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PROLOG

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Südlicher Schwarzwald, 22. April 2019, Ostermontag

Ein Lächeln ist ein Geschenk, welches sich jeder leisten kann – war filigran auf ihrem zart pinkfarbenen T-Shirt gedruckt. Darüber kringelten sich rostbraune Strähnen ihres langen Haares. Marie Kaufmann hatte sich in eine bequeme Lage gebracht und räkelte sich jetzt auf ihrem großen Handtuch. Den Rücken leicht durchgebogen stützte sie sich mit ihren Armen nach hinten ab. So streckte sie ihren Körper der Sonne entgegen. Dabei versuchte sie zu entspannen.

Schauinsland. Der Freiburger Hausberg trug seinen Namen zu Recht. Vom Gipfel hatte die noch recht junge Wanderin eine herrliche Aussicht hinüber zum Feldberg. Für eine kleine Weile genoss sie die Ruhe, die soeben lediglich durch meh-rere Pfiffe unterbrochen worden war. Keine Frage, es mussten warnende Murmeltier-Laute gewesen sein. Jetzt entdeckte sie den Grund. Ein Greifvogel mit mächtiger Spannweite zog direkt über ihr enge Kreise.

Als sie sah, wie sich der Greif auf seine Beute hinabfallen ließ, wandelte sich das Bild, das sie nun nur noch vor ihrem inneren Auge wahrnahm. Aus dem Murmeltier war ein junger Mann geworden, der vor einer vermeintlichen Bedrohung zurückgewichen und gestolpert war und nun unaufhörlich einen sehr steilen Berghang hinabstürzte. Es war ein großes Glück, als sich das gefiederte Tier den Fallenden griff und den Leidtragenden unversehrt auf seinen Pfad zurückbrachte.

Nachdem sich die kurze Sinnestäuschung aufgelöst hatte, standen Marie Tränen in den Augen. Freudentränen? Nein, keineswegs. Es waren Tränen der Trauer, als ihr bewusst wurde, dass die tödliche Realität des Unfalls anders ausge-sehen hatte. Die schreckliche Wirklichkeit stand im kolossalen Gegensatz zu der Botschaft auf ihrem T-Shirt.

Marie schnäuzte sich. Das Murmeltier hatte sich erfolgreich in Deckung begeben können. Der Greifvogel war aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Sie nahm einen kräftigen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Gottlob geschah es immer seltener, dass Marie solche visionären Anwandlungen hatte, durch die sie mit jenem schicksalhaften Tag ihrer Bergwanderung vor knapp fünf Jahren konfrontiert wurde. Doch wenn sie auftraten, brauchte sie eine Weile, um sich zu sammeln und um sich klarzumachen, dass sie keine Schuld an dem tragischen Unglück traf. Auch für die schrecklichen Folgen weigerte sie sich nach wie vor, die Verantwortung zu übernehmen. – Nach dem verhängnisvollen Sturz hatte ihr Verlobter Jonas keine Überlebens-chance gehabt.

Marie Kaufmann trug einmal mehr schützende Sonnenmilch auf. Es war noch früh im Jahr. Aber die Sonne hatte bereits Kraft. Urlaubsfeeling, dachte die Entspannungssuchende. Dabei war sie mental keineswegs im Erholungsmodus. Auch wenn die sonnigen Ostertage ein wenig Entschleunigung ermöglichten, gingen ihr – neben den Momenten, in denen die Restsymptome ihres Traumas ihr Leben bestimmten – zu viele Gedanken fast gleichzeitig durch den Kopf. Insbe-sondere, seitdem sie die Computerausdrucke beiseitegelegt hatte.

Ihre Freundin Valerie Prebel hatte geschrieben. Valerie, die sich in einer Art Volontariat bei Le Journal du Dordogne in der Ausbildung befand. Die sich nach dem kürzlich ereigneten Schiffsunglück vor der französischen Atlantikküste inspiriert sah, mit einer Dokumentation an die Tankerunglücke vor der bretonischen Küste und die für die Natur katastrophalen Auswirkungen in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu erinnern. Allein: Von ihrer Chef-redaktion war ihr untersagt worden, »die alten Geschichten aufzuwärmen«. Mit den Behörden in Paris habe man sich verständigt, »diesmal keine hysterische Meinungsmache« zu veranstalten. Seriös wolle man berichten. Und deswegen sei das Thema zur Chefsache erklärt worden. Dabei wollte Valerie doch nur ein Dossier erstellen. Die aktuellsten Erkenntnisse zu den damaligen Ereignissen zusammentragen. Recherchen durchführen. Ganz seriös. Und vielleicht gab es dann doch Parallelen zu den gegenwärtigen Ereignissen. Aber natürlich, so ein brisantes und öffentlichkeitswirksames Thema konnte sich der Chefredakteur ihrer Zeitung natürlich nicht entgehen lassen.

Marie Kaufmann stieß einen kräftigen Seufzer aus. Vergleichbare Probleme kannte sie selbst. Mit Ronny Busshart, dem Chefreporter vom Württemberger Kurier. Geachtet bei der Zeitungsfamilie. Weil erfolgreich hinsichtlich einer Steigerung der Auflagenhöhe und ihres Absatzes. Gefürchtet bei der Polizei und den Gerichten. Weil penetrant enervierend. Verhasst bei den Kollegen. Weil arrogant, machtbesessen und aufdringlich. Ein Macho, der sich auf spektakuläre Ereignisse stürzte. Vorzugsweise Kriminalfälle, die er zur reißerischen Story aufarbeitete und veröffentlichte. Zur Steigerung seiner Publicity tat er alles. Ohne Rücksicht auf die Opfer. – Das braucht ein Bestseller-Autor wohl, dachte Marie Kaufmann und hob abweisend die Augenbrauen. Seine vulgären Annäherungsversuche widerten sie an.

Manchmal bedauerte Marie, dass sie ihren ansprechenden kleinen Buchladen aufgegeben hatte. Aber nach dem töd-lichen Unfall ihres Verlobten hatte es unschöne Szenen gegeben. Ein schlimmes mediales Echo mit inakzeptablen Vorwürfen von allen Seiten. Freunde und Bekannte hatten sich abgewendet, und natürlich war auch das Geschäftliche davon nicht verschont geblieben. Die Kundschaft war von einem auf den anderen Tag ausgeblieben. Es war ein beruflicher Neuanfang notwendig geworden. Zur Ausbildung und zur Aufnahme ihrer neuen Tätigkeit beim Württemberger Kurier war Marie nach Freiburg, in Deutschlands südlichste Großstadt, gezogen.

Und jetzt? Jetzt sehnte sie sich nach Abstand vom Alltagsgeschäft als Zeitungsreporterin. Sie beabsichtigte, zwei Wochen Urlaub in der Bretagne zu verbringen. Zur Inselgruppe der Sept-Îles wollte sie reisen und dem einzigartigen Vogelreservat einen Besuch abstatten. Und eventuell darüber berichten. Sie hatte bereits ihre Spürnase in die Datenbanken ihres Arbeitgebers gesteckt und sich im Internet vorab informiert.

Dabei war sie auf eine erfolgreiche Reihe von Kriminal-romanen eines unter Pseudonym schreibenden Autors gestoßen. Die Orte der Romanhandlungen waren in verschiedenen Regionen der Bretagne zu finden; nicht zuletzt in der Gegend, in der Marie ihren Urlaub wahrzunehmen gedachte. Einige der Bücher hatte sie bereits gelesen. Sie war fasziniert von den Geschichten, vor allem von den Beschreibungen des Landes und seiner Bewohner. Sie freute sich darauf, sich in diese Welt begeben zu können. Wer weiß, vielleicht ließe sie sich zu eigenen schriftstellerischen Ergüssen inspirieren? Vielleicht schaffte sie es sogar, nicht nur mit Reportagen, sondern zusätzlich mit der Publikation selbst geschaffener fiktiver und unterhaltsamer Literatur, dass Chefreporter Busshart vor Neid erblasste? – Maries Träumerei endete so schnell, wie sie eingesetzt hatte. Die Realität holte sie ein. Und diese Wirklichkeit reduzierte sich zunächst auf die Erkenntnis, dass sich während ihres Urlaubs immerhin die Gelegenheit böte, die Französisch-Kenntnisse zu vertiefen. Und … warum nicht, vielleicht ergäbe sich zudem die Möglichkeit, für Valerie einige Recherchen durchzuführen. Vor Ort. Seriöser ginge es wohl kaum.

Freiburg, 23. April 2019

Es war Dienstag nach Ostern. Ronny Busshart schaute dem IT-Experten des Verlagshauses vom Württemberger Kurier über die Schulter. Er hatte den Kollegen Freddy Nussbaum in der Hand und nutzte seine Macht schamlos aus. Busshart war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass er etwas Illegales tat. Wenn das bekannt würde … Vor der Verlagsdirektion hatte er keine Angst. Die würde auf ihn und seine Kontakte nicht verzichten wollen, aber die Personalvertretung des Betriebes würde ihm die Hölle heiß machen. Zwar vermochte er da ebenfalls Einfluss zu nehmen, allerdings … Busshart runzelte die Stirn, während er sich gerade wieder einmal vorstellte, dass sich dieses »sozialistisch angehauchte Pack«, wie er die Querulanten diskreditierte, zum Kaffeekränzchen formierte. Aber Bussharts Gedanken verharrten nicht bei diesen vermeintlich ewigen Nörglern. Lieber richtete er den Blick nach vorn: Viel bedeutsamer war, dass der vor ihm hockende EDV-Fuzzi so viele Gründe hatte, sich vor einer fristlosen Entlassung zu fürchten, dass der ihn gewiss nicht auffliegen ließe. Es war gut, wenn man am längeren Hebel saß.

Einmal mehr ließ sich Ronny Busshart den Zugang zum hausinternen Server herstellen und durchforstete die E-Mail-Korrespondenz der Kollegin Kaufmann. Er stöberte in der Chronik des Browsers, mit dem die Kaufmann die Websites des Internets aufgerufen hatte und studierte den Verlauf ihrer Recherchen. Zwar stellte Busshart fest, dass es das Opfer seiner Wissbegierde während ihres Mai-Urlaubs scheinbar in die Bretagne führen sollte, doch vermied die Mitarbeiterin offensichtlich, während ihrer Dienstzeit die EDV für private Zwecke zu nutzen. Sie macht sich nicht angreifbar, stellte er in Gedanken fest und bedauerte dies sogleich. Dann entdeckte er, dass sich die Reporterin seit seiner letzten Überprüfung eine Cloud eingerichtet hatte. Das Kennwort zu hacken gelang ihm zusammen mit dem Techniker in der Kürze der Zeit jedoch nicht.

Schließlich fand Busshart heraus, dass die Kaufmann ei-nige Downloads zu ehemaligen Tankerkatastrophen durch-geführt hatte. Interessant, interessant. Die Kollegin hatte ein Gespür für brisante und aktuelle Zusammenhänge. Das musste man anerkennen.

Sie hatte einen USB-Stick genutzt und etliche Links gespeichert. Busshart rief die Internetseiten auf. Anscheinend schien sich die Angestellte auch für Kriminalliteratur zu in-teressieren. In diesem Zusammenhang fiel Busshart ein, dass er vor nicht allzu langer Zeit von einem über einhundert Jahre zurückliegenden und nach wie vor nicht gelösten Fall in der Bretagne gelesen hatte. Es juckte ihm in den Fingern, dieser Sache nachzugehen. Warum nicht – wie die Kaufmann – in die Bretagne reisen, sagte er sich. Er könnte ein wenig in die Vergangenheit eintauchen und dabei gleichzeitig der Kollegin etwas über die Schulter schauen. Und vielleicht sogar mehr noch … Möglicherweise könnte man sich endlich etwas näher kommen?

»Schade, dass sie so wenig kooperativ und immer so abweisend ist«, seufzte er. »Wir beide zusammen könnten so viel …«

Er malte sich im Moment lieber nicht aus, was er mit der Kaufmann alles anstellen könnte. Dafür blieb ausnahmsweise keine Zeit.

Schnell nahm er noch einen Einblick in das Arbeitszeitkonto der Kollegin. »Achtundachtzig Überstunden – nicht schlecht«, raunte er.

Dann erhob er sich. Sein Entschluss stand fest. Er war spontan. Immer noch. Und flexibel. In Gedanken schlug er sich lobend auf die Schulter.

Den Kollegen Nussbaum ermahnte er, dass dieser vor allem für seine Diskretion bezahlt werde. Er sei schließlich nicht ohne Grund Datenschutzbeauftragter.

Busshart musste selbst über diesen Spruch schmunzeln.

Zu guter Letzt ließ er eine Hotelsuite und eine Bahn-verbindung mit dem TGV buchen. Natürlich reiste er Erster Klasse in die Bretagne.

Mörderische Côtes d'Armor

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