Читать книгу Im Strom - Hans Garbaden - Страница 7

1961

Оглавление

Tobias Döllmann, der Linksaußen des Wilhelmsburger SV, hatte für die Freunde eine Brauereibesichtigung organisiert. Tobias war Sohn einer der letzten Bauern in Wilhelmsburg. Da sein älterer Bruder als Erbfolger den elterlichen Hof übernehmen würde, hatte er sich bei der Holsten-Brauerei als Bierkutscher verdingt.

Die Einladung galt auch den Frauen und Freundinnen der Spieler. An einem späten Nachmittag fanden sich die Teilnehmer auf dem Hof der Brauerei ein. Neben sieben anderen jungen Frauen war Renate zusammen mit Heinz und Michael gekommen.

Nach der Begrüßung durch einen Braumeister traf etwas abgehetzt der lange Andreas, linker Verteidiger und Kapitän der Mannschaft, ein. Etwas derangiert meinte er: „Ich hatte heute Probleme mit der Polizei.“

Alle Mannschaftskameraden schauten ihn fragend an. Der lange Andreas war Kunststudent, hatte kein Stipendium und konnte von seinen mittellosen Eltern finanziell kaum unterstützt werden. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Pflastermaler in den Einkaufsstraßen der Hamburger Innenstadt. Ein Kleid in der Auslage eines führenden Modehauses am Neuen Wall kostete mehr, als ein Kunststudent auf dem Pflaster davor für die Kopie von Franz Marcs „Blauen Pferden“ im Monat an Spenden bekam. Aber nach Abzug seiner Kosten für Kreide blieb noch etwas für ein bescheidenes Leben übrig. Andreas hatte seinen Sportkameraden erzählt, dass Gauguin, Manet und viele andere Maler auf den Straßen von Montmartre angefangen hatten, weil das Geld nicht mehr für Leinwand und Farbe reichte und sie hofften, auf diese Art und Weise Gönner zu finden.

Die Brauerei hatte noch achtzehn Pferde im Stall, mit denen die Gastronomiekunden „rund um den Schornstein“ beliefert wurden. Außerdem wurden einige dieser Pferde vom Stallmeister trainiert, um als Vierer-Gespann bei festlichen Anlässen als Werbebotschafter für die Brauerei eingesetzt zu werden.

In ihrem leicht angetrunkenem Zustand fingen einige Fußballfreunde an zu johlen und unterstellten Wiebke, sich mal einen Pferdepenis ansehen zu wollen. Die Männer zeigten Wiebke die Größe eines erigierten Hengstpenis mit zwei ausgestreckten Armen und animierten sie, in den Stall zu gehen, um sich mit der Anatomie der Pferde vertraut zu machen. Wiebke war begeistert. Tobias Döllmann begleitete sie. Nach einer Viertelstunde kamen sie zurück. Wiebke humpelte, und ihr Rock war zerrissen. Sie hatte keinen Pferdepenis gesehen. Aber sie hätte beim Hinschauen von einem Pferd einen kräftigen Huftritt an den Oberschenkel bekommen. Was ihr nicht erzählt worden war, war die Tatsache, dass nur Stuten im Brauereistall standen. Wiebke raffte ihren Rock und zeigte allen ein paar schöne Blutergüsse. Es wurde noch ein langer Abend, der im Vereinsheim des Wilhelmsburger SV ausklang.

Heinz, Michael und Renate verbrachten, trotz leichter Dissonanzen, weiter gemeinsam ihre Freizeit. Als im April auf St. Pauli eine neue Band aus Liverpool spielte, erlebten sie im Top Ten Club den Beginn der großartigen Karriere der Beatles.

Im Mai war Michael durch eine bevorstehende Klausur, auf die er sich noch vorbereiten musste, an einem Treffen verhindert. Renate und Heinz waren, wie sie einander gestanden, nicht unerfreut über die Absage. Sie entschlossen sich, in die River-Kasematten zu gehen. Heinz war Jazzfan und hatte Renate mit seiner Begeisterung für diese Musik angesteckt. Auch das war dem eifersüchtigen Michael ein Dorn im Auge. Ihm, der immer elegant angezogen war und die kurzen Haare wie mit der Axt gescheitelt trug, waren die leger gekleideten und unfrisierten Jazzer suspekt gewesen.

Heinz hatte die Freunde mehrfach darauf angesprochen, doch mal nach Berlin in die Eierschale am Breitenbachplatz, zu H. W. Schneider mit den Spree City Stompers, ins Riverboat am Fehrbelliner Platz oder ins Hajo am Nollendorfplatz, in der die Creme der Jazzmusiker spielte, zu fahren. Aber Michael wollte mit diesen Sartre und Camus lesenden Pseudoexistenzialisten nichts zu tun haben. Und neben dem Jazz womöglich auch noch die Chansons von Juliette Greco anzuhören, war auch nicht seine Welt. Francoise Sagan wollte er als Lesestoff noch gelten lassen, aber in diese Jazzkeller, die dunklen Höhlen glichen, wollte er keinen Fuß setzen.

Renate und Heinz fuhren mit der S-Bahn von Wilhelmsburg nach St. Pauli. In den River-Kasematten gastierte Ken Colyer mit seiner Band aus England. Sie fanden noch Plätze in einer Nische. Nachdem sie ihre Getränke – Renate eine Bluna und Heinz ein Elbschlossbier – erhalten hatten, sprachen sie über Michael.

„Was sagst du eigentlich dazu, dass er dich neuerdings immer mit Heini anspricht und sich selbst Mike nennt?“ fragte Renate. „Auch wenn er mit anderen über uns spricht, bist du für ihn nur der Heini.“

„Mich stört das nicht; soll er mich doch so nennen, und ich spreche ihn gern mit Mike an, wenn er das möchte.“

Nachdem Renate einen Schluck getrunken hatte, meinte sie: „Ich finde, dass er sich immer mehr verändert. Und nicht zum Guten. Den Michael vom vorigen Sommer erkenne ich nicht mehr in ihm.“

Heinz gab ihr recht. „Unsere Interessen driften eben immer mehr auseinander. Das wurde doch auch deutlich, als wir in die Jazz at the Philharmonic-Veranstaltung in die Musikhalle wollten. Er hatte doch keine Lust und wollte sich lieber Bill Haley and the Comets in der Ernst-Merck-Halle ansehen.“

„Und mit Filmen ist es doch ähnlich. Als wir uns den Henry-Fonda-Film ‚Die zwölf Geschworenen‘ ansehen wollten, ist er doch auch nicht mitgekommen, sondern hat sich lieber den neuen Tarzan-Film mit Gordon Scott angesehen. Mit Gordon Scott! Wenn es wenigstens Jonny Weismuller gewesen wäre. Und dann auch noch im Rialto-Kino am Vogelhüttendeich. Oder wie Michael immer sagt, am Vögelnuttendeich, wo sich in der Dämmerung immer die Rocker versammeln.“

Ken Colyer hatte inzwischen eine Story von seiner Fahrt auf einem Frachter nach New Orleans und seinen Erlebnissen an der Wiege des Jazz berichtet und setzte die Trompete für den Basin Street Blues an. Renate und Heinz küssten sich.

Nachdem sie ein paarmal getanzt hatten und als Ken Colyer den ‚Chattanooga Stomp‘ von King Oliver blies, sprach Heinz von Verlobung.

„Meinst du das ernst?“ fragte Renate.

Er lächelte. „Ich habe doch bisher nur zwei Bier getrunken, bin also nüchtern. Ich möchte, dass du meine Frau wirst.“

Die Band spielte gerade „The man I love“ von George Gershwin.

Renate fiel Heinz um den Hals und küsste ihn. „Ich habe es mir so gewünscht, dass du mich das fragst. Aber ein Jahr Verlobungszeit muss sein.“

„Klar“, sagte Heinz selig.

Er bezahlte die Getränke, und eng umschlungen verließen sie die River-Kasematten. Sie gingen über die Straße ans Elbufer und blickten zur Werft Blohm und Voss hinüber. In der Dunkelheit der Nacht leuchteten nur die Lampen auf dem Trockendock der Werft, um den Arbeitern der Nachtschicht bei der Arbeit an einem Stückgutfrachter Licht zu spenden.

Schweigend rissen sich die beiden von dem Anblick los und schauten sich im fahlen Licht einer Straßenlaterne an. Sie küssten sich wieder.

„Lass uns gehen“, sagte Heinz schon zum zweiten Mal an diesem Abend.

Renate nickte, und sie machten sich auf den Heimweg nach Wilhelmsburg.

In den nächsten Monaten wurden die Disharmonien zwischen Michael und Heinz größer. Es gab keinen richtigen Streit, aber Michael entwickelte zusehends eine unangenehmere Art im Umgang mit seinem Freund. Als Jurastudent an der Uni Hamburg ließ er Heinz gegenüber den angehenden Akademiker heraushängen. Außerdem wollte er immer noch nicht begreifen, dass Renate sich für Heinz entschieden hatte.

Als sie einmal bei einem Glas Bier im Vereinsheim des Wilhelmsburger Ruderclubs am Assmannkanal zusammensaßen – Michael trug sich mit dem Gedanken, das Fußballspielen aufzugeben und sich dem standesgemäßeren Rudern zuzuwenden –, äußerte er wieder einmal sein Unverständnis über Renates Entscheidung: „Eigentlich gehört sie mir. Ich habe damals am Strand der Süder-elbe den ersten Schritt getan. Und außerdem wäre sie bei einem erfolgreichen Juristen besser aufgehoben als bei einem kleinen Buchdrucker.“

Diesmal konnte Heinz nicht, wie so oft in der Vergangenheit, die Bemerkung von Michael unwidersprochen hinnehmen. „Erstens bist du noch lange kein erfolgreicher Jurist, zweitens werde ich kein kleiner Buchdrucker bleiben, und drittens ist bei einer Frau, wenn sie sich für einen Mann entscheidet, die Liebe und nicht der Beruf des Mannes ausschlaggebend.“

Michael war daraufhin in lautes Lachen ausgebrochen. „Ha, Liebe, dass ich nicht lache. Du hast viertens vergessen. Und viertens ist noch lange nicht klar, ob sie sich nicht doch für mich entscheidet und dir irgendwann den Laufpass gibt.“

Heinz wollte den Disput nicht weiterführen und verkniff sich eine Erwiderung.

Neben seiner sportlichen Aktivität als Fußballspieler war Heinz im Verein auch für die monatlich erscheinenden Vereinsnachrichten und die Pressearbeit zuständig. Da er in einer Druckerei arbeitete, hatte man ihn für geeignet gehalten und ihm auf einer Mitglieder-Versammlung – als sich niemand freiwillig meldete – diese ehrenamtliche Tätigkeit übertragen. Zuerst nicht sehr begeistert von diesem Amt, merkte Heinz aber schnell, dass es ihm lag, kleine Artikel über das Vereinsleben zu schreiben; und er fand auch Freude daran. Die Überwachung der Produktion der Vereinsmitteilungen mit einer Auflage von einigen tausend Stück war für ihn als gelernten Drucker kein Problem. Auch das Formulieren von Pressemitteilungen über die Aktivitäten des Vereins machten ihm nach einer Eingewöhnungsphase Spaß.

Sein neues Hobby blieb nicht unbeobachtet. Beim Mittagessen in der Kantine des Verlagshauses setzte sich einmal der verantwortliche Sportredakteur der WILHELMSBURGER NACHRICHTEN zu ihm an den Tisch. Er fragte Heinz, ob er Lust hätte, einen Bericht über das bevorstehende Fußballturnier für die Tageszeitung zu schreiben.

Heinz war begeistert. Bezahlung für einen von ihm geschriebenen Text, auch wenn es nur ein mageres Zeilenhonorar war. Er hatte daraufhin einen Vorbericht und eine Reportage über das Turnier geschrieben. Die Texte mussten nur geringfügig von der Redaktion redigiert werden.

Heinz wurde mit weiteren Aufgaben betraut. Er schrieb neben seiner Tätigkeit als Drucker Berichte über das Training des Rudervereins auf dem Assmannkanal, über Schwimmwettbewerbe und Artikel über den Wilhelmsburger Boxclub.

Als im Laufe der Monate die Aufgaben für die Sportredaktion immer größer wurden, machte Heinz sich Gedanken darüber, ob ein Wechsel von der Druckmaschine an den Redaktionstisch sinnvoll wäre. Seine Überlegungen gingen dahin, die Entwicklung noch ein paar Monate abzuwarten, um dann eine Entscheidung zu treffen.

Im Strom

Подняться наверх