Читать книгу Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski - Ханс Фаллада - Страница 8
Zweites Kapitel – Die Entlassung – 7
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Kufalt erinnert sich genau, wie das war, als Tilburg vor drei oder vier Jahren entlassen wurde. Tilburg war ein ganz gewöhnlicher Gefangener gewesen, er war nach keiner Richtung hin aufgefallen. Er war auch kein besonders schwerer Junge gewesen, hatte einen normalen Knast von zwei oder drei Jahren abgerissen. Was er während dieses Knasts erlebt und gedacht hatte, das konnte man ja nun nicht wissen. So was kann niemand im Kittchen wissen, nicht einmal der Betroffene.
Also Tilburg wurde eines Tages entlassen. Nun machte er nicht das, was so Gefangene im allgemeinen machen, er besoff sich nicht und ging auch nicht mit Weibern los in der ersten Nacht, er suchte sich weder Arbeit noch Zimmer, Tilburg fuhr einfach nach Hamburg und kaufte sich einen Revolver.
Dann fuhr er wieder zurück, besah sich den Bunker von außen und ging dann eine von den Straßen, die aus der Stadt hinausführen.
Als er da nun ein Stück gegangen und aufs flache Land gekommen war, begegnete ihm ein Mann. Es war irgendein beliebiger Mann, Tilburg hatte ihn nie gesehen.
Tilburg zog seinen Revolver und gab einen Schuss auf den Mann ab. Er traf den Mann in die Schulter, zerschmetterte den Schulterknochen, der Mann fiel um. Tilburg ging weiter.
Dann begegnete er wieder einem Mann und auch auf den schoß er, diesmal traf er den Mann in den Bauch.
Eine halbe Stunde später sah Tilburg Landjäger auf Rädern. Er sprang von der Chaussee, lief über Wiesen auf einen Hof. Er schoß ein paarmal und schrie, dass alle im Haus zu bleiben hätten. Dann verteidigte er den Hof gegen die Landjäger. Nun hatte er Gelegenheit, sich als das zu fühlen, als was er sich die letzten Jahre vielleicht ständig gefühlt hatte: als wildes, böses Tier. Oder die einzige Erklärung, die er in der Verhandlung später abgab: „Ich hatte so 'nen Rochus auf die Menschen.“
Er schoß noch drei Landjäger um, bis sie ihn umschoßen. Aber er wurde dann wieder zurechtgeflickt, für die Verhandlung und für ein hübsches neues Ende Knast, das er nicht mehr aufbrauchen dürfte.
‚Eigentlich kann man Tilburg ganz gut verstehen’, sagt Kufalt über seinem Brief in der Zelle.
Und etwas später: ‚O ich Idiot, den Brief hätte ich wahrhaftig im Glaskasten liegenlassen können! Was mach ich nun nur, wenn er vermisst wird?’
* * *
8
„Sie sollen zur Abrechnung kommen, Kufalt“, ruft ein Wachtmeister in die Zelle.
„Jawohl“, sagt Kufalt und steht langsam auf.
„Nu mach schon voran, Mensch, ich hab' noch zwanzig Vorführungen.“
„Der Wachtmeister ist ein Renntier“,sagt Kufalt.
„Also, los, lauf schon runter zur Zentrale. Ich will nur...“
Kufalt kommt wieder am Glaskasten vorbei. Hauptwachtmeister Rusch schaut hoch und glotzt ihn durch die Brille an. Er bewegt die Lippen, aber er ruft Kufalt nicht an.
‚Einen schönen Dreck hab' ich da gemacht. Der Koffer kommt und kein Schlüssel ist da. Ich hab' ihn in der Tasche, aber ich darf ihn nicht haben. Und ich darf nicht einmal wissen, dass einer kommt. Oh, ich bin ja so alle! Das neue Leben fängt gut an. Wenn ich nur meine Ruhe hätte in der Zelle, und dreißig Pensum Heringsbelli vor mir!’
„O Mensch, o Manningmensch“, flüstert Batzke zu ihm auf der Zentrale. „Hast du den Hausvater gesehen? Geplatzt ist der über die Mottenlöcher!“
„Kriegst du nun einen neuen Anzug?“
„Klar, was denn! Heute Nachmittag gehe ich mit ihm in die Stadt einen kaufen. Die Fürsorge zahlt. Und mein alter wird kunstgestopft, den krieg' ich auch noch mit.“
„Wieso ist er denn so weich geworden?“
„Damit ich nichts ausquatsche von den Mottenlöchern. Die würden doch verrückt vorne, wenn sie hören, es sind Motten in der Kleiderkammer. Die würden ihm schon Kattun geben, dem roten Hund, dem!“ Batzke grinst: „Und Motten findet er doch nicht.“
„Findet er nicht?“
„Mensch, hast du geglaubt, das sind Motten? So blau! Motten aus der Flasche sind das!“
„Motten aus der Flasche?“
„Hast du denn nicht gesehen, wie ich dem Bastel den Tabak gegeben habe?! Wir haben das Ding zusammen gedreht. Ausgedacht hab ich's. Die Hose war schon beinahe durch und ich wollte doch in anständiger Kluft rauskommen. Da hat Bastel aus der Salzsäureflasche immer einen Tropfen auf den Anzug fallen lassen und die Ränder von den Löchern hat er mit dem Messer ein bisschen rau gemacht und etwas Spinneweb hat er drüber gerieben, ganz fein echt hat das ausgeschaut, da fliegt jeder drauf.“
„Aber der Hausvater...“
„Der doch grade! Der ist doch so ein Kamel, der kocht doch gleich über, wenn was schiefgeht. Das hab' ich mir doch alles genau berechnet. Bei Rusch hätte ich das nicht machen dürfen, der hätte die Lupe genommen und gedacht und gedacht, da hätt' ich Knast schieben dürfen für. Aber beim Hausvater...“
„Wenn die Herren von der dritten Gruppe mit ihrer Unterhaltung fertig sind, dann dürfen wir wohl abrücken zur Kasse, ja?“ sagt der Wachtmeister.
* * *
9
„Wohin wollen Sie entlassen werden, Kufalt?“ fragt der Inspektor.
„Nach Hamburg.“
„Haben Sie Arbeit?“
„Nein.“
„Zu wem ziehen Sie dort?“
„Weiß ich noch nicht.“
„Schreiben Sie also ‚Auf Wanderschaft’“, sagt der Inspektor zum Sekretär.
„Ich gehe doch nicht auf Wanderschaft. Ich will mir ein Zimmer mieten.“
„Das lassen Sie nur unsere Sache sein. Wir machen das so, wie wir das hier gewöhnt sind.“
„Aber es ist nicht richtig. Ich gehe nicht auf Wanderschaft. Ich bin doch kein Handwerksbursche.“
„Wahrscheinlich sollen wir schreiben ‚Auf Reisen’. Hören Sie, Ellmers, Herr Kufalt begibt sich auf Reisen. Wahrscheinlich wartet sein Auto morgen früh um sieben vor der Tür.“
Kufalt schielt argwöhnisch über die Schranke: „Ich kriege doch keine Abmeldung vom Gefängnis?“
„I wo, wie werden Sie! Vom Hotel Vier Jahreszeiten kriegen Sie eine!“
„Eine Abmeldung vom Kittchen nehme ich nicht an. In der Strafvollzugsordnung steht, aus der Abmeldung darf nicht ersichtlich sein, dass der Entlassene aus einer Strafanstalt kommt.“
„Das machen wir, wie es hier Vorschrift ist.“
„Ich lese es doch, da steht doch: ‚Aus dem Zentralgefängnis’. Die nehme ich nicht an. Die soll ich wohl gleich meiner Wirtin in die Hand geben? Ich verlange 'ne andere Abmeldung.“
„Diese hier kriegen Sie und keine andere. Sie haben hier lange genug 'ne Lippe riskiert, Kufalt.“
„Aber in der Strafvollzugsordnung steht...“
„Das haben wir gehört. Halten Sie jetzt den Mund oder ich lasse Sie abführen.“
„Herr Wachtmeister, ich verlange Vorführung beim Direktor!“
„Das Maul sollen Sie halten! – Übrigens ist der Direktor verreist.“
„Das ist nicht wahr! Ich bin ja erst vor einer Stunde bei ihm gewesen.“
„Und vor einer halben ist er abgereist. Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind...“
„Batzke, Bruhn, Lehnau – lasst ihr euch das gefallen?! Ihr wisst, es steht im blauen Heft in der Zelle...“
Kufalt wird immer wilder.
Der Inspektor kommt um die Schranke herum: „Kufalt, ich warne Sie! Ich warne Sie! Was Sie da eben gemacht haben, Kufalt, war Aufwiegelei! Morgen früh, wenn Ihre Strafe rum ist, lasse ich Sie in Untersuchungshaft führen wegen Meuterei.“
„Sie –? Sie?! Untersuchungshaft kann ein Richter verhängen, aber doch nicht Sie! Das müssen Sie einem frisch Eingelieferten erzählen, Herr Inspektor, mir doch nicht!“
„Ellmers, sehen Sie sich das an! Das sind die Leute, die entlassen werden wollen!“
„Kriege ich eine Bescheinigung nach der Strafvollzugsordnung?“
„Sie kriegen die Bescheinigung, die hier Vorschrift ist.“
„Steht da drauf, dass ich aus dem Gefängnis komme?“
„Natürlich. Wo kommen Sie denn sonst her?“
„Dann verlange ich Vorführung beim Stellvertreter von Herrn Direktor.“
„Wachtmeister, führen Sie Kufalt bei Herrn Polizeiinspektor vor. – Also jetzt Sie, Batzke. Sie legen ja wohl keinen besonderen Wert auf eine Abmeldung aus dem nächsten Hotel?“
„Wenn mein Geld stimmt, Herr Inspektor, können Sie meinetwegen schreiben, ich bin Muttermörder.“
„Hören Sie, Kufalt!“ sagt der Inspektor triumphierend.
* * *
10
Der Polizeiinspektor ist ein milder, weißhaariger, sanfter Mann, ein fetter Mann, ein leiser Mann, ein stiller Mann, kaum zu merken eigentlich, so leise und still, so sanft. Und doch vielleicht der unbeliebteste Mann im Bau. Die Gefangenen nennen ihn den Judas.
Kufalt kann nicht vergessen, dass der Inspektor im ersten Haftmonat einen Zellenbesuch bei ihm machte, da war er teilnehmend und gut, am Schluss sagte er zu ihm: „Und wenn Sie einmal einen Wunsch haben, Kufalt, so sagen Sie ihn mir mündlich. Ich komme jeden Monat einmal auf Ihre Zelle.“
Kufalt hatte Wünsche und wartete auf den Inspektor. Nun ist es so bestimmt, dass Gefangene nur einmal im Monat an einem bestimmten Tage zu einer bestimmten Stunde einen Wunsch äußern dürfen, ist die Stunde verstrichen, müssen Sie wieder einen Monat warten.
Kufalt wartete drei Monate auf den versprochenen Besuch des Inspektors, um ihm seinen Wunsch mündlich vorzutragen. Der Polizeiinspektor kam nicht. In den fünf Jahren kam er nicht einmal wieder auf Kufalts Zelle. Er hatte das ‚nur so’ gesagt, einfach hingesagt, um sich im Augenblick angenehm zu machen, er hatte dann nie wieder an Kufalt gedacht. Aus Neugierde war er ein einziges Mal bei dem frisch Eingelieferten gewesen.
Kufalt hat ihm das nicht verziehen. Er hat es nie über sich gebracht, an den Mann noch eine Bitte zu richten, und so sagt er denn jetzt auch nur: „Herr Inspektor, es gibt eine Bestimmung in der Vollzugsordnung, dass aus dem Abmeldeschein nicht hervorgehen darf, dass der Entlassene aus einer Strafanstalt kommt. Die wollen mir aber einen Schein aus dem Zentralgefängnis mit dem Stempel Zentralgefängnis geben.“
Der Polizeiinspektor sieht den Gefangenen lange an. Dabei wiegt er den weißen, runden Kopf hin und her und schaut in eine Ecke, wo nichts ist wie ein Schrank mit Akten. „Wieder“, sagt er bedauernd. „Wieder.“ Er wiegt den Kopf hin und her. „Ein Jammer ist das.“
Kufalt steht vor ihm und wartet, worauf das Theater hinaus soll. Denn dass der Polizeiinspektor über irgendetwas, was einen Gefangenen angeht, Bedauern empfinden könnte, übersteigt seine Glaubenskraft.
Hinter Kufalt steht in dienstlicher Haltung der vorführende Wachtmeister. Eine Uhr an der Wand, geschmückt mit Eichenlaub, Schwertern und Adler, tickt sehr vernehmlich die Zeit fort. Der Polizeiinspektor lenkt seinen Blick auf den Gefangenen zurück. „Und was sollen wir tun?“
„Mir eine vorschriftsmäßige Bescheinigung geben.“
„Ja, natürlich!“ sagt der Inspektor freudig. „Ja, natürlich!“ Er verfällt erneut in Bedauern: „Nur...“ ganz leise und vertraulich: „...es gibt Hindernisse.“
Er lehnt sich in seinen Schreitischsessel zurück und sagt: „Es gibt Bestimmungen zweierlei: durchführbare – undurchführbare. Ich will nichts gegen diese Bestimmung sagen, im Gegenteil, sie ist sozial, sie ist human, sie entspricht dem Geiste heutiger Volksvertretung, nur – durchführbar ist sie nicht. Überlegen Sie sich, Kufalt, ich spreche jetzt nicht zu Ihnen als zu einem Gefangenen, ich spreche zu Ihnen als zu einem Menschen von Verstand und Bildung.“
Der Inspektor hält inne. Er sieht Kufalt müde an. Er sagt langsam und sanft: „Das Zentralgefängnis liegt in einer Stadt. Diese Stadt hat ein Meldebüro. Dieses Meldebüro hat eine Einwohnerkartei. Wir lassen uns, nach dem Buchstaben Ihrer Bestimmung, eine Anzahl Meldeformulare geben. Wir füllen sie aus, wir wollen sie den Entlassenen geben und – und –“
Wieder schaut der Polizeiinspektor in die Ecke. Kufalt wartet geduldig, er hat sich beruhigt, sein Plan ist fertig. Lass den reden, er kriegt seine Abmeldung schon.
„...Und“, sagt der Polizeiinspektor, „der Gefangene weist die Abmeldung zurück. Sie lächeln, Kufalt“ (er denkt nicht daran), „Sie glauben mir nicht. Und doch weist der Gefangene die Abmeldung zurück. Sie sind mir nicht gefolgt. Was fehlt der Abmeldung? Der Stempel fehlt! Denn was können wir tun? Entweder drücken wir den Stempel vom Zentralgefängnis darauf, dann ist der Bestimmung nicht Genüge getan, oder wir lassen sie ungestempelt, dann ist die Abmeldung ungültig.“
„Und als drittes besorgen Sie sich einen Stempel des städtischen Meldeamts.“
„Kufalt! Kufalt! Sie, ein Mann von Verstand und Bildung! Wir sind ein Zentralgefängnis, wie können wir einen Meldeamtsstempel führen? Nein“, ganz traurig, „diese Bestimmung ist nicht durchführbar, so ideal und sozial sie scheint. – Sie sehen es ein?“
„Ich bitte um eine Abmeldung nach Vorschrift der Strafvollzugsordnung.“
„Ich täte es gerne, Kufalt, so gerne! Es ist un–mög–lich! Wachtmeister, führen Sie den Mann nach erteilter Belehrung...“
„Wenn ich eine Abmeldung mit dem Stempel des Zentralgefängnisses bekomme, so schicke ich sie an meinem Entlassungstage an den Rechtsausschuss beim Landtage unter Wiederholung der mir erteilten Belehrung...“
Stille.
„Natürlich“, sagt der Polizeiinspektor, aber nicht mehr sanft, sondern mit einer scharfen, kratzigen Stimme. „Na–tür–lich! Mit dem Kopf durch die Wand. Ich habe es nie anders von Ihnen erwartet. Es ist unklug, Kufalt, Sie denken jetzt nur daran, dass Sie entlassen werden, Sie denken nicht daran, dass Sie auch einmal wieder...“
Er bricht ab. Und Kufalt fragt: „Was einmal wieder? Bitte, Herr Inspektor?“
„Es ist schon gut. Wachtmeister, führen Sie den Mann ab. Sagen Sie, dass eine Abmeldebescheinigung für ihn vom Einwohnermeldeamt geholt werden muss.“
„Ich danke auch schön, Herr Polizeiinspektor.“
Herr Polizeiinspektor hustet gerade, er kann nicht antworten.
* * *
11
Kufalt steht wieder auf der Abfertigung. Der Wachtmeister hat seine Meldung gemacht. Die anderen Abgänge sind schon fort, erledigt.
Nun sagt der Inspektor: „Ihre Strafzeit ist um 13 Uhr 20 vorbei.“
Worauf Kufalt antwortet: „Ich bitte, wie üblich, morgens entlassen zu werden.“
Der Inspektor sagt grob: „Was heißt wie üblich? Sie kennen doch die Strafvollzugsordnung so gut! Die Gefangenen sind so zu entlassen, dass sie noch am Entlassungstage ihren Bestimmungsort erreichen. Sie wollen nach Hamburg entlassen werden. Sie haben also am Nachmittag überreichlich Zeit, Ihren Bestimmungsort zu erreichen.“
Kufalt sagt: „Aber sämtliche Gefangene werden morgens um sieben Uhr entlassen.“
„Das überlassen Sie uns. Wir riskieren womöglich noch eine Beschwerde, wenn wir Ihnen was von Ihrer Haftzeit rauben.“
Kufalt steht und schweigt. Nun natürlich, er kann froh sein, wenn es damit noch abgeht. Es gibt viele Möglichkeiten, einem Gefangenen vierundzwanzig Stunden zur Hölle zu machen.
Der Inspektor fängt neu an: „Ihre Arbeitsbelohnung beträgt 315 Mark 87 Pfennige.“
Kufalt sagt: „Darf ich einmal die Abrechnung sehen?“
„Ellmers, geben Sie dem Herrn Kufalt seine Abrechnung zur Prüfung und Genehmigung.“
Kufalt sieht die Abrechnung an. Ihn interessiert nur die letzte Pensumzahl, und siehe, es sind doch nur sechzehn Pensum angeschrieben, nicht siebzehn!
Er überlegt, ob er wieder meckern soll, aber er besinnt sich und schweigt.
„Ich bitte, dass ich mir heute noch von meiner Arbeitsbelohnung ein Paar Schuhe kaufen darf. Meine alten Zivilschuhe sind mir durch das Pantoffellaufen zu eng geworden.“
„Abgelehnt“, sagt der Inspektor. „Ich werde den Hausvater anweisen, dass er Ihnen ein Paar alte Arbeitsstiefel von den Außenarbeitern gibt. Die tun vollkommen Dienst für Sie.“
„Aber ich kann nicht...“
„Sie werden können müssen, Kufalt ... Für Reisegeld bis Hamburg brauchen Sie fünf Mark, für die erste Woche zu leben zehn Mark. Ihnen werden also bei der Entlassung fünfzehn Mark siebenundachtzig ausbezahlt, der Rest wird an das Wohlfahrtsamt überwiesen.“
„Herr Direktor hat aber...“ Kufalt überlegt.
„Nun, was hat Herr Direktor...? Quatschen Sie sich rein aus, Kufalt. Ich habe heute nichts weiter mehr vor, als Sie abzufertigen.“
„Herr Direktor hat verfügt, dass mir meine Arbeitsbelohnung bei der Entlassung voll ausbezahlt wird.“
„Ach nee? Und warum weiß ich nichts von der Verfügung?“
„Herr Direktor hat es heute früh genehmigt“, beharrt Kufalt.
„Sie lügen, Kufalt. Herr Direktor kann das gar nicht verfügt haben, das widerspricht allen Anordnungen des Strafvollzugsamtes. Damit das Geld in einer Woche alle ist, und wir Steuerzahler dürfen Sie ernähren? Das möchten Sie!“
„Herr Direktor hat es verfügt.“
„Dann müsste es in Ihren Akten stehen. Da steht nichts.“
„Ich verlange mein Geld voll ausbezahlt!“
„Jawohl. Fünfzehn Mark siebenundachtzig. Unterschreiben Sie jetzt, dass Sie die Abrechnung anerkennen.“
„Ich bitte um Vorführung bei...“
Kufalt hat eine Erleuchtung: „Bei Herrn Pastor!“
„Beim Pastor –?“
„Jawohl, bei Herrn Pastor!“
„Wachtmeister – aber es ist das letzte Mal, dass ich Sie vorführen lasse, Kufalt! Ihre Stänkereien habe ich satt! – Wachtmeister, führen Sie den Mann zum Pastor!“
„Was machen Sie für Sachen, Kufalt“, sagt der Wachtmeister missbilligend auf dem Gang. „Sie machen sich ja ganz zunichte. Wie an die Wand gespuckt sehen Sie aus.“
„Die sollen tun, was uns zusteht!“ sagt Kufalt.
„Dumm sind Sie“, sagt der Wachtmeister. „Wären Sie dem Inspektor ein bisschen hinten reingekrochen wie der Batzke, hätten Sie Ihr ganzes Geld ausbezahlt gekriegt. Aber wenn Sie ihn immerzu ärgern!“
„Ich verlang' mein Recht“, beharrt Kufalt.
„Deswegen sind Sie eben dumm“, stellt der Wachtmeister fest.
„Herr Pastor“, sagt Kufalt zu dem Geistlichen, der ihn ärgerlich betrachtet, „ich habe es mir überlegt, ich will die Anmeldung für Friedensheim doch unterschreiben.“
„So? Wollen Sie das nun? Und wenn ich nun nicht glaube, dass Sie dessen würdig sind? Es ist ein gemeinnütziges Institut.“
„Herr Direktor hat gesagt, ich soll dorthin.“
„Herr Direktor hat sich eben in Ihnen getäuscht. – Nun, meinetwegen, unterschreiben Sie.“
Kufalt schreibt.
Und sagt stolz zum Inspektor: „Meine Arbeitsbelohnung ist nach Friedensheim zu überweisen. Herr Pastor hat eben meine Aufnahme genehmigt.“
„Sie gehen nach Friedensheim? Mensch, Kufalt, Sie gehen nach Friedensheim?! Oh, Manning, Manning, und so was riskiert 'ne Lippe!“ Der Inspektor schüttelt sich vor Vergnügen.
Kufalt ist wütend.
„Kriecht zu Kreuz, der liebe, kleine Kufalt! Na, Sie werden noch an mich denken, wie ich hier gelacht habe!“
Kufalt wird ängstlich, ihm ist sehr ungemütlich: „Fehlt was in Friedensheim?“
„I wo! Was soll da fehlen?! Gar nichts fehlt da. Im Gegenteil. – Aber dann brauchen Sie natürlich keine fünfzehn Mark. Fünf Mark Reisegeld sind voll genug. Schreiben Sie, Ellmers, fünf Mark siebenundachtzig zur Auszahlung, dreihundertzehn Mark an Friedensheim.“
Kufalt denkt an seinen Hunderter im Strumpf und protestiert gar nicht erst.
„Na, Gott sei Dank, da steht ja nun der Name ‚Kufalt’. Wir sind fertig mit dem Mann, Wachtmeister. Führen Sie den Mann auf seine Zelle. Gott sei's getrommelt und gepfiffen. Drei solche wie Sie, Kufalt...“
Als Kufalt am Glaskasten vorbeikommt, hebt der Hauptwachtmeister wieder den Kopf und sieht Kufalt wieder scharf an. Sagt aber nichts.
Die Luft ist nicht sauber, findet Kufalt, und in der Zelle bindet er sofort Brief und Einschreibezettel zu einem Röllchen zusammen, klettert ans Fenster und bindet das Röhrchen seitlich so an einen der Gitterstäbe, dass es weder von außen noch von innen zu sehen ist.
Dann holt er den Hunderter aus dem Strumpf und macht aus ihm ein Röllchen, das er fest zwischen die Gesäßbacken drückt.
„Irgendwas ist nicht im Lote. Rusch glotzt so.“
Nun aber ist er alle, er klappt sein Bett runter und wirft sich darauf, vollkommen erledigt.
* * *
12
Er muss sehr fest geschlafen haben. Als er aufwacht, sieht er, dass – mit dem Rücken gegen ihn – eine kurze fette Gestalt an seinem Schränkchen steht, in Uniform, mit einem dicken, kurzgeschorenen Schädel darüber: der Hauptwachtmeister Rusch.
Er hat das Gesangbuch in der Hand. Nun fasst er es bei beiden Deckeln, schüttelt es – und nichts fällt zur Erde. Dann schaut Rusch durch die Rückenhöhlung.
Er legt das Gesangbuch in den Schrank zurück und kriegt die Bibel vor.
Kufalt denkt: ‚Such du nur!’ und bleibt liegen, mit offenen Augen.
Der Hauptwachtmeister schließt die Schranktür und geht an den Tisch. Er macht eine tiefe Kniebeuge und sieht unter die Tischplatte. Als er sich wieder aufrichten will, begegnet sein Blick dem des Gefangenen. Aber der Hauptwachtmeister hat sich in der Gewalt. Er geht gegen das Bett: „Schlafen! Schlafen! Heller Tag! Arbeiten!“
„Die haben mir ja die Arbeit fortgeholt“, sagt Kufalt.
„Scheuern! Rein machen! Wienern! Tischplatte ist ganz schietig! Drunter! Drunter!“
„Mach' ich, Herr Hauptwachtmeister. Mach' ich, mach' den Tisch auch von unten reine!“ sagt Kufalt und eilt zum Tisch.
„Halt! Wann haben Sie Post gehabt?“
„Wann –? Ja, das ist lange her, Herr Hauptwachtmeister. Warten Sie...“
„Heute keinen Brief bekommen?“
„Nee. Ist ein Brief für mich da? Au fein, der ist von meinem Schwager, der schickt Geld.“
„So!!!“ sagt der Hauptwachtmeister, betrachtet sich noch einmal seinen Gefangenen und murrt: „Wienern! Scheuern! Rein machen! Bett hoch machen!“ Und geht aus der Zelle.
„Und mein Brief?“ ruft Kufalt, aber der Hauptwachtmeister ist schon fort.
So stürzt er sich wirklich über den Tisch, er hat noch nie daran gedacht, dass man den auch von unten rein machen könnte. Und als er damit fertig ist, hängt er sein Schränkchen ab und scheuert die Rückwand.
Er ist gerade dabei, als er merkt, dass ein ungewohnter Lärm durchs Haus geht. In allen Stationen wird Zelle um Zelle aufgeschlossen, etwas hineingerufen – Kufalt springt auf und lauscht. Aber er versteht nicht, bis er das Wort ‚Brief’ hört, dann ‚falscher’, er grinst.
Näher und näher kommt seiner Zelle das Gerassel, nun sind sie in der Zelle nebenan, und nun...
Seine Tür geht auf, ein Wachtmeister steckt den Kopf rein: „Ist hier ein falscher Brief ... ach so, Sie sind das Kufalt, nee, ist schon alles in Ordnung.“
„Was ist denn los, Herr Wachtmeister?“
Der ist schon weiter.
Als Kufalt aber seinen Schrank sauber hat, stellt sich die Notwendigkeit heraus, den Zellenboden neu zu wienern. Er hat stramm zu tun. Der Bau ist voll von den leisen, gedämpften Taggeräuschen, die Eisenstange eines Netzestrickers klirrt, ein Kübeldeckel klappert, einer fängt an zu pfeifen und bricht rasch ab, ein paar Rollen Strickgarn werden vor einer Nachbarzelle abgeworfen. Von der hochstehenden Sonne wird seine Zelle ganz hell.
‚Neugierig bin ich doch, was die tun werden.’
Es ist schon bald Abendessenszeit, also nach fünf, als seine Zellentür sich wieder öffnet. Drei Mann hoch treten sie ein: Polizeiinspektor, Pfarrer und Hauptwachtmeister. Die Tür wird sorgsam angezogen. Kufalt stellt sich unter das Fenster mit dem Gesicht gegen die Beamten und wartet.
Der Pfarrer spricht zuerst: „Kufalt, hören Sie. Es ist da ein Versehen vorgekommen, es wird sich noch aufklären. Heute ist ein Brief eingegangen für Sie...“
„Ja, ich weiß. Herr Hauptwachtmeister hat mir schon gesagt. Von meinem Schwager, mit Geld.“
„Hab nichts gesagt“, grollt der Hauptwachtmeister. „Lügst. Gar nichts. Sie haben's gesagt.“
„Nein, nicht mit Geld, mein lieber, junger Freund. Es war – ein Schlüssel darin.“
„So?“ fragt Kufalt gedehnt. „Darf ich den Brief haben –?“
„Das ist es eben. Der Brief ist verlegt. Er wird sich wieder anfinden. Aber Sie gehen morgen schon ab...“
„Verlegt?“ fragt Kufalt. „Hier verschwindet doch nichts? Warum soll ich das Geld nicht haben? Herr Polizeiinspektor, der Direktor hat auch angeordnet, dass ich meine Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt bekomme, und die von der Abfertigung wollen mir nur sechs Mark geben. Das ist doch ungerecht. Wenn Herr Direktor es anordnet...“
„Nun, nun, Kufalt, immer ruhig! Darüber ließe sich vielleicht reden. Aber...“
„Aber das Geld von meinem Schwager, das ist mein Geld! Das müssen Sie mir aushändigen. Warum wollen Sie mir den Brief nicht geben –?“
„Kufalt“, sagt der Hauptwachtmeister, „mach kein Quatsch! Es ist kein Geld darin gewesen. Der Pastor weiß es bestimmt. Der Brief ist mir weggekommen.“
„Ich hatte Ihren Brief gerade gelesen“, sagt nun wieder der Pastor. „Ihr Schwager schrieb Ihnen gar nicht selbst, er ließ Ihnen durch seinen Prokuristen sagen, er könnte Ihnen nicht helfen. Und Geld wollte er Ihnen auch nicht geben, Sie hätten ja Ihre Arbeitsbelohnung...“
„Die soll ich ja auch nicht kriegen.“
„Aber Ihr Schwager schickt Ihnen einen Teil Ihrer Sachen. Das andere können Sie später haben.“
„Ich hab' mich erkundigt, Kufalt. Ihr Koffer ist schon da. Sie können ihn ausnahmsweise heute nach Einschluss einsehen, wir lassen ihn in Ihrer Gegenwart aufmachen. Der Hausvater bleibt extra Ihretwegen hier.“ Der Polizeiinspektor ist so sanft...
„Kufalt“, sagt der Hauptwachtmeister, „der Brief ist wirklich weg. Wenn Sie darauf bestehen, muss der Polizeiinspektor eine Meldung schreiben und ich bin haftbar.“
Der Polizeiinspektor sagt: „Sie sind doch ein Mann von Bildung und Verstand, Kufalt. Warum wollen Sie dem Herrn Rusch Schwierigkeiten machen? Versehen kommen überall vor.“ Kufalt sieht sich die drei an. Er sagt: „Und wie mir beim Baden meine Strümpfe geklaut wurden, da kriegt ich drei Tage Entziehung der warmen Kost und musste sie von meiner Arbeitsbelohnung bezahlen, nicht? Das haben Sie damals angeordnet, Herr Inspektor! Warum soll denn Rusch ohne Strafe ausgehen, wenn er sich Briefe klauen lässt?“
Alle drei sind bei dem nackten ‚Rusch’ zusammengezuckt.
Dann sagt der Pastor: „Man muss auch verzeihen können, lieber Kufalt. Sie werden auch Fehler machen und der Verzeihung bedürfen.“
Aber nun ist es bei Kufalt alle. Er schreit wütend: „Gehen Sie raus aus meiner Zelle, Herr Pastor! Gehen Sie raus! Ich schlag' alles in den Klump. Und Sie, Herr Inspektor, gehen Sie auch raus!“
„Ich finde, Sie werden unverschämt...“ bricht der Inspektor los.
Und der Pastor: „Schämen Sie sich, Kufalt...“
Aber Rusch ist energisch: „Bitte doch, bitte!“
Sie gehen. Gehen mit bösen Blicken. Und sind weg.
Kufalt steht da und sieht die Tür an. Er ist immer noch wütend, er hat rot gesehen, er sagt hastig: „Warum bringen Sie die mit, Herr Hauptwachtmeister? Solche Lügner wie die. Das macht mich wild, wenn ich die Schleicher nur sehe! – Sie haben mir nie was vorgemacht, Herr Hauptwachtmeister, versprechen Sie mir, dass ich morgen meine Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt kriege?“
„Versprech' ich dir, Kufalt.“
„Geben Sie den Zettel her, ich unterschreibe, dass ich den Brief bekommen habe.“
Der Hauptwachtmeister gibt den Zettel nicht her, er denkt nach:
„Woher wissen Sie denn, dass es ein Einschreibebrief war, Kufalt?“
„Na, mein Schwager wird doch einen Schlüssel nicht in einem einfachen Brief schicken!“
Rusch denkt immer noch nach.
Kufalt setzt fort: „Wo sogar Einschreibebriefe verschwinden –?“
Der Hauptwachtmeister zieht den Zettel aus der Tasche: „Kufalt, bist en Aas. Na, unterschreib schon. Kriegst dein Geld – trotzdem.“
* * *
13
Es ist am Vormittag des anderen Tages, gegen elf Uhr.
Kufalt steht in der Abgangszelle. Sein Handkoffer, der von Schwager Pause nachgesandte große Handkoffer, neben ihm. Er steht und wartet.
Die Zeit kriecht, nichts kann er tun. Er hat Bücher im Koffer, aber wer kann jetzt lesen? In zwei Stunden sind fünf Jahre herum, in zwei Stunden ist er ein freier Mensch, kann hingehen, wohin er will, kann sprechen, zu wem er mag, kann mit einem Mädchen ausgehen, Wein trinken, sich ins Kino setzen ... nein, es ist immer noch nicht vorstellbar ... er ist immer noch so gefangen...
Keine Glocke mehr morgens. Kein Pensum mehr zu stricken. Keine Gehässigkeiten mehr mit anderen Gefangenen. Kein Papps des Mittags. Kein Zellenwienern. Keine Sorge, ob der Tabak auch reicht. Kein Wachtmeister, kein stinkender Kübel, keine schlottrige Kluft ... es ist nicht auszudenken.
Wie fest der Anzug sitzt! Im Bauch sogar zu stramm, trotzdem er Westen- und Hosenschnallen auf hat, er hat einen Bauch gekriegt von der Wasserkost. Es hat Zeiten gegeben, wo er mittags zwei Liter Essen und dann noch einen Schlag verdrückt hat. Auf dem Bauch hat er eine Uhr, seine silberne Konfirmationsuhr. Sie zeigt die Zeit, es ist elf Uhr achtzehn.
Die anderen sind schon über vier Stunden draußen, schön dumm ist er gewesen, dass er nicht auch das noch herausgepresst hat aus Rusch. Die sind weg – und der Bastel, der Hausvaterkalfaktor, hat ihm beim Einkleiden erzählt, dass auch Sethe weg ist. Gleich früh haben sie ihn gefragt, ob er die Strafe annimmt wegen Beamtenbeleidigung, sonst muss er hierbleiben ... nun, er hat sie angenommen. Er wird Bewährungsfrist kriegen. Immerhin ... Schweine sind das hier. Schweine. Und alle werden Schweine. Ein Schwein ist auch er gewesen mit dem Brief gestern Abend, ein Schwein ist er gewesen mit dem Hundertmarkschein, tausendmal ist er ein Schwein gewesen diese fünf Jahre. Und was hat es für einen Zweck gehabt –? Anders herum wäre er auch zur gleichen Stunde herausgekommen – aber mit anderen Gefühlen.
Nun ist es jedenfalls zu Ende. Er wird von nun an genau das tun, was recht ist, er will ruhig schlafen können. Keine Sorgen mehr haben, nur keine Sorgen mehr! Wenn er auch den Hunderter mit rausnimmt. Das ist das letzte Mal, dass er so was tut.
Kufalt läuft auf und ab, hin und her. Die Zelle ist wieder so hell. Ein herrlicher Tag ist draußen. All diese letzten Tage ist die Zelle immer so hell gewesen wie alle Jahre vorher nicht. Hoffentlich bleibt das Wetter gut, wenn er draußen ist...
Nur dieses Friedensheim ... Der Inspektor hat zu gemein gegrinst. Jedenfalls kriegt er nachher im Torhaus sein ganzes Geld, und wurde es ihm zu dumm im Friedensheim, schmiss er denen einfach den Kram hin...
Es kratzt an der Tür. Kufalt ist mit einem Satz da: „Ja?“
„Du! Du bist doch Willi?“
„Na, natürlich, kannst du nicht linsen?“
„Man erkennt dich gar nicht mehr in deiner feinen Schale! Ich bin der Kalfaktor von deiner Station. Hast du die Toilettenseife in deinem Koffer?“
„Ja.“
„Lass mir die da, Mensch. Leg sie unter den Kübel. Ich hol' sie mir gleich aus der Zelle, wenn du raus bist.“
„Meinethalben.“
„Aber bestimmt, Willi!“
„Kannst durch den Spion sehen. Ich hol' sie gleich raus, siehst du...“
„Du, Willi, du hast doch auch Tabak? Kannst dir ja gleich wieder welchen kaufen. Leg ihn hin.“
„Ihr Räuber, ihr!“
„Mensch, ich hab' noch drei Jahre Knast.“
„Was ist denn das? Ich habe fünf Jahre gehabt und der Bruhn, der heute rausgekommen ist, elf!“
„Au wei! Au wei! Der Bruhn! Das weißt du noch nicht?! Mensch, der ganze Bau ist voll davon!“
„Was denn? Was ist denn mit Bruhn?“
„Der ist schon wieder drin! Drei Stunden ist er gerade draußen gewesen, ist schon wieder drin!“
„Du spinnst wohl! Das ist 'ne Scheißhausparole!“
„Wo's der Hausvater selber erzählt hat! Wie die rausgekommen sind, heute früh, sind sie gleich saufen gegangen. Nur der Sethe ist mit der Bahn abgefahren. Und einer hat gewusst, wo Mädchen sind. Da sind sie zu denen ins Haus gegangen. Aber die Weiber haben noch geschlafen und haben den besoffenen Kerls nicht aufmachen wollen. Die haben Krach geschlagen, der Hauswirt ist gekommen und hat sie aus dem Haus gewiesen. Da haben sie den Hauswirt die Treppe runtergeschmissen, aus seinem eigenen Haus rausgeschmissen! Und wie der Wirt wieder zurückgekommen ist mit Polizei, sind die Jungen doch drin bei den Weibern gewesen! Haben die geschrien, wie die Polente kam, die hätten's mit Gewalt gemacht, die Tür hätten sie aufgebrochen – na, dass die Hunger gehabt haben, die Jungen, das ist doch sicher! Und jetzt sitzen sie alle im Vater Philipp! Heute Nachmittag kommen sie ins Untersuchungsgefängnis, sagt der Hausvater.“
„Glaube ich nicht! Glaube ich nie im Leben! Wenn's alle machen, verstehen kann man es ja, aber nicht der Emil Bruhn! Der nicht!“
„Dicke Luft! Rusch!!“
Kufalt springt vom Spion fort, ans Fenster. Draußen hört er den Hauptwachtmeister hinter dem Kalfaktor her schimpfen.
‚Ja, es ist doch möglich!’ denkt Kufalt. ‚Emil Bruhn, so ein armes Aas! Immer solche muss es treffen. Immer still gewesen, nie hat er 'ne Stange angegeben, all die elf Jahre nicht – dich haben sie fein angeschissen mit deiner Freude aufs Rauskommen! Und wenn du auch nur ein paar Wochen Knast kriegst, die Bewährungsfrist ist doch verfallen und du fängst noch einmal von vorne an.’
Er hat Angst, der Willi Kufalt, er fühlt, ihm kann es auch so gehen. Keiner kann so auf sich aufpassen, der rauskommt aus dem Bau, irgendwie ist ihm ein Bein gestellt...
‚Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, frisst immer wieder daraus!’
Kufalt besinnt sich. Er nimmt das Heft von der Wand, das blaue Heft mit dem Auszug aus der Strafvollzugsordnung. Er blättert nur einen Augenblick, dann liest er:
‚Bei dem Vollzuge der Strafen sind mit der Zufügung des Strafübels und mit der Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung geistige und sittliche Hebung, Erhaltung der Gesundheit und Arbeitskraft anzustreben. Auf Erziehung zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben nach der Entlassung ist besonders hinzuwirken. Das Ehrgefühl ist zu schonen und zu stärken.’
Kufalt schlägt das Heft wieder zu: ‚Na also’, sagt er. ‚Dann ist ja alles in schönster Butter. Klappt der Laden. Alles richtig, wie es ist. Was so 'ne Leute sich bei so was denken...’
* * *
14
Es ist dreizehn Uhr fünfzehn. Kufalt steht da mit der Uhr in der Hand. Er wartet. Sein Herz klopft sehr. Schritte kommen, nähern sich, gehen an seiner Zelle vorbei. ‚Wenn die mich vergessen, die Lumpen –. Wenn die mich aus Schikane drei Minuten länger warten lassen –!’
Schritte kommen, nähern sich, machen vor seiner Zelle halt. Papier raschelt. Dann wird der Schlüssel ins Schloss gestoßen, der Riegel geht zurück und Oberwachtmeister Feder sagt gelangweilt: „Na, denn kommen Sie man mit Ihren sieben Zwetschgen, Kufalt!“
Er geht, er sieht noch einmal zurück, gegen den Glaskasten, die Zentrale. Da ist der große Bau mit seinen siebenhundert Zellen, er ist hier zu Haus gewesen, Jahr um Jahr, viele Jahre zu Hause. Um die Ecke späht sein Stationskalfaktor, ob er schon in die Zelle rein kann. Er nickt ihm zu.
Dann durch den Kellergang beim Hausvater vorbei. Hier ist alles still Kufalt fällt etwas ein: „Ist das wahr, Herr Oberwachtmeister, mit Bruhn? Dass er schon wieder sitzt?“
„Weiß ich nicht, habe was gehört, kann aber auch 'ne Scheißhausparole sein.“
„Hier ist er noch nicht wieder?“
„Nee, kann er auch nicht. Muss doch erst zum Richter, der Haftbefehl erlässt.“
Sie kommen über den Vorhof. Im Torgebäude steht Oberwachtmeister Petrow.
„Na, komm, mein Sohn. Komm, viele Pinunse kriegst du.“
In der Wachtstube quittiert Kufalt.
„Steck sie gut weg, deine Pinunse, wirst du brauchen. Warte. Scheine in Geldtasche. So. Hast du schöne Tasche. Dass sie immer voll ist! Und hier in Porteh Silber und hier Messing und hier Kupfer. Und nun komm, mein Jung.“
Sie stehen unter dem Torbogen. Petrow schiebt Riegel um Riegel zurück. Dann nimmt er den Schlüssel.
„Musst du jetzt loslaufen, ohne Umsehen. Musst nicht wieder rücksehen auf Kittchen. Spuck' ich dich dreimal in Rücken, musst du nicht abwischen, ist gut dafür, dass du nicht wiederkommst. – Hau ab, mein Sohn!“
Das Tor geht auf. Kufalt sieht vor sich einen großen besonnten Platz in greller Sonne. Der Rasen ist grün. Die Kastanien blühen. Menschen gehen drüben, Frauen in hellen Kleidern.
Er geht langsam und vorsichtig hinaus ins Licht.
Nein, er sieht sich nicht um.
* * *