Читать книгу Harrys geträumtes Leben - Hans H. Lösekann - Страница 5

Harry sucht seine Orientierung

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Es war schon merkwürdig. Harry versuchte, sich aufzurichten. Es ging nicht. Nur seine Augen huschten umher. Er sah eine ganze Batterie technischer Geräte, die blinkten, teilweise piepsten oder auch nur bedrohlich dastanden. Überall Kabel und Leitungen. Auch er selbst war verkabelt. „Um Gottes willen, wo bin ich nur? In einer anderen Welt? In einem Raumschiff? In der Zukunft?“ Er wusste, es musste Anfang April im Jahr 1961 sein, aber mehr wusste er nicht. Mit aller Kraft, verwirrt und verzweifelt versuchte Harry erneut, sich aufzurichten. Nichts rührte sich. Ein Gefühl von Panik ergriff ihn. Er schrie nach Hilfe. Er versuchte es jedenfalls, aber er hörte selbst nur ein ersticktes Krächzen, das Schmerzen bereitete. Offensichtlich hatte er einen Schlauch oder eine Leitung in Mund und Rachen und wohl auch etwas in der Nase. Er wollte es ertasten, aber seine Hände rührten sich nicht. Angst und Panik nahmen überhand. Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern, wie er in diese Hölle geraten war. In diese technische oder futuristische Hölle. Die traditionelle Hölle, aus den Erzählungen der Kindheit, aus den Märchen oder aus dem Religionsunterricht, konnte es nicht sein. Es gab kein Fegefeuer, keinen Teufel. Aber das war kein Trost. Doch er fand keine Erinnerung.

In seiner Panik schossen ihm die Gedanken an die echte, an die traditionelle Hölle durch den Kopf, die er ja bei dem Horroraufenthalt in der Gluthitze von Akaba erlebt hatte. An das grauenhafte Anstehen in der Warteschlange vor dem Oberteufel zur Urteilsverkündigung inmitten eines Hagels glühender Kohlebrocken und Schwefelgestank. Dort hatte er eine ähnliche Panik und Angst verspürt. Nachdem er zu 99 Jahren Fegefeuer verurteilt und von den entsetzlich stinkenden Hilfsteufeln fortgezerrt worden war, wachte er allerdings mit einem Schrei des Entsetzens auf. Es war nur ein Albtraum gewesen.

Aber jetzt war er doch wach. Oder träumte er das auch nur, sogar das Wachsein? Der Schweiß brach ihm aus. Ihm wurde übel, vor Angst, vor Verzweiflung, er würgte, er wollte sich die Leitungen oder Schläuche, oder was zum Teufel es war, aus dem Mund und aus dem Rachen reißen, aber er konnte sich nicht rühren. Unfassbare Angst riss ihn in einen panischen Strudel. Das gibt es doch nicht. Also wach auf! Aber er wachte nicht auf. Es war kein Traum, es war einfach nur grauenhaft. Da, ein neues Geräusch. Es klang, als wenn eine Tür vorsichtig geschlossen wurde, und ja, da waren leise Schritte. Aber er sah nichts, die Geräusche waren in seinem Rücken und er konnte sich nicht bewegen Dann schwebte ein Engel in sein Blickfeld. Der Engel sprach mit ihm.

„Na, wie schön, unser Patient ist wieder in der Gegenwart angekommen.“

Es war verwirrend, aber nicht mehr grauenhaft. Harry merkte allmählich, dass der Engel gar keiner war. Es war eine freundliche Krankenschwester in schneeweißer Tracht.

„Wo bin ich? Was ist passiert?“, wollte er sagen, aber es kam nur ein würgendes Krächzen.

„Bitte nicht sprechen, bleiben Sie ganz ruhig“, sagte der Engel, der keiner war. „Ich werde Sie erst einmal losbinden, denn jetzt besteht wohl kein Gefahr mehr, dass Sie sich selbst und andere verletzen.“

Mit ungeheurer Erleichterung bemerkte Harry, dass er sich bewegen konnte. Er konnte den rechten Arm heben, allerdings recht mühsam und auch etwas schmerzhaft. Eine Kanüle steckte in seinem Arm. Die Kanüle war mit einem Tropf verbunden, der schräg hinter ihm stand. Ah, welche Wohltat, jetzt konnte er auch den linken Arm heben. Das ging leichter, keine Kanüle, kein Tropf. Er konnte sich mit dem linken Arm abstützen und den Oberkörper etwas heben. Endlich konnte er an sich selbst heruntersehen. Er trug ein weißes Krankenhaushemd. Der Brustkorb war mit mehreren Saugnäpfen versehen, von denen Kabel zu einer der beängstigenden Maschinen führten. Der Engel, der keiner war, machte sich gerade an seinen Fußgelenken zu schaffen. Gebannt sah Harry zu, wie die breiten Lederriemen, mit denen er festgeschnallt war, gelöst wurden. Fantastisch, auch die Beine konnte er wieder bewegen. Gurgelnd zeigte er auf die Schläuche, die Mund, Rachen, Speiseröhre, Luftröhre und wer weiß, was noch alles, ausfüllten.

„Da müssen Sie noch etwas warten. Der Arzt wird gleich zu Ihnen kommen, und Sie sicher davon befreien. Erst einmal heiße ich Sie recht herzlich willkommen unter den Lebenden. Das war in den letzten Tagen nicht so ganz sicher. Aber der Doktor wird Ihnen alles erklären. Ich bin Schwester Lore und Sie sind hier auf der Intensivstation des Großen Krankenhauses.“ Schwester Lore, eine sympathische, freundliche Frau, lächelte ihn beruhigend an, dann strich sie ihm sanft die Haare von der Stirn. „Ich sage jetzt dem Doktor Bescheid, er wird gleich bei Ihnen sein.“

Harry war wieder alleine. Nicht mehr bewegungsunfähig, nicht mehr festgeschnallt, aber immer noch unfähig, sich zu artikulieren. Immer noch angeschlossen an verschiedene Geräte und immer noch ohne Erinnerung. „Wie bin ich bloß hierhergekommen, was ist passiert?“ Da war gar nichts, kein Anhaltspunkt, keine Erinnerung. Wie ein großer dunkler Schatten drückte die Amnesie, oder was es war, auf ihn, drohte, ihn trotz der wiedergewonnenen kleinen Bewegungsfreiheit zu erdrücken. Das war so eine Situation, die ihm Angst machte. Er hatte schon einige ihm Angst machende Situationen in seinem jungen Leben erfahren, aber diese erschien ihm als die absolut bedrohlichste und erdrückendste. Ungewissheit und Hilflosigkeit auszuhalten, das war Harry nicht gegeben, damit konnte er nicht umgehen. Schwester Lore hatte von einigen Tagen gesprochen, in denen es unsicher war, ob er zu den Lebenden zurückkehren würde. Was konnte das bedeuten, was konnte denn bloß mit ihm geschehen sein und warum wusste er so absolut gar nichts? Die dunkle Wand der Ungewissheit und Hilflosigkeit wuchs von Minute zu Minute und wurde immer bedrohlicher. Sie erzeugte Ungeduld und langsam auch Wut. „Verdammt noch mal, wo bleibt denn der Arzt?“, wollte er schreien, aber es kamen wieder nur ein gurgelndes Krächzen und ein stechender Schmerz in seiner Kehle. Also dachte er es nur, immer wieder und immer verbissener. Lore war doch bestimmt schon eine halbe Stunde weg. Hatte man ihn vergessen oder abgeschrieben oder was sollte das? Er wusste, dass das Leben jetzt beginnen sollte, oder besser: ein neuer vielversprechender Lebensabschnitt.

Er hatte seine kaufmännische Lehre abgeschlossen und die Prüfungen mit Bravour bestanden. Die drei Jahre Lehrzeit hatten ihm viel gegeben. Er hatte viel und auch leicht gelernt und meistens hatte es Spaß gemacht. Jetzt konnte es ans Geldverdienen gehen. Er war sich allerdings nicht so recht klar darüber, ob er sein ganzes künftiges Leben mit kaufmännischen Arbeiten im Büro verbringen wollte. Dazu hatte er in einem früheren Lebensabschnitt schon zu viel Aufregendes erlebt. Ja, das wollte er sich noch überlegen. Das wusste er noch und auch, dass er mit seinen Mitstreitern von der Berufsschule die bestandene Prüfung feiern wollte. Ja, und dann war Schluss. Das Nächste war der Horror seines Erwachens in dieser seelenlosen Hölle mit bedrohlichen technischen Gräten, piepsenden Apparaten, Leitungen, Schläuchen, festgeschnallt und völlig bewegungsunfähig. Dazwischen war nichts, sein Kopf gab nichts frei.

Erst jetzt fiel ihm in dem Gewirr von Leitungen und Schläuchen eine Schnur auf, die etwas links von seinem Kopf hing, eine Schnur mit einem roten Knopf am Ende. Mit seinem freien linken Arm konnte er die Schnur erreichen. Ungeduldig drückte er den roten Knopf. Ausgiebig und dreimal hintereinander. Endlich, er hörte, wie die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde, und er hörte Schritte. Schwester Lore kam wieder ins Blickfeld. Unwirsch wies Harry auf die Schläuche in seinem Mund. Lore lächelte besänftigend und streichelte Harry leicht an der Schulter.

„Seien Sie nicht so ungeduldig, junger Mann. Der Doktor war noch im OP. Aber er ist jetzt fertig und wird gleich bei Ihnen sein. Bitte haben Sie noch ein paar Minuten Geduld.“ Sie lächelte wieder, warf noch einen Blick auf die Apparaturen und ging wieder.

Resigniert schloss Harry die Augen. Er fühlte sich ungeheuer müde und schlapp, obgleich er doch nur lag und offensichtlich seit Tagen auch nur gelegen hatte. Gleichzeitig fühlte er trotz aller Mattigkeit eine grenzenlose Unruhe. Er war aufgedreht, hochgefahren vor Ungeduld und Ungewissheit. Was war mit ihm los, was war nur geschehen? Da, endlich wieder ein Geräusch, das nicht von den verdammten Apparaturen kam. Die Tür hinter ihm öffnete sich erneut. Wieder Schwester Lore, nein, die Schritte waren anders. Endlich, der Doktor. Ein hoch aufgeschossener Mann in einem weißen Kittel kam in sein Blickfeld. Der große Mann in den mittleren Jahren hatte ein ernstes, etwas müde wirkendes Gesicht. Er beugte sich über Harry und zeigte ein etwas bemühtes Lächeln.

„Guten Tag, junger Mann. Ich bin Doktor Kreft. Es freut mich, dass Sie wieder da sind. Die Aufzeichnungen der Kontrollgeräte zeigen, dass Ihre Körperfunktionen wieder normal und selbstständig arbeiten. Schwester Lore berichtete mir, dass auch Ihre geistigen Aktivitäten wieder da und Sie schon ungeduldig seien. Das ist ein gutes Zeichen. Ich werde Sie jetzt erst einmal von dem Beatmungsschlauch und der Magensonde befreien und Ihnen dann alles erklären.“

Die Entfernung der Schläuche war eine schmerzhafte und eklige Prozedur. Harry würgte entsetzlich, musste husten, konnte aber nicht, glaubte zu ersticken, aber irgendwann, wie ihm schien, nach unendlich langer Quälerei, war er befreit.

„Danke, Herr Doktor. Was ist mit mir geschehen?“, wollte Harry sagen, es kam aber nur ein schwer verständliches Krächzen. Er machte wohl ein entsetztes Gesicht.

Lächelnd meinte der Doktor: „Keine Angst, Ihre Stimmbänder sind von den Schläuchen noch gereizt. Ihre Stimme wird in einigen Tagen wieder normal sein.“ Dann wurde er ernst. „Aber nun zu dem Grund, warum Sie hier sind. Sie hatten einen sehr ernsten Krampfanfall. Sie haben wohl mit Ihren Freunden bei‚ Remmer‘ sehr viel Alkohol getrunken. Das hat bei Ihnen den Krampfanfall ausgelöst, das heißt, Sie sind umgefallen und Ihr Körper hat sich verkrampft. Sie haben in Ihrer Bewusstlosigkeit um sich geschlagen, waren nicht ansprechbar und waren eine Gefahr für andere und vor allem für sich selbst. Ihre Freunde haben den Notarzt gerufen und Sie sind mit dem Rettungswagen hierhergekommen. Trotz entkrampfender Spritzen haben Sie weiter epileptisch um sich geschlagen und wir mussten Sie fixieren und weiter sedieren. Ihre Körperfunktionen sind kollabiert, die Atmung hat ausgesetzt. Wir mussten Sie künstlich beatmen, Ihre Herztätigkeit kontrollieren und mit Infusionen steuern. Seit drei Tagen versuchen wir, Sie aus dem Koma, aus Ihrer Bewusstlosigkeit herauszuholen. Gott sei Dank, jetzt sind Sie wieder da. Vorsichtshalber werden Sie noch bis morgen hier auf der Intensivstation bleiben, damit wir Atmung und Herztätigkeit weiter kontrollieren können.“ Er zeigte auf die verschiedenen Kabel, die mit Saugnäpfen an Harrys Oberkörper angebracht waren. „Deshalb bleiben Ihnen diese Anschlüsse noch erhalten. Wenn es keine Komplikationen gibt, kommen Sie morgen auf die normale Station und dann unterhalten wir uns weiter.“ Damit ließ er Harry alleine.

Der fühlte sich ungeheuer erleichtert. Er war kein Anhängsel mehr von Apparaturen. Gut, da waren noch die Kontrollkabel, aber die überwachten eben nur. Die Funktionen konnte und durfte sein Körper wieder selbst ausführen. Aber parallel zu der Erleichterung war da auch so ein Gefühl der Ungläubigkeit, ja, fast der Verzweiflung. Warum hatte er diesen lebensbedrohenden Anfall erlitten und warum konnte er sich an gar nichts erinnern? Er wusste noch, wie sie mit ihren Prüfungszertifikaten die Handelskammer verließen, sich auf dem Rathausplatz versammelten und beratschlagten, wie sie ihren Erfolg gemeinsam feiern wollten. Das sah er noch genau vor sich. Aber dann war nichts mehr, so als wenn ein Film plötzlich gerissen war. Er wusste nicht einmal mehr von dem Entschluss, ins „Remmer“ zu gehen, nichts von dem Aufenthalt dort und schon gar nichts von großen Mengen Alkohol, wie Doktor Kreft sie angesprochen hatte. Das war unerklärlich, mehr noch, das war beängstigend. Das musste der Arzt ihm morgen erklären. Harry war konfus, fühlte sich alleine, einsam und hilflos.

Er hörte die Tür aufgehen. Jetzt konnte er sich umdrehen. Schwester Lore kam. Wie schön, zwar verwechselte er sie nicht mehr mit einem Engel, aber er war genauso froh, als wenn ein Engel erschienen wäre.

„So, nun wollen wir doch mal sehen, ob Sie wieder etwas essen können“, sagte sie strahlend und brachte ein Tablett mit einer kleinen Schüssel Milchsuppe.

„Schwester Lore, bitte sagen Sie mir, wie mir dieser Anfall passieren konnte und warum ich keine Erinnerung habe.“ Es war mehr ein leises Raspeln als ein Sprechen, aber mehr gaben die Stimmbänder noch nicht her.

Lore lächelte wieder sanft. „Jetzt essen Sie erst einmal Ihre Milchsuppe. Erklären kann ich es Ihnen nicht. Ich kenne Ihre Krankengeschichte nicht. Entspannen Sie sich, seien Sie ganz ruhig und erholen Sie sich. Wenn Sie morgen auf der Normalstation sind, wird der Arzt alles mit Ihnen besprechen. Können Sie schlucken?“

Harry versuchte es. Die Milchsuppe schmeckte herrlich und es schmerzte kaum beim Schlucken. Erst jetzt bemerkte er, dass er einen Riesenhunger hatte. Mit einem „Na wunderbar, bis später“ verließ Lore den Raum. Die Schüssel war bald leer. Harry fühlte sich gut, satt und fast zufrieden. Seine Gedanken kreisten noch ein wenig. Was war bloß los? Wie konnte so etwas passieren? Aber nach wenigen Minuten schlief er ein.

Irgendwann schreckte Harry hoch. Er war verwirrt. Die Umgebung hatte er schnell als die Intensivstation eingeordnet. An der großen Wanduhr sah er, dass es fünf Uhr morgens war. Er hatte zehn Stunden geschlafen. Aber es fühlte sich an, als hätte er gar nicht richtig geschlafen. Ich habe doch nur geträumt. Wirre Träume, was war das denn alles? Aber erst einmal konnte er nicht darüber nachdenken, er musste nach der Nachtschwester klingeln, er konnte ja noch nicht alleine zur Toilette wegen seiner Verkabelung.

Hinterher lag er ermattet da und versuchte, sich zu erinnern. Aber er bekam nichts mehr zusammen, bis auf eine Szene, einen Traum. Den aber sah er überdeutlich vor seinem geistigen Auge, so deutlich wie eine ganz besondere Filmszene, die man schon mehrere Male gesehen hat. Er, Harry, stand vor dem lieben Gott. Er stand da ganz klein und demütig und der liebe Gott saß auf einem großen Thron, umgeben von einem hellen, gleißenden, sicherlich heiligen Schein. So, als wenn hinter seinem Thron eine unsichtbare Batterie von extra starken Scheinwerfern in den Himmel gerichtet war. Der liebe Gott sah aus, wie Harry ihn sich als fünfjähriger Junge vorgestellt hatte. Ein großer, gütiger, alter Herr mit weißem Bart in einer kostbaren weißen Robe. Der liebe Gott sprach mit lauter, wohl tönender, tiefer Stimme: „Harry, du hast jetzt eine ernste, eine sehr ernste Warnung erhalten. Nimm sie dir zu Herzen und handle danach oder du musst schrecklich büßen. Geh in dich. Vergeude dein Leben nicht, sondern nimm es dir.“

Das war die einzige Traumerinnerung, aber die war so deutlich, als hätte er sie real erlebt. Harry grübelte. Eine Warnung. Ja sicher, seinen Krampfanfall und die dreitägige Bewusstlosigkeit konnte er durchaus als Warnung sehen. Aber wovor und warum? Harrys Gedanken kreisten lange, bevor er wieder einschlief.

Am Vormittag kam Schwester Lore mit einem Arzt, den Harry noch nicht kannte. Der prüfte die Unterlagen, untersuchte Harry ziemlich flüchtig, stellte einige Fragen und entschied dann: „Ja, Sie können auf die Normalstation verlegt werden. Es ist die Station von Doktor Kreft, den Sie ja schon kennengelernt haben. Der wird mit Ihnen sprechen und über Weiteres entscheiden.“

Harry lag noch keine Stunde in seinem Bett auf der neuen Station, als Doktor Kreft zur Visite erschien. Zunächst fragte er Harry nach seinen Erinnerungen am Tag seines Zusammenbruchs. Der erzählte ausführlich von der Übergabe der Prüfungszertifikate in der Handelskammer, dem anschließenden Beieinanderstehen auf dem Marktplatz und den Überlegungen darüber, wie gefeiert werden sollte. „Und das ist das Letzte, was ich weiß. Das Nächste ist das Horrorerwachen auf der Intensivstation, völlig bewegungsunfähig und orientierungslos.“

Doktor Kreft sah ihn ernst an, blätterte dann in der Krankenakte, studierte sorgfältig einige Analysebogen und sprach dann sehr eindringlich: „Ja, das passt. Wir haben während Ihrer Bewusstlosigkeit eine Vielzahl von Tests gemacht. Wir haben ein EKG und ein EEG gemacht, Ihre Leber- und Nierenfunktionen ausgewertet und vor allen Dingen alle nur erdenklichen Werte in Ihrem Blut analysiert. Die Tatsache, dass Sie einen hohen Alkoholwert im Blut hatten, Sie aber nach dem Aufwachen nichts von einem Trinkgelage wussten, hat uns in eine bestimmte Richtung sehr sorgfältig prüfen lassen. Der Verdacht hat sich bestätigt. Ihr Körper hat eine absolute Unverträglichkeit gegenüber Alkohol. Deshalb setzt Ihre Amnesie auch bereits bei der Diskussion über eine Feier ein, die viel Alkoholkonsum beinhaltet. Es ist praktisch eine versuchte Schutzreaktion Ihres Gehirns. Das Trinken selbst fand für Sie dann unter Ausschaltung des Gehirns, sozusagen im Unterbewusstsein statt. Aufgrund der Unverträglichkeit sind Ihre Körperfunktionen nach einiger Zeit zusammengebrochen. Sie erlitten den Krampfanfall, dann das epileptische Um-sich-Schlagen und gerieten in einen lebensbedrohenden Zustand. Wenn Sie leben wollen, dürfen Sie keinen Alkohol mehr trinken.“

Harry war völlig perplex. Er blickte den Doktor wortlos an und muss dabei einen recht einfältigen Eindruck gemacht haben. Der befragte ihn nach seinen Erfahrungen mit Alkohol, bei welchen Gelegenheiten er welche Mengen getrunken habe. Wiederholt stellte er die Frage, ob er denn nichts von dieser Unverträglich gewusst oder sie durch negative Körperreaktionen bisher noch nicht bemerkt habe. Harry berichtete wahrheitsgemäß, dass er bisher eher selten und wenig getrunken und von einer Unverträglichkeit nichts gemerkt habe. „Und gewusst habe ich das natürlich auch nicht.“

Dann fiel ihm etwas ein. Er machte einen geradezu fassungslosen Eindruck, als er murmelte: „Außer … vielleicht.“ Als Doktor Kreft fragte, was ihm eingefallen sei, murmelte Harry: „Aber … das war doch nur ein Traum.“ Schließlich erzählte Harry, immer noch ungläubig und wie in Trance: „Es ist jetzt fünf Jahre her. Auf meiner ersten Seereise sind wir in einen schrecklichen Orkan geraten. Es war der gleiche Orkan, in dem das Segelschulschiff Pamir in Seenot geraten und untergegangen ist. Fast hundert junge Seeleute verloren damals ihr Leben. Als der erste SOS-Notruf der Pamir aufgefangen wurde, stand ich gerade am Ruder. Ich habe das ganze grauenhafte Unglück live miterlebt. Ich kämpfte als Rudergänger mit dem Orkan, mit den Wogenbergen hoch wie Häuser mit drei oder vier Stockwerken, als der Funker dem Kapitän, der bei diesem Unwetter natürlich auch auf der Brücke war, die erste SOS-Meldung brachte. Dann kamen weitere, bis zur letzten Meldung: ‚Schiff sinkt, Gott sei uns gnädig.‘ Ich war sechzehn Jahre alt und es war meine erste große Seereise. Ich habe das Grauen unmittelbar und im gleichen Orkan miterlebt. Und ich habe unsere Machtlosigkeit miterlebt, weil wir viele Stunden von der Unglücksstelle entfernt waren. All das hat sich in mir festgekrallt, aber ich wollte trotzdem Seemann bleiben. Als meine Ruderwache zu Ende war, habe ich mich noch lange Zeit an Deck im Niedergang festgelascht und die unbeschreibliche Urgewalt des Ozeans, der Biskaya, in diesem Orkan beobachtet, ja sogar genossen. Später hatte ich dann diesen Traum. Der war so intensiv, dass ich mich tagelang immer wieder aufs Neue davon überzeugen musste, dass es wirklich nur ein Traum war. In diesem Traum erlebte ich mich in diesem Orkan an Deck in diesem Niedergang. Irgendwann brach eine Riesenwelle, so hoch, dass man den Gipfel nicht sehen konnte, über dem Schiff zusammen, drückte es unter Wasser und wirbelte es durch die Urgewalten. Dabei bin ich über Bord geschleudert worden und ertrunken. Aber nachdem ich ertrunken und tot war, sah ich mich etwas später auf einer völlig unwirklichen, surrealistischen Rettungsinsel, ausgepolstert mit Wattewölkchen. Vor mir stand ein riesengroßer Arzt in einem langen schwarzen Umhang und mit einem langen spitzen Hut auf dem Kopf. Er sah aus wie Mephisto. Er hatte ein Stethoskop um den Hals und eine riesige Spritze in der Hand und sprach zu mir: ‚Harry, fürchte dich nicht, du bist gerettet. Aber du warst schon ertrunken und ich musste dich mit einer hochkonzentrierten Alkoholinjektion ins Leben zurückholen. Du kannst ganz normal leben, aber du darfst in deinem Leben nie wieder einen Schluck Alkohol trinken, weil du durch diese Injektion eine lebenslange Alkoholunverträglichkeit haben wirst.‘ Ja, das war der Traum. Lange Zeit hat er mich beschäftigt, aber nach und nach verblassten die Bilder und ich dachte nicht mehr daran. Jetzt, fünf Jahre später, teilen Sie mir in dieser sehr realen Welt das Gleiche mit wie dieser Mephisto in einem schwarzen Umhang im Traum. Das ist unfassbar.“

Doktor Kreft staunte über Harrys Traumbericht. Etwas verunsichert murmelte er: „Ja, es gibt zwischen Himmel und Erde Dinge, die wir Menschen einfach nicht erklären können.“ Dann fuhr er mit fester Stimme fort: „Aber unsere Diagnose über Ihre Alkoholunverträglichkeit ist sehr real.“

Harry versuchte, sich zu sammeln, versuchte, wieder richtig zu sich zu kommen, fit zu werden. Körperlich war er schwach wie nach monatelanger Krankheit. Wenn er den Klinikflur auf- und abgeschritten war, musste er sich ausruhen. Das kannte er nicht. Der Doktor beruhigte ihn, das sei ganz normal nach dieser tagelangen tiefen Bewusstlosigkeit.

„In zwei bis drei Wochen haben Sie Ihre jugendliche Kraft wieder.“

Die Ereignisse selbst, den Anfall, die Amnesie, die Bewusstlosigkeit mit den drei Tagen an der Schwelle des Todes und die unerklärlichen Parallelen der Diagnose mit einem fünf Jahre alten Traum konnte er nicht so einfach verarbeiten. Unablässig kreisten seine Gedanken und suchten nach Erklärungen. Die Diagnose an sich belastete ihn nicht. Alkohol bedeutete ihm nicht viel. Er hatte in der Vergangenheit selten etwas getrunken und nie sehr viel. Drauf konnte er also leicht verzichten.

Er lebte in diesen Tagen wie auf zwei Ebenen. Auf der stärker ausgeprägten Ebene drehte sich sein Gedankenkarussell auf der Suche nach einer Erklärung, aber ohne Ergebnis, auf der anderen, der Alltagsebene, handelte er rational. Er beruhigte seine Eltern, die glücklich waren, ihn wieder gesund zu sehen, und die verzweifelt von ihren Besuchen während seiner Bewusstlosigkeit erzählten. Er rief in seiner Firma an, teilte mit, dass er das Krankenhaus in einigen Tagen verlassen könne, dann aber noch etwa drei Wochen krankgeschrieben sei. Der Chef hatte ihm angeboten, nach Abschluss der Lehrzeit als Angestellter in der Firma zu bleiben. Harry bat darum, seine Entscheidung bis zum Ende der Krankheit aufschieben zu dürfen.

Nach den vielen Highlights in den zwei Jahren seiner Seefahrtzeit waren die letzten drei Jahre der kaufmännischen Lehre gleichmäßig, ruhig, ja fast eintönig gewesen. Sicher, die kaufmännische Arbeit machte ihm Spaß und sie lag ihm auch. Aber wollte er sein Leben im Büro verbringen? Ein Leben in so festgelegten Bahnen kann sicher ganz beruhigend sein, aber stellte er sich sein Leben so vor? Diese Überlegungen hatte er in den letzten Jahren nicht gehabt. Sein Krampfanfall, seine Tage der Gratwanderung zwischen Leben und Tod und die nachfolgenden Tage der Ruhe, der Zwang zum Innehalten, brachten diese Gedanken. Jetzt wurde ihm auch bewusst, dass er mit seinen 21 Jahren keine Freundin hatte. Sicher, bei den vielen Tanzveranstaltungen am Wochenende hatte er Mädchen kennengelernt, sich verabredet, wohl auch ein paar Mal getroffen. Aber es war nie etwas Festes daraus geworden. Nach einigen Verabredungen verlor er immer das Interesse. Harry war einfach nicht offen für intensive Flirts, für eine Liebe, für eine Partnerschaft. Immer verglich er die Mädchen mit Nina, seiner ersten großen Liebe, mit der er vor fast fünf Jahren in Spanien für einen Monat im siebenten Himmel der Liebe gelebt hatte. Wenn er sich jetzt mit einem Mädel verabredete, wenn es zu Zärtlichkeiten kam, erschien nach einiger Zeit Ninas Bild vor seinem geistigen Auge. Er sah ihre strahlenden Augen, ihr langes schwarzes Haar, ihr bezauberndes Lächeln und er hörte sie „’arry, querido, te quiero“ sagen und das alles so klar und beherrschend, als wenn er sich erst gestern von ihr verabschiedet hätte.

Ohne es zu wollen, drängten sich ihm jetzt, in der Zeit des erzwungenen Innehaltens, auch Vergleiche auf. Ein Leben als kaufmännischer Angestellter ist nicht schlecht. Morgens um acht Uhr im Büro, abends um achtzehn Uhr zu Hause. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Kein Haiangeln in der Hitzehölle im Golf von Akaba, kein Manövrieren eines großen Schiffes als Rudergänger durch den Suezkanal, die Themse, die Elbe, die Weser, den Guadalquivir, durch sturmgepeitschte See, kein Erfahren, Erfühlen, Erlernen der Mentalität fremder Länder und Menschen, keine Abenteuer in den Souks von Casablanca, Tripolis, Algier oder Aden. Ja, so ein Leben als Seemann war abenteuerlicher, intensiver. Doch auch wenn sich die Vergleiche jetzt ungerufen aufdrängten, auch wenn er fühlte, dass er eindeutig zu Abenteuern, zu dem immer wieder Neuen, zu den nicht eingefahrenen Bahnen tendierte, war die Seefahrt keine Alternative. Harry bekam keine Gesundheitskarte mehr. Bei der Gesundheitsüberprüfung, die alle zwei Jahre vorgeschrieben war, war auf einem Auge Kurzsichtigkeit festgestellt worden. Das war das endgültige Aus für seine Laufbahn als Seemann, als Nautiker.

Auch als er das Krankenhaus verlassen konnte und wieder zu Hause war, kreisten seine Gedanken weiter. Drei Wochen war er noch krankgeschrieben, weitere drei Wochen Resturlaub hatte er noch. Dieses Infragestellen war neu für ihn, aber er hatte ja keinen Zeitdruck.

Während er seine Kräfte mit Spaziergängen, Fahrradfahren oder Schwimmen wieder aufbaute, kamen auch Gedanken an ehemalige Schulkameraden, die mit ihren Eltern in ferne Länder ausgewandert waren. Nach Kanada zum Beispiel oder sein bester Freund aus der Grundschule sogar nach Australien. Er dachte auch an Nina, die von Spanien aus zu ihrer Tante nach Argentinien gezogen war, um in Buenos Aires Medizin zu studieren. Wie sie in ihrem letzten Brief schrieb, würde sie in zwei Jahren promovieren. Und was ist mit mir, soll ich hier versauern?, übertrieb er in Gedanken. Zaghaft versuchte er, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, dass er lieber erst etwas anderes machen wollte, irgendwo auf der weiten Welt, als gleich weiter ins Büro zu gehen. „Meinen Abschluss habe ich. Damit kann ich auch in einigen Jahren jederzeit als kaufmännischer Angestellter anfangen zu arbeiten“, argumentierte er. Natürlich waren seine Eltern ablehnend, aber sie ließen ihm die Entscheidung.

Immer wieder huschte die Erinnerung an seinen Traum auf der Intensivstation durch seine Gedanken. In diesem Traum hatte der liebe Gott ihn gewarnt. Das konnte sich nur auf die Alkoholunverträglichkeit beziehen. Na gut, danach würde er leben. Aber er hatte auch mit erhobenem Zeigefinger gesagt: „Harry, vergeude dein Leben nicht. Nimm es dir.“ Ja, nimm es dir, und das konnte doch nur bedeuten, die ungeheure Fülle von Möglichkeiten, die das Leben einem jungen Mann bot, auch zu nutzen und nicht einfach in der bequemsten Spur zu verharren.

Noch etwas lastete wie ein dunkler Schatten auf ihm. Vor einem halben Jahr war er zur Musterung zitiert worden. Das Ergebnis war: „Voll wehrdiensttauglich.“ Der Sachbearbeiter hatte notiert, dass Harry im letzten Lehrjahr war, und ihm gesagt, dass er nach Ende der Ausbildung kurzfristig mit der Einberufung rechnen müsse. Nun hatte Harry zwar eine pazifistische Einstellung, aber eine sehr moderate. Grundsätzlich hatte er nichts gegen die Vorstellung, Soldat zu werden. Das löste auch erst einmal abenteuerliche Vorstellungen in ihm aus. Aber er hatte noch sehr genau den Bericht seines Schwagers über seinen vor einem Jahr beendeten Wehrdienst im Ohr. Der berichtete von achtzehn Monaten gähnender Langeweile und Gammelei, und zwar bei einem Sold, der kaum für die Zigaretten reichte. Das wollte Harry vermeiden. Für ihn war genau das ein Beispiel dafür, das Leben zu vergeuden.

Aber um dem zu entgehen, müsste er Deutschland bald für längere Zeit verlassen. Er dachte an Señor Jerez. Bei ihm und seiner Frau hatte Harry in Gandia gewohnt, als er nach dem Unfall bei einem Rettungsmanöver auf seinem Schiff für eine Reise aussetzen musste. Was waren das für interessante Gespräche, wenn Señor aus seinem Leben erzählte. Was hatte er nicht alles erlebt. So in etwa stellte Harry sich den Fingerzeig des lieben Gottes aus seinem Traum – „Vergeude dein Leben nicht, nimm es dir“ – vor.

Zehn Jahre seines Lebens hatte Señor Jerez in der französischen Fremdenlegion gedient. Er war einer der sehr wenigen Ausländer in der Legion, die einen hohen Offiziersrang erreicht haben. Zum Glück war er vor den vernichtenden Niederlagen der Legion in Vietnam ausgeschieden. In seiner Heimat Spanien hatte er anschließend eine ganz andere Karriere gemacht. Er war ein angesehener Richter geworden. Aus welcher Phase seines Lebens er auch erzählte, es war immer spannend und aufregend.

Als Harry mal wieder in diesen Erinnerungen gebadet hatte, fasste er den Entschluss, bei ihm in Gandia anzurufen und ihm seine Empfindungen zu schildern. Vielleicht konnte der ihm die richtigen Impulse geben. Es war damals noch umständlich, eine Telefonverbindung nach Spanien zu bekommen, aber schließlich hatte er den Señor am Hörer. Der hörte sich Harrys recht zusammenhanglose Berichte über „Seefahrt zu Ende, kaufmännische Lehre abgeschlossen, Krankenhaus, drei Tage Koma, Bundeswehr“ geduldig an. Schließlich meinte er: „Weißt du was, Harry, das kann man am Telefon nicht besprechen. Du sagst, du bist noch krankgeschrieben und hast anschließend Urlaub, also viel Zeit. Komm doch einfach ein paar Tage zu uns. Wir würden uns über ein Wiedersehen freuen. Es kommen doch jetzt so viele Touristenbusse und auch Flugzeuge von Deutschland, da wird es doch günstige Reisemöglichkeiten geben. Dann besprechen wir alles in Ruhe.“

Harry war begeistert und begann sofort, preiswerte Reisemöglichkeiten zu suchen. Ein Bremer Busunternehmer bot regelmäßig günstige Bus-Pauschalreisen nach Benicasim inklusive einer Woche Hotelaufenthalt an. Harry erfuhr, dass der nächste Bus nur schwach besetzt war. Nach einigem Verhandeln vereinbarte er für die Busfahrt, ohne Hotel, für die Hin- und Rückfahrt einen Preis von 120 D-Mark.

Wenige Tage später stand Harry mit seiner Reisetasche auf dem Bahnhofsvorplatz von Gandia. Es war früher Abend und die Sonne schickte sich an, hinter den Bergen zu versinken. Noch zwinkerte, blitzte sie ihm zwischen den großen Palmenwedeln zu. Genussvoll atmete er tief durch. Er liebte das mediterrane Flair, liebte diesen Duft von heißen Kastanien und gebrannten Mandeln. Ein Schwarm Tauben flog gurrend über ihn hinweg, ihre Flügel machten ein Geräusch wie ein flatterndes Tuch, und Harry sah ihnen nach, ihren schillernden Hälsen, bis sie das imposante Bürgerkriegsdenkmal umflogen und außer Sicht gerieten. Er hatte eine lange Reise hinter sich, aber er fühlte sich ganz leicht und entspannt, als er gemächlich zu dem Haus der Familie Jerez schlenderte. Das Willkommen war so herzlich wie für einen verlorenen Sohn mit Umarmung, Wangenküssen und immer wieder Schulterklopfen. Er fühlte sich wie zu Hause. War es wirklich fünf Jahre her, seit er zuletzt hier war? Stolz wurde er in „sein altes Zimmer“ geführt. Als er sich frisch gemacht hatte, war schon der Tisch gedeckt. Es wurde gegessen, geredet, getrunken. Harry merkte, wie sein eingerostetes Spanisch immer besser und fließender wurde. Als er bei dem obligatorischen „Vino tinto“ dankend ablehnte und „solo agua, por favor“ – nur Wasser, bitte – erbat, zog Señor Jerez erstaunt die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Sie plauderten leicht und locker, als wenn sie alle paar Tage zusammensitzen würden. Harry erzählte in groben Zügen von dem Erzwungenen aus seiner nautischen Karriere, von seiner abgeschlossenen kaufmännischen Ausbildung und, ohne auf Einzelheiten einzugehen, auch von seinem Krankenhausaufenthalt mit den drei Tagen Bewusstlosigkeit.

„Das und einige Fingerzeige haben mich nachdenklich gemacht. Ich möchte mehr vom Leben haben, mir mehr erarbeiten oder auch ertrotzen als einen für Jahrzehnte festgelegten immer gleichen Tagesablauf.“

Der Hausherr meinte engagiert: „Darüber reden wir morgen ganz ausführlich. Ich habe mir nach unserem Telefongespräch so einige Gedanken gemacht.“

Sie redeten über die Veränderungen in Spanien in den vergangenen fünf Jahren, über den einsetzenden Tourismusboom, darüber, dass es den meisten Menschen deutlich besser gehe und dass auch die Franco-Regierung sich immer mehr dem restlichen Europa annähere, was neben der wirtschaftlichen Besserung auch mehr Freiheit bedeute. Es wurde ein entspannter Abend mit harmonischer Plauderei, liebevollen kleinen Geschichten aus der Umgebung, Erinnerungen und Bildern vom Tagesgeschehen.

Am nächsten Vormittag verabschiedete sich die Señora, weil sie eine Freundin besuchen wollte, und Harry und Señor Jerez setzten sich mit einer Tasse Kaffee in den Patio. Jetzt berichtete Harry sehr viel genauer von seinen letzten fünf Jahren, insbesondere aber von den letzten Wochen, seinem Krankenhausaufenthalt, der Diagnose über seine Alkohol-Allergie, aber ganz detailliert auch von seinen Träumen, dem surrealistischen Traum mit dem Mephisto von vor fünf Jahren und dem Traum mit dem lieben Gott während seiner Tage auf der Intensivstation. Er versuchte, seinen Gemütszustand nach diesem geträumten Fingerzeig Gottes – „Vergeude dein Leben nicht, nimm es dir“ – deutlich zu machen. Er versuchte, klarzumachen, wie sich ihm der Vergleich zwischen einem Leben, auf Jahrzehnte vorgezeichnet in festen gleichmäßigen Bahnen, und einem Leben, wie er, Señor Jerez, es geführt habe, prall gefüllt mit Abenteuern in der Legion und dann erfüllt mit einem erfolgreichen Jurastudium und einer anschließenden Karriere bis zum Richter, aufgedrängt hatte. Er gestand, dass es schon in seiner Schulzeit sein geheimer Wunsch gewesen war, Rechtsanwalt zu werden, es aber aufgrund der so begrenzten finanziellen Verhältnisse seiner Eltern völlig unmöglich war, bis zum Abitur zur Schule zu gehen, jeden Monat Schulgeld zu bezahlen und dann noch jahrelang zu studieren.

Señor Jerez sah ihn schweigend und durchdringend an, nahm einen Schluck Kaffee und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Ja, Harry, so in etwa habe ich mir das schon vorgestellt nach unserem Telefongespräch. Einiges hatte ich nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich dich. Ich verstehe deine Empfindungen. Ich habe für mich irgendwann das Lebensmotto ‚carpe diem‘, ‚ergreife den Tag‘, gefunden. Das entspricht ja ziemlich genau dem Fingerzeig ‚vergeude dein Leben nicht‘. Ich kann dir versichern, ich möchte meine Zeit in der Fremdenlegion nicht missen Aber ich war zehn Jahre dabei und das ist eindeutig zu viel. Viel zu viel. Aber nur durch diese lange Zeit, dazu mit viel Glück, mit vielen glücklichen Fügungen des Schicksals, aber auch mit Mut, manchmal sogar Tollkühnheit, habe ich es als einer der ganz wenigen Ausländer, also Nicht-Franzosen, geschafft, Offizier in der Legion zu werden, als Colonel sogar höherer Offizier. Nur so fand ich Zugang zu einem Führungszirkel um General Massou, mit dem mir auch außerhalb der Legion alle Türen offen standen, und das nicht nur in Frankreich. Auch mein anschließendes Studium und meine juristische Karriere wurden davon sehr positiv beeinflusst. Wenn man solch einem einflussreichen Kreis einmal angehört, dann verlässt man ihn auch nicht wieder, und ich gehöre ihm auch jetzt noch an. Du bist ein intelligenter junger Mann, und vor allem: Ich mag dich. Ich kann dir einige Türen öffnen. Ich habe schon diverse Telefongespräche geführt. Es ist möglich, dir ein Stipendium für ein Jurastudium an einer spanischen Universität zu verschaffen, nicht für dieses Studienjahr, das gerade begonnen hat, aber für das nächste. Dein Realschulabschluss und deine abgeschlossene Berufsausbildung entsprechen dem spanischen bachillerato, also dem Abitur oder einem vergleichbaren Abschluss. Natürlich müsstest du noch ein Prüfungsverfahren, eine Selectividad, durchlaufen. Aber das schaffst du schon. Ja, mein Lieber, und was das Abenteuer betrifft, da ist die Legion schon eine gute Sache. Aber wenn du keine militärische Karriere machen willst, dann bleib dort so kurz wie möglich. Die normale Mindestverpflichtungszeit beträgt fünf Jahre. Das ist zu viel. Ich habe aber als Mitglied des Führungszirkels der Legion, auch wenn ich schon lange nicht mehr aktiv dabei bin, die Möglichkeit, einen Protegé als Praktikanten zu empfehlen. Als Praktikant kannst du nach neun Monaten entscheiden, ob du dich weiter verpflichten willst oder nicht. Als Protegé-Praktikant bekommst du sogar einen wesentlich höheren Sold, nämlich den eines Sergents. Ja, mein Lieber, das sind die Türen, die ich dir öffnen könnte. Du darfst nicht glauben, dass ich das für jeden mache. Ich rede nicht darüber und es weiß auch praktisch keiner. Aber du bist mir ans Herz gewachsen, schon vor fünf Jahren, und als du jetzt angerufen und dich nach so langer Zeit an mich gewandt und Rat und Hilfe gesucht hast, da hat es mich einfach gepackt und ich habe mir gesagt, der Junge ist es wert, noch einmal meine Verbindungen spielen zu lassen.“

Harry war sprachlos. Er wäre seinem väterlichen Freund am liebsten um den Hals gefallen. Das war ja traumhaft. Das waren genau die Möglichkeiten, die er sich erträumt hatte, ohne sie selbst detailliert benennen zu können. Abenteuer, Weiterbildung, Studium und dann steht die Welt offen. Er war begeistert und das sagte und zeigte er seinem Freund auch.

„Es freut mich, dass dir dieser Weg gefällt. Dann werde ich alles in die Wege leiten. Wenn du in einer Woche wieder zu Hause bist, wirst du bald eine Einladung von der Legion zu einem Aufnahmegespräch, einem Test und einer Untersuchung nach Aubagne bei Marseille erhalten. Wenn du das bestehst, und davon bin ich überzeugt, erhältst du gleich deine Kommandierung. Ich werde dir dann in Ruhe einen Studienplatz mit Stipendium besorgen, nach Möglichkeit in Valencia, das ist nicht weit von hier und wir könnten uns öfter mal sehen. Und wie ich das sehe, könntest du mit dem nächsten Studienjahr dann mit deinem Jurastudium beginnen. Harry, ich freue mich für dich.“

Bis zur Rückfahrt mit dem Reisebus hatte Harry noch fünf Tage Zeit. Entspannt, freudig erregt und manchmal wie auf Wolken schlenderte er durch die lieb gewonnenen Straßen Gandias. Er verbrachte eine angeregte Plauderstunde mit Ninas Mutter. Der Vater war mit seinen Kunstwerken wieder auf einer Verkaufstour. Nina befand sich in der Endphase ihres Studiums. Sie wollte als Ärztin zunächst einige Jahre in Argentinien arbeiten.

Am nächsten Tag traf er zufällig seinen alten Kumpel Juan. Sie begrüßten sich herzlich und suchten sich zum Plaudern einen Platz in einem Straßencafé. Harry hatte Juan vor fünf Jahren bei den Ladearbeiten von Apfelsinenkisten kennengelernt, als er das erste Mal mit seinem Schiff, der „Jason“, Gandia angelaufen hatte. Juan war Vorarbeiter der Ladekolonne. Später hatten sie sich auch privat angefreundet und Harry war bei einigen der nächsten Reisen auch hin und wieder als gern gesehener Gast bei Juans Familie eingeladen worden. Harry erzählte von seinen letzten Jahren. Den jetzigen Aufenthalt bezeichnete er als reinen Freundschaftsbesuch bei der Familie Jerez. Juan berichtete strahlend, seiner Frau und seinen Kindern ginge es gut. Allgemein sei das Leben in Spanien etwas leichter geworden. Auch die körperliche Arbeit für die Lösch- und Ladearbeiten am Hafen war nicht mehr so schwer. Es gab mehr Gabelstapler, Laufbänder und maschinelle Hilfen.

„Aber weißt du, Amigo, alles hat zwei Seiten. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich früher regelmäßig Doppelschichten gemacht habe. Das gibt es jetzt nur noch selten. Dadurch verdiene ich trotz Lohnerhöhung weniger. Es ist schwieriger geworden, die Familie zu ernähren. Jede Extraausgabe tut weh. Gerade heute habe ich einen Steuerbescheid für mein großes Grundstück am Wasser bekommen. Ich weiß gar nicht, wie ich in diesem Jahr die Grundsteuer bezahlen soll. Ich würde das Land ja gerne verkaufen, aber wer will das schon haben. Anbauen kannst du da nichts, es ist ja alles felsig. Habe ich es dir eigentlich schon einmal gezeigt?“

Juan organisierte ein zweites Fahrrad und sie fuhren gut eine Stunde, bis sie das außerhalb des Ortes liegende Grundstück erreichten. Es war eine sanft ansteigende Felswand von gut 3.000 Quadratmetern mit nur einigen Hundert Quadratmetern Plateau bis zur Grundstücksgrenze, einem Pinienwald. Die Begrenzung zur anderen Seite war ein Strandstreifen direkt am Mittelmeer.

„Traumhaft schön“, staunte Harry.

„Ja, aber für mich ein Albtraum“, stöhnte Juan. „Jedes Jahr kommt ein Steuerbescheid, so wie heute. Da hatte ich den Wachtraum, wie schön es wäre, wenn mir jemand 5.000 oder vielleicht sogar 10.000 Pesetas dafür zahlen würde und ich es los wäre.“

10.000 Pesetas waren damals, in den sechziger Jahren, etwa 2.000 D-Mark. Siedend heiß durchfuhr Harry die Erinnerung an eine Situation, die erst einige Wochen zurücklag. Er war bei seinem Jugendfreund Peter zum Geburtstag eingeladen. Peters Vater, ein gut situierter Inhaber eines kleinen Bauunternehmens, schwärmte gegenüber seinem Nachbarn von seinem Herzenswunsch, am Mittelmeer ein Traumgrundstück zu kaufen, sich dort eine kleine Villa zu bauen und sich damit ein eigenes Paradies für den Urlaub und den späteren Ruhestand zu schaffen.

„Du, Juan, ich kenne da jemanden in Deutschland, der dafür vielleicht infrage kommt. Aber ich weiß natürlich nicht, ob der nicht schon etwas anderes gefunden hat.“

„Hombre, bitte versuch es. Ich muss diesen Klotz am Bein und die jährlichen Steuerbescheide loswerden.“

„Gut. Ich werde versuchen, den Mann telefonisch zu erreichen.“

Nach dem Abendessen saß Harry schweigend und tief in Gedanken versunken im Patio. Señor Jerez schmauchte mit Genuss seine Pfeife und sah immer mal wieder fragend zu Harry. Der aber war völlig in sich gekehrt und merkte es gar nicht. Schließlich brach der väterliche Freund das Schweigen.

„Harry, nun sprich schon. Ich sehe doch, dass du Probleme wälzt. Vielleicht kann ich dir helfen.“

Also erzählte er von Juan, dem Grundstück, Juans Preisvorstellung, die umgerechnet unter einer D-Mark pro Quadratmeter lag, und von dem Interesse von Peters Vater an einem Traumgrundstück am Mittelmeer, das genau dem von Juan entsprechen könnte.

„Ja, aber Harry, wo ist denn das Problem? Ruf den Mann doch an. Wenn er Interesse hat, soll er kommen und sich das ansehen.“

Harry erklärte sein Problem. Bei dem Gespräch bei der Geburtstagsfeier waren auch Preise genannt worden. Wenn Herr Biela, Peters Vater, das Grundstück gefiele, würde er ein Vielfaches mehr bezahlen können und auch wollen als Juans Wunschpreis. „Wenn das klappt, könnte ich eine Menge Geld mit dem Geschäft verdienen. Aber kann ich das moralisch verantworten?“

„Harry, komm an auf der Erde. Komm an in der Wirklichkeit. Wenn Juan seinen Wunschpreis und dein deutscher Bekannter sein Traumgrundstück erhält, dann sind doch alle froh und glücklich. Selbst wenn für dich dabei eine Menge Geld abfällt, dann hast du es dir verdient, weil du die Möglichkeit erkannt hast und die beiden zusammenführst. Ruf in Deutschland an. Hier ist das Telefon.“

Herr Biela war nicht nur interessiert, er war begeistert. Noch am gleichen Abend rief er zurück und kündigte sein Kommen zwei Tage später per Flugzeug an. Señor Jerez und Harry überlegten sich die praktische Durchführung des Handels. Herr Biela würde nicht mit Juan verhandeln, sondern mit einem befreundeten Notar. Dieser würde, wenn es denn dazu kam, auch die amtliche Beurkundung übernehmen. In der Verkaufsurkunde würde der Preis genannt werden, den Juan tatsächlich erhielt. Herrn Biela gegenüber würden für diesen stark minimierten Preis steuerliche Gründe genannt. In einem vertraulichen Zusatzvertrag würde der tatsächliche Verkaufspreis genannt, den der Käufer auf ein Notaranderkonto zu zahlen hätte. Harry informierte Juan, dass der potentielle Käufer mit einem Notar verhandeln wolle, um inkognito zu bleiben.

Bei dem Besichtigungstermin mit Harry, dem Notar und Herrn Biela zeigte sich dieser begeistert. Genau so hatte er sich sein Traumgrundstück vorgestellt. Bald war der Kaufpreis von 21 D-Mark pro Quadratmeter vereinbart. Die Beurkundung erfolgte am nächsten Tag. Der Käufer veranlasste telefonisch eine sofortige Überweisung auf das Konto des Notars. Die Rechnung für die Nebenkosten erhielt er separat. Harry hatte seine Rückreise bei der Busfirma um eine Woche verschoben. So konnte er in Ruhe den Eingang des Geldes abwarten.

Juan erhielt einen Scheck über 18.000 Pesetas. Das war doppelt so viel, wie er sich erträumt hatte. Gerührt fiel er Harry um den Hals und bedankte sich immer wieder dafür, dass Harry sich so eingesetzt hatte. Der konnte vor schlechtem Gewissen nicht so recht geradeaus gucken. Als er dann aber den Bankkontoauszug über umgerechnet 66.000 D-Mark zu seinen Gunsten in Händen hielt, schwebte er auf Wolke sieben. Lachend lagen sich Señor Jerez und Harry in den Armen. „Das Geld reicht für deinen Lebensunterhalt während deines gesamten Jurastudiums.“ Sie vereinbarten, das Geld gut verzinst auf einer spanischen Bank anzulegen.

Viel zu schnell vergingen die restlichen Tage in Gandia. Señor Jerez verabschiedete sich am Bahnhof von Harry. Die Bahn würde Benicasim schnell erreichen und von dort ging es per Bus zurück nach Bremen.

„Du wirst bald einen Termin für die Aufnahmegespräche, die Untersuchungen und die Tests zur Legion vorliegen haben, wenn du wieder zu Hause bist. Aber mach dir keine Sorgen. Für einen Protegé-Praktikanten ist das fast nur Formsache. Wichtig ist, dass du dich amtlich in Deutschland abmeldest, damit du wegen eurer Bundeswehr keine Schwierigkeiten bekommst. Für euer Amt hast du ja die schriftliche Bestätigung von mir, dass dein neuer Wohnsitz meine Adresse hier in Gandia ist. Ich bin sicher, dass du in den neun Monaten Fremdenlegion viel erleben und viel mitnehmen wirst. Für das nächste Jahr besorge ich dir ein Stipendium für dein Jurastudium. Ich hoffe, dass das in Valencia klappt. Das ist nicht so weit und wir könnten uns hin und wieder sehen. Und nun, mein junger Freund, viel Glück, carpe diem, ergreife den Tag und schöpfe dein Leben aus.“

Harry hatte viel Zeit auf der Rückreise im Bus, der ohne Zwischenübernachtung etwa zwanzig Stunden bis Bremen benötigen würde. Was waren das für Wochen gewesen. Sein Leben hatte tagelang auf der Kippe gestanden. Er hatte wegweisende mysteriöse Träume erlebt und sehr reale, nicht weniger wegweisende ärztliche Anweisungen erhalten. Sein väterlicher Freund in Gandia hatte ihm traumhafte Möglichkeiten aufgezeigt und mit seinen Beziehungen dafür gesorgt, dass sie wahr werden könnten. Er hatte ein kleines Vermögen verdient. Ihm wurde erst jetzt klar, wie viel Geld das war. Seine Lehrfirma hatte ihm als Anfangsgehalt als kaufmännischer Angestellter 600 D-Mark brutto monatlich angeboten. Das war für das Jahr 1961 ein gutes Angebot. Auf diesem Niveau hätte er über zehn Jahre arbeiten müssen, Gehaltserhöhungen berücksichtigt, um auf netto 66.000 D-Mark zu kommen. So viel Geld würde er mit Sicherheit während seines ganzen Studiums nicht verbrauchen.

Er konnte während der Busfahrt nicht wirklich schlafen und war entsprechend groggy, als er endlich das Elternhaus erreichte. Sein Vater war noch auf der Arbeit und die Schwestern waren ebenfalls abwesend. Die Mutter empfing ihn mit den Worten: „Wie schön, dass du wieder da bist, mein Junge. Hast du einen schönen Urlaub in deinem so geliebten Gandia verbracht?“

In Harry kämpften widerstrebende Emotionen. Da war vordergründig ein schlechtes Gewissen, der Mutter sagen zu müssen, dass er in Kürze wieder für lange Zeit von zu Hause fortgehen würde. Aber die Freude und der Stolz über die fantastischen Möglichkeiten überwogen eindeutig.

Liebevoll umfasste er die Mutter. „Mutti, du kannst es dir nicht vorstellen. Mein Leben wird sich völlig ändern. Es haben sich unglaubliche Dinge ereignet und Möglichkeiten aufgetan. Stell dir vor …“ Und dann erzählte er alles wahrheitsgemäß, unglaublich stolz auf die Möglichkeit, Jura zu studieren, und tat die neun Monate Fremdenlegion als kleines abenteuerliches Zwischenspiel ab. So sah er das auch wirklich. Er erzählte auch von der Grundstücksvermittlung an Herrn Biela und dass er gut daran verdient hatte. Die tatsächliche, die horrend hohe Summe aber verschwieg er. Er wusste, dass seine Mutter das als einfach unmoralisch gegeißelt hätte.

„Das Geld muss wegen der Devisenbestimmungen in Spanien festgelegt werden, aber es wird mir helfen, meinen Lebensunterhalt während des Studiums zu bestreiten.“

Dass er das Geld nicht einfach nach Deutschland transferieren konnte, schon gar nicht solch eine hohe Summe, war durchaus richtig. 1961 galt Spanien zu Recht als faschistischer Staat und es gab nach und von Spanien ganz enge und kleinliche Devisenbeschränkungen.

Die Mutter konnte die Neuigkeiten kaum fassen. „Ach Gott, Junge, jetzt gehst du schon wieder aus dem Haus. Und dann die Fremdenlegion, da hört man so viel Schlimmes.“

Harry beruhigte seine Mutter, versuchte die Funktion des Protegé-Praktikanten als völlig harmlos hinzustellen, wies auf die kurze Zeit hin und trumpfte vor allem mit der Möglichkeit des Jurastudiums.

„Hier in Deutschland hätte ich die Möglichkeit ohne Abitur absolut nicht. Nur in Spanien sind die Beziehungen und Möglichkeiten, die mir mein Bekannter aus Gandia bietet, von Nutzen für mich. Wenn ich das Studium beendet habe und Rechtsanwalt bin, kann ich damit natürlich auch in Deutschland arbeiten.“

Harrys Mutter war selten um Worte verlegen. In ihrem Mienenspiel spiegelten sich Ängstlichkeit und Skepsis, aber vor allem auch Stolz. „Oh Gott, oh Gott, Junge, mein Sohn ein Rechtsanwalt. Ich kann es nicht glauben.“

Harrys geträumtes Leben

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