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1. Gesang

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Die Bahnhofsampeln: auch dem Kirchentagsvolk egal. Drei Doppelspuren, Straßenbahnschienen, dazwischen Inseln; alles weiträumig überschaubar und somit eine Prinzipienfrage, hier dem Gesetz oder der Vernunft zu folgen. Psalm 31, Vers 9: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum", Losung zum 29. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2001 in Frankfurt am Main. Stuttgart, der Austragungsort vor zwei Jahren, war für einen evangelischen Kirchentag irgendwie "passender", weil "kirchlicher", "evangelischer". In Stuttgart gehören Flugblattverteiler protestantischer Endzeitsekten selbst beim Schlußverkauf irgendwie dazu, Sekten, die mir selbst heute noch...

Kaisersack, Anfang und Ende des Bahnhofsviertels. Ein schwarzes US-Vokalensemble, Gospelpop, Passantenapplaus. Ihr Prediger ein Weißer. Gleich werden sie mich bekehren wollen, und... allen entsprechenden Erfahrungen zum Trotz immer noch besser als dieser satte, selbstzufriedene Kulturprotestantismus, dieses Volkskirchenbürgertum, das in seinen "stillen Momenten" irgendwas vom "Herrgott" faselt, und daß es vielleicht da droben ja doch vielleicht eine höh're Macht geben könnte, müßte, sollte, vorausgesetzt, daß...


New Man bei "Dr. Müller", New Man in der Stadt Paul Tillichs. Monitore in Backsteinwänden, die Wände dunkelblau schutzlackversiegelt; eher Schutz- als Lasterhöhle, ein Fluchtpunkt für all jene, die nicht zum schwulen Establishment zählen, sich gegenseitig dann ja doch nicht, kaum daß sie hinter der Schranke sind... – Nein, heute auf gar keinen Fall. Später, morgen, gewiß, vielleicht. Jetzt einfach schnurstracks dran vorbei. Das kann ich schließlich immer haben.

Die Christusfiguren auf den Bankendächern fügen sich so harmonisch ins Stadtbild ein, daß sie auch nach dem Kirchentag dort verbleiben könnten. Das sorgsam mit Tesafilm befestigte Pappschild auf dem T-Shirt des Halbwüchsigen, der sich mit seiner Clique beim Zirkuszelt vom CVJM, das mehr an eine orthodoxe Kapelle als an ein Zirkuszelt erinnert, trifft, scheint mir da ungleich mehr Mut zu verlangen, das Schild, auf dem ein einziges Wort, mit Kugelschreiber in Großbuchstaben geschrieben, steht, und zwar das Wort "Ficken".

- "Nichts Geringeres als ein Symbol", um es mit einem Topos Paul Tillichs zu sagen? Auf dem Marktplatz ein afrikanisches Trommlerensemble; ich bleibe und rauche am Rande. Man scheut sich an solchen Tagen schon fast, seine Kippen auf den Boden zu werfen, und außerdem ist Fronleichnam bekanntlich immer noch ein katholisches Fest.

Endlich mal einer, der Zettel zur Rettung der Sünderseelen verteilt, "Flyer", wie man heute so sagt; hinter ihm ein Greenpeace-Stand zur Rettung allein der Erde. Ein Heiliger, ein Auserwählter, einer der 144.000, die auf Vergeltung ihrer Qualen hoffen, erlitten beim Anblick der Unzucht, und keinen Verkehr mit Weibern hatten, und dieses ja wirklich ein Bibelwort und nicht Sonderlehre der "Sondergemeinschaften", wie in seinem Standardwerk "Seher, Grübler, Enthusiasten" Oberkirchenrat Kurt Hutten die religiösen Einzelgänger und endzeitlichen Sonderlinge und durchaus mit Respekt betitelt hat. Neulich auf der Arbeit ein Hörfunkbeitrag von 1966, Kurt Hutten zu den Chancen und Grenzen der, wie man damals so sagte, "sexuellen Revolution". Ja, auch zu den Chancen. Mündigkeit und Verantwortung. 1966.

Die ab 16 Uhr gültige Abendkarte kostet nur die Hälfte, und Kirchentag hab ich auch hier; außerdem fahr ich auch morgen nach Frankfurt, und übermorgen ebenso. Der Sommer hat gerade mal angefangen; Berlin kommt noch zurecht. Ein halbwegs stabiles Frankreich-Hoch, bei Regenwetter lohnt es nicht, man will ja auch wieder Guben besuchen, Heimatstadt Paul Tillichs, bis 1933 Philosoph in der Stadt des Kirchentags; Guben, die Heimat auch Heinz Rudolf Kunzes, aufgewachsen in Osnabrück und seit Jahren nun schon im Hannöverschen.

- Europäische Modellstadt Guben-Gubin, sicher die einzige ostdeutsche Stadt mit einem baptistischen Bürgermeister. Im hohen Alter trat auch Karl Barth für die Erwachsenentaufe ein und brachte Paul Tillich zur Straßenbahn, und Tillich fortan der Meinung war, sie wären wieder Freunde.

- Mit Paul Tillich auf weitem Raum: Du mußt lediglich bejahen, daß du bejaht bist. Nur muß ich inzwischen auch dieses bejahen, nämlich daß ich inzwischen bejahrt...

Ein Hauptvorwurf Barths gegen Tillich war, daß dieser eine "Offenbarungswalze" über die Welt rollen lasse, "als verstünde es sich von selbst, daß überall Gericht und Gnade walten". Ein jüngerer Mann fragt eine ältere Frau, was man dann noch glauben könne. Zwei Aktivisten mit Biergartenschirm laden das Volk zum Lobpreis ein, Worship 24 Stunden Nonstop, daneben eine Stellpapptafel mit Werbung für ein Erotikkino, 24 Stunden Worship Nonstop.

Kirchentag auch im Schwulenviertel. Hardrock in einer "Jugendkirche". Dann ein Song mit Jesus, und freilich einer zum Kuscheln. Was wohl jetzt im Bathhouse abgeht... was aber geht da schon ab? Was sich die Spießer da alles so vorstellen, die reißen sich dort die Kleider vom Leib und... Sagte ja schon Bowie einst im Frühjahr '73: "The Jean Genie loves chimney stacks". Vielleicht kommen am Samstag Kirchentagsgäste, die auch an diese Mythen glauben. Dann könnte vielleicht was abgehen dort.

- "And when the clothes are strewn, don't be afraid of the room". Kreideschrift auf dunklem Tuch vor dem Zelt einer weiteren "Jugendkirche" bietet Fußwaschung an und Nackenmassage. "Das tut Gott"? – Nur von ferne; bei näherem Hinsehen wird aus "Gott" ein ganz profanes "gut".

Am Horizont Posaunenchöre: Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist – mein? – sein? – Begehren... – Unterhemden bekennen sich zur "Altpapiergruppe Loccum"; Loccum, das geistliche Zentrum des Hannöverschen Luthertums.

Passagenbäume mit Holzbankkringeln. Kaum noch ein freier Platz zu finden, geschweige denn eine ganze Bank, und die sollte es eigentlich sein; Menschen langweilen mich oder machen mir Angst. – Also aufgerafft und noch einmal durchs Viertel, durchs Quartier Sida. Drei Buben vor einer Dessousboutique; einer von ihnen greift dem Plakatmann lachend an den Slip. Ein anderer zieht sich die Boxershorts runter und pinkelt auf den Bürgersteig. "Schauen Sie mal, der hat Pipi gemacht!", doch beschuldigt wird der Falsche. Der versichert mir seine Unschuld, und ich gebe ihm recht, denn ich hab’s ja gesehn; er lächelt und schaut seine Freunde an, dann wieder mich, dann wieder die Freunde. Die können sich kaum noch halten vor Lachen; dem, der's gar nicht gewesen ist, laufen inzwischen die Tränen.

In der U-Bahn-Station Richtung Messegelände ist er längst wieder guter Dinge. Dort ein Wandplakat von Unicef: "Drei Prozent aller Erwachsenen in Frankfurt benutzen Kinder als Sexualobjekte." Und darunter, in Kinderschrift: "und die übrigen 97 Prozent als Hausaufgabenmaschine". – Kurz vor vier; es ist an der Zeit, wie einst schon Hannes Wader sagte in freilich ganz andrem Zusammenhang.

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