werden ihn die Beamten ein ganz kleines bisschen reizen – der ist ja jetzt schon wie so ein Teekessel am Überkochen –, bis er wieder was Dummes sagt, und wieder Beamtenbeleidigung. Und vielleicht ist er gar tätlich geworden, ganz egal, ob er's wirklich geworden ist – dem können sie Knast besorgen, bis er auf der Irrenabteilung ist...’

„Schlauer ist, er nimmt an“, sagt also Kufalt auch.

„Siehst du“, sagt der Hauptwachtmeister gnädig. „Ihm sagen. Soll sich vormelden zum Gerichtsschreiber. Kommt heute her. Dann morgen früh sieben raus.“

„Jawohl, Herr Hauptwachtmeister“, sagt Kufalt und weiß, dass er mit Sethe nicht ein Wort sprechen wird.

Der Hauptwachtmeister nickt: „Vernünftig. Bist immer vernünftig gewesen – bis auf die anderen Male. Fertigmachen. Hole dich gleich zum Direktor. Maul halten.“

Der Hauptwachtmeister ist weg und revidiert weiter die Zellen auf Ordnung und Sauberkeit. Kufalt steht da.

Jetzt vor acht Uhr zum Direktor! Schwager Werner hat geschrieben! Vielleicht ist die Schwester selbst da, ihn abzuholen! Aber dafür ist es doch noch einen Tag zu früh? Es ist natürlich wegen etwas anderm, es ist wegen Sethe. Warum hat der Hauptwachtmeister zum Schluss gesagt: ‚Maul halten’ –?

Er wird dem Direktor sagen, was er will. Direktor Greve ist der einzige Mensch im Bau, dem man alles sagen kann. Er kann ja nicht viel machen, seine Beamten stimmen ihn immer nieder, aber er ist anständig, er tut, was er kann. Und er will nur können, was anständig ist.

Kufalt denkt wieder an seinen Hunderter. Aber er nestelt nicht mehr an seinem Strumpf. Er räumt das Inventar ein. ‚Scheibe’, denkt er. ‚Ja, Scheibe! Ausgerechnet hier fange ich mit Anständigkeit an. So blau!’

Und dann: ‚Eine schöne Dummheit hätte ich gemacht, hätte ich den Hunderter zerrissen. Die sind doch alle so, die draußen sind auch nicht anders. Sethe – den werden sie noch nach acht Jahren Knast erledigen. Und ich soll anständig sein? So blau!’

Der Hauptwachtmeister steckt den Kopf durch die Tür: „Mitkommen“, sagt er.

* * *

3

Kufalt kommt immer besonders gerne aus dem Zellengefängnis zu denen ‚vorne’.

Er geht einen halben Schritt vor dem Hauptwachtmeister her, am Glaskasten der Zentrale vorbei. Hier wird es schon ganz anders, hier sind die großen Zellen der Handwerker: der Schuster und Schneider, der Steindrucker und des Bücherwarts. Hier stehen die Zellentüren weit offen und die Handwerker laufen ein und aus, zur Wasserleitung und zum Werkmeister, mit Bügeleisen und mit Lederkupons.

Dann aber kommt die große feste Eisentür.

Der Hauptwachtmeister schließt zweimal, Kufalt tritt durch die Tür und steht auf dem Büroflur. Ein kahler Flur, weiß getünchte Wände, das Linoleum des Bodens fleckenlos spiegelnd, und eine endlose Reihe Türen. Kufalt kennt sie alle: Sprechzimmer, Lehrer, Pastor, zweites Sprechzimmer, zwei Obersekretäre von der Arbeitsinspektion, das Vorzimmer zum Direktor, Direktorzimmer, Oberwachtmeister vom Postdienst. Und auf der anderen Seite wieder zurück: Telephonzentrale, Polizeiinspektor, Arbeitsinspektor, Ökonomieinspektor, Kasse, Kasseninspektor, Arzt, Jugendfürsorger, Konferenzzimmer, Untersuchungsrichter und die Aufnahme.

In fast allen diesen Zimmern ist er gewesen mit Bitten und Gesuchen, um getadelt zu werden, um Schriftstücke zu unterschreiben. Von hier aus ist sein Schicksal geregelt worden, sind Hoffnungen erweckt und enttäuscht worden.

Der Polizeiinspektor hat ihm einmal drei Monate lang seinen Besuch versprochen und ist nie gekommen. Seitdem hasst er ihn. Der Lehrer hat ihm einmal zwanzig fast neue Zeitschriften auf die Zelle gegeben, der war überhaupt immer anständig. Mit dem Arbeitsinspektor hat er oft Krach gehabt, weil die Abrechnung nicht stimmte. Einmal gab der Ökonomieinspektor acht Wochen zu flott Lebensmittel aus, und am Schluss des Quartals bekam dann das ganze Kittchen solchen Fraß, dass man nichts mehr denken konnte wie Kohldampf, Kohldampf, Kohldampf ... Der Pastor, nun, über den war überhaupt nicht zu reden. Der war nun schon über die Sechzig und machte seit vierzig Jahren im Bunker Dienst – der kälteste Pharisäer auf dieser pharisäischen Erde.

Der Direktor andererseits, nun über den ließ sich auch nicht reden. Ein herrlicher Mann ... zu gut vielleicht, zu gut sicher. Er hat schon viel Böses durch seine Güte erfahren, darum hat er den rechten Mumm nicht mehr, etwas gegen seine Beamten durchzudrücken, die doch immer recht behalten. Aber immer noch gut.

Der Hauptwachtmeister klopft an die Tür. „Der Strafgefangene Kufalt“, meldet er.

Der Direktor hinter seinem Schreibtisch sieht hoch: „Es ist gut, Hauptwachtmeister. Sie können gehen, ich schicke den Mann dann zurück.“

So eine Art Vorführung wurmt den Hauptwachtmeister, diesen mächtigen Mann, das weiß Kufalt. Beim vorigen Direktor ist er bei jeder Unterredung dabei gewesen und hat feste mitgeredet. Aber der Hauptwachtmeister verzieht keine Miene, er macht kehrt und geht aus dem Zimmer.

Der Direktor sitzt hinter seinem Schreibtisch. Er hat frische Farben, ein paar Durchzieher in der linken Backe und blaue Augen. Außerdem hat er eine Platte, die von den frischen Farben auch was abbekommen hat, gegen die Stirn ist sie rosa, gegen den Scheitel wird sie immer röter.

„Setzen Sie sich“, sagt der Direktor. „Sie nehmen eine Zigarette, nicht wahr, Kufalt?“

Er bietet ihm die Schachtel an, es ist eine Sorte zu sechs Pfennig, Kufalt sieht es, etwas Fabelhaftes. Und nun gibt ihm der Direktor auch noch Feuer.

Er hat sehr gepflegte Hände und einen tadellos sitzenden Sportanzug, seine Manschetten fallen so sauber über die Handgelenke, Kufalt kommt sich wie ein Schwein vor.

„Morgen ist es nun überstanden“, sagt der Direktor. „Ich will Sie fragen, ob ich Ihnen noch irgendetwas helfen kann?“

Kufalt möchte in seiner jetzigen Stimmung alles akzeptieren, was Direktor Greve ihm etwa vorschlägt, aber er hat keine eigenen Vorschläge – trotz seiner Hilflosigkeit. So sieht er den Direktor nur abwartend an.

„Was haben Sie für Pläne?“ fragt der. „Sie haben doch Pläne.“

„Ich weiß nicht recht. Ich denke, meine Verwandten schreiben noch.“

„Sie stehen mit ihnen in Korrespondenz?“ Und erläuternd: „Sie wissen, ich lese die Post nicht. Die Zensur macht der Herr Pastor.“

„In Korrespondenz? Nein. Ich habe ihnen in den letzten drei Monaten jedesmal einen Brief geschrieben, wenn Schreibtag war.“

„Und sie haben nicht geantwortet?“

„Nein. Noch nicht.“

„Ihre Verwandten stehen gut da?“

„Ja.“

„Möchten Sie, wenn keine Antwort kommt – sie kann natürlich noch kommen, wenn aber keine kommt –, möchten Sie einfach hinfahren zu Ihren Verwandten?“

„Nein“, sagt Kufalt ganz erschrocken. „Nein, keinesfalls.“

„Gut. – Und Sie wollen ernstlich arbeiten?“

„Am liebsten“, sagt Kufalt stockend, „möchte ich irgendwohin, wo niemand etwas weiß. Ich habe an Hamburg gedacht.“

Der Direktor wiegt den Kopf hin und her: „Hamburg ... Großstadt ...“

„Ach Gott, Herr Direktor, ich habe die Nase wirklich voll. Das lockt mich nicht mehr.“

„Die Versuchungen der Großstadt? Ach nee, Kufalt, an die glaube ich auch nicht. Oder vielmehr, die in der Kleinstadt sind genauso. Aber die Arbeitslosigkeit ist in Hamburg natürlich noch schlimmer. Sie haben keinen, der Ihnen dort hilft? Hier könnte ich vielleicht...“

„Nein, bitte nicht hier. All die Gesichter...“

„Gut. Vielleicht haben Sie recht. Aber was dort? Was haben Sie sich so gedacht?“

„Ich weiß doch noch nicht! An Buch- und Kassenführung komme ich natürlich nicht wieder ran. Und eine Stellung kriege ich auch nicht so leicht, wo die fünf Jahre in meinen Papieren fehlen...“

„Nein“, bestätigt der Direktor. „Kaum.“

„Aber ich kann doch Schreibmaschine. Wenn ich mir eine Maschine kaufte und Adressen schriebe im Akkord? Und später eine richtige Schreibstube einrichtete? Ich kann gut Maschine schreiben, Herr Direktor.“

„Sie besitzen keine Maschine? Haben Sie Geld?“

„Nur die Arbeitsbelohnung.“

„Und wieviel macht die?“

„Ich denke, dreihundert Mark. – Ach, Herr Direktor, wenn Sie veranlassen würden, dass die mir hier gleich ganz ausbezahlt werden? Dass ich sie mir nicht alle Wochen vom Wohlfahrtsamt holen muss?“

Der Direktor macht ein bedenkliches Gesicht.

„Ich will so sparsam sein, Herr Direktor!“ bittet Kufalt. „Ich will keinen Pfennig verludern. Aber nicht aufs Wohlfahrtsamt!“

Und leise: „Ich möchte auch mit so was durch sein.“

Der Direktor kann Bitten schlecht widerstehen. Er sagt: „Gut. Das ist erledigt. Ich werde veranlassen, dass Sie Ihre Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt kriegen. Aber, Kufalt – von den dreihundert Mark müssen Sie leben, vielleicht zwei Monate, drei Monate leben, da können Sie sich keine Schreibmaschine kaufen.“

„Auf Raten?“

„Nein, nicht auf Raten. Sie können ja nicht mit festen Einnahmen rechnen, das kann alles fehlgehen mit Ihren Adressen. Was also –?“

„Meine Verwandten...“

„Die lassen wir erst einmal ganz aus dem Spiel. Was machen Sie also?“

„Ich – weiß – doch – nicht.“

Des Direktors Stimme wird immer frischer: „Und wie lange haben Sie nicht Schreibmaschine geschrieben? Fünf Jahre nicht? Über fünf Jahre nicht? Ja, das wird dann im Anfang nur mühsam gehen, viel werden Sie nicht schaffen.“

„Ich kann gut hundert Adressen in der Stunde tippen.“

„Haben Sie gekonnt. Heute nicht mehr. Sie denken, Sie sind gesund. Sie denken, Sie haben Ihre zwei Pensum gestrickt, das geht auch draußen. Aber hier hat Sie nichts abgelenkt, Kufalt, draußen kommen all die Sorgen und die Versuchungen. Sie sind doch den Umgang mit Menschen nicht mehr gewohnt. Und dann die Kinos, in die Sie nicht dürfen, und die Cafés, für die Sie kein Geld haben. Das wird alles sehr schwer für Sie sein, Kufalt. Das Schwere fängt erst an.“

„Ja“, sagt Kufalt. „Ja.“

„Sie waren lange genug hier im Bau, Kufalt. Wie viele haben Sie wieder kommen sehen?“

„Viele, viele.“

„Sie müssen stärker sein als die alle. Sie werden oft denken, das lohnt ja gar nicht die Mühe – für was denn? Ich komme ja doch nicht wieder hoch. – Manche kommen aber doch wieder hoch. Nur streng müssen Sie es angehen lassen, Kufalt, ganz streng.“

„Ja, Herr Direktor“, sagt Kufalt gehorsam.

Das Zimmer ist zart bräunlich getönt. Die Fenster sind keine Löcher in der Wand, sondern haben Gardinen, weiße Mullgardinen mit zartgrünen Streifen. Ein richtiger Teppich liegt auf dem Boden.

„Sie sind wie ein Kranker, der lange im Bett gelegen hat, Sie müssen erst wieder gehen lernen, Schritt für Schritt. Wer lange im Bett lag, muss einen Stock zur Stütze haben oder jemanden, der ihn führt. – Noch eine Zigarette? Gut.“

Der Direktor wartet einen Augenblick. „Sie denken jetzt, lass den man reden, ich find mich schon zurecht. Es – ist – aber – sehr – schwer. Bis Sie sich reingefunden haben in das Leben draußen – Sie haben doch früher nie gelebt ohne festes Einkommen? Sehen Sie! Bis Sie sich eingelebt haben, ist Ihr Geld alle. Und was dann?“

„Man möchte bitten“, sagt Kufalt mühsam lächelnd, „dass Sie einen hierbehalten, Herr Direktor. Ich bin ja doch wie ein Mann, dem man die Hände abgeschlagen hat.“

„Nicht abgeschlagen“, sagt der Direktor. „Aber gelähmt sind sie, steif sind sie. Ich will Ihnen was vorschlagen. Es gibt ein Haus in Hamburg, da können Sie hingehen, da werden stellungslose Kaufleute aufgenommen, auch strafentlassene Kaufleute. Da ist eine Schreibstube dabei, Sie arbeiten dort tagsüber, genau wie auf einem Büro, und dafür haben Sie Ihr Zimmer und Ihr Essen frei. Wenn Sie mehr verdienen, wird Ihnen das gutgebracht. Sie brauchen Ihre Arbeitsbelohnung nicht anzugreifen, die wird sogar mehr, wenn Sie fleißig sind. Und sobald Sie sich sicher fühlen und irgendeine Arbeit wissen, gehen Sie raus aus dem Heim. Sie können jeden Tag rausgehen, Kufalt.“

„Ja“, sagte Kufalt überlegend. „Es sind nicht nur Strafentlassene da?“

„Nein“, sagt der Direktor. „Soviel ich weiß, auch sonst Stellungslose.“

„Und ich kann da ohne weiteres hin?“

„Ganz richtig. Sie lernen gehen, Kufalt, weiter nichts. Es wird natürlich da so eine Art Hausordnung geben, und sehr luxuriös wird es auch nicht grade sein, aber Sie sind ja nicht verwöhnt.“

„Nein“, sagt Kufalt aufatmend. „Nein, das bin ich nicht. Das ist sehr gut. Das will ich tun.“

Er sieht vor sich hin. Der Hunderter im Strumpf brennt wie Ausschlag. Er kämpft mit sich. Er möchte ihn dem Direktor geben: ‚Da, nehmen Sie, ich will klaren Weg haben.’ Der Direktor würde schon nichts fragen. Aber dann tut er es doch nicht, es sähe so großsprecherisch aus, als wolle er seine Dankbarkeit abbezahlen, aber oben in der Zelle wird er ihn gleich zerreißen. Bestimmt.

„Ja“, sagt der Direktor. „Dann ist also alles klar. – Und wenn irgendetwas nicht klappt, dann schreiben Sie mir.“

„Ja. Und ich danke Ihnen auch, Herr Direktor. Ich danke Ihnen für alles.“

„Gut“, sagt der Direktor und steht auf. „Und nun bringe ich Sie noch zum Pastor. Der besorgt die Anmeldung im Heim.“

„Zum Pastor –?“ fragt Kufalt. „Ist es ein frommes Heim?“

Er bleibt sitzen.

„Nein, nein. Wenn auch ein Pastor sein Leiter ist. Es ist ganz interkonfessionell. Da sind Juden und Christen und Heiden.“ Der Direktor lacht beruhigend.

„Aber ich möchte nicht gerne zum Pastor.“

„Seien Sie kein Tor“, sagt der andere energisch. „Der Pastor meldet Sie an, das ist eine Formalität, die ebensogut der Polizeiinspektor oder der Postwachtmeister machen könnte. Zufällig macht sie nun mal der Pastor.“

„Ich gehe nicht gerne zum Pastor.“

„Nun schön. Wollen Sie fünf Minuten Unannehmlichkeiten beim Pastor in Kauf nehmen oder lieber versacken? Also! Kommen Sie!“

Der Direktor ist schon halb auf dem Gang und geht Kufalt eilig voraus.

* * *

4

Plötzlich ruft Kufalt den Direktor, der schon fast an der Tür des Pastorenzimmers ist, an: „Herr Direktor, bitte noch was!“

Der Direktor wendet sich um: „Ja?“

„Der Bruhn, Herr Direktor, kommt doch auch übermorgen raus. Wenn Sie einmal mit ihm reden könnten?“

„Ja?“

„Es ist da was im Busch. Ich glaube, es haben ihm welche Versprechungen gemacht, und nun soll er angeschissen werden.“

Der Direktor überlegt eine Weile, er denkt scharf nach, dann fragt er: „Werkmeister?“

Kufalt sieht den Direktor an, aber er schweigt.

„Sie wollen nicht mehr sagen?“

Zögernd antwortet Kufalt: „Seit Sethe eigentlich nicht mehr sehr gerne.“

Sie stehen sich beide gegenüber auf dem Bürogang, Gefangener und Gefängnisdirektor, sie denken beide an jene Unterredung, da der Direktor dem Gefangenen Hilfe, Aufdeckung versprach. Die Stirn des Direktors ist dunkelrot geworden. Er sagt behutsam: „Es ist alles nicht so leicht Kufalt. Man muss schustern, ewig schustern...“

Und plötzlich rasch entschlossen: „Also, ich werde mit Bruhn reden, dass er keine Dummheiten macht.“

Und er geht Kufalt rasch ins Pastorenzimmer voran.

„Hier, Herr Pastor, bringe ich Ihnen Kufalt. Er hat ein Anliegen an Sie.“ Und zu Kufalt: „Also, lassen Sie es sich gut gehen. Halten Sie die Ohren steif und – alles Gute!“

Er gibt ihm die Hand, leise murmelt Kufalt etwas, und der Direktor ist fort.

Der Pastor sagt: „Also, mein lieber junger Freund, Sie haben ein Anliegen an mich. Sprechen Sie sich aus, sagen Sie mir alles, was Sie auf dem Herzen haben.“

‚Das möchtest du wohl’, denkt Kufalt und schaut mit kaum verhohlenem Widerwillen in das glatte, wohlgenährte Gesicht.

Pastor Zumpe ist schneeweiß von Haar, hat auch einen schönen, weißen, glatten Teint, aber dunkle Augen, über denen sehr buschige und rabenschwarze Brauen sitzen. Im Kittchen geht das Gerücht, diese Brauen seien nicht echt. Jeden Sonntag vor der Predigt klebe sie sich der Pastor neu an, mit Leim, und zum Beweise, dass dies kein bloßes Gerücht sei, führen seine Anhänger an, dass manchmal eine Braue höher sitze als die andere.

Der Pastor sieht den Gefangenen freundlich an, es ist eine milde Freundlichkeit, etwas kaninchenhaft, aber das hilft nichts: Kufalt spürt genau, dass er diesem Mann völlig gleichgültig ist.

Der Pastor fragt wieder: „Also wo fehlt es, Kufalt? Brauchen wir noch etwas? Einen schönen Anzug zur Entlassung? Der kostet viel Geld, aber bei Ihnen lohnt es vielleicht. Bei Ihnen ist ja noch Hoffnung.“

„Danke“, sagt Kufalt, „Ich will keinen Anzug. Aber Herr Direktor hat mir gesagt, ich muss zu Ihnen wegen der Anmeldung für ein Heim mit stellungslosen Kaufleuten. Darum bin ich hier.“

„Also Sie wollen nach Friedensheim? Das ist erfreulich. Sehr erfreulich. Es ist eine große Vergünstigung, wenn man dort aufgenommen wird, mein lieber Kufalt. Sie leben dort – herrlich, kann ich Ihnen versichern. So gutes Essen. Und reizende Zimmer. Und ein entzückender Tagesraum mit einer vorzüglichen Bibliothek. Ich bin selbst dort gewesen, alles habe ich mir angesehen. Vorbildlich.“

„Und die Arbeit?“ fragt Kufalt argwöhnisch. „Wie ist denn die?“

„Ach ja“, sagt der Pastor überrascht, „richtig, die Herren arbeiten. Das ist vorzüglich organisiert. Da siind ein großer Raum und sehr viel Schreibmaschinen, und da sitzen die Herren und schreiben. Es sieht so – gemütlich aus.“

„Was verdient man denn da?“

„Ja, mein lieber junger Freund, wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist doch eine Wohltätigkeit, eine Hilfe, die Ihnen geleistet wird. Aber natürlich werden Sie genau bezahlt. Den Betrag kann ich Ihnen nicht sagen, aber Sie verdienen sicher sehr gut.“

„Na schön“, sagt Kufalt, „wollen Sie dann mal die Anmeldung ausschreiben?“

„Ja. Hier sind schon die Formulare. Wie heißen Sie? Also Kufalt. Und mit Vornamen? Willi? Also Wilhelm.“

„Nein, nicht Wilhelm. Willi. Ich bin auf den Namen Willi getauft.“

„Wirklich? Aber Willi ist eine Verstümmelung. Nun, lassen wir es dann also. Willi ... hmmm ... Willi. Und wann geboren? – Da werden Sie ja bald dreißig! Es wird Zeit, lieber Freund, hohe Zeit. – Und weswegen bestraft? – Unterschlagung und Urkundenfälschung? Schwere? Also Unterschlagung und schwere Urkundenfälschung. Wie lange?“

„Wozu müssen die in dem Heim denn das eigentlich wissen? Ich denke, damit ist es nun alle, hab's abgesessen.“

„Aber die wollen Ihnen doch helfen, lieber Kufalt. Und wenn man Ihnen helfen will, muss man Sie kennen. Wie lange?“

„Fünf Jahre.“

Der Pastor wird immer freundlicher und sanfter, je brummiger Kufalt antwortet. Fast gerührt fragt er: „Und die Ehrenrechte, mein lieber Kufalt? Die bürgerlichen Ehrenrechte – die haben Sie doch noch?“

„Ja, habe ich noch.“

„Und die lieben Eltern? Was ist denn der liebe Vater?“

Kufalt verzweifelt wirklich. Heftig sagt er: „Um Gottes willen, Herr Pastor, können Sie damit nicht aufhören? Das macht mich ... Was haben denn meine Eltern mit dem Krempel zu tun?“

„Lieber Kufalt, seien Sie doch ruhig ... Es ist bestimmt alles zu Ihrem Besten. Sehen Sie, man muss doch wissen, aus welchen Kreisen Sie stammen. Einen Arbeitersohn kann man natürlich nicht für einen Privatsekretärposten in feinem Hause empfehlen. Nicht wahr? Also, was ist der liebe Herr Vater?“

„Tot.“

Der Pastor ist immer noch nicht ganz zufrieden, aber er lässt es auf sich beruhen: „Soso. – Aber die Mutter, die lebt noch, nicht wahr? Die ist Ihnen noch geblieben?“

„Herr Pastor“, sagt Kufalt und steht auf, „ich bitte, mir die Fragen kurz und knapp, wie sie dort vorgedruckt sind, vorzulesen!“

„Aber, mein lieber, junger Freund, was haben wir denn? Ich verstehe Sie nicht. Ja, doch, doch, ich weiß, es ist eine wunde Stelle, wenn man mit seinen Nächsten auseinander ist. Daran darf nicht gerührt werden. Aber sie schreibt Ihnen doch, Ihre Mutter, sie schreibt doch?“

„Nein, sie schreibt nicht!“ schreit Kufalt. „Und das wissen Sie ganz gut. Sie lesen ja die Briefe, Sie haben ja die Zensur.“

„Aber, mein lieber, junger Freund, dann müssen Sie hinfahren! Zu Ihrer Mutter! Dann dürfen Sie nicht nach Friedensheim. Dann fahren Sie hin zu Ihrer Mutter, sicher verzeiht sie Ihnen!“

„Herr Pastor“, fragt Kufalt kalt entschlossen, „was ist es mit dem Blumenstrauß?“

Pastor Zumpe ist wirklich verblüfft. In einer ganz anderen Tonart völlig ohne Sanftheit fragt er: „Mit dem Blumenstrauß? Mit welchem Blumenstrauß?“

„Ja, mit welchem Blumenstrauß wohl?!“ höhnt Kufalt jetzt ganz offen. „Was ist mit Ihrem Blumenstrauß, den Sie drei Wochen nach Weihnachten dem schwindsüchtigen Siemsen in die Zelle gebracht haben? Was ist mit der Anzeige von Siemsen geworden, die er gegen Sie an den Strafvollzugspräsidenten geschrieben hat? Ist die in Ihren Papierkorb gekommen?“

Und Kufalt sieht sich wild im Zimmer nach dem Papierkorb um, als könnte die Anzeige heute, ein Vierteljahr später, noch drin liegen.

Der Pastor ist erschüttert: „Aber mein lieber, junger Freund, so beruhigen Sie sich doch! So etwas muss Ihnen ja schaden. Sie sind einem Irrtum zum Opfer gefallen, einem jener hässlichen Gerüchte ... Wenn ich dem kranken Gefangenen Siemsen einen Blumenstrauß gebracht habe, so darum, um ihm eine Freude zu machen, aber doch nie...“

Überwältigt bricht der Pastor ab.

„Sie haben, Herr Pastor Zumpe“, sagt Kufalt wild, „dem Siemsen wie seiner Frau zu Weihnachten zehn Zentner Briketts und ein Lebensmittelpaket versprochen für seine Familie. Das war von der Gefangenenfürsorge bewilligt. Die Frau hat gewartet und gewartet mit den Kindern. Sie haben es einfach vergessen. Und als die Frau dann zu Ihnen gekommen ist, haben Sie sich verleugnen lassen. Und als Sie von ihr auf der Straße angesprochen worden sind, haben Sie gesagt, sie soll Sie zufrieden lassen, es sind keine Mittel mehr da. – Das ist so, Herr Pastor, das wissen alle Gefangenen im Bau und die Beamten wissen es auch.“

„Hören Sie mal“, ruft der Pastor wütend, „das ist alles nicht wahr, Entstellungen sind das, Verleumdungen. Wissen Sie, dass ich Sie wegen Beamtenbeleidigung anzeigen kann? Die Siemsen ist eine zweifelhafte Person, sie lässt sich mit anderen Männern ein, einer Unterstützung ist sie gar nicht würdig!“

„Wahrscheinlich soll sie ihre Gören verhungern lassen, statt auf den Strich zu gehen! – Und wie ist es denn, Herr Pastor, sind Sie nicht an dem Tage zu Siemsen mit Ihrem Blumenstrauß gekommen, als er in seiner Wut an den Strafvollzugspräsidenten geschrieben hatte?“

„Aus Mitleid bin ich zu ihm gegangen. Die Anzeige war bloßer Unsinn, denn der Fürsorgeverein ist ein privater Verein und für den ist der Herr Präsident gar nicht zuständig!“

„Darum haben Sie wohl dem Siemsen gute Worte gegeben, dass er die Anzeige zurücknimmt? Und das dumme Schwein tut's wirklich! Aber ich werde sie schreiben, wenn ich rauskomme, an die Zeitungen werde ich den Fall geben...“

„Tun Sie das nur“, sagt der Pastor giftig. „Sie werden ja sehen, wie weit Sie kommen. Ich bin vierzig Jahre Pastor hier, ich habe andere Leute wie Sie ausgestanden. – Ist Ihre Mutter in der Lage, Sie zu ernähren?“

„Nein.“

„Welcher Religion sind Sie?“

„Noch evangelisch. Aber ich trete so rasch wie möglich aus.“

„Also evangelisch. – Was können Sie?“

„Büroarbeiten.“

„Welche?“

„Alle.“

„Können Sie spanische Geschäftsbriefe schreiben?“

„Nein.“

„Also, welche Büroarbeiten können Sie?“

„Schreibmaschine, Stenographie, doppelte amerikanische und italienische Buchführung, bilanzsicher. Und so das Übliche.“

„Also nicht spanisch. Können Sie Vervielfältigungsmaschinen bedienen?“

„Nein.“

„Falzmaschinen?“

„Nein.“

„Adressiermaschinen?“

„Nein.“

„Sehr wenig. So – nun haben Sie hier zu unterschreiben.“

Kufalt überfliegt den Fragebogen. Plötzlich stutzt er. „Hier steht, dass ich die Hausordnung anerkenne. Wo ist denn die?“

„Die Hausordnung ist die Hausordnung. Die müssen Sie natürlich anerkennen.“

„Aber ich muss doch wissen, was ich anerkenne. Darf ich die mal sehen?“

„Ich habe keine hier. Mein lieber Herr Kufalt, für Sie wird keine extra gemacht. Der haben sich alle unterworfen, also werden Sie' s auch müssen.“

„Ich unterschreibe nicht, was ich nicht kenne.“

„Ich dachte, Sie wünschten, in das Heim aufgenommen zu werden.“

„Ja, aber die Hausordnung muss ich erst sehen. Sie haben sicher eine hier.“

„Ich habe keine hier.“

„Dann kann ich auch nicht unterschreiben.“

„Und ich nicht Ihre Aufnahme empfehlen.“

Kufalt steht einen Augenblick unschlüssig und betrachtet den Pastor. Der sitzt am Schreibtisch und blättert in Briefen.

„Sie sollten die Briefe rascher zensieren, Herr Pastor“, sagt Kufalt. „Es ist eine Schweinerei, wenn die Briefe hier zwei Wochen liegen.“

Der Pastor sieht gar nicht erst hoch. „Also Sie unterschreiben nicht?“

„Nein“, sagt Kufalt und geht.

* * *

5

Kufalt sieht sich auf dem Gang um. Drüben, bei der Aufnahme, stehen sechs, acht Mann, acht Mann in Zivil, neu eingelieferte Gefangene. Bei ihnen hat Oberwachtmeister Petrow Aufsicht, der bläst nichts, was ihn nicht brennt. Sonst ist der Gang leer.

Kufalt geht in der anderen Richtung, vom Zellengefängnis fort, von Petrow fort, an all den Bürotüren vorbei, bis er zur Treppe, die ins Erdgeschoss führt, kommt. Dies ist eine Beamtentreppe, für Gefangene nicht zu betreten, aber er wagt es.

Keiner begegnet ihm, er steigt nach unten, bis in den Keller, und hier stellt sich Kufalt an eine andere große Eisentür, die in des Hausvaters Reich führt. Der Pastor hat ihn auf einen Gedanken gebracht: in welchem Zustand wird sein Anzug sein?

Fünf Jahre ist es her, seit er eingeliefert wurde, er versucht vergeblich, sich zu erinnern, was er damals anhatte. Er besaß damals nur, was er auf dem Leibe trug: Anzug und Wintermantel und Hut, und dazu in einer Aktentasche ein Nachthemd und eine Zahnbürste.

Also wird er auch Wäsche kaufen müssen. Ehe er noch draußen ist, schwindet sein Geld, schwindet. Und wie wird der Anzug aussehen, jetzt nach fünf Jahren?

Er steht da an der Eisentür und sieht kummervoll vor sich hin. Sicher, es ist mit der Entlassung viel zu schnell gekommen, nichts ist vorbereitet, vor allem ist er nicht vorbereitet. Nun ist es auch wieder mit dem Heim nichts geworden, er wird ein Zimmer mieten müssen ... Wenigstens bekommt er sein Geld gleich ganz ausbezahlt, das hat er beim Direktor erreicht, ein, zwei Monate hat er zu leben. Und kann sich auch ein bisschen was kaufen. Aber dann –?

Wachtmeister Strehlow kommt. „Nanu, was stehen Sie denn hier? Wo ist denn Ihr Wachtmeister?“

„Ich war zur Vorführung bei Direktor und Pastor. Ich soll zum Hausvater wegen meiner Sachen. – Weil ich doch morgen rauskomme“, fügt er erläuternd zu.

„Lasst euch doch gleich 'nen Schlüssel geben, ihr von der dritten Stufe! Wir sind ja schon ganz überflüssig. Läuft allein rum im Bau! Na, es geht so lange, bis einem von uns der Schädel eingeschlagen wird, dann werden's die Herren am grünen Tisch ja kapiert haben, was sie hier anrichten.“

Aber Strehlow lässt Kufalt doch durch, schimpfend, aber er lässt ihn durch, schließt hinter ihm wieder ab und geht die Beamtentreppe hinauf.

Kufalt ist auf einem langen Kellergang, rechts und links stehen die Türen der Läger auf. Im Vorbeigehen sieht er Regimenter von Essschüsseln aufmarschiert, Armeen von Kübeln. Unter unendlichen Wäschestößen haben sich die Regale durchgebogen. Immer näher kommt er der Abfertigung, dorthin, wo der Hausvater sitzt. Sein Herz klopft stark, nun kommt alles auf die Stimmung des Hausvaters an.

Der Hausvater ist nämlich ein feiner Kerl, er behandelt keinen Gefangenen wie einen Gefangenen, sondern genauso wie alle anderen Menschen: gut, wenn er guter Stimmung, hundemäßig, wenn er schlechter ist. Und wenn er schlechter ist, schmeißt er Kufalt einfach raus und womöglich gleich in Arrest, dass er hier allein angesackt kommt.

Weiter ist aber auch wichtig, wie man es mit der Anrede hält. Es gibt zwei Parteien im Bunker: die eine behauptet, er will durchaus ‚Hauptwachtmeister’ genannt werden, die andere schwört auf die Anrede ‚Hausvater’.

Kufalt hat früher zur Hauptwachtmeisterpartei gehört, ist aber, trotz dieser Anrede, zweimal rausgeflogen mit seinen Anliegen. Bei ‚Hausvater’ ist er erst einmal angeschnauzt worden, und das kann nun wirklich gewesen sein, weil er Putzpomade verlangt hatte. So was ist ein Ansinnen, eine Frechheit, nur den Kalfaktoren, die Beamtengerät zu putzen haben, steht Putzpomade zu.

Er nimmt einen Anlauf und landet vor dem Hausvater.

„Herr Hausvater, ich komme von Herrn Pastor. Ich wollte mal fragen, Herr Hausvater, ob meine Sachen noch gut sind. Sonst kriege ich vielleicht was von Herrn Pastor.“

„Wo kommen Sie denn allein her?“ fragt auch der Hausvater zuerst. „Wo ist denn Ihr Wachtmeister?“

„Ich bin so durchgelassen“, sagt Kufalt.

„Wer hat Sie denn durchgelassen? Der Pastor?“

Kufalt nickt.

„Dieser elende Pfaffe!“ schimpft der Hausvater. „Da sieht man's wieder. Wenn wir mal eine Erleichterung für die Gefangenen wollen, dann ist er immer dagegen, weil ‚Strafe Strafe bleiben soll’, aber er ist zu faul, die zwanzig Schritt den Gang runterzugehen. Na warte, in der nächsten Beamtenkonferenz bringe ich das aber vor.“

Kufalt hat andächtig zugehört. Der Hausvater ist guter Laune, er kann auf die Pfaffen schimpfen, das mag er gerne, der Hausvater ist nämlich rot. Und die nächste Beamtenkonferenz ist erst am Dienstag, dann ist Kufalt schon längst draußen.

„Was wollen Sie denn nun eigentlich?“ fragt der Hausvater gnädig, „'nen Anzug schnorren? Ihrer ist noch ganz gut.“

„Wenn ich ihn einmal anprobieren dürfte, Herr Hausvater“, schmeichelt Kufalt. „Ich hab' hier so 'nen Bauch gekriegt von all dem Brei!“

„Nach Bauch sehen Sie aber nicht aus. Na, mir soll's recht sein, trotzdem man dem Pfaffen wirklich den Gefallen nicht tun sollte. – Bastel, holen Sie mal dem Kufalt seine Sachen.“ Er blättert in dem Register. „Fünfundsiebzig dreiundsechzig. – Ist der Anzug vom Schneider schon zurück?“

„Jawoll, Herr Hauptwachtmeister“, schallt es aus dem Gewölbe, und der Hausvaterkalfaktor Bastel erscheint mit einem großen Sack, in dem kunstvoll auf einem Bügel geordnet sämtliche Sachen des Gefangenen Kufalt hängen.

„Wart schon“, sagt Bastel zu Kufalt. „Ich nehm deine Kluft lieber selbst raus. Du zerknautschst sie nur.“

Es ist der dunkelblaue Anzug mit dem weißen Nadelstreifen, Kufalts Herz jauchzt, den hat er höchstens fünf- oder sechsmal angehabt.

„Ein feiner Anzug“, sagt auch der Hausvater. „Was haben Sie dafür bezahlt?“

„Hundertsechsundsiebzig“, sagt Kufalt aufs Geratewohl.

„Viel zu viel Geld“, sagt der Hausvater. „Höchstens neunzig Mark.“

„Das ist aber auch fast sechs Jahre her“, gibt Kufalt zu bedenken.

„Da haben Sie recht, damals waren Anzüge noch teuer. Heute sechzig, siebzig Mark. Es gibt schon welche für zwölf und fünfzehn.“

„So was!“ staunt Kufalt bereitwillig.

„Nee, Ihre Wäsche behalten Sie an. Ihr Oberhemd ist überhaupt noch nicht von der Plätterin zurück, bei der müssen wir heute Abend rangehen, Bastel. – Ja, fein kommt ihr raus, ihr Jungen. Die reinen Kavaliere, an uns liegt's nicht.“

Und dafür ist der Hausvater wirklich bekannt, die Sachen hält er tipptopp, das ist sein Stolz, da darf kein Fäserchen fehlen. Seine Kalfaktoren haben schweren Dienst.

„Gut sieht das aus. Ein ganz anderer Mensch, Kufalt. – Bastel, sehen Sie sich bloß mal den Kufalt an...“ Er unterbricht sich ärgerlich: „Was will der Batzke hier? Herr Steinitz, ich will den Kerl hier unten nicht haben, wenn es nicht unbedingt sein muss. Der stänkert nur. Ja, Sie stänkern, Batzke, Sie sind auch jetzt nur zum Stänkern gekommen.“

„Ich hab' ja noch nicht den Mund aufgemacht“, sagt Batzke und sucht Bastel mit den Augen. Kufalt beachtet er gar nicht.

„Anordnung vom Direktor“, sagt Wachtmeister Steinitz. „Batzke darf seine Sachen anprobieren. Ob sie noch passen.“

„Hab' ich hier 'ne Ankleidestube? Nächstens kommt der ganze Bau und probiert an. Der Direktor könnte auch was Schlaueres tun. Hauen Sie wenigstens ab, Kufalt. Ihre Schuhe –? Ach was, Ihre Schuhe werden schon passen.“ Milder: „Na, meinethalben, probieren Sie Ihre Schuhe noch an. Bastel, die Sachen von Batzke, Nummer vierundzwanzig neunzehn!“

Bastel kommt mit einem neuen Sack, und Batzke flüstert hastig mit Bastel, der nickt, dann mit dem Kopfe wiegt. Aus der Mütze, die Batzke in der Hand hielt, tauchen plötzlich vier Pakete Tabak, eines nach dem anderen auf und verschwinden in Bastels Händen.

Bastel zieht sich zurück, die beiden Beamten reden miteinander am Fenster.

Kufalt müht sich mit seinen Schuhen. Er kriegt und kriegt sie nicht an, wahrscheinlich liegt es an den dicken wollenen Socken. Und die zivilen Strümpfe sind noch in der Wäsche. Aber so eng waren die Schuhe doch gar nicht! Kann man noch Ende Zwanzig größere Füße kriegen?

Plötzlich klingt Batzkes Stimme laut und vernehmlich durch den Raum: „Hier ist ein Mottenloch!“

Der Hausvater macht drei Schritte. Dann bleibt er stehen. „Natürlich, der Batzke! Natürlich stänkern! Ein Mottenloch. Siebzehn Jahr bin ich hier Hausvater und es hat noch nie ein Mottenloch gegeben.“

Er kehrt um und geht wieder ans Fenster.

„Und hier ist noch ein Mottenloch. Und hier unterm Aufschlag alles zerfressen.“

„Zeigen Sie her! Verrückt sind Sie ... Nie hat eine Motte...“

„Und es sind doch Motten in meinen Sachen“, sagt Batzke unerbittlich und sieht gleichmütig den wütenden Hausvater an.

Der zerrt das Jackett ans Licht. „Es ist unmöglich ... oh, gottverdammte Hurerei ... Bastel, verfluchter Hund, warum hast du mir nicht gesagt, dass in Batzkes Sachen die Motten sind?“

Bastei blickt dumm: „Hab' Schiss gehabt, Herr Hausvater.“

„Und warum haben die Schneider nichts gesagt?“

„Sind zu feige gewesen, Herr Hausvater, haben Schiss gehabt.“

„Warum hast du's nicht zum Kunststopfen gegeben?“

„Hab' gedacht, ich kriegte was auf den Deckel.“

„Hier in der Hose sind auch Mottenlöcher“, lässt sich Batzke ungerührt vernehmen.

„Schweinerei, verfluchte –! Ich sage, dieser Batzke ... Nie habe ich Motten gehabt ... Aber es geht nicht mit rechten Dingen zu, Batzke, da ist...“

Eine Erleuchtung kommt ihm: „Die waren drin, als Sie kamen! Mitgebracht haben Sie die, Batzke!“

„Müsste im Protokoll stehen. Müsste ich unterschrieben haben, Herr Hausvater.“

„Und das haben Sie auch! Warten Sie!“ Der Hausvater reißt Akten aus dem Fach. „Wie lange sind Sie drin? Wann sind Sie aufgenommen?“

„Wie soll ich das noch wissen, Hausvater?“ sagt Batzke gemütlich. „So oft wie ich rein- und rauskomme. Das steht doch alles in Ihren dicken Büchern.“

Der Hausvater hat es schon gefunden. Er liest mit gerunzelter Braue das Aufnahmeprotokoll. Er liest es noch einmal. Und zum dritten Mal. Dann sagt er mit erzwungener Ruhe: „Also ich lass Ihnen den Anzug kunststopfen, Batzke.“

„Ich hab' 'nen heilen Anzug mitgebracht Hausvater. Ich will mit 'nem heilen Anzug wieder raus. Ein gestopfter steht mir nicht zu.“

„Das sieht kein Mensch, wenn der gestopft wird, Batzke. Die Stellen sind dann fester als die anderen.“

„Brauch' keine festeren Stellen, Hausvater, ich will 'nen heilen Anzug.“

„Woher soll ich den denn jetzt noch nehmen, Batzke? Seien Sie vernünftig. Bis Sonntag kriegen die Schneider doch keinen fertig.“

„Gehen wir in die Stadt, Herr Hauptwachmeister. Kaufen wir einen. Ich trag auch Konfektion, Hausvater, ich bin gar nicht so.“

„Und das Geld ... Muss ich wahrhaftig Ihretwegen beim Pfaffen betteln, dass die Gefangenenfürsorge Geld rausrückt –! – Was stehen Sie hier noch rum, Kufalt? Wollen Sie machen, dass Sie türmen!“

„Meine Schuhe, Herr Hausvater!“

„Was ist mit Ihren Schuhen heh? In Ihren Schuhen sind wohl auch die Motten? Gehen Sie, Herr Steinitz, lassen Sie den Kufalt durch. Einfach durchlassen. Ist ja auch so gekommen, der große Herr!“

„Aber ich kann die Schuhe nicht...“

„Ich kann sie auch nicht...! Himmeldonnerwetter, Steinitz, nehmen Sie den Kerl mit! Und Sie, Batzke, also hören Sie mal...“

Kufalt ist auf dem Gang. Oberwachtmeister Steinitz lässt ihn ins Zellengefängnis. „Gehen Sie gleich auf Ihre Zelle, Kufalt. Nein, vorher melden Sie im Glaskasten beim Hauptwachtmeister, dass Sie zurück sind.“

* * *

6

Als Kufalt am Glaskasten steht, um seine Meldung zu machen, ist der Kasten leer. Kein Hauptwachtmeister zu sehen. Kufalt hebt den Kopf und späht in den Bau: Nichts. Natürlich sind da Kalfaktoren im Gang, beim Schrubbern und Wachsen und Wichsen des Linoleums, und natürlich sind da Beamte unterwegs, aber hierher sieht keiner.

Kufalt schaut in den Glaskasten. Die Schiebetür steht halb offen. Es muss gerade Post gekommen sein, ein ganzer Stoß Briefe liegt dort und obenauf liegt ein länglicher, gelber Umschlag mit einer weißen Einschreibequittung.

Er sieht sich um. Niemand scheint auf ihn zu achten. Er späht durch die Tür. Nun liest er, was er schon ahnte: „Herrn Willi Kufalt, Zentralgefängnis.“

Der lang ersehnte Brief von Schwager Werner Pause, der Brief mit Geld oder einer Anstellung.

Es ist nur ein Griff, und Brief nebst Einschreibzettel sind in seiner Tasche geborgen. Langsam geht Kufalt über die Treppe zur Zelle.

Da steht er nun an seinem Tisch unter dem Fenster, den Rücken sorgfältig gegen den Spion, damit niemand sehen kann, was er mit den Händen tut.

Vorsichtig befingert er den Umschlag. Ja, es ist etwas drin, eine Einlage. Sie schicken ihm Geld! Es ist kein sehr umfangreicher Brief, scheint es, aber eine dickere Einlage ist darin.

Also hat Werner ihm doch geholfen. Eigentlich, ganz drinnen, hat er nie daran geglaubt. Aber der Werner ist eben doch ein anständiger Kerl, da kann man sagen, was man will. Dass er erst, als die Sache passierte, so wütend war, nun, übelnehmen konnte man das eigentlich nicht.

Ach, das gute Leben jetzt draußen. Wie wird es schön sein! Keine Entbehrungen, wenn er natürlich auch sehr, sehr sparsam sein wird. Aber man kann in ein Café gehen und vielleicht mal in eine Bar...

Unter tausend Mark können sie nicht schicken, sonst ist es überhaupt kein Start. Und in vier oder fünf Wochen kann man dann noch einmal um eine größere Summe bitten, drei- oder viertausend, um sich ein nettes Geschäft einzurichten, vielleicht Zigaretten...

Nein. – Nein. –

Die Einlage ist kein Geld, ein Schlüssel, ein flacher Schlüssel, ein Kofferschlüssel. Schade ... Und der Brief:

„Herrn Willi Kufalt,

z. Z. Zentralgefängnis, Zelle 365.

Wir beehren uns, Ihnen im Auftrage von Herrn Werner Pause mitzuteilen, dass Herr Pause Ihren Brief vom 3.4. und Ihre früheren Briefe erhalten hat. Herr Pause bedauert, Ihnen sagen zu müssen, dass z. Z. in seinen Büros keine Stellung für Sie frei ist, dass er aber auch, selbst wenn eine frei würde, sie aus sozialen Gesichtspunkten einem der vielen nicht vorbestraften Arbeitslosen geben müsste, die teilweise im tiefsten Elend leben. Was die weiter von Ihnen erbetene geldliche Unterstützung angeht, so bedauert Herr Pause, Sie auch in diesem Punkte abschlägig bescheiden zu müssen. Nach unseren Erkundigungen haben Sie während Ihrer Haftzeit eine nicht unbeträchtliche Summe für Arbeitsbelohnung verdient, die Sie direkt nach Ihrer Entlassung vor Entbehrungen schützen dürfte. Auch verweist Sie Herr Pause nachdrücklich auf die zahlreichen Fürsorgevereine, in deren Arbeitsgebiet Ihr Fall fällt und die sicher gerne etwas für Sie tun werden.

Herr Pause lässt Sie nachdrücklichst ersuchen, weitere Zuschriften weder an ihn noch an seine Frau, Ihre Schwester, oder an Ihre Mutter zu richten. Die gehabten Aufregungen sind nur schwer und unvollkommen verwunden, ihre Wiederaufrührung würde nur schärferes Abrücken von Ihnen zur Folge haben. Herr Pause lässt Ihnen aber per Eilfracht einen Teil Ihrer Sachen zugehen, den Rest werden Sie erhalten, wenn Sie sich mindestens ein Jahr einwandfrei geführt haben. Den Kofferschlüssel fügen wir diesem Briefe bei.

Indem wir Ihnen dieses mitteilen, verbleiben wir

mit vorzüglicher Hochachtung

Pause und Mahrholz

ppa. Reinhold Stekens.“

Der Maitag ist noch immer hell und strahlend, die Zelle ganz licht. Draußen ist Freistunde. Die Füße scharren und scharren.

„Fünf Schritte Abstand! Abstand halten!“ ruft ein Wachtmeister. „Halten Sie den Mund, oder es gibt eine Anzeige!“

Kufalt sitzt da, den Brief in der Hand. Er starrt vor sich hin.

* * *

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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