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ОглавлениеFür mich ungewöhnlich früh saß ich an diesem Freitag in der Straßenbahn nach Potsdam, um in der dortigen Milchbar die Leichtigkeit des Spätsommertages in mich aufzusaugen, denn dieser strahlende Vormittag in der ersten Augusthälfte des Jahres 1961 versprach recht heiß zu werden.
Gerade mal vier Tage war ich aus München zurück, wo ich beim Besuch meiner Spielfreundin aus Kindheitstagen einen aufregenden Urlaub verbracht hatte. Ihre Eltern hatten mir ein Flugticket spendiert, um mir eine Ausreise ohne Grenzkontrolle aus der damals noch offenen Grenze zu Westdeutschland zu ermöglichen. Von Babelsberg mit der S-Bahn nach Westberlin zu fahren war problemlos, und mit einem Flieger der PanAm von Tempelhof nach München zu kommen ein kurzes Vergnügen, denn ich betrat schon nach einer knappen Flugstunde freiheitlichen Boden.
In den zurückliegenden vierzehn Tagen hatte ich viel Neues gesehen, lernte von der Stadt München mit seinem Hofbräuhaus über den Ammersee bis nach Garmisch-Patenkirchen, dem Kreuzeck und der Zugspitze all das kennen, was Bayern so liebenswert macht. Die Eltern meiner Spielgefährtin hatten die DDR bereits in den fünfziger Jahren verlassen und sich im Westen ihre neue Existenz aufgebaut, was es mir letztlich auch ermöglichte, diesen erlebnisreichen Urlaub im Westen zu verbringen. Mal war ich mit meiner Freundin, die schon auf liebliche achtzehn Jahre zurückblicken konnte allein unterwegs, mal mit ihrem Vater, mit dem ich allerdings mehr die bayrische Kneipenlandschaft kennen lernte, die im Hofbräuhaus ihren Anfang nahm und in der Nacht in irgendeinem Münchner Biersaal endete.
Wenn ich tagsüber mit meiner Jugendfreundin durch die Innenstadt und über den Stachus promenierte, fielen mir neben den vielen bunten Geschäftsauslagen besonders die überladenen Zeitungskioske ins Auge. Fast alle Tageszeitungen verkündeten in auffällig großen Lettern Ulbricht plant Mauerbau! Richtig begriffen hatte ich nicht, was damit gemeint war, denn der Begriff „Mauer“ überforderte mein damaliges Vorstellungsvermögen, er war für mich nicht real fassbar. Vielleicht war es Ignoranz mangels besseren Wissens oder es war meine jugendliche Unbekümmertheit, die mich einfach daran hinderte, die Dinge tiefer zu hinterfragen. Teilweise wird es auch das leichte Herzbubbern gewesen sein, das sich durch meine reizende Stadtführerin einstellte und dadurch jeden Gedanken an die große Weltpolitik einfach in den Hintergrund schob. Verdrängen kann so einfach sein, insbesondere dann, wenn das Herz den Verstand regiert. Unter dem Einfluss all dieser aufregenden Erlebnisse und Gefühlsbewegungen genoss ich die unbeschwerten Tage in der bayrischen Metropole, tauchte ein in eine neue, fremde Welt, von der ich mich später nur schweren Herzens trennen wollte.
Als ich nach zwei Wochen wehmütig von meinen Gastgebern Abschied nahm, hatte ich ein seltsames Gefühl in der Magengegend, das ich mir aber nicht so recht erklären konnte. Alle Bedenken beiseite schiebend, dachte ich nicht einmal mehr an die warnenden Schlagzeilen in den Tageszeitungen und bestieg gut gelaunt den Flieger, der mich zurück in die aufregende, damals noch viergeteilte Metropole Berlin brachte.
An diesem spätsommerlichen Vormittag betrat ich voller Tatendrang die noch wenig besuchte Milchbar, schaute verloren in die Runde und entschied mich, einfach direkt am Tresen neben einem jungen Mann Platz zu nehmen. Er war bekleidet mit einem grau grün schillernden Anzug, einem weißen Oberhemd mit schmaler, grüner Wildlederkrawatte und auffällig glänzenden schwarzen Halbschuhen. Vor sich hatte er ein halbvolles Cocktailglas stehen, und die darin schwimmende Kirsche ließ auf Gin Fizz schließen, den er offensichtlich genussvoll in kleinen Schlucken nippend geraume Zeit auf der Zunge verweilen ließ, bevor das wacholderhaltige Getränk durch die Kehle den Weg in seinen Magen fand.
Mit einem freundlichen Nicken setzte ich mich zu ihm, bestellte bei der reizenden Bardame einen Manhattan und während ich ihr beim Schütteln des Mixgetränkes zusah, holte ich aus meiner Jackentasche eine gelbe Zigarettenschachtel hervor, klappte sie auf und entnahm ihr eine ovale Orient, meine Lieblingszigarette. Mit einem viel sagenden Lächeln stellte die hübsche Bardame den Cocktail vor mir auf den Tresen ab, steckte einen Strohhalm in das Glas, schob es ganz nah an mich heran und ihr „Wohl bekomms“ ließ in mir die Hoffnung aufkommen, dass es nicht nur eine Floskel war. In ihren Augen hatte ich ein leichtes Flackern bemerkt, glaubte in meiner Euphorie sogar Anzeichen von Zuneigung erkannt zu haben und kramte sichtlich nervös nach meinem Feuerzeug.
Mein Barnachbar schien mein vergebliches Suchen zu bemerken, legte seine Zigarette auf den vor ihm stehenden Aschenbecher und griff in seine Jackettasche. Zum Vorschein kam ein silbrig glänzendes, mit einer Gravur versehenes Feuerzeug, welches blitzschnell, wie das Ziehen einer Pistole, mit einer schwungvollen Geste unter meiner Zigarette landete. Schweigend entnahm er dem Aschenbecher wieder den vor sich hin qualmenden Glimmstängel, sah mich kurz an und fast gleichzeitig, als hätten wir uns abgesprochen, zogen wir unseren Rauch in tiefen Zügen ein.
Interessiert vor uns hin schweigend beobachteten wir beide die Bardame, die mit der Zubereitung eines anderen Cocktails beschäftigt war, dafür dünne Scheiben von einer Zitrone schnitt, sie einritzte und auf den mit einem Zuckerkranz versehenen Rand des Cocktailglases stülpte. Danach verschwand sie an einen der runden Tische im Raum, um das mit Zuckerkristallen dekorierte Glas einem jungen Mann zu servieren.
Mein Nachbar drehte sich zu mir ein und unterbrach sein Schweigen mit der Feststellung: „Dich habe ich hier aber noch nicht gesehen, bist du das erste Mal hier?“
Seine Frage bejahend nutzte ich diese Gesprächseröffnung und begann, nicht ganz frei von innerlicher Spannung, von meiner Münchenreise zu erzählen, die mich nachhaltig beschäftigte. Ihn schien das sehr zu interessieren, denn er fragte mich nicht nur über die Sehenswürdigkeiten aus, sondern fragte auch sehr besorgt, ob ich denn dort etwas über einen angeblichen „Mauerbau“ gehört hätte. Ich erwähnte ihm gegenüber zwar, dass die Tageszeitungen mit solchen Schlagzeilen getitelt hätten, dass ich dies alles aber nicht so ernst genommen hätte, dass ich es vielmehr für Propaganda hielt.
Unser Gespräch wurde von nun an lebhafter, geradezu vertraut und dabei erfuhr ich von ihm, dass er Kurt hieß und in der Gaststätte „Haus des Handwerks“ als Schlagzeuger der dortigen Cafehausband tingelte. Neugieriger geworden fragte ich, ob er denn die Bardame näher kenne, ohne dabei zu verschweigen, dass ich sie recht sympathisch fand. Kurt gab mir bereitwillig Auskunft, verriet in seiner lockeren, geschwätzigen Art, dass sie verheiratet, ein feiner Kumpel und für vieles offen sei, was zu den schönen Seiten des Lebens zählte, ohne dabei leichtfertig zu erscheinen und sie höre auf den schönen Namen Elvira.
Kurts ergiebige Auskünfte sorgten dafür, dass meine Blicke fortan einzig und allein auf Elvira gerichtet waren. Sie hatte glatt nach hinten gekämmte, zu einem Pferdeschwanz gebundene braune Haare und einen ausgesprochen schön geformten kleinen Schmollmund, der nur ein schwaches Rot auf ihren Lippen zuließ. Irgendwie konnte ich nicht aufhören, sie länger bei ihren anmutigen Bewegungen zu beobachten, und je näher sie mir dabei kam, umso aufgeregter wurde ich. Sie schien dies zu bemerken, gab sich aber völlig locker, machte ganz unauffällig zwei Schritte zur Seite und stand mir plötzlich genau gegenüber.
Mit dem unschuldigsten Lächeln der Welt sah sie mich mit ihren frechen blauen Augen an, und fragte uns beiden zugewandt:
„Na, darf ich euch noch etwas Gutes tun?“
Ihrem Blick standhaltend stotterte ich leicht verwirrt:
„Ja, äh...,“ schaute kurz zu Kurt und wieder zurück, um etwas entschlossener wirkend nach einer Antwort zu suchen:
„Ja Elvira, du kannst uns noch etwas Gutes tun, wenn du uns einfach noch zwei Gin Fizz machst und was kann ich dir anbieten?“
„Oh danke, ich trinke einen Milch Shake, eure beiden Gin Fizz sind schon in Arbeit“, damit verschwand sie wieder in die andere Ecke des Tresens und begann mit der Vorbereitung der Cocktailgläser, in die sie zuerst zerkleinerte Eisstücke tat, um sie danach mit Gin aufzufüllen. Auch das Eis zwischen uns schien gebrochen und während ich weiter mit Kurt über München plauderte, dachte ich bereits über eine Möglichkeit nach, wie ich Elvira vielleicht wieder sehen könnte.
Als sie mit unseren Cocktails und ihrem Milch Shake zurückkehrte, war ich mir sicher, dass ich in ihren Augen ein wenig Zuneigung erkennen konnte, dass ein kleiner Funke übergesprungen war, der eine winzige Hoffnung zuließ. Wie lange ich ihrem Blick standhielt, weiß ich nicht mehr, wohl aber, dass ich für meinem Gin Fizz genauso lange brauchte, wie Elvira für ihren Milchshake, und erst als der Strohhalm auf dem Boden des Glases ein geräuschvolles Brodeln verursachte, schreckten wir wieder aus unserem innigen Blickkontakt auf.
Mittlerweile waren neue Gäste erschienen, um die sich Elvira jetzt bemühen musste. Sie nahm ihr leeres Glas, lächelte mich noch einmal an und mit ein wenig Traurigkeit in der Stimme sagte sie beiläufig:
„Entschuldige, ich glaube, ich muss jetzt wieder arbeiten“ und halb zu Kurt gewandt fügte sie hinzu:
„Möchtet ihr noch etwas trinken?“ Kurt verneinte mit dem Zusatz, dass er bald arbeiten müsse, und deshalb bezahlen möchte. Ich sah etwas erschrocken auf meine Uhr und stellte fest, dass ich mich ebenfalls beeilen musste, denn man wartete im Studio noch auf mich, um Details für eine Dienstreise zu besprechen.
Beim Bezahlen wollte ich von Elvira allerdings noch wissen, ob sie das Lindencafe kenne und ob wir uns dort eventuell mal wieder sehen könnten.
„Natürlich kenne ich das Lindencafe und wenn du möchtest, ich habe immer montags frei, dann könnten wir uns dort sehen, so ab achtzehn Uhr, warte dort einfach auf mich.“ Überglücklich betonte ich, dass dort sowieso mein zu Hause wäre und ich gerne auf sie warten würde. Damit endete unsere erste viel versprechende Begegnung, ich verabschiedete mich von Kurt mit dem Hinweis, dass ich mich bestimmt bald mal im „Haus des Handwerks“ von seinen Drummerkünsten überzeugen würde, und eilte aus der Milchbar zur Straßenbahn.
Im Studio angekommen wartete mein Freund Chris schon ungeduldig auf mich, um mir mitzuteilen, dass ich am Sonntag bereits in Mühlhausen zu erscheinen hätte, um dort einen Kollegen von seiner Arbeit abzulösen. Diese Nachricht hatte mich zunächst etwas überfordert, schließlich war es Freitagnachmittag und ich wusste nicht so recht, wie ich die für mich überraschende Dienstreise realisieren sollte. Mit der Bemerkung:
„Nun guck nicht so hilflos, ich werde es dir erklären, komm wir gehen in die Linde“ drückte er mir einen Dienstreiseauftrag in die Hand, verschloss seinen Schrank und drängte zum Gehen. Etwas unschlüssig hielt ich das Papier in der Hand und las flüchtig die wichtigsten Daten. Aus diesen ging hervor, dass ich am Sonnabend ganz spät einen Zug nach Mühlhausen nehmen sollte, damit ich am Sonntagmittag am Drehort vor der Marienkirche sei und für eine Woche in der Thomas Münzer Stadt bleiben müsse. Chris zog mich förmlich nach draußen, hängte sich seine College Mappe um und forderte mich auf, doch etwas schneller zu gehen, im Lindencafe würde Dieter Montag auf uns warten, der wisse etwas mehr über den Anlass meiner Reise zu berichten.
Tatsächlich saß Dieter bereits in unserer Stammecke, als wir beide das Cafe betraten, und bat uns mit der ihm eigenen galanten Handbewegung an seinen Tisch. Da das Lindencafe noch wenig frequentiert war, stand Lilo im Handumdrehen zwischen Chris und mir am Tisch, begrüßte uns freundlich und fragte nur:
„Na Schorschi, wie immer?“
Ich blickte nur kurz zu ihr hoch:
„Ja Lilo, mein Schatz, erst mal Kaffee, wie immer,“ und sah zu Dieter der gerade genüsslich an seiner Zigarette zog.
Den Rauch nach oben in kleinen Wölkchen ausstoßend setzte er auch gleich an:
„Ja mein Freund, Jürgen hat erst mich gefragt, ob ich Mühlhausen übernehmen kann. Der Kameramann hat seinen ersten Assistenten rausgeschmissen, und da ich aber nicht kann, habe ich dich vorgeschlagen!“
Damit war die Entscheidung schnell gefallen und ich hatte keine Wahl mehr. Ganz wohl war mir allerdings nicht dabei. Ich wusste um die cholerischen Anfälle des Kameramannes, die meistenteils mit einem Rausschmiss endeten, und sah mich schon als neues Opfer seiner Ausfälle. Dieter ahnte meine Bedenken und versuchte mich mit lobenden Worten zu beruhigen:
„Du schaffst das schon, du hast doch bei Rudi völlig selbständig Licht gemacht und so was braucht der Gundermann. Dann hast du gleich gewonnen, denn der Günther hatte mit Licht machen nichts am Hut und das war sein Verhängnis.“
Ein wenig ließ das mulmige Gefühl in meiner Magengegend nach als Lilo mit den beiden Kaffees zurückkam, sie vor uns abstellte und fast lautlos wieder hinter ihren Tresen huschte.
Dieser Freitagabend wurde länger als beabsichtigt, denn Dieter und Chris hatten es für notwendig befunden, mich mit ausreichend Rotwein auf die anstrengende Drehwoche vorzubereiten. Widerspruch hätten sie sowieso nicht zugelassen und so ergab ich mich dieser Notwendigkeit.
Am nächsten Tag hatte ich wieder ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, wenn auch aus anderen Gründen. Beinahe hätte ich vergessen meine alte Tante Tine aus dem Wedding zu besuchen. Schon vor einer Woche hatte sie mich gebeten, für sie notwendige Einkäufe zu machen, was ich am morgigen Sonnabend endlich erledigen wollte. Für solche Einkäufe musste ich von der Ackerstraße im Westsektor bis in die im Ostteil gelegene Ackerhalle laufen, quasi ein grenzüberschreitender Einkauf. Der Grund für diese regelmäßig wiederkehrenden Besorgungen war die sprichwörtliche Sparsamkeit meiner Tante, die mit ihrer kleinen Rente einfach haushalten musste. Der günstige Wechselkurs der Westmark zur Ostmark lag in der Regel bei einem Verhältnis von 1:4 und ermöglichte es meiner Tante zwei bis drei Stück Butter für eine DM zu kaufen, damit kam sie im Normalfall über den ganzen Monat. Was ich glücklicherweise nicht aus der Ackerhalle in den Westen schleusen musste, waren Eier, für dieses Grundnahrungsmittel sorgte „Amalie,“ ihre weiße Legehenne.
Die kleine Altbauwohnung meiner Tante im Berliner Arbeiterbezirk Wedding bestand gerade mal aus einem Zimmer, einem Klo und einer Küche, die sie vorzugsweise für die praktischen Dinge des Lebens eingerichtet hatte. Ich besuchte sie mindestens zweimal im Monat, wobei ich versuchte das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden und ging häufig ins Kino. Bei der Vielzahl der vorhandenen Grenzkinos, in denen ich mir schon für eine Ostmark die neuesten Filme aus Hollywood einziehen konnte, nutzte ich jede Gelegenheit, um mir mehrere Filme hintereinander anzusehen.
Wenn ich am späten Abend bei meiner Tante Tine auftauchte, durfte ich in der Küche auf einem schmalen Sofa die Nacht verbringen. Dass am nächsten Morgen mein Frühstücksei gesichert war, dafür sorgte ausschließlich Amalie, das Einzelkind meiner Tante. Wenn ich früh die Augen aufschlug, hantierte Tante Tine schon in der Küche herum um Kaffee zu kochen. Das Huhn hatte brav sein Ei in die neben mir stehende Holzkiste gelegt, stand aufgeregt gackernd in ihrem Nest aus Stroh und kündigte das vollbrachte Werk durch heftigen Flügelschlag an. Der Sparsamkeit meiner Tante war es zu verdanken, dass sie stets einige Eier in Reserve hatte, somit war sie nicht zwingend auf das Legeergebnis des Tages angewiesen. Gut gefrühstückt verließ ich häufig erst gegen Mittag mein Weddinger Nachtquartier, um mir die heiß begehrten Westfilme anzusehen und ließ Tante Tine allein mit Amalie in der Küche zurück.
Am heutigen Tag konnte ich sie nur kurz besuchen, ohne die üblichen Besorgungen machen zu können, denn ich war in Eile, wollte schnellstens weiter zum Bahnhof Zoologischer Garten fahren.
Es war bereits später Nachmittag als ich im Bahnhof Zoo aus der S-Bahn sprang. Gegen Mitternacht sollte mein Zug vom Bahnhof Friedrichstraße nach Mühlhausen gehen und dafür benötigte ich vor allen Dingen einen Vorrat an Zigaretten, denn soweit entfernt von Westberlin würde ich keine einzige Westzigarette bekommen, und genau diese gehörten zu meinen bevorzugten Rauchgewohnheiten. Mit mehreren vierundzwanziger Packungen Peter Stuyvesant in meiner Reisetasche fuhr ich vom Bahnhof Zoo weiter zum Bahnhof Friedrichstraße. Dort wollte ich in das DEFA Zeitkino gehen, um mir einige Kurzfilme anzusehen.
Die informativen Filme des DEFA Augenzeugen und die satirische Kurzfilmreihe „Die Stacheltiere,“ ließen mich für einige Zeit mein Reisevorhaben vergessen, denn das Besondere beim Besuch des Zeitkinos bestand darin, dass das Filmangebot als Schleife lief. Kam man beispielsweise kurz vor dem Ende eines Filmes, blieb man so lange, bis sich die Szene wiederholte, für Durchreisende eine ideale Gelegenheit für einen kurzen Kinobesuch. Da ich selten Zugreisender war, wollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, auch wenn es nur Kurzfilme waren, denn wollte ich Spielfilme sehen, gab es damals ganz andere Möglichkeiten des Kinobesuchs, die so genannten Grenzkinos. In diesen Kinos standen mir internationale Filme, insbesondere aus Hollywood in großer Auswahl zur Verfügung. Begünstigt wurden solche Kinobesuche für Ostler besonders dadurch, dass die Kinokarten zum idealen Wechselkurs von 1:1 verkauft wurden, und das lockte viele Ostberliner in die Kinos. Kurz vor meiner Münchenreise hatte ich gerade im Zoopalast für eine Ostmark die Stärke meiner nervlichen Belastung mit Alfred Hitchcocks Thriller „Psycho“ getestet und allein die Erinnerung an diesen Klassiker des Fürchtens ließ mich für einen Moment erschauern.
Durch den Zeitkinobesuch hatte ich inzwischen Hunger bekommen und eigens dafür bot der Bahnhof Friedrichstraße den Reisenden eine hervorragende Einrichtung, die MITROPA- Speisegaststätte, in der man recht gut essen konnte. Gemütlich schlenderte ich vom Kino rüber zur MITROPA und suchte mir in der gut gefüllten Gaststätte einen Platz, um in Ruhe speisen zu können. Der Zeiger der großen Uhr an der Wand über dem Tresen rückte bereits auf einundzwanzig Uhr vor, als ich mich an einem freien Vierpersonentisch niederließ, und mich sofort in die Speisekarte vertiefte. Am Nachbartisch hatte ich noch mitbekommen, wie der Kellner zwei Teller mit Beef Tatar brachte, welches so appetitlich mit Sardellenringen, einem Gelbei und saurer Gurke angerichtet war, dass ich nicht widerstehen konnte, mir das auch zu bestellen. Direkt vom Nebentisch kommend steuerte der Ober im schwarzen Anzug und schwarzer Fliege auf mich zu, um nach meinen Wünschen zu fragen. Innerlich bereits voll darauf eingestellt orderte ich umgehend dieses wunderbare Tatar nebst einem halben Liter Bier.
Zehn Minuten nach Mitternacht sollte der D-Zug nach Gotha über Mühlhausen gehen und etwa gegen sieben Uhr früh dort sein, damit hatte ich genug Zeit, um in Ruhe zu dinieren, was ich ausgedehnt und mit großem Genuss tat. Gegen dreiundzwanzig Uhr bezahlte ich, um noch ein wenig vor dem Bahnhof die angenehm kühle Luft und die nächtliche Friedrichstraße auf mich wirken zu lassen.
Draußen war es ziemlich ruhig, kaum Verkehr auf der sparsam beleuchteten Prachtstraße, was mir allerdings etwas seltsam vorkam. Bei meinem Bummel um das Bahnhofsgebäude herum bemerkte ich eine ungewöhnliche Ruhe, die ich mir nicht so recht erklären konnte. Erst als ich mich wieder in das Innere des Bahnhofsgebäudes begeben wollte, registrierte ich fast am Rande einige grüne Planwagen der Polizei, die auf der Friedrichstraße in Richtung Bahnhof fuhren. Ein wenig stutzte ich zwar, weil mehrere LKWs kurz hintereinander fuhren, beruhigte mich aber damit, dass es sicherlich einen Polizeieinsatz wegen irgendwelcher Randale gab, schenkte dem Polizeiaufgebot keine weitere Beachtung und ging ganz entspannt durch die Bahnhofshalle zum Fernbahnsteig.
Wenig später saß ich im Zug nach Gotha, und richtete mich in der Ecke meines Abteils für die Nacht ein. Neben mir saß ein älterer Herr, der bereits schlief und mir gegenüber zwei junge Männer und eine ältere Frau, die ebenfalls dabei waren, sich ein den Umständen entsprechendes Nachtlager zu bereiten. Obwohl ich durch das gleichmäßig monotone Rattern der Schienenstöße schnell eingeschlafen war, erwachte ich bereits gegen vier Uhr und konnte trotz mehrfacher Versuche auch nicht wieder einschlafen.
Wie auf allen meinen Reisen üblich hatte ich mein kleines „Sternchen“ Kofferradio mit, welches mit einem Ohrstecker ausgerüstet war, sodass man ohne seine Nachbarn zu belästigen, ungestört Musik hören konnte. Den Stöpsel im Ohr schaltete ich das Radio ein, kuschelte mich wieder in meine aufgehängte Jacke und hoffte, mithilfe der Musik vielleicht wieder einschlafen zu können.
Musik hörte ich erst einmal nicht, aber die letzten Wortfetzen der Vieruhrnachrichten des Senders RIAS Berlin.
Bruchstücke von: „Nacht...“ und „Grenze zu Westberlin abgeriegelt...,“ konnte ich gerade noch halb im Einschlafen wahrnehmen. Im selben Moment war ich hell wach und drehte nervös am Rädchen der Senderwahl meines Empfängers, um irgendwelche Nachrichten aufzustöbern. Vergeblich, denn üblich war, nur zur vollen Stunde Nachrichten auf fast allen Sendern zu hören. So richtig konnte ich die Musik, die mir von den verschiedenen Sendern entgegendröhnte nicht wahrnehmen, so gespannt war ich auf die nächsten Informationen, die überraschenderweise schon nach wenigen Minuten kamen.
Aufgeregt und voll konzentriert hörte ich auf jedes Wort der nächsten Verlautbarung: Einheiten der Volkspolizei, vereint mit den Betriebskampfgruppen der DDR, sollten die Grenze zu Westberlin abgeriegelt haben.
Allmählich erinnerte ich mich an die seltsame Atmosphäre am Abend vor dem Bahnhof Friedrichstraße, konnte allerdings keine logischen Zusammenhänge der Geschehnisse erkennen. In Abständen wiederholte sich auf allen Sendern diese Schreckensmeldung mit der ich allerdings nicht viel anfangen konnte. Ich realisierte einfach nicht die praktische Umsetzung dieser Meldungen, hielt sie mehr für ein Abschreckungsmanöver und ging davon aus, dass es für Berlin und für das Umland, also auch für Potsdam, gar nicht möglich war, alle Verbindungen zu kappen. Fest davon überzeugt bei meiner Rückreise aus Mühlhausen den einen oder anderen Weg nach Westberlin vorzufinden, zog ich mich wieder leise Musik hörend unter meine Jacke zurück.
Die vier Mitreisenden in meinem Abteil schliefen hörbar fest, denn keiner von ihnen war im Besitz eines Radios. Weder Musik noch Nachrichten störten ihren Schlaf bei der Fahrt in den Morgen des 13. August 1961.