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4. Gesang: Open country joy. Laissez tous les enfants boogie. Dr. HuK & his Medicine Show.

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Niemals hatte ich einen "feuchten Traum". Jan hatte gar die Behauptung aufgestellt, niemals masturbiert zu haben; das hätte er (der Schwarm aller Frauen) schlichtweg niemals nötig gehabt. Vielleicht hatte er sogar recht.


- Und der Verlust meines Lieblingssteins womöglich eine pädagogische Strafe, eine Mahnung, eine Warnung vor dem unausweichlichen Gleichwert. Kein Ort, der für diese geeigneter war als der Hof meines Schulfreundes Jan, Jan, der als erster erfahren durfte, daß ich mich auch in Jungs verliebe, so, wie es gerade geschehen war bei Joël, seinem Mülhauser Austauschschüler, Joël, der in Wenden ein einziges Mal, das aber leider, leider bei Jan, plötzlich auf meinem Bauche saß und an meiner Hose war, doch dann kam der so männliche Jan ins Zimmer und er ließ sogleich erschrocken ab, und wie das so ist bei Jungs in dem Alter, es hat keine Wiederholung gegeben. Wenn's damals was geworden wäre, womöglich noch gar was mit Zärtlichkeiten, dann wäre mir der Südwesten vielleicht...


- Vielleicht, vielleicht, womöglich. Vielleicht war auch Herr Dupré, der Ruhrstädter Juwelier, Franzose, und vielleicht kannte der sich ja wirklich aus mit amorph erscheinenden Bergkristallen. Ein badischer Kollege bot vor einigen Jahren entsprechende Steine aus Frankreich an; die waren meinem sehr ähnlich. – Wie oft er mir auf den Boden fiel, wie oft er restauriert werden mußte. Und sollte ich jemals zu Reichtum gelangen, geh ich zu Jan und kaufe das Grundstück und suche jeden Quadratzentimeter des dann noch vorhandenen Rasens ab.


- Viereinhalb Zimmer, Balkon, Terrasse, 2 Etagen, 2 Bäder, na gut, nur ein Bad und oben halt Waschbecken und Toilette, doch immerhin, und rundherum über 1.000 qm Garten. Das große Zimmer wollte ich nicht, das nun mehr oder weniger Abstellraum war und ansonsten halt das Gästezimmer. – Eines Nachmittags drehte ich den Schlüssel rum und verglich den altdeutschen Aquamarinring meiner Mutter mit dem damals noch reichlichen Schmuckangebot des damals noch kostenlosen Quelle-Katalogs. Als mal in Ruhrstadt die Frage aufkam, wer denn später was bekommt, den Ring, die goldene Taschenuhr, die Goldmünze, Kaiserreich, 20 Mark, packte mich ein Heulkrampf ob dieses Skandals, jetzt schon an den Tod der Eltern zu denken. – Und keiner hat's verstanden. Sagen wollte ich's freilich nicht, mag sein, vielleicht ahnte ich es sogar, daß es ja so nun gar nicht gemeint und ich meiner Schwester ein Unrecht tat, aber das ja eigentlich immer.


- Ich kniete also vor der Sitzliegefläche, Ring und Katalog betrachtend. Meine Mutter wollte mir irgendwas sagen und stand vor verschlossener Zimmertür. Wie aber sollte ich etwas erklären, wo es doch nichts zu erklären gab, ich sah mir ja wirklich nur Schmuckseiten an und nicht, wie vielleicht ein halbes Jahr später, die Mädchen- und auch die Knabenslips. Diese kurze, heftige Panikattacke, die mich irgendwann abends auf der Treppe befiel... vielleicht eine Angst vor Veränderungen, die schlicht so unausweichlich sind wie Masern oder später die Schambehaarung, zumindest aber normaler doch als das Stehlen banaler Kurzwarenknöpfe aus den Kurzwarenkisten bei Neckermann; einmal war ich mit meinem Vater dort, und ich zeigte ihm draußen stolz meine Beute. Er war irritiert, gleichsam still entsetzt, ein Luftschnappen eher, eine Schrecksekunde, und sagte, tu das nie wieder. Oder mit Mitschülern Schneeklumpen stopfen in den Briefkasten damals am Lessingplatz.


Von Nils ein Brief, den er mit dem Abdruck einer Pfennigmünze versiegelt hatte; peinlich genug, mir die Antwort zu sparen. Zudem, ich wollte hier Freunde finden, hier Freunde finden, hier und sofort, ich versuchte es gleich in der Nachbarschaft, danach mit einem aus meiner Klasse, der war eher ein Einzelgänger, und ließ es dann rasch wieder bleiben. Kameradschaft, die gab es doch, genauso schnell und unkompliziert wie später Sex im Bahnhofsmilieu.


Ein Bub aus, wie man heute so sagt, "bildungsfernen Schichten", deutlich jünger als ich, begleitete mich in den ersten Wochen Tag für Tag zur Bushaltestelle und sagte mir einmal aus heiterem Himmel, daß es ganz, ganz wichtig sei, an Gott und auch an Jesus zu glauben; katholisch wie die Ruhrstädter Bergarbeiter, aus "schlechtem", doch immerhin eigenem Haus (und das in der Siedlung gar nicht so selten; ein Förderprogramm im Rahmen des "Grünen Plans", soweit ich weiß). Das war mir so wenig ein Umgang für mich wie einst das Mädel in Ruhrstadt, und die Tür blieb ihm fortan verschlossen. – Er zeigte seine Enttäuschung und seine Wut, indem er in den kommenden Tagen an der Bushaltestelle auf mich einschlug und mich trat; irgendwann nahmen wir dann voneinander keine Notiz mehr, woran sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis zum Ende meiner Wendener Jahre nichts mehr ändern sollte.


Man war "up to date" im Landkreis Nordstadt. Plattdeutsch sprachen sie, wenn überhaupt, in der Familie oder in der Gastwirtschaft, und niemand wurde schräg angesehen, wenn er's beim Hannöverschen Hochdeutsch beließ. "Zugereiste"? Das gab es dort nicht, so wenig wie irgendein andres Klischee, das der Städter sich zerrt aus der Vorurteilskiste, wenn die Rede aufs sogenannte Landleben kommt.


- "Kraftpost", die postgelben Überlandbusse der staatlichen Deutschen Bundespost, mit eingebautem Briefkasten zwischen Einstiegstür und Radkastenbucht. Die modernen, kantigen Busse mit den NSU-TT-Doppelscheinwerfern. Die noch leicht gerundeten aus den, wohl frühen, Sechzigern mit den graumelierten Kunstlederbänken, in der Mitte eine rote Kunstlederrippe; das Dach mit einem Heckflossenhauch. Und manchmal der nun wirklich alte mit den großen rostigen Entlüftungslamellen, den braunen, zerschabten Lederbänken, dem kleinen runden "Büssing"-Grill ohne jegliche Zierleisten drauf und dem kugelrunden Hinterdach.

Ein so junger wie unaufgeregter Klassenlehrer, heute würde man sagen: "cool", mit kurzen Haaren und schmalem Bart, der, wie ich der Website entnehmen kann, dort immer noch unterrichtet.


Fließend warmes Wasser. Gut, man mußte das vorbereiten und außerdem relativ sparsam sein. Das wurde dann ein gewisses Problem, sobald ich entdeckt, daß der Brausekopf mir dieses seit Jahren vermißte Gefühl nun endlich wieder zurückzubringen konnte, nur daß es sich, obgleich immer noch "trocken", leider, leider jetzt eben nicht mehr beliebig wiederholen ließ. – Wann genau kursierten die Pornohefte der Zehntkläßler an der Bushaltestelle? Vermutlich im Frühjahr, als ich noch trocken war hinter...


- Und wo wir gerade beim Thema sind: Der Frankfurter ÖPNV ist im Kirchentagsticket bereits enthalten; kaum hat man's wieder mit der Kirche zu tun, muß man schon gleich wieder Lehrgeld zahlen. War am Bahnhof aber auch sehr unübersichtlich, der Kartenverkäufer vor dem Infobüro, gleich macht er seinen Trenchcoat auf, rechts Zigaretten und Armbanduhren, links echte Nylons mit echter Naht und womöglich noch echte Markenbutter.


Die S-Bahn am Rande ihrer Kapazität. Kaum läuft der Zug in den Messebahnhof ein, öffnet ein lila Bubikopf einen Kippfensterspalt und klopft. Der korpulente Wachmann auf dem Bahnsteig lächelt, Rückerstattung nicht benutzter Gruppenkarten, ob er das eben mal machen könne; ich steige aus und wende mich ab.


Ein elend langer Aufstieg zum Messeeingang; Geschimpfe und Geschwitze. Pfadfinder nehmen meinen Rucksack entgegen. "Markt der Boykottiert Shell. Mache ich doch ohnehin seit der Sache mit Nigeria. Ich kaufe Gepa-Kaffee, Gepa-Tee, Gepa-Honig und Reformhauseier, auch wenn mein Verhältnis zur Reformhauswelt letztendlich ein wenig zwiespältig ist; Männer mit weiten kurzen Hosen, die vor dem Bioaufbaupräparate-Regal ja eigentlich nur darauf warten, daß kleine Mädchen nach oben schielen, so wie ich, wenn auch meist vergebens, den Jungs in ihre "kurzen" Hosen im Faltenbalgbereich der Mercedes-Busse der – heimischen? – "Baden-Baden-Linie", und stets auf dem Entgegen-der-Fahrtrichtung-Platz.


- Markt der Imbiß-Möglichkeiten, frischgepreßte Säfte, aber nur gegen bar, warum keine Spende wie bei der Garderobe? Ich habe doch schließlich Eintritt bezahlt, ich zahle ja schließlich auch Kirchensteuer, ich zahl ja sogar als Mitarbeiter einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt den vollen Rundfunkgebührensatz; ich sehe nicht schwarz, ich fahre nicht schwarz, ich erschleiche mir keine Landjugendsäfte, schon gar nicht frisch gepreßt, sondern kauf mir statt dessen im Innenhof einen Bio-Apfel-Holunder-Mix und eine Bio-Bratwurst zuvor. – Ein freundlicher Mann von der "Bruderhilfe" teilt kostenlos knallgelbe Stoffbeutel aus mit Bruderversicherungs-Infopaket, ein Wahrzeichen dieses Kirchentags wie die amtlichen Bänder und Seidenschals als Bekenntnis zur Würde des Menschen.


Der Stand des "Bisexuellen Netzwerks" stellt alle möglichen Formen dar, und freilich nur als Kurvenbild. Überall Potemkinsche Nebengarderoben, Ausgänge hier, Ausgänge dort. Der Kirchentag der Notausgänge? Den richtigen endlich gefunden, ein Wachmann weist den weiteren Weg, das erinnert mich an die Friedrichstraße, man hält schon fast den Paß bereit. Die Uniformierten sind Pfadfinder, unerotische Pfadfinder, was sonst ja eher selten ist, auf Kirchentagen aber die Regel. Wachpersonal, Hilfspolizei, auch wenn das nun wirklich unfair ist; die opfern dort ihr Wochenende, die opfern den ganzen Kirchentag. – Zwei Mark, das muß eigentlich reichen, und nun ab und schnell runter zur Bahn, morgen muß ich um sieben schon raus, HuK, ökumenischer Arbeitskreis Homosexuelle und Kirche, Vortrag plus Diskussion ab zehn im Frankfurter Lessing-Gymnasium: "Sexualität und Moral begegnen einander – und wir sind dabei."


- Wir sind trotzdem dabei; raus bist du: so hätten's die "Strolche" gut sagen können, als diese mir im Herbst '68, zum Glück nur dieses eine Mal, in der Hardenbergstraße in die Quere kamen, und wir uns dann gegenseitig etwas dumm, doch ging das allein von mir jetzt aus; die werden mir nichts mehr tun, die Strolche, und dachten wohl sicherlich nicht mal daran, und ansonsten an "das" wohl nur selten.


Die Monate zwischen Landschulheim und dem Ende jenes Kurzschuljahrs... wie immer wir uns ertragen haben. Sprachen wir drüber? Es ist unwahrscheinlich, daß wir nicht darüber sprachen. Wie verhielt sich der als Rädelsführer – zu Unrecht? – beschuldigte Klaus? Keine Ahnung; die Zeit zwischen Showdown und Zelt, von der Hochzeitstragödie abgesehen, ist samt und sonders gelöscht. Nur soll ich da jetzt mit Friedrich Noskes Berliner SPD-Kollegen ein bloßes "und das ist auch gut so" sagen?...


Müde, erschöpft, und doch... ja, glücklich. Kirchentag... das ist, trotz allem, als ob man wieder Heimat hätte, und wenn nicht die Kirche, ihr Himmel, ihr Götter, was, zum Teufel, sonst?...


IC bis Mannheim, dann ICE, nicht anders als bei den Saunafahrten. Ticket vom Touch-Screen-Automaten. Der ICE brechend voll; die Fahrt eine knappe halbe Stunde, da nehme ich gern einen Nichtraucherwagen, so viel Disziplin muß sein. – Ein Stehplatz im Gang. Pausenlos öffnet die Türautomatik, Schuld dieser hektischen Ehepaare, die ständig sich irgendwas rüberreichen, ungefähr mein Jahrgang wohl, vielleicht ein wenig älter, mit Harley-Davidson-Baseballkappen. Mit der Harley durch die Rockies, "Pur – Ihre größten Erfolge" im Ohr. – "Weiter vorn ist alles frei", sagt der freundliche Schaffner fünf Minuten vorm Ziel; lausige zwei Waggons weiter hinten, und ich hätte den Fahrschein auch morgen noch. Beim völlig legalen "Schwarzhändler" das Tagesticket geholt, schon gestern die richtige U-Bahn gesucht, da gibt es jetzt keine Probleme. Ob der da auch zum Gymnasium will? Der sieht eigentlich ziemlich schwul aus. Will er aber nicht. Kirchentagsstadtplan ausgebreitet. Links eine Schule, das muß es sein. – Wohl ganz normaler Schulbetrieb. Ein Hinweis am Schwarzen Brett: Das hier ist eine Realschule nur, und Homos haben Maturitas. – Das große Gebäude zur Rechten, mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Ein hagerer Alter, den frage ich jetzt, und richtig, es ist ein Gleichgesinnter. Kein Eingang auf dieser Gebäudeseite. Wir schlagen uns ins Gebüsch. Wenn das einer sieht, der wohl weiß, was hier tagt, aber schlichtweg rein nichts über Homos? Außerdem muß das kein Homo sein, das kann auch ein Pfarrer, ein Vater sein, gewiß, auch dann könnt er Homo sein, er geht durch die Eiben, ich folge ihm, wir springen in den Schulhof rein – und sind endlich da, wo wir hinjewollt hann, um es, wie anfangs mit Wader schon, zusammenhanglos jetzt mit BAP zu sagen.


- "Welche moralischen Vorstellungen haben in unserer sexuellen Entwicklung eine Rolle gespielt?" Na, wenn das nicht meine Veranstaltung ist...


Gerade noch pünktlich. Am Eingang zur Aula die Deutschlandflagge und Fotos von Frankfurter Wehrmachtssoldaten, und freilich aus dem Widerstand. Textdokumente und Schülerstatements, es gab da wohl eine Diskussion bezüglich der Integrität der Geehrten. Die Decke im Bühnenraum schwarz und zerklüftet. Wie für eine Märchenaufführung, es erinnert mich eher an die Volksschule Ruhrstadt als an die Realschule Norddorf. Die Sparmaßnahmen sind unübersehbar. Der Aufgang zur Bühne eine Komposition aus Kisten und Paletten, da macht ein "Hals- und Beinbruch" Sinn. Vielleicht an die hundert Teilnehmer dort. Zwei Moderatoren in meinem Alter, aber nur einer von beiden schwul. Der Schwule ist locker und klärt das mit der "HuK", er fliegt noch heute Nacht in den Urlaub. – Ins bündnisgrüne Bärencamp? Daß man immer gleich so was denkt...


Zum Einstieg Grenzbereichs-Anekdoten, eine lesbisch-schwule WG, wo die Männer hinter Vorhängen Sperma mixten und die Frauen es sich dann injizierten; zwei Zwölfjährige, die versehentlich beim Lesen eines Pornohefts im Hinterhof eines Supermarktes eben diesen niederbrannten, gewandelte Sexualmoral, gewandelte Normen und Werte. Dann zwei Experten aufs Podium, ein Sexkaufmann aus dem Szeneviertel, der ein Filmstudio nebst Vertrieb betreibt, und eine Fachfrau von Pro Familia, die den Wandel der Moral bestätigt und zum Schutze der Minderjährigen mahnt. Das hab ich der Fachfrau vielleicht voraus: ich kenne die "Pro Familia"-Hefte von Anfang bis Ende der Siebziger, komplett archiviert von der Funkbücherei, ausnahmslos per Postvertrieb; würde die heute einer versenden, nur von der Postbanderole umhüllt: die kämen nie an, da käme nur der Staatsanwalt und mit diesem ein mobiles Einsatzkommando, zum Absender wie zum Empfänger.


Ein Mann im Maxirock schimpft die Statements des Pornoproduzenten Eigenwerbung. Der lächelt und achtet auf Volljährigkeit und auf ein Mindestmaß an... Menschlichkeit? – Warum den und nicht Sebastian Bleisch, der inzwischen wieder Norbert heißt, den Nachnamen seiner Ehefrau trägt und dessen bürgerliches Werk ich nicht kenne, sondern lediglich sein seit Jahren schon verbotenes cineastisches Oeuvre? – Der wollte vielleicht schon 2001 mit all dem nichts mehr zu schaffen haben. – Ein Realschul-Videokurs irgendwo in Mecklenburg; seine Jungs, so las ich's in der Pressedatenbank, besuchten ihn auch im Gefängnis fast täglich. Als Schriftsteller war er nach der Wende bei namhaften Häusern unter Vertrag; seit Bleisch (wieder?) als Historiker tätig und "dem Staatsanwalt heute noch dankbar" ist, führt die "Welt" Gespräche mit ihm und hat für seine Vergangenheit, ohne diese zu verschweigen, wohl alles Verständnis der Welt.


- Realschüler halt, keine Straßenkinder, keine zerrütteten Prügelfamilien, wie ja auch ich erst befürchtet hatte, als ich im Januar '93 allen Mut zusammennahm, das Einzelhandelsfachgeschäft am Rande der Innenstadt aufzusuchen. Noch am selben Abend einen Videorecorder, genauer, ein bloßes Abspielgerät, was hätt ich schon störungsfrei aufnehmen können mit Schwarzwälder Zimmerantennenempfang? Ich konnte mich nur über Reisepaß plus Meldeschein legitimieren; ich wollte keinen Personalausweis mit dem Stempel "Baden-Baden". – Jochen, sagen wir, Köster, akzeptierte meine Dokumente. Der Name erinnert an Jochen Klepper; an den erinnert in Baden-Baden sein römisch-katholischer Dichterkollege und wohl einziger Freund Reinhold Schneider, nach '45 vor allem im Ostblock als Pazifist hoch geehrt.


- Ein Todesfall in der Familie oder im Freundeskreis, eine lebensbedrohliche Krankheit, eine Festanstellung: ich rechnete mit dem Schlimmsten. Wäre ich Atheist, ja dann... Kaum, daß Bleisch in U-Haft saß, verschwanden seine Filme aus den Sexshopregalen; vereinzelte fand man bis etwa 2000 in Hamburg noch und in Schöneberg. Kaum, daß ich in der "Szene" war, suchte ich Jochen Kösters Shop sporadischer und sporadischer auf. Pornos hab ich im Pornokino und eh in jeder Hinsicht "satt"; was soll ich mir da noch Videos holen mit Kopierschutz und mit Ausleihfristen? Und überhaupt, dieser ganze Analverkehr... auch bei Bleisch so inakzeptabel, so widernatürlich wie in all den anderen Gay-Pornos auch, und Pornographie so oder so eine sexuelle Bankrotterklärung.


Ein lila HuK-Tuch-Veteran betonte noch einmal die Altersgrenze. Nur: was stand denn dann noch zur Diskussion? Die Vereinbarkeit dieser oder jener Praktik mit der Menschenwürde des Anderen in einer gleichberechtigten, von Zärtlichkeit und Treue und Vertrauen geprägten Liebesbeziehung? Ein weiterer Veteran, ein Kölner, betonte das Recht auf erfüllten Sex auch für jene, die sich halt nicht binden können, wie es ihm vor Jahrzehnten schon ein römisch-katholischer Pater sagte. – Homosexualität als Schöpfungsvariante? "Schwul aus gutem Grund"? Vielleicht sollten sie's besser (und dann ganz allgemein) mit den Worten Jochen Kleppers sagen:


"Du läßt den einen durch Geschlechter von Kind zu Kindeskind bestehn. Den andern läßt du wie durch Wächter von allem abgetrennt vergehn. Durch Fülle und durch Einsamkeit machst du uns nur für dich bereit. – Auf Feldern, die sich fruchtbar wiegen, in kargem Halm auf armem Sand muß doch der gleiche Segen liegen: Du sätest sie mit deiner Hand. Und was du schickst, ob Glück, ob Angst, zeigt stets, wie du nach uns verlangst."


- Der Irrtum mit Französisch... wie sollte ich ahnen, daß die Alternative nicht Latein, sondern eine Freistunde war? Und so saß ich bei der Elite und sollte was lesen aus dem Französischbuch meines Nachbarn, nun ja, ein Lacherfolg, aber Häme fraglos nicht. Der Lehrer wollte meinen Vater sprechen, eine Lösung für dieses Problem zu finden; dem hab ich's freilich erst gar nicht gesagt, denn wo war hier – Stichwort Freistunde – jetzt wirklich ein Problem? Und überhaupt, sie hätten es wissen müssen, ließen sie meine Schwester doch für ein Jahr oder so zur Realschule gehen, aus irgendeinem nichtigen Grund sie von dieser dann wieder runterzunehmen. Jahre später sah ich den Französischlehrer Schultag für Schultag im Reiseschulbus, er zu seinem Gymnasium, ich zu "meiner" Wirtschaftsschule, und sah zu Boden und schämte mich.

- Der Norden: Backstein, Holz, Granit; gerade Linie, klare Form. Weite. Moderne. Licht und Luft. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Niemals kostete es Überwindung, kurz vor halb acht bei Wind und bei Wetter in drangvollster Enge nach Norddorf zu fahren. Wirklich kein einziger Tag fällt mir ein, egal, ob nun wegen eines Unterrichtsfachs, eines Lehrers oder wegen eines Klassenkameraden. – Schwänzen? Der Gedanke kam gar nicht erst auf. Zwar gab es mal einen Streik, doch nur für ein neues Klassenzimmer, und die meisten Lehrer auf unserer Seite, vor allem unsere auch im Unterricht sehr resolute Englischlehrerin, die mir im Spätherbst '72 half, das Textblatt von "Demons and Wizards" zu übersetzen und mir schon damals attestierte, all meiner Flegelhaftigkeit zum Trotz sprachlich das Zeug zum Pfarrer zu haben und, als ich sie später mal in Norddorf traf, sehr erfreut war, daß ich's nun tatsächlich auch werden wollte. – Eigentlich war es fast schon zu harmonisch. Es war ja nun keine Reformschule etwa, auch wenn ich bis heute der Ansicht bin, daß zumindest unser Sportlehrer in der Achten, Bronzemedaillengewinner bei einem olympischen Schwimmwettbewerb bei den Spielen in Berlin, irgend so einen reformpädagogischen Ansatz wohl doch vertreten hat. Oder war's blanke Resignation? – Abgesehen von der Geschlechtertrennung ein Sportunterricht wie im Kinderladen. Der Lehrer schloß die Ballkammer auf, und es polterte und hüpfte in die relativ neue Turnhalle rein, er ließ ein paar Geräte richten und achtete auf die Matten, und wer wollte, machte seine Übungen oder vergnügte sich im Geräteraum. Ab und an ein Fußballspiel, und freilich: "nur" ein Spiel; wir kickten auch mit Steinchen auf dem Pausenhof, und ärgerlich bloß, daß mein erstes Tor (von zweien, die ich jemals geschossen habe), als Abseitstor gewertet wurde; egal, auf dem Hof war ich besser.


- Und doch, ich schaffte den Salto vorwärts, mit Sprung vom kleinen Trampolin. Wer wollte, bekam eine Zwei, ich gab mich mit meiner Vier zufrieden, einem wirklich kleinlichen Abseitstor und dem Salto vom kleinen Trampolin.


Der Nachfolger des Olympioniken behielt den libertären Unterrichtsstil seines Vorgängers bei; der Lehrplan wurde ja eingehalten, doch was wurde da groß gefordert schon? Und so blieb es beim altbewährten System: den Sportlichen ihre Zwei, und blieben Böcke, Barren, Ringe, Reck unerreichbar oder unüberwindbar, in jedem Fall noch die Vier. Über diese Pflicht hinaus wollte er nur mit denen was tun, die das jetzt auch selber wollten (Himmel, wie sich das anhört!; nur krieg ich's besser einfach nicht hin); da ging ich doch lieber zur Schulsekretärin, die gab mir den Schlüssel zur Bibliothek, und las mal da und mal dort etwas an und zupfte am Schilf der Altbauwände. In einem Aufklärungsbuch fand ich die "mutuelle Onanie", welche – 1949 und anders als bei der solistischen – von den Eltern zu unterbinden war, als ob es sich von selbst verstünde, daß diese das überhaupt mitbekämen, geschweige denn überhaupt wollten...


- Sex: nach Auskunft der Älteren in der Runddiskussion am Nachmittag in den meisten Familien das Tabuthema schlechthin. Der drahtige, glatzköpfige Architekt: der hat was für Körper und Geist getan, dem sah man die 70 nun wahrlich nicht an, und sicher auch schon die 40 nicht. Hätte man in der Jugendzeit hin und wieder auch etwas Sport getrieben... die Folge früher Fehlernährung ist es bei mir ja nun wirklich nicht; wann immer es ging, kamen Obst und Gemüse aus eigenem Anbau auf den Tisch, dazu noch die Früchte des Waldes, und täglich einen Gesundheitstrunk, Möhren- oder Apfelsaft frisch aus dem Entsafter, dazu noch ein Schuß Rote Bete.


- Heimat? In Wenden Haus und Garten und im Sommer dazu noch das Freibad; ansonsten war "Heimat" jenseits von Wenden, das weite, von Wind und Wetter geprägte, fast schon amerikanische Land von den Wendbergen bis zur Realschule hin – und Luftlinie gerade mal zehn Kilometer.


- 30. Oktober 1970; der Folgetag schulfrei im lutherischen Norden. Scherzhaft sagte der Klassenlehrer, er werde das überprüfen, ob wir denn auch zur Kirche waren. Für die meisten eh ein Pflichtgang jetzt im Rahmen des Konfirmandenunterrichts. Ich war schon ein Jahr überfällig und freilich noch so von Ruhrstadt geprägt, daß ich den Spruch lieber ernst nehmen wollte und folglich brav zur Kirche ging, allein und ohne weitere Absicht. Und doch in die große Landeskirche, nicht, wie eigentlich geplant, in die der "freien" Lutheraner ohne Bindung an den Staat; werkgerechte Puritaner, die auf dem Stuttgarter Kirchentag, dem mit den Salzbergen in der Stadt, Zuckertütchen verteilten.

Die Wendener Landeskirchengemeinde war 1970 gerade vakant; die (Lese?)Gottesdienste hielten zwei Laien, amtlich geprüft und Prädikanten genannt, ein freundlicher pensionierter Hauptschullehrer, der gab auch den Konfirmandenunterricht, und ein etwas entweltlichter Oberschüler. Ich hielt ein paar Reihen Abstand, zwei Mädchen aus meiner Klasse kamen ja auch aus dieser Gemeinde, begrüßen kann man sich auch nach der Kirche. – Gott, ein Tausend-Seelen-Dorf, und ich nun also Vorkonfirmand. Die Hauptschüler unerwartet aggressiv; da wurde manch böse Erinnerung wach.


- Die surrende Philips-Elektroorgel des pensionierten Lehrers. Die Pfarrstelle wird im Herbst neu besetzt; der Pastor sei noch jünger. Weit und breit keine Menschenfreunde; ihr Gedankengut kam jetzt per Post ins Haus, monatliche Postvertriebsstücke mit Postbanderole aus Frankfurt am Main.


Im Sommer '71 fragte mich meine Mutter, ob ich schon mal ein Mädchen geküßt, und zwar richtig, auf den Mund. Nun, weder richtig noch flüchtig, und Lisa-Maria schon gar nicht. Ihr Vater fuhr einen Opel Diplomat V8 und war einer der größten Bauern ringsum; auf solche Dinge zu achten, behielt ich bis Anfang der Neunziger bei.


Auf der Heimfahrt saßen wir stets vorne rechts, sie auf der ersten Bank, ich auf der zweiten, und standen auf Seiten der "Aktion Roter Punkt", einer Hannöverschen Bürgerbewegung für bürgernäheren Nahverkehr. "Alles Kommunisten!", schimpfte der Schulbusfahrer.


In Gemeinschaftskunde spielten wir Bundestagswahlen und interviewten im Rahmen des Deutschunterrichts Passanten zur Bonner Ostpolitik und den Norddorfer Samtgemeindedirektor zur besagten "Aktion Roter Punkt"; das war ja nun nicht meine Schuld, ausgerechnet in dieser Zeit 13, 14, 15, und überhaupt, es war mir doch mehr als nur recht, daß der Garten meine Eltern voll in Beschlag nahm, ich also meine Freiheit hatte und alle Besucher staunten und lobten, was da schon nach einem Jahr aus dieser Brache entstanden war. Und endlich auch Stiefmütterchen in allen Farben und nicht nur die gelben wie in Ruhrstadt.


Unser Kunst- und Werkkundelehrer, ein im Heideraum recht bekannter Maler und Bildhauer, hatte an der Tafel einen Schädel hinterlassen, eine Skizze nur und diese leicht – expressionistisch? - ; mir aber kam nichts Besseres in den Sinn, als "Lüders" drunterzuschreiben. Wilhelm Lüders, Rektor der Realschule Norddorf und nun unser Deutsch- und Klassenlehrer. Der kam ins Zimmer, sah zur Tafel und wollte wissen, wer das war. Rolf, der wohl Vernünftigste von uns allen, bekannte sich nach Minuten des Schweigens zu eben dieser meiner Tat. Der Rektor stutzte, sagte "Wisch das weg", und verließ sogleich den Klassenraum. Warum ging er wieder? Eine Freistunde wohl; keine Ahnung, und wen interessiert's? Es gab noch nicht mal Klassenkeile, und wäre doch mehr als verdient gewesen. Schon sein Vorgänger hatte mich ermahnt, die Anerkennung der anderen nicht dadurch gewinnen zu wollen, die Rolle des Klassenclowns einzunehmen. Lachen sie dich, dann haun sie dich nicht: in Norddorf so grundlos wie in Ruhrstadt zwecklos.


- Irgendwelche Einkäufe meiner Eltern in Norddorf. Ich hatte meine neuen Winterschuhe an; auf der Heimfahrt im Schulbus (und dieser kein Schülerbus, sondern ein Pendler-Entlastungsbus) grüßte mich Lisa-Maria und lobte mein neues Schuhwerk. – Lisa-Maria, trotz des Namens, soweit ich weiß, nicht katholisch; meine Mutter nahm's staunend zur Kenntnis, doch eher erfreut nun als besorgt. Ich aber mußte in der kommenden Woche erneut auf meine neuen Schuhe verweisen; Lisa-Maria fand das jetzt peinlich und ich dann letztlich auch.


- Egal, und auch hier: wen interessiert's? – War ja auch rasch vergessen dann; vergessen wohl auch das "Wochenend"-Heft, das sich der Fahrer an einem solchem lachend aufs große Lenkrad gelegt, die Straße mit einem für Norddeutschland nicht unerheblichen Gefälle und uns ein wenig bange doch. Heute würde man sagen: "cool"; damals hatte man Hot pants an.


- Lisa-Marias Schulbusbank... ein einziges Mal erlaubte sie's mir, diese Sitzbank mit ihr zu teilen (und kein einziges Mal einem anderen!); I never knew me a better time, and I guess I never will, um es mit Elton John zu sagen. Und wo wir gerade beim Thema sind, ein Westcoast-Hit von Stephen Stills vom Sommer '71: And if you can't be with the one you love, love the one you're with. – Love?…


- Nennen wir ihn Paul. Er versuchte es mehrmals im Umkleideraum im Rahmen einer Rangelei; das erinnerte mich an Kamp-Lintfort, so daß es eine Weile brauchte, bis bei mir die Vernunft obsiegte und ich ihn endlich gewinnen ließ. Wir gingen auf die Toiletten; dort waren wir beide zögerlich. – Eine Woche später. Wieder "besiegt", wieder aufs Klo. – "...ob du schon Samen hast." – Das war mir neu, was er da jetzt tat, und erzeugte genau jenes gute Gefühl, das doch vor wenigen Wochen erst unterm Brausekopf sein "Comeback" feiern durfte. Aus einem mir nicht mehr bekannten Grunde hörte er mittendrin auf. Zu Hause setzte ich es fort, lehnte mich an den Klodeckel an und brach dabei eine Halterung ab. Den Deckel versehentlich fallengelassen, eine bessere Ausrede gab's nun mal nicht. Und obgleich es sich wiederholte: Pubertät als meine Pubertät – für meine Eltern gleichsam die BRD auf der DDR-Fernseh-Wetterkarte; bedrohlich, erschreckend, nicht in Worte zu fassen, aber wenigstens nicht vorhanden.


Es muß noch im Herbst 1970 gewesen sein, als mir auf der überfüllten morgendlichen Busfahrt zur Schule ein Bub aus Wenden auffiel, Gymnasiast; "ein schöner Knabe", dachte ich, und dachte es kurz vor oder kurz hinter der Haltestelle "Am Berge" im ersten etwas größeren Nachbardorf kurz hinter der "Wochenend"-Abzweigung mit dem nicht unerheblichen Gefälle.

Paul, zwei Mädels und ich. Die Wartezeit bis zum Schulbus durften wir in der Klasse verbringen; was hätten wir auch schon groß angestellt? Zwar ging mal die neue augenfreundliche Glasschiebetafel zu Bruch, das aber war ein bloßes Versehen und ich ohnehin nicht beteiligt dran. Nach einem Schaukampf warf mich Paul auf den Boden, zog mir wie üblich die Hose herunter, aber nicht die lange Unterhose, und griff vor den Augen der Mädels zu, die das alles sehr amüsierte. "Melken", wie er sagte, und es vor den Mädels dann doch nicht tat.


Ein Mitkonfirmand gefiel mir sehr, doch der ließ mich leider nicht ran. Über seine Unterhose bin ich nie hinausgekommen, und so auch auf dem Wendener Herbstmarkt nicht, wo er mir nach langem Betteln wenigstens einen Blick erlaubte, doch wie gesagt, nur auf den Slip, und außerdem nicht auf dem Marktgelände, sondern auf dem alten Friedhof, seit Sommer '71 der Dorfpark, mit großem, altem Eibenbestand, den üblichen Steinen zum Kriegergedenken, ein, zwei Reihen Soldatengräbern und dem Grab zweier russischer Zwangsarbeiter, die von ihrem Arbeitgeber im Frühjahr '45 ermordet wurden, einem Bauern, von den Besatzungstruppen für diese Tat zum Tode verurteilt, soweit man in Wenden zu dieser Sache denn überhaupt mal ein Wort verlor. Das alles war gestern und vorbei, und selbst die Veteranenverbände fügten sich dem Willen des neuen Pastors und ließen beim Gottesdienst am Volkstrauertag die Fahnen vor der Kirchentür und begnügten sich, wenn auch murrend, mit der Gedenkfeier bei den Soldatenkreuzen, und freilich, eine Gedenkfeier nur – und eben grad keine Heldenverehrung.

Abgesehen von den Herbstmarkttagen blieb der Dorfpark weitgehend ungenutzt und hieß weiterhin "Alter Friedhof", und Eiben verströmen Gifte, die Physis und Psyche schädigen können; vielleicht war ja nur ihre Eibe dran schuld, daß meine Tante so viele Gebrechen hatte, und das in jungen Jahren schon, und wer weiß, was mir alles die Wendener taten, und fast schon so, als verfolgten sie mich, bis Ende 2000 zum Greifen nah, direkt vor Küchen- und Wohnzimmerfenster.

- Wendener Herbstmarkt: Dieser klassische Open-Air-Duft von Bier und Bratwurst, Gras und Schweiß. C.C.R., Sweet Hitch-Hiker, Autoscooter-Rockmusik, gerade Linie, klare Form. Wenden: "mein kleines Kalifornien", wie ich später ins Tagebuch schrieb, obgleich C.C.R. eine Südstaatenband... – egal. – Die Mittelwellen-Hitparade aus Saarbrücken. Maggie May von Rod Stewart auf Platz eins, das "Klagelied" eines Schuljungen ob der ruchlosen reifen Frau, die ihn zum Sexobjekt degradierte, von der er aber dennoch nicht lassen kann, und das, wo doch die Saar-Hitparade vorzugsweise Hardrock spielte, sofern dieser irgendwie "progressiv", zum Beispiel Alice Coopers "Under my Wheels", der war später mein erstes Postermotiv. – "Atomic Rooster", auch so eine Band, und heute die "Atomic Kitten"-Girlies die Enkeltöchter dieses Ensembles? "You can make me whole again": im religiösen Kontext bedenklich, ist wohl aber ganz profan und klingt am Ende des Refrains nach Van Morrison, Take it where you find it, und das bei Morrison wohl kaum im Profanen, wobei ja nun gerade dieser Song, ja, gleichsam doch der "Soundtrack" jetzt, zumindest für alle, denen neun Minuten... – Obertitel: "Wavelength", im Auto Richtung Heidetal meine Standardcassette seit Jahren. – Andererseits stammt der Kitten-Song aus der Feder von Andy McCluskey; der schrieb für OMD vor Jahren "Walking on the Milky Way" und erkannte, daß sich dieser Geniestreich mit dem alten Ensemble nicht mehr steigern ließ. Und so schrieb und produzierte er "You can make me whole again"; man will halt noch immer ein wandelndes Rocklexikon sein...


Konfirmandenfreizeit im westfälischen Höxter, März 1972. Im Bus holte einer auf der Hinterbank den Cassettenrecorder raus, Led Zeppelin, Black Dog; mir damals nichts als Lärm. Der Pastor wurde energisch: Recorder aus und die "Mundorgel" auf.


Diverse Bildbände in der Herbergsbibliothek zu den Indianern Nordamerikas. Chief Joseph vom Nez-Perce-Stamm: eigentlich fast schon ein Menschenfreund. Ansonsten war mein Interesse am Westen um 1870 eher gering. Der letzte Angriff in Minnesota um 1860, das wäre mal was, New Ulm, aber wer verfilmt das schon? Wie sah eine Kleinstadt in Pennsylvania oder im Staate New York damals aus? 1971 der Gefangenenaufstand von Attica, wie Woodstock im Staate New York gelegen.


Im Schlüsselseitentäschchen der Badehose steckte versehentlich ein Papiertaschentuch, das ich erst nach dem Baden entdeckte und dann unauffällig entsorgen wollte; irgendwer aber bemerkte das im Umkleideraum dort im Hallenbad und dachte, ich hätt es mir reingestopft, und so trieben sie ihren Spott. – Ich wollte die jammernden Bauern enteignen und schrieb im Frühsommer '73 unter falschem Namen einen Leserbrief an den "Nordstädter Boten" und fragte rhetorisch, ob denn die ach so armen Bauern einen vergoldeten Mähdrescher wollten. Das gab manch böse Reaktion, die Zeitung recherchierte und gestand schließlich ein, wie es hieß, einem "anonymen Schreiberling" hier aufgesessen zu sein. Die Diskussion war somit beendet.

Kollektives Nachsitzen im Herbst '71 als Strafe für unseren Schulstreik, genauer, ein Aufsatz am Nachmittag in (zwangsläufig) heiterer Stimmung; zuvor mit ein paar Klassenkameraden in ein Imbißlokal, zwei Bier, und fast hätt die Wirtin mich rausgeschmissen, als ich sagte, ich hätte vor dem 16. Geburtstag keinen Tropfen Alkohol angerührt.


- Sechzehn: Jan schon Anfang Februar, und das an einem Dienstag bei Dauerregen. Ansonsten aus der Klasse nur die Ex-Gymnasiasten, der eine oder andere vielleicht wirklich ein wenig reifer schon, halt ein spätpubertäres Durcheinander, und was konnte dieses Durcheinander im Februar 1973 wohl besser repräsentieren als der ständige Wechsel zwischen Otto Waalkes und Jethro Tull plus Bier plus Strohrum aus Zinnbechern?...


Hauptdeskriptor: Essen und Trinken, Doppelpunkt: Bier; Branntwein: Rum: Strohrum. Medizin: Krankheit; Alkohol; Mißbrauch; Inkontinenz. Eine kurze, heftige Atemnot und am Rande zur Bewußtlosigkeit. Nur gut, daß die meisten aus Norddorf waren und Jans Mutter diese heimfahren mußte und der Siedlungsweg am Wege lag; als hätte sie das nicht ohnehin getan bei diesem Wetter und diesem meinem Zustand. – Kaum im Bett, begann sich dieses zu drehen, und kurz darauf auch der Magen. Nach einem quälend langen Schultag unaufgefordert das Versprechen gegeben, daß es sich nicht wiederholen werde, und die Schelte nun wirklich in Grenzen. Die nassen Sachen? Nun, der strömende Regen, das von den anderen verschüttete Bier.


Das leidige Problem des Einnässens... – Das wurde 1972 grenzübergreifend und hätte mit noch größerem Pech dem Ansehen – meines? – Landes geschadet. Im Straßburger Münster, als die Klassenkameraden ihre ganz profanen Faxen machten. Die Straßburger Partnerschule konnte jetzt erstmals nicht alle Norddorfer unterbringen, und so kamen jene, von denen man hoffte, daß diese sich auch ohne Aufsicht im Ausland zu benehmen wußten, zu Gastfamilien nach Mulhouse.


In Straßburg empfing uns der Oberbürgermeister, und leider erst nach dem Kirchenbesuch. – Hatte er wirklich nichts bemerkt – nur wenn, was hätte er sagen sollen?...


- Ende August '92: Wenn man schon mal wieder in der Gegend ist... vielleicht irgendein Kick, der bei der Altglasentsorgung vor der Schule einfach nicht kommen will. – Place de l'Europe; die Partnerstädte als Pflastermosaik. Der Supermarché mit den Singles und den wohlgereiften Camemberts. – Drei Wochen wir bei denen, drei Wochen die bei uns. Zwanzig Jahre später: fast schon eine Panikattacke aus Angst, das wir uns am Place de l'Europe oder sonstwo über den Weg laufen könnten; man ist ja schließlich arbeitssuchend und demzufolge arbeitslos.


- Nur: wäre es tatsächlich zu einem Wiedersehen gekommen, so hätte sich Monsieur wohl um einiges mehr schämen müssen als ich, die Sache mit der Single im Supermarché, der Bruder, irgendwas mit Jesus, keine Ahnung, ob ich da hätte helfen können, ich sah ihn im Büro, und er sah mich an... Frankreich, das Land der "Châtiments corporels", Frankreich, das Land, wo "Liberté" zuvörderst die einer Polizei, die nach Belieben prügeln und töten konnte, wie ich's, und das wohl in Ruhrstadt schon, aus französischen Krimis kannte, obgleich eine "Violence domestique" in der hier erfolgten Heftigkeit wohl selbst damals Monsieur eine Auszeit beschert, seinen "Code moral" überdenken zu können.


- Das erste Halbjahr '72: der getrübte Teil der Realschuljahre, was nicht zuletzt an Frankreich lag. Laisser-faire? Höchstens bei versteckter und dann dort vergessener Unterwäsche, die bien sûr von Madame gefunden wurde und mir in Deutschland vom Austauschschüler dann lachend überreicht. Doch Unterwäsche hin, Unterwäsche her: Frankreich – ein "Lufthauch der Freiheit"? Eher der Hautgout eines "Ancien Régime", ein Dunst, der fast schon nach Ruhrstadt roch. Mein stets blütenfrischer Austauschfranzose ging später wohl ein wenig in die alternative Richtung; so jedenfalls meine Eltern, die er 1980 in Wenden besuchte. Ich redete mich mit dem Studium raus, und überhaupt, wozu? Die Sache war für mich mit dem Austausch erledigt, und sicher hätten wir auch 1980 kaum Gemeinsamkeiten gefunden.


Mein Parallelklassen-Mitaustauschschüler, alle anderen waren allein in ihrer Gastfamilie, war erotisch nun eigentlich gar nicht mein Fall, doch als wir an jenem ersten Abend das Bad gemeinsam nutzen mußten, genauer, das Bad mit der Badewanne, da wollt ich's versuchen, doch er lachte mich aus; auch unsere beiden Austauschfranzosen waren nicht mal im Ansatz dran interessiert. Schon am ersten Abend wuschen sich diese splitterfasernackt vor ihren Waschbecken und vor unseren Augen. Das fängt ja gut an, dachte ich, und dachte auch hier leider falsch. Warum war nicht Jan in dieser Familie und ich dafür in seiner? Allein schon wegen der wie bei Jan übertriebenen Reinlichkeit und vor allem, weil er mangels entsprechender Orientierung mit der Anmut seines Austauschbuben doch überhaupt nichts anzufangen wußte.


- Das Eisenbahnmuseum. Citroen, Peugeot, Renault, die ganze 60er-Modellpalette, zum Beispiel der R 8, der sich eng an Alfas Giulia lehnte. Der Peugeot 403, zum Entsetzen der britischen Nachbarn das Vorbild für ihren Silver Shadow. Monsieur fuhr einen Citroen ID, das alte Modell mit den Einzelscheinwerfern, und schenkte mir, die leidige Hobbyfrage, Mineralien, Gesteine und Erze, das schönste Stück ein Quarzkristall aus dem Departement Drôme, auch "Mirabeau-Diamant" genannt. Ich spendete nicht wenige Stücke für die Realschul-Glasvitrinen, gewissermaßen zur Sühne für meine sehr sporadischen Eingriffe dort; zwei Ammoniten, ein Seeigel mal, und das wohl schon ziemlich zu Anfang.


- An der Küche der Vogesen soll der Welt Geschmack genesen? Nicht in diesem Landschulheim, wo wir mit unserer Gastschulklasse die gesamte dritte Woche verbrachten. Zuvor zwei Wochen Gymnasium in den Klassen unserer Austauschschüler; zu den anderen stellte wohl keiner von uns nennenswerte Kontakte her. Die Lehrer gaben sich ziemlich streng, geprügelt aber wurde nicht, soweit ich mich erinnern kann.


Im Landschulheim Jan mein Verliebtsein gestanden, und da es ja nicht ihn betraf, fand er's eigentlich halb so schlimm. Im Busradio dröhnte "Sex Machine", alle rauchten Gauloises, und freilich sans filtre, und keine Nostalgie der Welt ließe mich in der Funkkantine zur Reis-mit-Kochzwiebeln-Beilage greifen, ja, nicht mal, wenn mir Jans Austauschbub die ganze legendäre Modellpalette der Amour français geboten hätte.


- L'amour mit Reis und Kochzwiebeln? – Ein Jahresabo der "Auto Zeitung": das hatte ich gerade nun nicht erhofft beim Gewinnspiel der Kurzwellen-Hitparade sonntags auf Radio Luxemburg. Die "Auto Zeitung" kam aus Köln und mäkelte ständig an Ford herum, schlechte Technik, "barockes Design". Unser Vermieter fuhr einen Taunus XL, die Sitze mit einer ausgeprägten, edel wirkenden Seitenführung; die im L-Modell und in der Grundausstattung sahen wirklich etwas billig aus. "Wildes Sportshow-Styling", schimpfte das Blatt bezüglich des Armaturenbretts. Nun, die "Ernüchterung" folgte rasch, zum Modelljahr '74 schon, und das, wie die Ölkrise zeigen sollte, nun wahrlich nicht nur bei Ford...


Endlich wieder in Wenden. Meine Großmutter war gestorben, und meine Mutter fragte mich, ob ich denn gar nicht traurig sei. Ich war es nicht, und ich schämte mich. Andere hätten sich gesagt, ich kannte die Frau ja kaum. Die hätten sich wahrscheinlich nicht mal das gesagt, so wüst und leer, wie sie später dann wurden – oder anders nie gewesen sind...


- "Das ist Laisser-faire, mein Lieber!": nicht mit Worten, aber mit Blicken. Und freilich hat er's genossen, die Liberté de l'Allemagne de l'Ouest; fast jeden Morgen ließ er sich von meiner Mutter den schmächtigen Rücken pudern, bis runter zum nackten Hintern. Sein Deutsch wurde täglich besser; ich hingegen konnte auf Französisch gerade mal bis 20 zählen. Je est un autre, wenn das man stimmt, wie man im Norden zu sagen pflegt.


Scheibenschießen im Sperrgebiet; Jans Vater, Bundeswehroffizier und passionierter Jäger, hatte dort sein Revier. Sicher werden sie lachen, dachte ich, wenn ich mit dem linken Auge ziele, obgleich ich doch mit dem rechten die Scheibe nur erahnen konnte. Abends Wildbeobachtung vom Hochsitz aus; meinen hätte ich freilich lieber mit Jans Buben als mit Jan geteilt. Auf der Rückfahrt traf sein Vater einen Jagdkameraden, mit dem er was zu besprechen hatte; er stieg aus und bat uns, leise zu sein. Die aber hielten sich nicht daran. Ich aber ehrte die Natur, zudem gebot auch sein Vater Respekt; andererseits wollte ich nicht als – Streber? Spießer? Schleimer? – gelten. Irgendwie fand sich ein Kompromiß, rumalbern ja, aber leise. Jans Vater war verärgert. Daß so große Jungs es nicht fertigbringen, mal fünf Minuten still zu sein... ich fühlte mich nicht schuldig und schämte mich trotzdem; bei den anderen war's eher wohl umgekehrt.


- Das Kirchentags-Schulkantinenessen, Hackfleisch mit Käse wie einstmals aus dem Sektengrill, Bratkartoffeln und Rotkohl dazu, ist besser, als die Optik vermuten läßt, es schmeckt, es bläht nicht, es stößt nicht auf, ich bin "angenehm enttäuscht", um es mit einem Topos Frau Bergmanns zu sagen; Geschichte und Gemeinschaftskunde. Enttäuschend, und freilich im üblichen Sinn, Rektor Lüders' dunkelblauer Ford 15 M, mit dem er Schultag für Schultag sich von Südertal nach Norddorf mühte und wieder zurück nach Südertal; sobald er einen – ebenfalls dunkelblauen – Consul in der XL-Fassung fuhr, wurde er Schultag für Schultag dann, Consulfahrt um Consulfahrt gelassener und entspannter. In Südertal traf ich ihn hin und wieder in einer landeskirchlichen Verlagsbuchhandlung, sein Auto ein weißer 280 S, und hoffte, daß ihm mein Biologiebuch, das er während der Quasi-Abschlußklausur für die "Mittlere Reife" im Klassenschrank fand und mir nach langen, bangen Minuten mit den Worten: "Ist das deins?" überreichte und kein weiteres Wort sonst darüber verlor, schon lange nicht mehr in Erinnerung war, das Biobuch, dessen "Ergänzungen" es mit jedem Buswartehäuschen aufnehmen konnten; ich war ja nicht der einzige, der jeder Zote zugetan. – Und hätten dennoch vom Buch die Finger gelassen, hätten sie sich durch mein Verhalten nicht geradezu noch ermutigt gefühlt. In der Zehnten nahm mich deswegen mal einer ernstlich ins Gebet, der wurde dabei ja fast handgreiflich schon. Beim Klassentreffen zehn Jahre später fragte er mich in geselliger Runde, ob ich noch immer auf Männer stünde, was ich sogleich bejahte mit gespielter Selbstverständlichkeit.


- Die Jungs in der Cafeteria mit den Bekenntnisluftballons... wohl eher die Söhne der Veteranen als die Vertreter der Schwulenjugend. Das stelle man sich mal außerhalb dieser Kirchentagsschonzeit vor, 12- bis 15jährige Jungs mit lila Luftballon an der Hose: "Schwul aus gutem Grund"...


1972: "Hans-Georg stört den Unterricht durch provozierendes Grinsen." Dem folgte ein Brief, der abzuzeichnen und Herrn Roos, dem Lehrer für Mathematik, Physik, Chemie und Erdkunde zurückzugeben war, eine Drei in "Betragen", ein paar tadelnde Worte und zum Glück kein müßiges Grundsatzgespräch. Wohl auch in diesem Jahr meine erste und einzige Zwei in eine Mathearbeit, jedenfalls an der Realschule. Danach irgendein Experiment in Physik, zu dem wir uns auf unsere Tische setzen mußten. Nach dem Experiment sollten wir dann aufstehen und gesittet zu unseren Stühlen zurückgehen; ich wählte den einfacheren und, wie mir schien, vernünftigeren Weg und dreht mich über den Tisch hinweg zurück zu meinem Stuhl. Lehrer Roos mißfiel dies sehr: "Du glaubst wohl, wegen deiner Zwei in Mathe kannst Du Dir jetzt alles erlauben!"; nun denn, der Tag war nun nicht wirklich verdorben, aber man hat sich's halt gemerkt, hier in der Tat mal wieder was fürs Leben gelernt.


Samstags ab und an eine Radtour zum nahen Truppenübungsplatz, der zu den amtlichen Öffnungszeiten zum Transit genutzt werden durfte, woran sich bis '72 kein Mensch und folglich manch Auto am Straßenrand hielt. Auch '72 ein gutes Pilzjahr. Der Biolehrer hatte seine Leute seit Jahren, ich steuerte also höchst selten nur ein Exemplar für seinen Schulkasten auf dem Pausenhof bei; wer aber wollte es ernstlich wagen, sich auf diesem Gebiet mit mir zu messen? Fragte er uns ab, und ich wußte einen nicht, irgend so einen Blätterpilz... wenn ich mich damals für irgend etwas wirklich schämte, dann ohne Frage für das.


- Ein Hakenkreuz aus Papierschnipseln, die wir für eine Matheaufgabe brauchten. Da wurde der Lehrer laut. Wenigstens kein Eintrag ins Klassenbuch, war doch Herrn Roos dieses Hakenkreuz nichts Schlimmeres jetzt als ein bloßes Indiz einer "infantilen Regression", ein Wort, mit dem er uns, meist schmunzelnd, mahnte, nun langsam mal erwachsen zu werden; wer wollte und sollte Anfang der Siebziger als Teenager noch ein Kindskopf sein?...


Meine Klassen-Wahlkampfrede gegen die CDU: "Das ist mir zu billig", hätte, wie immer bei bloßer, eitler Effekthascherei, unser Deutschlehrer Rektor Lüders gesagt, der Wahlkampf aber Gemeinschaftskunde, schon damals das klassische Nebenfach, und so oder so vorherzusehen, daß Willy Brandt auch die Klassenwahl mit deutlichem Abstand gewinnen sollte. Rolf, Vertreter der Unionsparteien, hatte da mit Zahlen und Argumenten statt Polemik wenig Chancen.


Die Realschüler nahmen obligatorisch am jährlichen Norddorfer Schützenfest teil und bauten sich hierzu in der neunten Klasse die obligatorische Armbrust. Meine ist nie fertig geworden, wer immer mir seine geliehen hat dann, und die traditionelle Lederhose – für den Aufmarsch eigentlich vorgeschrieben – fehlte mir freilich auch; wer trug mit fast 15 noch Lederhosen, außer denn eben beim Schützenfest? – Und doch in der ersten Reihe marschiert, und die Hose aus grauem Stoff.


Ich vermutete ernstlich Zeichentalent und malte meine Finger ab; mit dem Stift drumherum, dann den Nagel samt Bett, und nochmals: einen Finger. Meine Mutter sah's anders und schalt es obszön; das ging dann mehrere Wochen so.


- Die Doppelparabel. Wieder mußte ich provozierend grinsen. Herr Roos ließ nicht locker, und so sagte ich's: "Das erinnert an eine weibliche Brust." Ein kurzer Moment des Schweigens. Dann ging es los, und der strenge Herr Roos konnte sich kaum noch halten vor Lachen.

- "Steifer Stock", wiederholte im Werkunterricht ein Mitschüler unseren Werkkundelehrer, und freilich meinte dieser einen solchen aus Holz, doch "steif" als solches Grund genug, daß ein Raunen durch den Werkraum ging und der Lehrer uns eine Strafpredigt hielt, und keiner wagte ein Widerwort. – Werken, fällt mir ein, hatten nur die Jungs.


Eigentlich war die Lehrerschaft weder "progressiv" noch offen sozialdemokratisch, die Älteren schon gar nicht, und der Anteil älterer Lehrer war hoch, viel höher als in Ruhrstadt, zum Beispiel der alte Biolehrer, erklärter Feind des Nikotins, der schon deshalb zum Ziel unsres Spottes wurde, weil er unser Hannöversches Hochdeutsch, ein reineres gibt es ja nun mal nicht, durch süddeutsche Mundart verfremden mußte, und wir uns krumm- und schieflachen wollten, betonte er "Tunnel" auf der zweiten Silbe. Wie konnte er sich ereifern, wenn mal wieder dem Schulskelett eine Kippe zwischen den Zähnen steckte, das Rinderhorn auf dem Hüftknochen lag... – das hatten wir längst wieder weggenommen, bevor er den Biologiesaal betrat.


Hin und wieder eine Exkursion in die nähere Botanik. – "Warum heißt die Rauchschwalbe Rauchschwalbe?" – "Die raucht immer Hasch!", rief der mit dem "steifen Stock"; die Exkursion war somit beendet. – Nun, Rauchen stand für mich nicht zur Diskussion, und nicht einer von den (nicht wenigen) Rauchern, und das schon in der Achten, hätte sich je darüber lustig gemacht. Im Haus gab's eh keine Zigaretten; mein Vater war, seit wir in Wenden wohnten, passionierter Pfeifenraucher. – Alle begehrten Markenjeans und eine Stereoanlage von Dual mit mindestens 20 Watt, und keiner wurde zum Deppen gestempelt, der, so wie ich, nun mal beides nicht hatte. Weihnachten '71 gab es dann wenigstens einen Cassettenrecorder mit Tischmikrofon einer ostasiatischen No-Name-Firma, von der Form her wie ein Kofferradio; üblich waren die flachen Geräte, und meistens von BASF. Das aber war meine eigene Wahl, egal, er nahm auf und spielte ab, so daß auch ich bei Rock und Pop nun endlich richtig mitreden konnte. Und ob nun rotgesinnt oder schwarzgesinnt – wir wählten, Rolf war hier unser Sprecher, in politischer Einmütigkeit unseren Kunst- und Werkkundelehrer ab, weil er uns zu rechts erschien (und außerdem viel zu viel Leistung verlangte). Gewiß, er war kein Linksliberaler, aber ebensowenig ein Rechtsradikaler, und die Hand ist ihm kein einziges Mal, auch nicht im größten Zorn, "ausgerutscht", und ebensowenig erwähnte er jemals, daß sein Vater ein bedeutender Hamburger Künstler war. – Und hatte von allen die längsten Koteletten, und sein Sohn trug die Haare schulterlang.


- Die frühen siebziger Jahre: die Pubertät der ganzen Welt, sogar in der DDR; selbst dort, wie meine Mutter erzählte, überall nur noch Langhaarige. Und selbst der revanchistische "zur Zeit unter polnischer Verwaltung"-Atlas bezeugte es doch auf den Sonderkarten: die BRD hatte nichts mehr zu tun mit dem, was früher mal "Deutschland" hieß, sondern war Teil der westlichen Welt mit Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit, und, so gesehen, ihr Hauptproblem die alte, leidige Wehrpflicht. Diese aber verschärften sie noch und erließen den leidigen Haarerlaß. – War das nun Helmut Schmidts Idee oder die von Georg Leber? Der soll mal in einer Manöverpause ins Landgasthaus gegangen sein, und da gab es dann ein Mißverständnis, und man hätte ihm schließlich Leber serviert, halt so, wie irgendein Opernhaus den Gustav für den Maler hielt, und ob Hellmut Lange in "Kennen Sie Kino?" Viscontis "Tod in Venedig"...


Hingegen ausführlich und mit der Empfehlung, die Kinder jetzt besser aus dem Zimmer zu schicken, "Stille Tage in Clichy", und was nur war der Hinderungsgrund, mir "Wildwechsel" damals anzuschauen, hatten es doch meine Schulkameraden und ebenso meine Eltern gesehen, und: wann wurde ich je aus dem Zimmer geschickt, nur weil im Fernsehen mal wieder Sex, und bei uns im Haus stets mit weichem "s": "Sex" – das waren die anderen, allen Gegenbeweisen meiner Doppelrippslips und der Schlafanzughosen zum Trotz, die "Schulmädchen" aus dem Dorfkino-Schaukasten, und das ja schon im Ankunftsherbst, und jede Woche ein neuer, und im Juni '72 "Addio Onkel Tom", schon im Schaukasten heftig-deftige Sachen, und trotzdem durften wir da rein an einem schwülen Samstagnachmittag zusammen mit den Franzosen, und wenn's zehnmal erst "frei ab 18" war. – Ein Italo-Softporno-Western, der vordergründig die Sklaverei in den Südstaaten brandmarken sollte. Und nochmals, ein Sex- , kein Pornofilm, noch nicht mal die Szene, wo ein alter rassistischer Völkerkundler zwei jungen Sklaven die Gliedmaßen streicht. Mein Knabe genoß die Wendener Freiheit und ließ sich ohnehin nichts streichen, noch nicht mal das Fernsehnachmittagsprogramm, als Donner grollten und Blitze rollten und einer das ganze Haus durchzog, Steckdosen riß, einen Dachbalken teilte, ich weiß, es gibt keinen Kugelblitz, und hätt er den Fernseher wirklich getroffen, so hätte der nicht noch bis Weihnachten dann und das relativ klaglos sein Tagwerk getan, und wer sagt denn, daß es das Christkind gibt, und der neue, und das zum Weihnachtsfest, ja eh wieder nur ein Schwarzweißgerät. – Und wenn es nicht grad am Gewittern war, so war es mir selbst am Abend erlaubt, eine Sendung mit Rock und mit Pop zu schaun. Einzig bei "Sympathy for the Devil", einer Jugendreihe im 3. Programm, wurde es problematisch; mein Vater konnte an "Gasoline Alley" in Rod Stewarts a-cappella-Version nun wirklich keinen Gefallen finden, später, ein wenig, an "Mandolin wind", war er in früher Gubener Jugend doch Mitglied eines Mandolinenorchesters, aber gut, auch mir war "Gasoline Alley" in dieser Fassung bei weitem zu rauh, und vor allem dann dieser Serientitel...


Dem, der nie wollte, hatte ich versprochen, im Konfirmandenunterricht... – Ich hielt Wort, und wohl alle in meiner Reihe und auch in der dahinter bekamen es zumindest im Ansatz mit, und mehr als ein "Ansatz" war es ja eh nicht, und es wurde gelacht und gejohlt; der Pastor glücklicherweise nicht, und gelacht hätte der wohl kaum.


- Der Linoldruck mit der Herrscherfigur und den Menschen an Marionettenschnüren: alle sagten, das ist Gott. Ich sagte, das ist der Teufel. – Mein Konfirmationsspruch, Psalm 34, Vers 1: "Ich will den Herren loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein."

Professor Grzimek präsentierte in "Ein Platz für Tiere" "homosexuelle Dickhornschafe", so die Ankündigung der "Hör Zu". Der Grund war aber lediglich die Abwesenheit der weiblichen Tiere, keine Ahnung, warum diese abwesend waren, keine Ahnung, was ich konkret mir erhoffte, aber daß ich mir etwas erhoffte, das weiß ich noch ganz genau.


Auf der Anklagebank beim "Fernsehgericht" ein homosexueller Betrüger. "Ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt", so mein Kommentar, und freilich jetzt nicht diese Kombination (die ja in gewisser Hinsicht – und heute ja gleichsam der Regelfall); meine Mutter war wohl in Ruhrstadt und mein Vater in der Erziehungspflicht, diese Sendung zu kommentieren jetzt, wobei es nun weder Empörung war noch irgendeine Belehrung; ob ich ansonsten beim "Fernsehgericht" in den siebziger Jahren die Fronten gewechselt – ich nehme es einfach mal an; als Kind war ich ohne Wenn und Aber stets auf der Seite des Staatsanwalts, und je härter dann das Urteil war, mir folglich desto lieber.

Im Sommer '72 auf Radio Bremen, nur bei Sonnenschein relativ störungsfrei, "Starman" von David Bowie. Der Moderator sprach von einem Künstler, bei dem wohl keiner so richtig wisse, ob das ein Herr oder doch eine Dame; was immer da also auch folgen sollte – die Anmoderation war Grund genug, diesen Song jetzt vorsorglich mitzuschneiden, damals noch mit dem Tischmikrofon. Ich stellte mir David Bowie als männliche Nana Mouskouri vor, elegant, seriös, feminin, eine Dame von Welt mit langem, glattem, schwarzem Haar, einem bodenlangen dunklen Paillettenkleid und einer Brille aus dunklem Horn, und "Starman" ihr Grand-Prix-Chanson, und so oder so das beste, was ich bis dato gehört.

- Paul: von der Hand in den Mund, und das wohl im Sommer des Vorjahres schon. Im Frühjahr drauf erwischten uns Klassenkameraden auf dem Turnhallenklo und grinsten, vielleicht etwas irritiert. Daheim dampften Eisbein und Sauerkraut, Zwiebelringe, Erbs- und Kartoffelpüree. Vom Eisbein nur das Magere. Was sie wohl sagten, wüßten sie jetzt, was ich vor gut einer Stunde noch...

- Steißbein statt Eisbein. – In seinem goldbraun glänzenden, enggeschnittenen, ich nehme mal an, Kunstseidenhemd, wies Paul durchaus etwas Ähnlichkeit auf zum Bowie der Ziggy-Stardust-Phase. Ziggy Stardust, eine "Hör Zu"-Empfehlung. Und doch, betört vom Frühsiebziger-Island-Logo, ein Mitschüler hatte mir im Herbst '71 seine Singlemappe mit progressiven Island- und Vertigo-Platten, zu hart, zu laut, zu unmelodisch geliehen, sollte nun meine erste LP ganz fraglos eine von Island sein; ich hatte ja noch nicht mal eine Island-Single, noch nicht mal Cat Stevens' "Moon Shadow"; die führte sogar das Wendener Haushaltselektrogeschäft, doch wer weiß, was auf der B-Seite ist...


- Gruppenzwang? Nicht an der Realschule Norddorf. Jeder konnte getrost und ohne Furcht, dann als Weichling dazustehen, hören, was er wollte, und wäre es Roy Black gewesen. Du kannst nicht alles haben, das Glück, den Sonnenschein; kurzum, es endete dann ein Jahr später bei "Demons and Wizards", Ensemble: Uriah Heep, und "Bronze" ein Island-Sublabel noch, und das Logo folglich die Insel. 22 DM Festpreis, Heavy Rock, nicht Hard Rock; die durfte man, wenn auch ganz, ganz leise, sogar am – noch stillen – Karfreitag hören.

Am Tag nach dem Olympia-Attentat. Erste Stunde Gemeinschaftskunde. Minutenlanges Schweigen. Einer kichert, Frau Bergmann mahnt ihn streng.

- Mal wieder die Monatskarte vergessen. Es kam dann ganz auf die Tagesform des Busfahrers an, ob er den Schüler einsteigen oder einen Fahrschein lösen ließ; der Schulbusfahrer war da nicht weniger streng. Es war wohl am Monatsanfang; Lisa-Maria hatte noch ihre Vormonatskarte dabei und drängte mich, ins Namensfeld meinen Namen über den ihren zu schreiben. Der Schulbusfahrer stutzte erst, doch Lisa-Maria lenkte ihn ab, und so kam ich mit dem Schwindel buchstäblich durch – und weiß beim besten Willen nicht, warum ich diese Karte nicht aufgehoben, die Kraftpostschülermonatskarte mit Lisa-Marias Unterschrift, dieses kleine, kostbare Dokument unsrer einzigen gemeinsamen "Sünde"...

- Vermutlich genau deswegen. – Zur Zehnten endlich im Neubau. Paul verlor das Interesse allmählich, und die, die es finden sollten, fanden es nicht; neun, nein, acht, ich mußte da wirklich erst nachrechnen jetzt, und Zärtlichkeit, Erotik... mit einem mal ein flüchtiger Lippenkuß, doch Zärtlichkeiten unter Jungs in diesem Alter wohl bei allen eher die Seltenheit.

Der Novemberorkan; während andere sich beim Turnen mühten, saß ich trocken und warm im Dachgeschoß in der alten Bibliothek, pulte Reisig aus den Altbauwänden und summte "Lay down" von den "Strawbs" und machte mir so meine Gedanken zur "mutuellen Onanie" (um Mißverständnissen vorzubeugen: wirklich nur Gedanken). Beträchtliche Sturmschäden, auch in den Wendbergen, doch kein Vergleich zum Weihnachtsorkan vor zwei Jahren im Südwesten. Und während ich das notiere, der 29. Jahrestag.


Das war mir schon im Anfang nicht möglich, "dabei" an "schöne" Jungs oder Mädchen, an solche zum Kuscheln und Knutschen zu denken; das ging immer erst zum "Schluß". Ein sehr Attraktiver wollte mal fast, allerdings erst mit den Älteren, die riefen mich, Georgie, hier ist was für dich. Irgendein Turnhallen-Sportwettbewerb, keine Ahnung, was ich da zu suchen hatte. Er auf dem Boden, ich neben ihm, ein wenig an seinem Hintern fummelnd; als ich das vertiefen wollte, lachte er und ging fort.


Der von der Hauptschule ließ sich bezahlen, genauer gesagt, mit Lakritz. Das ging nur im Toilettenhäuschen in der Nähe der Norddorfer Bushaltestellen, ein rot verklinkerter Neubau. Da mußte man reaktionsschnell sein, wenn plötzlich ein Erwachsener kam, und das kam ja schon mal vor; gesagt hat aber keiner was. Er fragte mich, ob ich mal krank gewesen; ich frage mich noch heute, was er und wie er das eigentlich meinte.

- Hans. Ich ahnte es seit Monaten schon; sehr still und mit vieldeutig-schamhaftem Blick. Ich folgte ihm aufs Neubauklo, stieg auf die Schüssel der Nachbarkabine und lugte über den Kabinenrand. Und: meine Ahnung erhärtete sich. Der kichert nicht rum, der kommt zur Sache. Ein Jammer, daß er keiner zum Verlieben war.


Langsam mußte ich die Altersgrenze nach oben korrigieren. Eigentlich sollte mit 16 ja Schluß sein, 16 aber, das war ich ja bald. Also mit 18; dann aber Schluß.


- Und das trotz Oscar Wilde. Kann sein, daß mal was im Fernsehen kam; vielleicht war's auch eine Schullektüre. In der Fahrbücherei dann was ausgeliehen. Und wenn er kein Hundertfünfundsiebziger wär, dann könnte er glatt ein Menschenfreund, erzählte ich meiner Mutter daheim, die gerade Flur und Treppe putzte und diesen Umstand tragisch fand, als wollte sie zum Ausdruck bringen, daß selbst ein Hundertfünfundsiebziger ansonsten durchaus ein guter Mensch, ja, womöglich sogar ein Christ.


Auf NDR 2 im "Fünf-Uhr-Club" "Space Oddity" und als Kontrast eine weitere "Hör Zu"-Empfehlung, Ensemble: John McLaughlin's Mahavishnu Orchestra, Obertitel: Birds of fire, Einzeltitel: Open country joy. – John McLaughlin. Der war, wie ich (vermutlich) ebenfalls der "Hör Zu" entnehmen konnte, sehr religiös und trug noch nicht mal Koteletten.

Endlich einen Adapter gekauft; ich kannte ja kaum das Wort. – Ein Bewerbungsschreiben, Zeitungsannonce, Lüneburg, gehobener Verwaltungsdienst. Zuvor mit meinem Vater zur Berufsberatung; der Berufsberater siezte mich und empfahl mir irgendeinen Fachschulbesuch. An der Realschule war die Berufswahl gerade mal ein Aufsatzthema; die Söhne von Bauern und Handwerksmeistern wußten ja eh, was sie werden. – Dirk Busch, Liedermacher? Schlagersänger? Chansonnier? und Professor für Soziologie, bestätigte mir in Bremen die These, daß die eigentliche Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs der Herbst 1973 war. Ab und an ist der bei meinem Sender zu Gast, doch wird er sich kaum wohl erinnern können.


8. März, Klassenfahrt nach Hamburg mit der jungen Biologielehrerin, die alle verbalen Erektionen, Ejakulationen und Kopulationen, ja, fast schon mit Humor ertrug, und freilich, es galt ja nicht ihr; das hätte sich wirklich nun keiner gewagt. Und: was sollte ihr alter Kollege erst sagen? Der bereitete uns mit großem Ernst auf den Besuch des Planetariums vor und erntete einen Lacherfolg nach dem unfreiwilligen anderen; er schickte wohl die halbe Klasse vor die Tür, doch ich hielt mich da lieber zurück, die Pilze vielleicht, ich weiß es nicht; im Grunde war jeder Konflikt mit den Lehrern nur Zufall, ein bloßes Mißgeschick, zumindest aber kein einziges Mal gezielte Provokation.


Rektor Lüders, längst schon eine Respektsperson, mußte sich hier notgedrungen auf die Seite seines Kollegen stellen und mahnte uns kurz und ging gleich wieder fort, und die Schüler wieder ins Klassenzimmer. Im Deutschunterricht nun Brecht, Biermann und Degenhardts "Schmuddelkinder"; das war links, und ich fand es gut, nur blieb es für mein Verhalten gegenüber den "Schmuddelkindern" vor der eigenen Haustür ohne jegliche Konsequenz. Frau Bergmann sagte in Gemeinschaftskunde, China habe den Sozialismus weit besser verwirklicht als die Ostblockstaaten, wogegen ich heftig Protest erhob und trotzdem meine Eins bekam, ansonsten weit davon entfernt, so was zu sein wie ein Klassenprimus. Allein die Drei in Deutsch mußte weg; die war auch mir ein Makel.


- Und hat ja auch geklappt, und ebenso, daß ich trocken blieb im Hamburger Planetarium. – Vor dem Theaterbesuch am Abend ein Bummel durch eine Einkaufsstadt; ein Betonklotz im Hamburger Norden. Hier nun endlich "Starman" gefunden. Der mit der progressiven Singlemappe wagte sich in ein Sexkino rein; dort scheuchten sie ihn gleich wieder raus. – Warum nicht St. Pauli wie mit den Franzosen? Wie drückten wir uns die Nasen platt an den Schaufenstern der Erotikläden, und freilich: eine Hamburg-Fahrt, mit Hafenrundfahrt und all diesen Sachen; so kühn warn die Dörfler nun auch wieder nicht, nur wegen St. Pauli nach Hamburg zu fahrn. Schon '66, von Heidetal aus, war es eine Hamburg-Fahrt; wie drückte ich mir die Nase platt an den Schaufenstern dieser Musikalienhandlung mitten auf der Reeperbahn mit den großen roten E-Gitarren. Und: wer schon mit neun auf St. Pauli war, der mußte ein richtiger Junge sein; das andere, das "Eigentliche"... – Sicherlich später als '66, doch ganz gewiß in Ruhrstadt noch: Ich werde als Erwachsener in Hamburg wohnen und samstags zu den Nutten gehn und sonntags dann zu den Menschenfreunden, Buße zu tun wie ein Katholik, und eher ein Schicksal denn ein wirklicher Wunsch.

Verwaltungspost aus Lüneburg: zu viele Interessenten, und folglich eine Aufnahmeprüfung. Die Stellenannoncen im "Nordstädter Boten": "Industriekaufmann", allein schon das Wort, Kaufmann, und dann auch noch Industrie... – In diesem Aufzug kannst du's vergessen, sagte Jan zu mir an der Bushaltestelle, als ich in roter Cordjeanshose mich zum Bewerbungsgespräch begab. – Hätte er doch nur recht behalten. Denn wenn schon Büro, dann wenigstens so modern wie der Realschulneubau, aber keines aus der Zeit der Indianerkriege mit verrußtem "Kontor"-Schild über dem Eingang und einem Chef mit Adlerblick und nicht minder gestrenger James-Bond-Frisur, und freilich die von Sean Connery.


Im Januar eine Panikattacke. In den Osterferien Kreislaufbeschwerden. Nach Oscar Wilde Hermann Hesse gelesen. Angst vor einer Gehirnhautentzündung; wenn da nun doch was dran sein sollte an diesen Rückenmarks-Schauergeschichten?... – Erstmals trat diese Störung bei der Besichtigung des Wendener Rohbaus im Frühjahr 1970 auf; ich bin nicht, ich bilde mir nur ein, daß ich bin, und wenn Gott es so will, bin ich weg. Gott als "Genius malignus", im Folgejahr einmal kurz aufgeblitzt, Sein oder Nichtsein, Danyel Gérard, "Wer ich bin", B-Seite der deutschsprachigen "Butterfly"-Single, erstaunt, aber nicht erleichtert, daß auch andere sich so etwas vorstellen konnten. – "'Glauben' heißt 'nicht wissen'", sagte Mathelehrer Roos im Samstagsunterricht, und wies anschließend dennoch mathematisch nach, daß die Menschheit, wie auch die Bibel sagt, auf ein einziges Paar zurückgehen muß. "'Glauben' heißt 'vertrauen'", sagt die Kirche; das aber setzt ein "Urvertrauen" voraus, daß mir schlichtweg nun mal fehlt. Eine meine frühesten Erinnerungen ist, daß mich mein Vater in Heidetal auf seine Schultern hob und ich schreckliche Angst hatte, herunterzufallen, ich also laut zu heulen anfing und er mich wieder runterließ (vermutlich eine angeborene Gleichgewichtsstörung). Mittwochs – oder doch nur alle 14 Tage? – eine Schulandacht mit dem progressiven Norddorfer Pfarrer im dortigen Gemeindesaal. Religionsunterricht? Nicht im Angebot.


Ende Mai, Anfang Juni die Abschlußfahrt nach London. Ich wollte mal rauchen, und freilich: nur paffen, und freilich etwas Edles dann. Der Mann vom Norddorfer Schülerkiosk gleich neben der neuen katholischen Kirche empfahl mir die teure "Botschafter"-Marke, die Filter wie bei den "Astor"-Zigaretten aus geschnittenem, nicht aus gepreßtem Kork. Mit "Botschafter" und der "Prinz Oberon" von Bremerhaven nach Harwich, nicht wenige sturzbetrunken; Schlaf fand sich erst in den Morgenstunden. Gekuschelt mit der Freundin eines Klassenkameraden; so harmlos, daß weder die Klassenkameradin noch ihr Freund irgend etwas dagegen hatte.


Die Gasteltern fuhren einen Vauxhall Kombi, den britischen Opel Rekord. Streatham, kurz hinter Brixton, wo Bowie, was mir damals noch unbekannt, seine Kindheit und seine Jugend verbrachte. No chance beim Norddorfer Mitbewohner. Zum Frühstück Toast mit Speck und Ei. Wie hatte ich mir doch erhofft, im Gegensatz zur Frankreichpleite dort einen netten Boy anzutreffen, man wußte das ja, fünf Prozent aller Briten, mehr als irgendwo sonst auf der Welt, mit Kuscheln und Knutschen, doch den gab's leider nicht, und überhaupt, was heißt hier "Gasteltern"? Abgesehen von der freundlichen, stets gut gelaunten Hausfrau und ihrem Mann bei der Hin- und Rückfahrt zur Station blieb der Rest der Familie so unauffindbar wie das richtige Badezimmer; wir hatten nur das Klo mit einem winzigen Waschbecken, gerade mal groß genug fürs Zähneputzen und für eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Gewiß, wir alle hatten im Fernsehen den uns sehr beeindruckenden Film "Deep End" gesehen, so daß es naheliegend gewesen wäre, ein Public – Bath? Bathhouse? – aufzusuchen, nur... wie es schon vier Jahre zuvor bei Bowie heißt: "Unwashed and somewhat slightly dazed"...

- Ein Bildwitz in einer britischen Illustrierten: "My cobra escaped, so I had to improvise", der Schlangenbeschwörer mit der Flöte und dem Korb auf dem Schoß, der Deckel schon leicht angehoben, so frei sind die Briten auch in diesen Dingen, welch Unterschied doch zum spießigen Frankreich, mal ungeachtet jetzt des Nordirland-Konflikts. Damals im Mulhouser Supermarché "Give Ireland back to the Irish" von Paul McCartney's Wings gekauft; ein Titel, der meines Wissens in der BRD verboten war.

Selbst im Middle-Class-Viertel Streatham an jeder Ecke ein Silver Shadow; wohl jede zweite Figur gestreichelt, die mir dort vor die Finger kam. – Die großen schwarzen Daimler-Limousinen. Die großen leckeren Softeisbecher in dieser – schon Brixtoner? – "Wimpy"-Filiale mit Saft und süßen Früchten. Ein Schallplattenladen des Vertigo-Labels, die waren noch progressiver als Island, hatten aber zu meinem Erstaunen auch Jim Croce unter Vertrag. – "Grand Hotel" von Procol Harum, "Musik für junge Leute vor der Schule", das war orchestral, das war seriös und zudem noch auf Chrysalis.

Letzter Tag, allein unterwegs, mitten in der City. Ein dringendes Bedürfnis, nur: wo? Public toilets an jeder Corner zwar, doch all of them im Underground (und wo wir gerade beim Thema sind, "groß" und "klein" nach den Dudenregeln, soweit ich diese jetzt finden konnte). Nein, da sei meine "Fünf-Prozent-Hürde" vor, nicht zwischen Dirty old men mit bad intents; nur leider meiner Bladder kein Common sense. – Einfach nur drauflosgelaufen. Wie ich dann nach Streatham kam... jedenfalls surely kaum zu Fuß und dann auch quer durch Brixton noch, "No-Go-Area", wie man heute so sagt. For similar reasons like in France, nur noch arg getragene Sachen im Schrank.

Der Abschlußabend unsrer Abschlußfahrt. Zuerst ein Varieté-Besuch, ein Theater mit steilen Sitzreihen. Die Englischlehrerin saß in der Vorderreihe und schaute sich für einen kurzen Moment schweigend und eher fragend um. Einer ihrer Kollegen hatte uns vor der Fahrt erklärt, die Schwarzen hätten größere Poren und folglich im Vergleich zu den Weißen den strengeren Geruch. Je est un personne de couleur. Nur: sollte sich das nicht jeder wünschen?…

Die Londoner Kneipen und Diskotheken nahmen's schon 1973 mit der Altersgrenze sehr genau, und ich war ja leider noch fünfzehn. Nun, eine Diskothek gewährte uns dennoch, in Begleitung unsres Gastlehrers, Einlaß; es kam dann zu einer Massenschlägerei, der wir nur knapp entkommen konnten. Mister Field als Native Speaker lehrte uns die englische Umgangssprache. Marc Bolan warb auf einem Plakat "Keep Britain tidy. Stop Pollution", und Native Speaker Mister Field mißverstand's nicht anders als ich: "Mein lieber Freund, das solltest du eigentlich wissen", erwiderte er mit einem breiten reformpädagogischen Grinsen.

- "Pollution"... in eben "dieser" Bedeutung der englischen Sprache unbekannt. "Keep Britain tidy. Stop Pollution": das hätte 1973 wohl nicht mal mehr die "Church of England" verlangt...

Seit London gibt's zum Frühstück Tee, und diesen stets mit Milch. Im Hamburger Bahnhof ein toupierter Mann; wie fanden wir das lustig.

Durchschnittsnote 2,6. Das aber hat mir ja keiner gesagt, daß man auch mit Mittlerer Reife bei halbwegs noch gutem Notendurchschnitt auch ohne Französisch... – Nur: hätt ich's denn auch getan? Und: hab ich's vielleicht nicht mal doch gehört?...

- "Du bist zu Höherem berufen!": Frau Bergmanns Reaktion auf meinen künftigen Lehrberuf.


Auch der Musiklehrer schon kurz vor dem Ruhestand; ein paar Takte auf dem Schulflügel erst, dann ein paar Takte Klassikplatte, dann endlich Rock und Pop; Elton Johns bluesige Erste, Jethro Tull, die Stones und sicher noch vieles andere mehr. Jedenfalls ab der Neunten; Blockflöte in der Achten, in Ruhrstadt nur Singen und Noten, und freilich: mehr Singen als Noten; wenigstens "Starman" durchgeboxt, "Suffragette City" war ihnen lieber, und der Lehrer horchte jedesmal auf, lächelnd, selig, ja, gleichsam erlöst bei den zwei, drei Takten Streichorchester am Ende von "Thick as a Brick". Ich hatte einem der Progressiven nach wenigen Tagen "Bourée" verkauft, eine Mark, vom Grabbeltisch, noch das alte, "Pre-Island"-Island-Logo, womöglich für 50 Pfennig nur, und rutschte mir bei der Übergabe aus der Hülle und fiel auf den Schülerstuhl, die Stühle schon ergonomisch geformt, und der Progressive fast wütend schon, zumindest sagte er: "Paß doch auf!", und das Gros meiner Singles auch damals schon, nun, jedenfalls nicht meine Lieblingsmusik; "Starman"... sie fanden es schlagerhaft, zumindest kommerziell, und freilich, es war keine Island-Platte, ich war nicht der Typ für Island-Platten, nicht mal für Procol-Harum-Platten, nicht mal für Cat-Stevens-Platten, für Island- oder gar Vertigo-Platten war ich halt schlichtweg zu fett, und Bowie mit Sicherheit schwul, und hätten wir richtig Noten gelernt und Rock und Pop vor den Ferien mal, "School's out" von Alice Cooper zum Beispiel, "Warner Brothers", sechziger Jahre, US-Kommerz-Unterhaltungsfilme...


Die letzten Bundesjugendspiele. Ich griff mir Hans und nahm ihn mit auf die große, geräumige Altbautoilette, als wär's das letzte Mal mit ihm im ganzen, nein, nicht weiteren jetzt, sondern, man wußte es: restlichen Leben. Der Abschlußgottesdienst in der Klosterkirche, unter Mitwirkung der nun Mittelgereiften, und freilich auch unter meiner.


Ein Stechen in der Nierengegend, mal wieder ein Moped angetrampt. Trotzdem ins Wendener Freibad gegangen, das eigentlich nur ein Staubecken ist, permanenter Zu- und Ablauf, demzufolge ungechlort, dementsprechend kühl, der Boden aus feinem Sand, der im Schwimmerbereich immer algiger wurde und das Wasser zunehmend trüber machte. Hans tauchte vor mir ab, was mir ja nun leider nicht möglich war, noch eine freilich rein physische Sache, das Loch im rechten Trommelfell.


- Das muß im konfliktdurchzogenen Frühjahr des Frankreichjahrs gewesen sein, als ich mal ausnahmsweise vergaß, meine Geldbörse mit in die Klasse zu nehmen. Das war halt damals noch nicht so Brauch, daß die Schüler ihre Jacken mit ins Klassenzimmer nehmen oder heute vielleicht sogar müssen. 20 Mark, fürs Fotogeschäft, in Wenden gab es ja nun mal keins. Das Portemonnaie mit der Monatskarte hatte der Dieb mir wohl gelassen, obwohl, mit Bestimmtheit weiß ich's nicht. Dem Schulbusfahrer schwante nichts Gutes: "Georgie, Georgie, kommst du nach Hause..." – das war dann halb so wild. Dieser Bus fuhr relativ selten, ein Büssing aus den Sechzigern mit schrägen, gerundeten Seitenscheiben, so ähnlich wie bei den Greyhoundbussen. – Ein Ausnahmefall, und der Diebstahl jetzt ein weit größerer noch als der Greyhound-Büssing. So bitter dem "Ernst des Lebens" verpflichtet waren sie an dieser Realschule nicht, daß auch nur einer der ihnen Anvertrauten... – wenn das man alles so einfach wär...

Dunkler weiter Raum

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