Читать книгу The Motherripper - Hans Günter Hess - Страница 4
Überlebenskampf
ОглавлениеEr taumelte ziellos, getrieben von Angst und Panik, durch die morastigen Gassen des Hamburger Hafenviertels, immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden. Er selbst, Schmutz starrend, zerlumpt und Teil des Elends dieser Stadt, war soeben Zeuge einer Tat geworden, die unerwartet mit brachialer Gewalt in sein Leben eindrang, und zwar in einer Weise, dass sich selbst seine sonst so abgestumpfte Seele aufbäumte. Diesmal wurden Regungen aktiviert, die er kaum kannte, zumindest nicht in diesem Ausmaß und mit den damit verbundenen Folgen. Sie ließen keine Einordnung zu, wüteten augenblicklich wie der Blanke Hans in seinem Kopf und wirbelten im wechselnden Chaos sein ganzes Inneres durcheinander. Freude, Schmerz, Wut, Genugtuung, Verlassenheit. Bei alle dem, was er bisher erleben und ertragen musste, gab es keinen Vorfall, der mit dieser Vehemenz sein ohnehin schon klägliches Dasein ins Wanken brachte. Je weiter er sich von dem Ort seines Schicksals - denn besser ließ er sich nicht benennen- entfernte, desto stärker brach sich eine Empfindung Bahn, die nach und nach alle anderen in den Hintergrund trieb. Einsamkeit! Die seltenen Bande von Geborgenheit und Fürsorge, die er bisher genießen durfte, hatte man dort, wo er gerade herkam, unwiederbringlich zerstört. Schmerz, Verzweiflung, also angemessene Gefühlsregungen, die eigentlich besser zu diesem die ihn gewisser Weise sogar das abgenommen, was er sich heimlich gewünscht hatte. Mit schnalzender Zunge und weniger kopflos, zwang ihn eine innere Macht dorthin, wo er glaubte, dass es noch einen Menschen gab, der ihn mochte. Jenny! Wenn es ihn wie jetzt in der Abenddämmerung zum Altonaer Ereignis gepasst hätten, verspürte er nicht mehr, wurde er doch gleichzeitig von einer Bürde befreit, die ihn unabhängig machte, Fischmarkt drängte, dann gehörte sie zu einem der Gründe, die sein Überleben sicherte. Hier, weitab von dem Kellerverschlag, einem zuhause, das keines war, der Ort seiner Geburt aber auch der gleiche, von dem er oft genug mit Drohungen, Beschimpfungen, Schlägen und Fußtritten verjagt wurde. Die anschließende Flucht zu den Bänken der Fischhändler bot ihm dann ein Versteck, wenn sie abends verlassen umherstanden, stinkend, notdürftig von den Abfällen des Tagesgeschäftes gesäubert. Meist suchte er Zuflucht unter den groben Holztischen, argwöhnisch beäugt von herumstreunenden Hunden, die sich um die Fischreste stritten oder Jagd auf eine andere Art von Kostgängern machten, die Ratten. Sie gab es im Überfluss. Doch seine Seele dürstete im Augenblick nicht nach der Gesellschaft dieser ausgestoßenen oder gehassten Kreaturen. Er sehnte sich nach einem Hauch Nähe und Wärme, wenn auch nur im übertragenen Sinne.
Oles Kneipe, am Rande des Marktplatzes, erfüllte ihm häufig diesen bescheidenen Wunsch und manchmal auch etwas Essbares. Angekommen, schüttelte er sich, als wolle er die quälende seelische Last abwerfen. Er hatte es nie gelernt, mit Gefühlen dieser Art umzugehen. Sie erwiesen sich nur lästig im Kampf ums tägliche Überleben, obwohl sein junges Dasein schon längst mit Vorkommnissen überfrachtet war, die andere in den Wahnsinn oder Tod getrieben hätten. Ihn rührte es schon lange nicht mehr, wenn man ihn beschimpfte, schlug oder anderen psychischen Qualen aussetzte. Selbst das Sterben, gleich auf welche Art, ließ ihn kalt, es gehörte wie die Trostlosigkeit zu seinem Leben. Ausgenommen heute. Der Anblick einer Toden zerschlug diesmal den Panzer des Selbstschutzes, denn es handelte sich nicht um das Lebensende irgendeiner Person und betraf auch nicht das Sterben in der ihm bekannten Weise. Das, was er sich ansehen musste, raubte ihn fast den Verstand. Man hatte ihn nur kurz befragt. Er würgte danach bruchstückhaft seinen Namen und einige unverständliche Sätze heraus, bevor er den Ring der Gaffer durchbrach und entfloh.
Wie immer herrschte in Oles Kneipe Hochbetrieb, man zechte, aß und genoss das Leben. So stellte sich jedenfalls das Treiben dar, das man im Schein der neuzeitlichen Gaslaternen draußen wie auch innen im erhellten Gastraum wahrnehmen konnte. Fahrensmänner aller Länder gaben sich bei Brandy, Rum sowie Labskaus ein Stelldichein und mittendrin Jenny, die ständig den anzüglichen Gesten der trunkenen Meute Paroli bieten musste. Mit Knuffen auf die gieprigen Finger verzögerte sie so die allabendliche Wiederkehr einer von den Kerlen eingeforderten Darbietung. Doch zunächst sorgte sie dafür, dass reichlich Alkohol floss. Die auflodernde Stimmung heizte sie dabei mit frivolen Versprechungen auf. In ihrer Wortwahl war sie nicht gerade zimperlich, gaukelte der immer gieriger werdenden Schar vor, sich später ihrer bedienen zu dürfen. Wenn dann die Stimmung zu sieden begann, rief sie nach Ole, er möge seinem Quetschbüdel ein paar Töne entlocken. Damit gab sie auch das Startsignal für den Höhepunkt des nächtlichen Gelages. Sie sprang auf einen der Tische und tanzte unter dem Gejohle der brünstigen Runde.
„Jenny, Jenny!“, forderte jetzt das besoffene Pack in Erwartung dessen, was wohl den Höhepunkt ihrer schwingenden Hüften darstellte. Sie aber ließ sie alle zappeln, denn nicht die Lustbefriedigung der geifernden Masse feuerte sie an, sich wie erwartet zu prostituieren, einzig und allein der erhoffte Geldsegen verdrängte jede Art von Anstand und Scham.
„Ohne Penny keine Jenny!“, schrie sie mit eindeutigen Gesten und leicht angehobener Schürze zurück. Im Nu füllte sich das dunkle Tuch mit Münzen, die sie geschickt in einen seitlichen Beutel bugsierte. Entsprach die Menge ihren Vorstellungen, hob sie ihren Rock auf Kniehöhe. Erneut schwenkte sie dabei wie zufällig die Schürze, um weiteres Geld aufzufangen. Dabei achtete sie genau auf das Mienenspiel der Trunkenbolde, die endlich belohnt werden wollten. Sie durfte den Bogen aber nicht überspannen, das wusste sie nur zu genau. Auf ihr Zeichen unterbrach Ole sein Spiel und ließ einen Tusch erklingen. Das Gejohle verstummte schlagartig, ersetzt durch eine fast lüsterne Stille. Etwa fünfzig Augenpaare starrten wie hypnotisiert auf den Tisch, dorthin, wo Jenny jetzt Stück für Stück ihren Rock nach oben raffte. Ganz langsam, fast zögernd, bis in Hüfthöhe. Noch ließ sie die gierende Schar mit dem zur Schau gestellten blanken Hinterteil im Unklaren, ob sie den Erwartungen folgen sollte. Erst als einige mit Scheinen winkten und andere pfiffen, wendete sie sich ruckartig, um sich auch von vorne in schlüpfriger Pose zu präsentieren, begleitet mit anzüglichen Reden und einladenden Gesten. Jetzt flogen die Lappen, Banknoten aus aller Welt landeten vor ihren Füßen. Tumult brach aus, jeder wollte sie plötzlich besitzen, versuchte seinen Nächsten auszutricksen. Auch mit Gewalt. Die sich anbahnende Keilerei nutzend, grapschte Jenny nach dem Mammon und raffte so viel sie kriegen konnte auf, bevor sie verschwand, noch ehe einer der Kerle zum Zuge kam. Die so Geprellten stürzten sich jetzt wütend auf das restliche Bare, um sich den von ihnen erbrachten Anteil zu sichern. Keiner schenkte dabei seinem Nachbarn einen Vorteil. Man schlug rücksichtslos aufeinander ein, griff nach allem was dabei von Nutzen schien. Die Kneipe drohte in Stücke zu gehen. An dieser Stelle griff Ole ein, beendete den Spuk auf seine Weise. Mit zwei Helfern beförderte er die sich sträubenden Raufbolde an die frische Luft. Die Dunkelheit verschluckte die meisten. Einige landeten auch auf oder unter den Fischbänken. Dort schliefen sie ein, manche kotzten sich auch vorher aus. Einen sich hartnäckig wehrenden und stockbetrunkenen Matrosen versetzten sie zudem einen Tritt, so dass er stolperte und direkt neben seinem Versteck niedersank, wo der Kerl röchelnd im eigenen Erbrochenen zu ersticken drohte.
„Fiedje, du Hurensohn, scher‘ dich her, wenn du Hunger hast! Sonst landet der Fraß bei den Fischen.“, kreischte Jenny in das nächtliche Jammertal. Er vernahm die schon oft gehörte Aufforderung diesmal mit ungewöhnlicher Gleichgültigkeit. Eigentlich interessierte sie ihn überhaupt nicht. Seine Aufmerksamkeit galt dem sich aufbäumenden Körper vor seinen Augen, der bereits ein Stelldichein mit dem Sensenmann verabredet hatte. Der Blutfleck auf seinem Hemd übte zudem einen ungewöhnlichen nicht zu widerstehenden Reiz aus. Die Rechte umklammerte noch krampfhaft ein Messer, auch blutverschmiert. Stöhnend und zuckend versuchte der Todgeweihte dem ausgekotzten Brei zu entkommen. Vergeblich! Stattdessen wühlte er sich immer tiefer in die Luft abschnürende Pampe. Fasziniert beobachtete Fiedje das erfolglose Ringen des Fremden um seine Existenz. Irgendwann erschlafften auch die letzten Bemühungen, dem Tod zu entkommen. Ein ziemlich derber Fußtritt beförderte ihn aus seiner Entrückung in die Wirklichkeit zurück. Jenny stand neben ihm: „Verschwinde von hier, bevor der Suffkopf von der Hafenstreife gefunden wird. Komm, ich gebe dir noch was zum Futtern!“
Erst jetzt merkte Fiedje, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Verstört klemmte er das zugesteckte Paket unter den Arm, um sich kurz danach in einer Ecke der nahen Schanzenmauer zu verkriechen. Zusammengekauert verschlang er die Überlebensration, bevor ihn der Schlaf einfing. Die Kühle der schwindenden Nacht kroch langsam durch seine Glieder, zerstörte auch den letzten Rest seiner durch wilde Träume gepeitschten Ruhe. In der frühen Morgensonne tankte er ein wenig Wärme nach dem Verlassen des schattigen Winkels. Vor ihm lag der Hafen, der ihm nach wie vor die Hoffnung verlieh, irgendwann seinem Schicksal zu entfliehen. Bisher wurde er um diese Erwartung betrogen. Nur einmal gelang es ihm, sich auf einen Segler zu schmuggeln. Doch man entdeckte ihn noch ehe das Schiff ablegte und beförderte ihn ziemlich unsanft zurück in sein Elend. Die dabei verabreichten Fußtritte spürte er schon lange nicht mehr, sie gehörten zu seinem Alltag. Er nahm diese Demütigungen hin wie auch die anderen Erniedrigungen, die ihn täglich widerfuhren. Eine schützende Hand gab es nicht. Rache für die erlittene Schmach nahm er meist an den Ratten, mit denen er sein Leben teilen musste. Sie gab es in Überzahl, ihnen fühlte er sich gewachsen. Rattenfangen bedeutete ihm das einzige Vergnügen. Er befriedigte damit nicht nur seinen Drang nach Vergeltung, es machte ihm auch Spaß, die langschwänzigen Scheusale zu quälen, bevor er sie totschlug. Stärkeren Gegnern konnte er kein Paroli bieten, dafür reichten seine Kräfte nicht.
Das Erlebnis vom Abend zuvor hatte sein Innenleben derart aufgewühlt, das es immer noch in seinem Kopf rumorte. Eigentlich entsprach es nicht seiner Natur, sich mit bedrückenden Gedanken zu belasten, da sie sich im Kampf ums Überleben nur als störend erwiesen. Mit einer fahrigen Geste versuchte er deshalb, die Reste seiner Erinnerungen zu vertreiben, um sein Augenmerk dem vor ihn liegenden Tag zu widmen, einer Zeitspanne, die er überschauen konnte und die ihm seine Existenz sichern musste. Doch heute durchbrach der innere Spuk diese Grenze in eine zurückliegende Zeit. Wie ein Film rollte plötzlich das bisherige Leben vor seinen Augen ab. Bar jeder Chronologie spulte der Streifen von hinten beginnend und setzte sich fort mit dem, was sein Unterbewusstsein bruchstückhaft freisetzte. Die Bilder vom vergangenen Abend litten noch nicht unter diesem Mangel, sie waren noch zu frisch und einprägsam, als dass man sie je wieder vergessen könnte.
Nach einem regnerischen Tag hoffte er in einem der Kellerverschläge von den neu errichteten Häusern, die seiner Mutter und ihn eine Bleibe boten, zu übernachten. Nach dem Großen Brand von Hamburg im Jahre 1852 waren die Keller der wuchtigen Backsteinbauten begehrte Domizile für diejenigen, die von der Hand in den Mund lebten. Zu ihnen gehörten auch die Huren des Hafenviertels, die mit ihren Liebesdiensten Seeleute aus aller Herren Länder anlockten. Fiedje merkte schon von weitem, dass sich dort wo er hinwollte, eine größere Menschentraube drängte: „Jetzt kommt Tines Bastard“, riefen einige der ihm bekannten Dirnen aus der Nachbarschaft und machten freiwillig Platz. Er quetschte sich bis zum Kellereingang durch, dort packte ihn jemand ziemlich unsanft und gebot Halt. Doch er riss sich los und stürzte die drei Stufen nach unten. Was er sah, entrang ihm ein Lächeln. Er schnalzte mit der Zunge, als wollte er sagen: „Endlich hat sie ihre verdiente Strafe bekommen.“ Doch zu so einer Formulierung war er nicht fähig, er registrierte nur, was er sich am sehnlichsten gewünscht hatte. Tine, seine Mutter lag vor ihm in einer Blutlache. Tot. Auf ihrem nackten Unterleib klaffte eine tiefe Schnittwunde. Er wollte sie berühren, prüfen, ob das was er sah auch stimmte, doch er wurde mit roher Gewalt zurückgerissen.
„Du bist Tines Sohn?“, herrschte ihn ein Uniformierter im barschen Ton an. „Jau!“, presste er heraus, denn schlagartig lähmte eine unbekannte Angst seine Zunge. „Wie heißt du?“, wollte der gestrenge Herr noch wissen. Und wieder rollte nur ein Wort über seine Lippen, diesmal schon mit hochkommender Panik gepaart: „Fiedje.“ „Und weiter, du hast doch einen Nachnamen?“ Dieser Fragerei fühlte er sich plötzlich nicht mehr gewachsen, er begann vor Angst zu schlottern. Noch nie hatte er mehrere Worte nacheinander gesprochen. Was ein Nachname war, wusste er nicht. Sich duckend blieb er die Antwort schuldig. Das half auch nicht, der Verhörende quälte ihn weiter: „Wenn du mir schon deinen Nachnamen nicht sagen willst, dann verrate mir wenigstens wie alt du bist?“ Das war zu viel, das wollte bisher noch keiner von ihm wissen. Alt, das waren die bärtigen Fischhändler, aber zu denen gehörte er nicht. Getrieben von einer unklaren Beklemmung, torkelte er seitwärts, um sich danach wieselflink durch die Schar der Gaffer zu quetschen. Schleichend entzog er sich der Sensation lüsternen Menge. Im Weglaufen hörte er noch, wie eine der Huren dem Polizisten zurief: „Ich weiß noch genau, wann der Bastard zur Welt kam. Vor dreizehn Jahren, es war lausig kalt. Tine konnte keine Freier empfangen, war bettelarm. Wollte sich schon umbringen.“
So erfuhr er das erste Mal etwas über die Umstände seiner Geburt und sein Alter. Jetzt, wo ihn die Hafenstreife nicht mehr belästigen konnte, verkroch er sich in dem nächstliegenden Versteck, eines der vielen Schlupfwinkel, die ihm bei Gefahr Schutz boten. In dem stinkenden Verließ hielt er es aber nicht lange aus. Das soeben Erlebte trieb ihn weiter, dorthin, wo er sich sicherer fühlte, zum Fischmarkt. Seine bisherige Welt hatte urplötzlich einen Riss bekommen. Der Freude über den Tod seiner verhassten Mutter wich schnell einem Strudel wirrer Regungen, die ihn jetzt am Morgen danach, in der Schanzenecke erneut zu übermannen drohten. Diesmal knüpften sie an Erlebnisse, die sein bisheriges Leben prägten. Ganz frisch und stellvertretend für ähnliche Vorkommnisse stand der vorgestrige Abend. Schon mehrere Nächte hatte ihn seine Mutter aus dem Verschlag verbannt, der ihm eigentlich als Schlafplatz diente. Sie benötigte die dürftige Unterlage aber oft genug für ihre Liebesdienste. Meist jagte sie ihn mit Worten davon, wenn es der Kunde forderte. Doch diesmal beließ sie es nicht dabei, sie verabreichte ihn grinsend ein paar Maulschellen und der Kerl an ihrer Seite trat ihn zudem lachend in den Hintern. „Verschwinde, du Hurensohn, du unnützer Fresser! Scher dich zu den Fischen!“, rief sie ihm höhnisch hinterher. Diese grundlose Demütigung durchbrach seine hartschalige Seele. Er verspürt zum ersten Mal das Verlangen, sie und ihre Liebhaber zu töten. Einzig und allein seine körperliche Unterlegenheit verhinderte die Umsetzung dieser Absicht. Jetzt wo er grübelte, kam ihm auch die Erinnerung, dass es sogar Momente gab, wo er sie abgöttisch liebte. Aber das war lange her, er hatte es längst verdrängt. Nur an ein Vorkommnis konnte er sich besinnen. Jemand hatte ihn die Kellertreppe hinab gestoßen. Weinend, mit blutigen Knien, kauerte er vor der Tür, hinter der seine Mutter ihren Geschäften nachging. Er wagte damals nicht, sie um Hilfe zu bitten. Plötzlich flog krachend der klapprige Kellereingang auf, seine Mutter schob einen schwächlichen Kerl nach draußen und servierte ihn aufgebracht und mit ziemlich derben Ausdrücken ab. Dann sah sie ihn, ihren blutverschmierten Sohn. „Fiedje, mein armes Kind, wer hat dich so zugerichtet? Der Hundesohn soll mir nur nicht zwischen die Finger kommen.“, schrie sie hysterisch und nahm ihn auf den Arm. Drinnen in einer Ecke säuberte sie die Wunden, dann streichelte sie mitleidig seinen Kopf und sprach tröstend auf ihn ein. Er bekam sogar eine Milchsuppe und durfte sich anschließend zu ihr in den Verschlag legen. Ihre Wärme, ihre Umarmung hatte er genossen wie ein Wunder. Das Anschmiegen wurde ihr allerdings schon kurze Zeit später lästig. Sie ließ ihn allein, um draußen nach einem Freier Ausschau zu halten. Er wusste, dass die Kerle ihren Lebensunterhalt sicherten und räumte deshalb freiwillig die Liegestatt. Solche Augenblicke der Zuwendung gehörten aber eher zu den seltenen Vorkommnissen. Meist schwenkte seine Mutter nach anfänglicher Fürsorge in barscher Weise um. Sie stieß in unsanft, fast rüde von sich und gab ihn mit ziemlich ordinären Worten zu verstehen, dass er nicht in ihr Leben passte. In solchen Fällen lief er schreiend davon, schlug um sich und rächte sich an allen Lebendigen, das seinen Kräften unterlag. Dazu gehörten die zahllosen Ratten, aber auch Katzen. Die wehrlosen Opfer quälte er vorher gnadenlos, bevor sie unter seinen genüsslichen Blicken jämmerlich verreckten. Danach trieb er sich tagelang herum. Bis auf Jenny in Oles Kneipe hatte kaum jemand Mitleid mit ihm, den zerlumpten Taugenichts. Beschimpft, bedroht, sogar mit den Exkrementen aus einem Nachtgeschirr besudelt, flüchtete er in eins seiner vielen Verstecke. Innerlich zerrissen bis zur Stumpfsinnigkeit kauerte er dann hungernd in dem Verlies und harrte auf einen Zeitpunkt, wo er glaubte, seiner Mutter nicht mehr lästig zu sein. Sein gegenwärtiges Gefühlsleben bäumte sich auf, wehrte sich verzweifelt gegen diese Erinnerungen. So sehr er sich auch mühte, eine blieb, zwängte sich mit konstanter Beharrlichkeit immer wieder in den Vordergrund. Sie verschaffte ihn damals, als er zum ersten Mal Zeuge wurde, eine gewisse Befriedigung. Seine Mutter musste einen grobschlächtigen Matrosen nach allen Regeln der käuflichen Liebe bedienen. Er, Fiedje, hockte draußen und vernahm das Schnaufen und Stöhnen, eine häufige Begleitmusik bei ihren Geschäften. Nur es hörte sich anders an als sonst, klang nach Schmerzen und Hilfe. Er war aufgesprungen, um ihr beizustehen. Was er erlebte, zerschlug abrupt alle Ängste. Der Kerl lag auf ihr, nackt, zwickte und biss sie, es floss bereits Blut.
„Was willst du?“, keuchte sie abweisend. „Kapierst du nicht, dass mir das Spaß macht?“
Dem Liebhaber bereitete es offensichtlich Vergnügen, sie beim Liebesakt zu quälen. Verwirrt starrend lief er weg, unfähig zu begreifen, dass seine Mutter an dieser Art von Dienstleistung Freude empfand. „Du Ausgeburt der Hölle, du Sohn eines elenden Versagers, was fällt dir ein, so einfach meine Arbeit zu stören?“ Unbekleidet, ohne Scham, stand sie plötzlich vor ihm, um ihn nach Strich und Faden zu ohrfeigen. „Du hast mich um meinen Verdienst gebracht!“, kreischte sie aufgebracht, um gleich wieder zu verschwinden. Drinnen tobte sie weiter, schrie den Kerl an, er möge endlich den ausgemachten Hurenlohn entrichten und verschwinden. Der lachte nur. „Schlechter Dienst, kein Geld!“, dann ging er nach draußen. Rasend vor Wut, folgte sie dem Betrüger, riss an seinen Kleidern, wollte ihn zurückzuhalten. Doch der versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, trat nach ihr und ließ sie hysterisch keifend zurück. Fiedje ahnte was kommen würde und suchte das Weite. Im Wegrennen hörte er nur, dass sie ihm den Betrug anlastete. Sein Gefühl von Mitleid erlebte eine herbe Enttäuschung. Doch nur kurz. Schadenfreude brach durch, erfüllte ihn plötzlich mit Zufriedenheit und Erleichterung, bevor er zum Fischmarkt lief. Jetzt, wo sich ihm diese Begebenheit aufdrängte, schnalzte er mit der Zunge genau wie damals. Er bekundete damit seine Art innerer Befriedigung, die ihm bestätigte, dass der Nimbus seiner scheinbar übermächtigen Mutter nicht unbezwingbar war. Die Schläge und Tritte des offensichtlich unzufriedenen Kunden hielt er deshalb für mehr als verdient, ja er nahm sie sogar stellvertretend für sich in Anspruch als Bestrafung ihrer unbegründeten Schuldzuweisung. Seit diesem Tag ließ sie keinen Zweifel mehr aufkommen, dass er, der eigene Sohn, nicht zu ihrem Leben passte. Die unverhüllte Ablehnung seiner Existenz wurde allen zuteil, die es mit ihr zu tun bekamen. Seinen Alltag bestimmten fortan Beschimpfungen und Schläge in aller Öffentlichkeit, dazu gehörte auch die Verweigerung von Nahrung und Kleidung. Sie erklärte ihn zum Aussatz, ein Stigma, das allzu gern von anderen Huren und den Freiern mitgetragen wurde. Damit begann schon frühzeitig das Sterben jeglicher innerer Regungen und Gefühle. Sein Kampf ums nackte Überleben erforderte Strategien, die keine Rücksichten duldeten. Noch hatte ihm seine Mutter den Zugang zum Kellerverschlag nicht gänzlich verwehrt. So konnte er hin und wieder die Gelegenheit nutzen, sich an den liegen gelassenen Klamotten ihrer Kunden zu bedienen. Die schlotterten an ihm herum, machten ihn zu einer lebenden Vogelscheuche, die oft genug Spott und Häme in seiner Umgebung auslösten. Aber das störte ihn schon nicht mehr. Seinen Hunger stillte er dagegen bei den Fischhändlern. Abfälle gab es reichlich, manchmal sogar Übriges von den Bänken. Mit seinen Konkurrenten, den Ratten und Hunden, ging er gnadenlos um, sofern sie ihm Essbares streitig machen wollten. Und gab es dort nichts zu holen, versorgte ihn häufig Jenny. Er bettelte sie nie an, sagte auch nie danke, wenn sie ihn mit Küchenresten aus der Kneipe verköstigte. Meist blieb er auf Abstand, achtete auf ausreichende Distanz zu dem Treiben im Umfeld des Lokals wie auch zu den Verstecken unter den Bänken am Fischmarkt. So sicherte er sich einerseits eine ständige Nahrungsquelle aber auch andererseits ungehinderte Fluchtmöglichkeiten, wenn Trunkenbolde in seiner Nähe Streitereien mit Messern ausfochten. Sie hätten ihn möglicherweise zum Opfer ihrer Aggressionen gewählt und stellten somit immer eine tödliche Bedrohung dar. Gefahren, nicht durch Menschen verursacht, gab es ohnehin genug. Sie kamen vom Meer, brachen über das Hafenviertel ohne Vorwarnung ein und zerstörten alles, was sich in den Weg stellte. Schutzlose zahlten dann meist mit ihrem Leben. Er, Fiedje, konnte bisher diesen Naturgewalten ausweichen. Wenn Unwetter Wasser aus dem Hafenbecken in die engen Gassen presste, und alles, was nicht niet- und nagelfest war, durch die Luft peitschte, dann ließ ihn seine Mutter in das Kellergelass. Nicht aus Sorge um ihn, nur zitternd vor Angst um das eigene Leben. Sie forderte dann, er möge sie beschützen, denn er wäre schließlich ein Mann. Seine Ängste ignorierte sie. Auch im Winter, wenn von den schneidend kalten Nordwinden die Hafenseite mit Eis und Schnee überzogen wurde und alles Lebendige unter sich begrub, gewährte sie ihm Zutritt in die frostige Behausung. Sie erwartete, dass er Wärme spendete, sofern die Freier ausblieben. Den Ofen feuerte sie nur an, wenn sich Kunden einfanden oder er gesammeltes Holz mitbrachte. Verebbten Stürme und Eiseskälte, schmiss sie ihn raus und ging wieder ihren Geschäften nach. Weitere Erinnerungen wollte sein Unterbewusstsein nicht mehr freigeben. Er spürte, dass sein zukünftiges Leben ohne Mutter eine Veränderung bedeutete, die noch im Nebel lag.
Um dem seelischen Dilemma zu entweichen, beschloss er, sich den schicksalsträchtigen Ort genauer anzusehen. Angekommen, stellte er nichts Außergewöhnliches fest. Kaum jemand warf einen Blick auf den Eingang zum Keller. Vorsichtig näherte er sich der Stelle, die so gerne sein zuhause gewesen wäre. Nichts rührte sich. Die Treppenstufen, noch blutverschmiert, wirkten plötzlich abstoßend und fremd. Ein amtliches Siegel verwehrte das Betreten des Verschlages, das bedeutete, dass es ohne polizeiliche Erlaubnis keinen Zutritt gab. Er kannte bereits solche behördlichen Sicherungsmaßnahmen. Sie gehörten zu seinem Alltag im Viertel als Folge von Mord und Todschlag, aber auch Raub und anderen kriminellen Delikten. Er selbst besaß ohnehin keine guten Karten bei den Schutzmännern, die ihn ständig etwas anhängen wollten. Bevor er sich mit einem der blau gekleideten Büttel einließ, verduftete er lieber. Es gab ohnedies nichts zu holen, was er hätte gebrauchen können. Später fiel ihm das Messer ein. Es stammte von einem Freier und hing am Türpfosten. Er beschloss, es demnächst zu stehlen. Einen Matrosen ohne Messer kannte er nicht und er hatte die Absicht, baldmöglichst auf einem Schiff anzuheuern. Der Blick auf seine Lumpen vermieste allerdings diese Hoffnung. Kein Kapitän würde ihn nehmen, so zerlumpt und verdreckt wie er aussah. Enttäuscht und teilnahmslos für alles, was um ihn herum passierte, trottete er zum Hafen. Dort gab es eine Stelle am Kai, wo er ungestört die Frachtensegler und auch die Fischerboote beobachten konnte. Am meisten interessierte ihn eine Viermastbark, die regelmäßig aufkreuzte, um große Mengen von Kisten, Ballen sowie Säcken anzulanden. Auf solch einem Schiff wäre er gerne gefahren. Doch heute konnte er es nicht entdecken. Im Brackwasser tummelten sich Enten. Sie tauchten nach Fressbaren. Oft kamen sie in Familie. Auch jetzt zog ein Muttertier mit ihren vier Gösseln vorüber. Diese Begegnung löste plötzlich eine unbekannte Regung aus. Die eigene Mutter gab es seit gestern nicht mehr. Sie, die einzige Verwandte in seinem Leben, und der er je nahe stand, hatte man ihm genommen. Er kam sich schlagartig verlassen vor. Einen Augenblick lang verspürte er Lust, hinab in das kühle Nass zu springen, sich der Gesellschaft der immer stummen Fische anzuschließen. Doch schon wenig später raffte er sich wieder auf. Fische versprachen auch Leben, wenn sie geschlachtet, auf dem nahen Markt feilgeboten wurden. Zudem kündigten der beginnende Herbst und das milde Wetter eine Zeit an, in der es sich lohnte weiterzuleben. Vielleicht tauchte dann der Segler mit der buntbemalten Galionsfigur auf. Sie wäre eine Meerjungfrau, die sich in das Schiff verliebt hätte und deshalb vorne am Bug über die Takelage wachte. Diese Geschichte hatte er mal gehört. Sie faszinierte ihn so sehr, dass er wünschte, nur mit dieser Bark hinauszufahren. Jetzt, wo ihn nichts mehr in Hamburg hielt, verstärkte sich seine Sehnsucht nach einer fernen, unbekannten Welt, von der er nur das wusste, was durch die Fenster von Oles Kneipe drang. Doch wer war er eigentlich? Fiedje, so nannte man ihn seit eh und je, wenn er nicht gerade beschimpft oder angebrüllt wurde. Andere besaßen noch einen zweiten Namen. Hansen, Petersen, Jason oder Ruppert hießen einige Kerle, die am Fischmarkt ihre Ware anboten oder ständig Jennys Reize begafften. Auch letztere verfügte über einen weiteren. Meist riefen die Suffköppe: „Mien leif Deern“ oder einfach „Jenny“, wenn sie Rum und Brandy bestellten. Sofern sie aber kein Geld mehr hatten und deshalb nichts bekamen, wurden sie frech und brüllten: „Friedrichsen, du stinkender Hiering, bring endlich nen‘ Lütten, kannst anschrieben!“ Nach solchen Beleidigungen ließ Ole das Pack meist rausschmeißen. Fiedje war häufig Zeuge dieser abendlichen Saufgelage. Jetzt fiel ihm das ein, wo er mit seinem unvollkommenen Namen haderte. Wenn man aufs Schiff wollte, brauchte man sicherlich noch eine weiteren, soviel erfasste sein begrenzter Verstand. Auch ein anderes Geheimnis machte sich auf, sein Alter. Er kannte es nicht. Gestern hörte er im Weglaufen, er sei dreizehn Jahre auf der Welt. Eine Hure wusste es wohl, als der Polizist danach fragte. Das wollte er sich wenigstens merken. Ansonsten lag es nicht in seiner Natur, sich mit überflüssigen Gedanken zu belasten.
Er musste sich um etwas Essbares kümmern, das trieb ihn zum Fischmarkt. Lag er sonst auf der Lauer, um einen verwertbaren Happen zu erwischen, so lastete heute eine unbekannte Bürde auf seinen Schultern. Unkonzentriert musste er die besten Stücke seinen Konkurrenten, den Ratten, überlassen. Als er zufällig einen der gefräßigen Nager am Schwanz erwischte, schleuderte er die quiekende Kreatur solange gegen einen Stein, bis sie jämmerlich verendete. Diesmal warf man ihm zum Dank einen geräucherten Hering zu, denn die Händler sahen in ihm das kleinere Übel unter dem schmarotzenden Ungeziefer.