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An diesem spätherbstlichen Oktobertag war das Lindencafe noch wie ausgestorben, die leeren Cafehaustische dämmerten in den Nachmittag hinein, die verwaisten Stühle lauerten auf ihre Stammgäste. Sehnsüchtig auf Gitti wartend, hockte ich neben meinem Freund Chris in der Stammnische des Cafes und döste gelangweilt vor mich hin. Von außen betrachtet mussten wir beide den Vorbeieilenden wie lässig dekorierte Schaufensterpuppen eines Warenhauses vorgekommen sein, die man in die gähnende Leere des Raumes hinein drapiert hatte.

Ich hatte mich so gesetzt, dass ich durch die großen Schaufensterscheiben genau registrieren konnte, wer draußen vorbei ging. Chris hingegen hielt seine langen Beine weit von sich gestreckt, war intensiv mit seinem Notizkalender beschäftigt, und krakelte unentwegt irgendwelche Worte in das zierliche, etwas abgegriffene Büchlein. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich dabei genau beobachten, wie sich seine nicht minder langen Finger zusammenzogen, nach vorn streckten, sich wieder auftürmten, wie die Fangarme einer Spinne auseinanderspreizten, um sich danach sehr entschlossen zur Faust zusammenzuballen.

Obwohl ich das Spiel seiner Hände zuerst nicht bewusst sondern eher beiläufig wahrnahm, wurde ich durch den überlangen Fingernagel seines rechten Daumens nicht nur von meinen nach innen gerichteten Betrachtungen etwas abgelenkt, sondern verlor auch nach und nach das Interesse, das Geschehen vor dem Cafe bewusst wahrzunehmen, so sehr nahm mich sein agierender Daumen gefangen. Dieses eckig gefeilte Horngebilde war schließlich zu allen Zeiten sein wichtigstes Werkzeug beim Gitarre spielen, und für ihn unverzichtbar gewesen. Jedes mal wenn ich mich aus meiner etwas schläfrigen Beobachterposition zu ihm eindrehte, blieb mein Blick fasziniert auf seinem Fingernagel hängen, und meine Gedanken entflohen zurück in die Stadt Werder, hin zu den gemeinsam durchlebten Internatstagen.

Das kleine Havelstädtchen war noch vor wenigen Jahren unser gemeinsames Tor zur Freiheit gewesen, deshalb blieben unsere Erlebnisse unvergessen und die Auftritte meines Freundes legendär. Weit über die Pforten unseres Internates hinaus galt Chris seinerzeit als der ungekrönte König des Rock`n Roll. Wenn er den Elvis oder den Peter Kraus gab, war das stets aufs Neue eine grandiose Show, die mit Nichts und Niemanden zu überbieten war. Bei seinen Soloauftritten lag ihm nicht nur der große Schwarm der überzähligen weiblichen Heimbewohner zu Füßen, auch alle Jungs und Mädchen aus der weitläufigen Umgebung strömten in Scharen auf das Internat zu. Dicht gedrängt versammelten sie sich unter dem Fenster unseres Wohnheims, um ihr Recht auf populäre Musik von ihm einzufordern. Wenn er auf der Fensterbank des oberen Stockwerkes saß, die Gitarre lässig auf den linken Oberschenkel gestützt, war seine Elvis Interpretation einfach beispiellos. Das Röhren und Schluchzen meines Freundes, besonders bei dem Elvistitel Thats Allright Mama, drang bis in den letzten Winkel der verträumten Gässchen des alten Obststädtchens. Abend für Abend, und mit jedem seiner beispiellosen Gitarrensolos, wurde seine Fangemeinde größer, die vorwiegend aus Teenagern und Halbstarken der damaligen Jugendszene Werders bestand. Auf dem alten Kopfsteinpflaster vor dem Internatsgebäude konnte man bisweilen ganze Cliquen ausmachen, die alles dafür gaben, um den Klängen des oben im Fenster sitzenden Rocktroubadours zuhören zu können.

Wenn ich jetzt hier träge vor mich hinträumend im Cafe saß, und mit starrem Blick die eleganten Bewegungen der Hand meines Freundes verfolgte, seinen überlangen Daumen bewunderte, erinnerte ich mich auf einmal an eine ganz bestimmte Halbstarkengruppe, die häufig unter unserem Internatsfenster anzutreffen war. Unvergesslich ist für mich auch ein besonders hervorstechendes Gesicht aus dieser Gruppe geblieben, das sich bis heute in meinem Gedächtnis fest eingeprägt hat, obwohl es keins der hysterisch kreischenden Mädchengesichter, sondern das Gesicht eines halbstarken Jungen war. Für jeden unübersehbar gab er in vorderster Reihe äußerst dominant das Alpha Männchen.

Auf seiner gedrungenen Gestalt präsentierte sich dem Betrachter ein kurzer breiter Nacken, dem sich ein voluminöser quadratischer Schädel anschloss. Das nicht gerade symphatische Gesicht dieses Jungen fand in den aufgeworfenen Lippen und in dem leicht schielenden Blick seine misslungene Vollendung. Das Bemerkenswerte an ihm aber war, über diese hervorstechenden Merkmale hinaus, bildete seine aufgetürmte Schmalzlocke und das zur Ente gekämmte Nackenhaar durchaus ein zeitgemäßes Kontrastprogramm. Trotzdem war sein gesamter Habitus für uns alle einfach zum Fürchten. Besonders unsere Handvoll männlicher Fotografen hatte erhebliche Angst vor ihm, war er doch im kleinen Havelstädtchen einer der Größten unter den von uns allen gefürchteten Schlägern, der uns schwachbrüstigen Internatsjungen bei jeder Gelegenheit Prügel angedroht hatte.

Die Ursache für diese Bedrohung war ausnahmslos in der Überzahl der weiblichen Heimbewohner zu suchen, über die, so sahen es jedenfalls unsere Rivalen, unsere unterentwickelte männliche Zehnergruppe die alleinige Vormachtstellung einzunehmen schien. Auch wenn dies nur den Schein erweckte, befanden wir uns ob dieser Unterstellung ständig vor dieser Clique und ihrem Silberrückenmännchen in Gefahr.

Einzig und allein Chris war es zu verdanken, diesen Teufelskreis durch seine wachsende Fangemeinde peu a peu langsam zu durchbrechen. Seinen einschmeichelnden und betörenden Gesängen konnten selbst die hart gesottenen Rocker nicht mehr länger widerstehen, und so zerbröselte auch letztlich jeglicher Groll und Neid bei der von uns gefürchteten Schlägerbande.

Eines Tages, für uns alle völlig verblüffend, bot uns das Alphatier nicht nur den Waffenstillstand, sondern sogar seine starke beschützende Hand an. Von nun an stand unser kleines Häufchen angehender Männer fest unter dem Schutz des Silberrückens und keine der konkurrierenden Banden des Städtchens konnte uns mehr etwas anhaben.

Allabendlich, wenn sich die Nacht leise über das kleine Havelstädtchen senkte, hockte unser Provinztroubadour im Fenster des ersten Stockwerkes und spielte sich laut röhrend in alle Herzen. Selbst die Härtesten unter den halbwüchsigen männlichen Rockern wurden weich wie Butter und ließen sich von seinem Schmalz einwickeln, ja sogar besänftigen.

Schon damals ersetzte der auf Länge präparierte Daumennagel grandios das zum Schlagen der Saiten erforderliche Hornblättchen. Mit diesem ungewöhnlichen Daumen hatte er jeden Akkord fest im Griff, schlug und liebkoste die Seiten gleichermaßen, wie immer es der Sound gerade erforderte. Wie die Beine eines Tänzers glitten seine langen Finger über den Steg seiner Gitarre, vollzogen dabei wahre Kunststücke. Und ausnahmslos der verlängerte Nagel war es, der seinem Instrument diesen ganz individuellen rhythmischen Klang entlockte.

Selbst nach dieser langen Zeit übte der Fingernagel von Chris hier im Cafe noch die gleiche Faszination wie damals auf mich aus. Die Haltung seiner grazilen Hand, und besonders die eigenwillige Art wie sie über das Notizbuch glitt, konnte einfach von Niemand kopiert werden. Wie hypnotisiert starrte ich jetzt auf die langen Finger, die den Kugelschreiber geradezu spielerisch umschlossen hielten, indes sich sein langer Daumennagel, ähnlich dem Beine überschlagen, ganz leger über den Zeigefinger gelegt hatte. Ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden und musste unwillkürlich über dieses seltsam geformte Gebilde schmunzeln.

So versonnen auf die Hand von Chris schauend hatte ich erst gar nicht bemerkt, dass inzwischen ein weibliches Wesen zur Tür hereingeschneit war, welches zielgerichtet auf unseren Tisch zusteuerte. Aufgeschreckt vom zügigen Heranrauschen, löste ich mich ganz schnell von meiner innigen Daumennagelbetrachtung, und als ich aufsah, stand vor mir putzmunter nicht Gitti, auf die ich ja die ganze Zeit schon gewartet hatte, sondern Elvira und strahlte über das ganze Gesicht.

Meine dösende Spätherbststimmung war auf einmal wie weggeblasen. Voller Freude sprang ich vom Stuhl auf, umarmte sie innig und küsste sie zärtlich auf die Stirn, die in sanfter Wölbung am streng nach hinten gekämmten Haaransatz auslief. Elviras Begrüßung war geradezu leidenschaftlich, sie klammerte sich förmlich an mich und erinnerte mich mit einem lang anhaltenden Kuss daran, dass es sie noch gab, dass sie wohl ein wichtiges Puzzleteil in meinem ganzen bisherigen Leben war. Es dauerte auch eine geraume Zeit bis sie ihren Liebesbeweis ausladend und mit großem Nachdruck zelebriert hatte, und ich ließ sie gewähren. Erst als sie sich sicher war, dass auch mein Freund von der Nachhaltigkeit unserer Liebe überzeugt schien, ließ sie wieder von mir ab und kreiste hibbelig um unseren Tisch herum, hüpfte genau zwischen uns und klemmte sich mit einer Pobacke auf meine Stuhlecke. Während sie meinem Freund einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte, begann sie schon ohne Unterlass munter auf mich loszuplappern.

So war sie, alles an ihr war mir plötzlich wieder vertraut, ihr Habitus entsprach auch heute in allen Details voll ihrem Naturell. Sie nahm mich einfach gefangen, war ganz einfach ein süßer lebhafter Fratz, übersprudelnd vor Temperament, und was ich besonders schätzte: Mit ihr war es einfach nie langweilig.

Kennen gelernt hatte ich Elvira ja bereits vor gut einem Jahr, zwei Tage vor dem Mauerbau, konnte sie als quirlige Bardame in der Potsdamer Milchbar bewundern, und hatte mich schon damals sofort in sie verknallt. In der Folgezeit gab es sporadisch hin und wieder ein Treffen im Cafe, aber in der letzten Zeit hatte ich sie durch die Turbulenzen der zurückliegenden Ereignisse wieder etwas aus den Augen verloren. Trotzdem war stets etwas Verbindendes zwischen uns geblieben, wir hatten einfach zueinander gefunden und aus der anfänglichen Freundschaft war ganz allmählich eine tiefe Zuneigung entstanden. Bis vor kurzem war sie noch verheiratet, lebte jetzt in Scheidung, war Mutter und hatte einen dreijährigen Sohn, mit dem sie sich eine kleine Zweizimmerwohnung teilte.

Auch heute war unser Zusammentreffen hier im Cafe nicht geplant, fand eher zufällig statt, obwohl der Zufall meist Montag hieß. Der Job in der Milchbar, ihre Mutterpflichten, hier und da auch der Ärger mit ihrem Exmann, all das schränkte ihren Freiraum erheblich ein. Manchmal begleitete ich sie nach einem langen Lindencafeabend in ihre Wohnung, suchte für den Rest der Nacht in ihren Armen das Gefühl von Wärme und Geborgenheit, und erspürte durch ihre Nähe den liebenden Menschen. Meine Wohnung im Grenzgebiet hat sie nie kennen gelernt. Elviras zu Hause war für mich die einzige Möglichkeit mit ihr ganz allein in Amors Reich zu entfliehen, die wenigen Momente des kleinen Glücks wahrzunehmen, sich vom bedrückenden Alltag für Sekunden lösen zu können.

Im ersten Jahr nach dem Mauerbau war es für mich nahezu unmöglich fremde Personen ohne Passierschein in mein vergittertes Liebesnest zu entführen. Erst viel später, als mir einige Wachposten vertrauter wurden, gelang es mir, die eine oder andere weibliche Besucherin, oder manchmal auch Freunde, in meine verlorene Grenzvilla einzuschleusen.

Umso mehr ich mich freute, dass Elvira jetzt aus heiterem Himmel hereingeschneit war, umso weniger konnte ich meine angespannte innere Nervosität unterdrücken, denn eigentlich war ich ja heute mit Gitti verabredet. Schon allein der Gedanke, was machst du, wie verhältst du dich, wenn sie jetzt wie verabredet zur Tür hereinkommt, beunruhigte mich zutiefst und würde meine freudige Euphorie schlagartig wieder in ängstliche Schuldgefühle umwandeln.

Mein 19. Geburtstag lag über ein Jahr zurück und mein Verhältnis zu Gitti hatte sich über diesen langen Zeitraum hinweg mehr als intensiviert, wir waren einfach vertrauter geworden, mehr noch, wir glaubten uns wirklich zu lieben, taten alles, um uns so oft wie möglich zu sehen. Wenn ihre Freizeit, und manchmal auch die Durchlässigkeit der Grenze es zuließen, besuchte sie mich am Ort unserer ersten Berührung. Für uns beide war es eine Zeit im Schwebezustand, losgelöst von allen Fesseln und Hindernissen, die Gittis junges Leben damals erheblich eingeengt haben. Für sie war unser heimliches Zusammentreffen eine Nische, ein Zufluchtsort in dem sie ihre bedrückenden Eheprobleme einfach fallen lassen konnte.

Auch aus meiner Sicht war es nicht allein die neue Eroberung, das neue verliebt sein oder gar eine neue erotische Erfahrung, sondern vielmehr das Einlassen auf eine Beziehung, in der Nehmen und Geben ganz selbstverständlich waren.

Seit dem Mauerbau vor gut einem Jahr, mussten wir uns ausnahmslos im Lindencafe treffen, und es ist mir auch nur sehr selten gelungen, sie heimlich als so genannte unbefugte Person in mein stilles Reich einzuschleusen.

Heute war wieder einmal so ein Tag, an dem wir uns unbedingt hatten sehen wollen, an dem ich mit Gitti aus dem Cafe in mein kleines bewachtes Reich fliehen wollte. Aber sie kam nicht, dafür war Elvira gekommen, und es sollte auch den ganzen Abend über so bleiben. Offensichtlich gab es in Gittis Umfeld größere Probleme, die sie massiv am Kommen hinderten, ob es mit ihrem Mann zusammenhing, ob es andere Gründe waren, ich wusste es einfach nicht. Obwohl sich der Abend unendlich dehnte, sogar bis in die tiefe Nacht hineinzog, Gitti tauchte nicht mehr auf, es kam auch keine erklärende Nachricht, keine freudige Botschaft, auch kein anders geartetes Lebenszeichen.

Mit der voranschreitenden Zeit legte sich nach und nach auch meine ängstliche Nervosität. Die vorsorgliche Entschuldigung, die ich mir Elvira gegenüber zurechtgelegt hatte, brauchte ich fortan nicht mehr.

Seit jenem Abend haben sich Gittis Spuren im Nichts verloren. Es gab keinen schmerzlichen Abschied, keinerlei Erklärungen, auch keine Briefe. Ich habe sie seitdem nie wieder gesehen.

Elviras Liebe ist mir geblieben.

Flüchtige Verstrickungen

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