Читать книгу Harrys geträumtes Leben - Hans H. Lösekann - Страница 6
Die Fremdenlegion
Оглавление„Merde, was hat man uns denn da geschickt? Seid ihr Männer oder Karikaturen? Wollt ihr Soldaten werden oder seid ihr nur Abschaum?“ Abwechselnd wurden in verschiedenen Sprachen, Französisch, Spanisch, Deutsch, Polnisch oder Ungarisch, kurze, kernige Schimpfkanonaden auf die Kolonne abgeschossen. Es waren etwa 300 junge Männer, die den Truppentransporter im Hafen von Algier verlassen hatten und auf offenen LKWs in rascher Fahrt in die Kaserne von Sidi bel Abbes gekarrt worden waren. Harry fühlte sich müde, schlapp und ausgedörrt von dem Transport auf dem engen, heißen Truppentransporter, den Strapazen der Einschiffung in Marseille und der Ausschiffung in Algier. Alle Knochen und alle Muskeln schmerzten nach zwölf Wochen schonungsloser, brutaler Schleiferei in der Grundausbildung in Aubagne, Südfrankreich.
Schon wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Gandia hatte er zu Hause einen Brief vom BSLE, dem Bureau des statistiques de la Légion étrangère, erhalten. Er war aufgefordert worden, sich in drei Wochen in Aubagne bei Marseille zu Aufnahmegesprächen, Tests und medizinischen Untersuchungen für Engagés Volontaires, also für freiwillige Bewerber, einzufinden, die sich über drei Tage erstrecken würden.
Die medizinischen Untersuchungen bestand er mühelos, ebenso die diversen sportlichen Tests. Die ein wenig einfachen, ja primitiven psychologischen Eignungstests bereiteten auch keine Schwierigkeiten. Recht ermüdend waren die endlosen Vorträge über die Traditionen der Legion, die besondere Ehre, ihr anzugehören, und die Heiligkeit eines Befehls in der Legion. Endlos lang waren auch die beinahe pastoral vorgetragenen Ausführungen über die Vorbildfunktion, die ein Protegé-Praktikant zu erfüllen hatte, und über die hohe Ehre, die die Grande Nation ihm, Harry Linnemann, zuteilwerden ließ, indem sie ihm diese Vorzugsstellung einräumte. Alles wurde zunächst in französischer Sprache vorgetragen und anschließend ins Deutsche übersetzt. Die Grundausbildung war gnadenlos hart, aber effektiv.
Der erste Tag begann mit einer Ansprache des Kommandanten auf Französisch, aber in mehreren Sprachen wiederholt: „Legionäre, Sie haben Ihre Aufnahmeprüfung bestanden. Jetzt gehören Sie zu der besten Kampftruppe der Welt. Hören Sie das Wichtigste für Ihre jetzt beginnende Ausbildung: Gehorchen Sie den Befehlen ihrer Vorgesetzten bedingungslos. Der erteilte Befehl ist heilig. Legionäre sind Elitesoldaten. Ein Elitesoldat trainiert unerbittlich. Er behandelt seine Waffe, als wäre sie sein höchstes persönliches Gut. Ein Legionär ist ein Freiwilliger. Eiserne Disziplin und Durchhaltevermögen sind die Grundlagen Ihres Dienstes und Ihrer Verpflichtung, das eigene Leben zum Ruhm und zur Ehre Frankreichs einzusetzen. Hier gilt nur das Gesetz der Legion. Ungehorsam wird strengstens bestraft. Seien Sie sich immer bewusst, einer Elitetruppe anzugehören. Legion patria nostra, die Legion ist unser Vaterland.“
Der erste Ausbildungstag begann mit Formalausbildung bis zum Erbrechen. Gleichschritt, Laufschritt, Kehrtwendungen, Grüßen, volle Deckung, Robben und mehr. Nach zehn Stunden, alle waren fix und fertig, gab es eine Stunde Pause. Gelegenheit zum Waschen und Essen. Dann folgten die täglichen zwei Stunden Unterricht in französischer Sprache. Anschließend folgten ein bis zwei Stunden Spezialunterricht für Protegés. Es waren aus allen Gruppen nur vier Mann. Der Spezialunterricht ging über den Sprachunterricht hinaus. Immer wieder wurde den vieren regelrecht eingetrichtert, dass sie zur Elite der Elitetruppe gehören werden und dass ehrenvolle Führungsaufgaben auf sie warten, wenn sie sich nach den neun Monaten zu einer regulären Verpflichtung von mindestens fünf Jahren entscheiden würden.
Schon am zweiten Tag begann die Gefechtsausbildung. Täglich zwölf bis vierzehn Stunden Drill, meist Gefechtsausbildung, immer mal wieder unterbrochen von Formalausbildung, waren üblich. Dann folgten zwei Stunden Sprachunterricht, dann der Spezialunterricht. Jede zweite oder dritte Nacht gab es Nachtalarm mit anschließenden Gewaltmärschen oder einigen Durchgängen auf der Hindernisbahn. Das war schon hart. Das Schlimmste für Harry aber waren die zusätzlichen Schikanen. Sie trafen scheinbar ziemlich zufällig täglich einige Rekruten. Für eine falsche Kehrtwendung, einen nicht perfekten militärischen Gruß, einen zu langsamen Laufschritt oder eine nicht perfekte volle Deckung und manches mehr gab es zwei bis drei Stunden zusätzlichen verschärften Drill. Zu den Schikanen gehörte auch das Einreißen des Bettes, wenn es dem Ausbilder nicht perfekt erschien, oder das Ausräumen des Spindes. Alles wurde brutal im Zimmer verteilt. All das konnte durchaus zehn- bis zwölfmal hintereinander passieren. Meist gab es noch zusätzliche Strafen. Beliebt bei den Ausbildern waren so sadistische Befehle wie das Schrubben des Flures oder auch der Toilette mit einer Zahnbürste, das Kippenaufsammeln mit gefesselten Händen, also mit dem Mund, oder in gleicher Weise Fenster zu putzen.
Sehr beliebt war auch eine Schikane bei der Gefechtsausbildung. Es war vorgeschrieben, dass die Feldflaschen immer eine bestimmte Restmenge Wasser für den Notfall zu enthalten hatten. Oft wurden nach stundenlangem hartem Gefechtsdrill Kontrollen gemacht. Stellten die Ausbilder eine zu geringe Restmenge fest, hatte der betreffende Rekrut mit seinem zwanzig Kilogramm schweren Marschgepäck auf dem Rücken zwanzig bis dreißig Minuten Strafjoggen zu absolvieren und die Kameraden musste ihn mit gehässigen Zurufen anstacheln. Waren die Zurufe von einzelnen Kameraden nicht laut oder gehässig genug, mussten diese sich am Strafjoggen mit Marschgepäck beteiligen.
Es war eine üble Schinderei, Tag für Tag bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit. So manches Mal hatte Harry das schmerzliche Gefühl, diese Grenze sei erreicht und werde überschritten. Einige Kameraden hielten es nicht aus, die Grenze war überschritten, sie klappten zusammen und mussten doch wenig später unter dem Hohn und Spott der Ausbilder wieder antreten.
Für die vier Protegés war die überharte, normale Grundausbildung nach acht Wochen beendet. Es schloss sich eine vierwöchige Zusatzausbildung für künftige Führungskräfte an, die sie zusammen mit verdienten und altgedienten Corporales und Sergents durchzustehen hatten. Diese vier Wochen waren nicht weniger hart, die tägliche Belastung nicht weniger lang. Die Gefechtsübungen und Nachtmärsche blieben. Aber statt der stupiden Formalausbildung gab es endlosen theoretischen Unterricht mit anschließenden praktischen Übungen über alle nur denkbaren Gefechtssituationen und das richtige Verhalten als Zug- oder Kompanieführer. Schikanen gab es weiterhin, aber sie waren subtiler und ausgefeilter. Je weiter sich diese zwölf Wochen der Grund- und Zusatzausbildung dem Ende näherten, desto öfter hatte Harry das Gefühl, er halte das nicht mehr aus. Mit Mühe gelang es ihm, sich mit dem Wissen neu zu motivieren, dass es doch bald vorbei sei, nur noch wenige Wochen und bald nur noch wenige Tage dieser täglichen Quälerei.
Jetzt waren diese zwölf Wochen Quälerei vorbei. Als Harry zusammen mit seinen 300 Kameraden das Schiff im Hafen von Algier und die bereit stehenden offenen LKWs bestieg, versuchte er, den Duft und das Flair von Afrika zu spüren, zu fühlen, was er bei seinen Afrika-Aufenthalten in seiner Seefahrtzeit gefühlt hatte. Aber es gelang ihm nicht. Es roch nach Benzin, Öl und Abgasen und die Szene war erfüllt von gebrüllten Befehlen in französischer und einem halben Dutzend anderer Sprachen.
Als sie das Kasernentor der gewaltigen Kasernenanlage von Siddi bel Abbes durchschritten hatten, erinnerte nur noch das etwas schemenhafte Bild der Moschee im Hintergrund daran, dass sie in Nordafrika waren. Im Vordergrund sprang ein in zwei Etagen abgesetzter Granitsockel mit dem eingemeißelten Signum „Légion étrangère“ ins Auge. Die Truppe musste antreten und erst einmal wieder einer Ansprache über sich ergehen lassen mit den üblichen Phrasen über die Ehre, der Legion anzugehören, über Traditionen, die Heiligkeit des Befehls, über Disziplin und Elitedenken, also über all das, was sie in den letzten zwölf Wochen bis zum Erbrechen gehört hatten.
Dann erfolgte die Zuweisung der Unterkünfte. Harry war angenehm überrascht. Er teilte einen kleinen, aber recht wohnlich eingerichteten Raum mit Ian, einem fast zwei Meter großen jungen Mann aus Irland. Beim Einrichten ihrer Spinde versuchten beide, sich etwas näherzukommen. Die anfangs holprige Unterhaltung klappte bald ganz gut. Harrys Schulenglisch reichte aus. Ians Vater war Repräsentant eines großen irischen Exportunternehmens für Irischen Whisky in Frankreich. Wohl über diese Schiene war Ian zu seinem Status gekommen. Er war ebenfalls Protegé-Praktikant. Wie Harry bald feststellte, hatten sich die anderen Neulinge ohne diesen Status mit recht kargen Sechs-Mann-Unterkünften zu begnügen.
Für den Nachmittag waren erste Algerien-Instruktionen angesetzt. Die Mannschaften mussten in der glühenden Sonne auf dem Kasernenplatz antreten und einen Hagel von Anweisungen, Befehlen und vor allem Verboten in verschiedenen Sprachen, laut, brüllend, in einem unablässigen schnellen Stakkato, der auch in der jeweiligen Heimatsprache kaum verständlich war, über sich ergehen lassen. Die Unterführer unter den Neuankömmlingen, und dazu gehörten aufgrund ihres Protegé-Status auch Ian und Harry, hatten sich in der Messe zu versammeln. Dort erhielten sie im Grunde die gleichen Instruktionen, nur etwas detaillierter und mit Dia-Bilden und einem kleinen Film ergänzt. Es wurde vor jedem Kontakt mit Einheimischen gewarnt, jeder Algerier war nach den Warnungen der Instrukteure ein potentieller Rebell, ein Sicherheitsrisiko, ein möglicher hinterhältiger Mörder. Allen Legionären war es strikt verboten, sich alleine außerhalb des Kasernengeländes aufzuhalten. In dem kleinen Film wurde eine grausige, sicher gestellte, Szene gezeigt, die in der Kasbah Algiers spielte.
Die Kasbah, die sich an den Berghängen der Hauptstadt befindet, ist ein exotisches, buntes, faszinierendes und für Fremde völlig undurchsichtiges Labyrinth. Enge Gassen, Läden aller Art, Teestuben und kleine Straßen-Garküchen dicht aneinander gedrängt mit einem Gewusel von Menschen aller Hautfarben und Herkunftsgebiete.
In dem Film wurde eine kleine Gruppe von Legionären gezeigt, die lachend und entspannt einer ebenfalls kleinen Gruppe einheimischer und überwiegend verschleierter Frauen folgte und dieser harmlose Anzüglichkeiten zurief. Urplötzlich zogen die Frauen Schnellfeuerwaffen unter ihren Schleiern hervor und mähten die Soldaten in Sekundenschnelle nieder. Anschließend zogen sie Dolche hervor und schnitten, so suggerierte es jedenfalls der Film, den noch lebenden Soldaten die Kehlen durch, stachen Augen aus und schnitten Ohren und Nasen ab. Über den Film wurde heftig diskutiert. Jedem war klar, dass die gezeigten Grausamkeiten nachgestellt waren. Aber den Neulingen wurde sehr ernst glaubhaft gemacht, dass es ähnliche entsetzliche Vorkommnisse durchaus wirklich gegeben hat und gibt.
Sehr nachdenklich ging Harry über den Kasernenhof zurück zur Unterkunft. Etwas überspitzt ausgedrückt hatten die Instrukteure den Neulingen vermittelt, in diesem Land gebe es Millionen von Einheimischen, die potentielle Rebellen, Verbrecher und Mörder seien und die den relativ wenigen Guten gegenüberstehen, nämlich den etwa 300.000 französischen Soldaten und Legionären. Harry war übermüdet, total verschwitzt und missmutig. Da kann doch etwas nicht stimmen. Was soll ich hier, ich habe damit doch absolut nichts zu tun? Woher nahmen die Franzosen die Berechtigung, ein ganzes Land, ein ganzes Volk von über zwanzig Millionen Menschen zu unterjochen, es zu beherrschen und die vielen Millionen als Menschen zweiter Klasse anzusehen, die in erster Linie dafür da sind, den Eindringlingen zu dienen. Harry hatte kein gutes Gefühl dabei, dass er sich verpflichtet hatte, den Unterdrückern dabei zu helfen.
Aber er war jung und konnte unangenehme Gefühle bald wegschieben. Was soll’s. Ich habe ein Ziel und das ist nicht die Legion. Ich bin nur für neun Monate dabei und davon habe ich schon fast die Hälfte rum.
Er hatte auch kaum Zeit, unangenehmen Gefühlen nachzuhängen. Die nächsten Tage waren vollgestopft mit Aktionismus. Es gab eine harte, komprimierte praktische und theoretische Ausbildung zur präventiven und praktischen Bekämpfung von Terroristen, wie es im offiziellen Ausbildungsplan hieß. Insbesondere das Vorgehen in Aufklärungs- und Erkundungstrupps mit spontanen Kampfaktivitäten wurde immer wieder geübt, in voller Kampfausrüstung im Gelände und im Unterrichtsraum in der Kaserne mit Planspielen und Taktikvarianten.
Nach einigen Wochen erhielten Harry und auch Ian einen Versetzungsbefehl nach Mascara. Von dort aus sollten sie als stellvertretende Gruppenführer in Erkundungstrupps eingesetzt werden. Die Kaserne von Mascara befand sich mitten in der Stadt, umgeben von einer hohen Mauer mit mehreren Wachtürmen. Irgendwie wirkte sie wie ein Fremdkörper. Es war wie eine aufgezwungene Trutzburg mit fremden Eindringlingen in einem Meer von Einheimischen. Das Kasernengelände war nicht groß, mit dem vierstöckigen Hauptgebäude, dem Kasernenhof, dem Fahnenmast, dem Wachgebäude, der Küche und den Nebengebäuden hatte es kaum größere Ausmaße als ein Fußballplatz. Das klotzige vierstöckige Gebäude in der Mitte wirkte wie eine Festung in der Festung. Mascara war keine Ausbildungskaserne, sondern eine Art Hauptquartier für kleine Kampf- und Aufklärungseinsätze.
Harry und Ian wurden im Unteroffizierslogis in einem Nebengebäude neben der Funkstation und dem Büro der Militärpolizei untergebracht. Schon am nächsten Tag wurden beide verschiedenen Erkundungstrupps als stellvertretende Gruppenführer zugeteilt. Die verschiedenen Gruppen sollten unabhängig voneinander, aber koordiniert und mit Funkkontakt untereinander ein größeres Gebiet im Dreieck von Douny Fououaila, Djebairia und Hassi-Dahou aufklären und, wie es hieß, gegebenenfalls von Rebellennestern säubern. Mit Militär-LKWs wurden die Gruppen an verschiedenen Ausgangspositionen abgesetzt. Harry hatte ein mulmiges Gefühl, als er sich mit der zwanzig Mann starken Gruppe im Gelände vorwärts bewegte. Es war still, menschenleer. Ihre schweren Militärstiefel wirbelten Sand und trockenen Staub auf. Die Sonne brannte vom tiefblauen, völlig wolkenlosen Himmel. Schon nach kurzer Zeit waren alle total verschwitzt. Die schweren Stiefel, der Kampfanzug und der Stahlhelm drückten und klebten am Körper. Der Tornister alleine wog zwanzig Kilogramm. Dazu kamen der Karabiner, die Wasserflasche, zusätzliche scharfe Munition und Handgranaten. Als stellvertretender Gruppenführer verfügte Harry zusätzlich über eine Pistole und einen Feldstecher. Am schwersten zu schleppen hatte der Funker mit seiner klobigen Ausrüstung. Immer wieder suchten der Gruppenführer und Harry den Horizont nach verdächtigen Bewegungen, Ansammlungen und getarnten Unterständen ab. Es gab nichts. Diese Welt schien menschenleer, auch ohne Tiere zu sein. Eine staubige heiße Hölle, die keinen interessierte und die keiner haben wollte.
Was machen wir denn hier, was soll das?, ging es Harry durch den Kopf, als sie am Mittag Pause machten und sich aus ihren Kampfrationen stärkten. Zwei der Soldaten hatten zusätzlich zu ihrer Ausrüstung Reserve-Wasserschläuche zu schleppen und waren froh, als die zusätzliche Last leichter wurde, nachdem alle Feldflaschen frisch aufgefüllt waren.
Bald entdeckten sie, wie vorher auf dem Einsatzplan vorgesehen, in der Ferne eine kleine trostlose Ansammlung von Hütten. Der Truppführer informierte, dass das das Dorf Bjetierasa sei. Es bestehe der Verdacht, das Kaff sei ein Rebellenversteck. Wir haben Befehl, jede Hütte genau zu durchsuchen. Beim Näherkommen nahm Harry das Dorf ins Visier seines Feldstechers. Es bestand aus genau sieben armseligen Hütten und ein paar Scheunen oder Tierunterkünften. Er konnte im Fernglas einige Hunde, Ziegen und Hühner zwischen den Hütten sehen. Einige Kinder wuselten zwischen den Hütten umher. In einiger Entfernung vom Dorf konnte er wenige Bauern in sackähnlichen Gewändern bei der Landarbeit entdecken. Als der Trupp, mit entsicherten Karabinern nach allen Seiten sichernd, die so entsetzlich öde und armselige Ansammlung von Hütten erreichte, war es menschenleer. Keine Kinder, keine Ziegen. Ein paar Hühner gackerten und zwei furchtbar räudige Hunde kläfften. Aber kein Mensch, auch die Berber auf den nahen Feldern in ihren nachthemdähnlichen grauen Umhängen waren verschwunden. Das Ganze wirkte unheimlich, bedrohlich, aber auch lächerlich. Zwanzig schwer bewaffnete Männer gegen zwei kläffende Köter und einige Hühner.
„Zwei mal vier Mann zum Durchsuchen der Hütten, die anderen bleiben zum Sichern zurück“, lautete der Befehl des Gruppenführers.
Als Harry mit seinem Vier-Mann-Suchtrupp die erste Hütte betrat, schüttelte er innerlich den Kopf. Mein Gott, wie kann man bloß so leben. Die Strohhütte war wirklich trostlos. Die nackte Erde als Boden, einige Kisten als einziges Mobiliar und eine primitive Feuerstelle – und völlig leer. Bei der zweiten Hütte dasselbe. In der dritten saßen sie, dicht aneinandergedrängt. Etliche Frauen, Kinder, Ziegen und zwei uralte Männer, alle stumm und angstvoll zu den bewaffneten Eindringlingen starrend. Nach mehreren vergeblichen Versuchen kam eine minimale Art der Verständigung zustande. Einer der alten Männer sprach etwas Französisch. Er war allerdings nur sehr schwer zu verstehen. Nicht nur wegen seines fehlenden Wortschatzes, sondern auch wegen seiner Aussprache. Der Greis hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund, so kam jedes Wort nur tuschelnd und zischend. So zerknittert, so faltig, so ganz und gar zahnlos wirkte er entsetzlich hilflos und schutzbedürftig. Aber es half nichts, er war der Einzige, der einigermaßen Auskunft geben konnte. Nein, hier seien keine Rebellen. Nein, sie haben auch noch nie welche gesehen. Die Männer auf den Feldern? Ja, sie haben sich sicher aus Angst hinter den wenigen Büschen am Rand des Feldes versteckt. Aber es seien nur einfache Bauern, sie alle haben nichts mit den Rebellen zu tun. Harry glaubte dem Alten. Aber er wusste auch aus den vielen Instruktionen, wie trickreich die Rebellen waren, wie gut sie sich tarnten und wie grausam sie sein konnten.
Die Durchsuchung der weiteren Hütten und Ställe ergab nichts. Die Männer wurden hinter den Büschen gefunden. Sie gaben sich devot, angstvoll zitternd und versicherten mit einigen französischen Brocken, dass hier keine Rebellen seien und sie nichts mit ihnen zu tun haben.
Schließlich zog die Aufklärungsgruppe weiter. Es war schon später Nachmittag und bis zum vereinbarten Treffpunkt mit den anderen beiden Gruppen lagen noch gute zehn Kilometer vor ihnen. Es war heiß, öde und ereignislos. Die Männer trotteten missmutig dahin. Die trostlose Landschaft war steinig. Kleine Felsansammlungen wechselten mit sandigen Abschnitten ab. Es gab kaum Vegetation. Hin und wieder kleine vertrocknete Grasbüschel und in größeren Abständen ein paar grau-braune und vertrocknet aussehende Buschansammlungen. Harry selbst fühlte sich auch vertrocknet und von einer grau-braunen Staubschicht überzogen. Die Kameraden sahen nicht anders aus. Verklebt, verdreckt und ausgetrocknet zwangen sie sich zu jedem Schritt. Innerlich stöhnend trank Harry ein paar Schlucke warmes Wasser aus seiner Feldflasche. Verdammt, sie war fast leer. Bis zum Treffpunkt, zu dem ein LKW auch Wassernachschub bringen würde, würde es noch knapp zwei Stunden dauern. Leicht amüsiert dachte er an das Strafexerzieren während der Ausbildung zurück, wenn die Feldflaschen nicht die festgesetzten Mindestrestmengen enthielten.
Bei jeder Buschansammlung nahm die Aufmerksamkeit der Truppe automatisch zu. Oft genug waren ihnen während der Ausbildung die Gefahren eines Hinterhalts eingetrichtert worden. Der Gruppenführer und auch Harry suchten immer wieder das Gelände mit ihren Ferngläsern ab. Es war eine willkommene Unterbrechung der Monotonie, als sie in einiger Entfernung eine Mini-Karawane, bestehend aus ein paar bepackten Eseln und zwei Eseltreibern, entdeckten. Die beiden Berber sprachen kein Wort Französisch. Gestenreich versuchten sie, zu erklären, dass sie nur landwirtschaftliche Erzeugnisse transportieren. Aber es half nichts, alles musste abgeladen werden. Penibel durchwühlten die Soldaten jeden Sack, rissen Kohlköpfe und wurzelähnliches Gemüse auseinander. Es fand sich nichts, außer dem kargen Boden in mühseliger Arbeit abgerungene Produkte. Harry sah sich um, als die Gruppe weitermarschierte. Finster und feindselig starrten ihnen die beiden Berber nach. Etliche Produkte waren beschädigt, sie würden auf dem nächsten Markt weit weniger erlösen als erwartet. Harry dachte insgeheim: Vielleicht haben wir ja mit unserer Aktion erreicht, dass die Rebellenarmee demnächst um zwei fanatische Kämpfer wächst.
Endlich erreichten sie den Treffpunkt, fassten frisches Wasser, erhielten ein vom Nachschub-LKW mitgebrachtes Essen und konnten dann ihr Nachtbiwak errichten. Die Aufklärung der anderen beiden Gruppen war ähnlich ereignislos verlaufen wie die ihre.
Nachts wurde es bitterkalt. Harry schlief schlecht auf dem nackten harten Boden und fror entsetzlich. Den meisten seiner Kameraden erging es ähnlich. Mit entsprechend wenig Elan starteten sie ihre zweite Route der Aufklärungsaktion. Die Tagesetappe war etwa dreißig Kilometer weit. Beim abendlichen Ziel sollten die Gruppen sich wieder treffen und dann per LKW zurück in die Kaserne fahren.
Jetzt, am noch frühen Vormittag, war die Kälte der Nacht vergessen. Die Sonne brannte bereits erbarmungslos auf die öde Landschaft. Bald waren die Soldaten wieder genauso verschwitzt, verklebt und verdreckt wie am Vortag. Nach einigen Stunden erreichten sie, wie vorgesehen, wieder ein kleines Dorf, eine Ansammlung armseliger Hütten, die überprüft werden sollte. Wieder fanden sie die Bewohner ängstlich und schutzsuchend zusammengedrängt in einer Hütte und die Männer auf dem Feld. Das Ergebnis nach über zwei Stunden war ohne jedes Resultat, genau wie am Vortag. Etwas später erwischten sie noch einen einsamen, hoch bepackten Eselskarren. Wieder Durchsuchung, wieder ohne Resultat. Aber jedes Mal, ob bei dem Abmarsch aus dem Dorf oder nach der Durchsuchung der Karren, folgten ihnen verzweifelte, finstere und vor allem feindselige Blicke.
Am Nachmittag marschierten sie auf eine etwas größere Gruppe struppigen grau-braunen Buschwerks zu. Sofort wurde die Aufmerksamkeit größer, die Karabiner wurden von der Schulter in Vorhalte genommen, die Schritte energischer und weniger schleppend. Der Gruppenführer und Harry nahmen die Büsche durch das Fernglas genau ins Visier. Aber da war nichts. Erleichtert passierten sie die Stelle. Die Schritte wurden wieder schleppender, alles war leer, öde, staubig. Die Sonne brannte.
Plötzlich peitschten Schüsse. Schmerzensschreie zerrissen die triste Landschaft. Volle Deckung. Aber wo, das Gelände war flach. Beim Hinwerfen hatte Harry Bewegung im Buschwerk gesehen. Der Gruppenführer ebenfalls. Der brüllte jetzt: „Wir haben hier keine Deckung. Sturmangriff auf die Büsche. Dauerfeuer! Harry, Roberto, Piotr, Handgranaten. Auf, marsch, marsch.“ Das Denken war ausgeschaltet. Die Legionäre waren keine Einzelwesen mehr, sie wurden zu Automaten. Auch Harry. Automatisch sprang er auf, rannte drei, vier Schritte, schmiss sich wieder hin. Sprang wieder auf, machte einen Haken, riss im Rennen eine Handgranate von seinem Gürtel, zog automatisch die Sicherung heraus, schmiss sie weg und legte dann all seine Kraft in seinen Wurf, hinein in das Gebüsch, dort, wo er die Bewegung gesehen hatte. Sofort tauchte er wieder ab in volle Deckung. Er spürte einen brennenden Schmerz in seinem Wurfarm. Hatte er so viel Wucht in den Wurf gelegt, dass er sich den Arm gezerrt hatte? Keine Zeit zum Denken. Auch die Handgranaten der anderen beiden Werfer schlugen im Gebüsch ein und dröhnten bei der Explosion. Von den Seiten peitschten die Schüsse der anderen Kameraden. Es stank nach explodierender Munition, nach berstenden Granaten. Ein Inferno unter brennender Sonne. Auch Harry packte jetzt seinen Karabiner, um zu feuern, obgleich aus dem Gebüsch keine Antwort mehr kam. Aber sein rechter Arm wollte ihm nicht gehorchen. Der Gruppenführer schrie den Befehl zum Feuereinstellen. Alle lagen in voller Deckung, schussbereit, und warteten. „Harry mit zwei Mann Feindüberprüfung. Vorsichtig anpirschen. Alle anderen schussbereit sichern.“ Sie pirschten sich an. Harry hatte den Karabiner in die Linke genommen, der rechte Arm brannte und gehorchte nicht so richtig. Langsam und bedächtig krochen sie vor, immer wieder spähend und sichernd. Harry sah es zuerst, Fleisch- und Stofffetzen an den braunen Zweigen der Büsche. Drei Leichen lagen in einem zwischen den Büschen ausgehobenen Deckungsloch. Ein Körper war total verstümmelt. Brust und Bauch waren eine einzige blutige Höhle und die fehlenden Teile hingen als grauenhafte blutige Fleischfetzen und Stoffreste im Gebüsch. Die Legionäre durchkämmten das Gebüsch, aber es gab keinen Feind mehr. Die drei Rebellen hatten in einem vorbereiteten Deckungsloch zwischen den Büschen abgewartet, bis die Kolonne passiert hatte, und dann von hinten das Feuer eröffnet. Drei Legionäre wurden sofort getroffen und lagen noch an der Überfallstelle. Einer hatte einen Arm- und einer einen Schulterdurchschuss. Sie waren, wenn auch unter Schmerzen, bald wieder auf den Beinen. Zandor, ein junger Ungar, lag immer noch ohne Bewusstsein am Boden. Seine rechte Brustseite war an der Stelle, wo das Geschoss wieder ausgetreten war, eine einzige matschige, blutige Fläche. Aus den kräftigsten Zweigen der Büsche fertigten die Soldaten eine Behelfstrage für Zandor. Immer vier Mann würden ihn abwechselnd für den Rest des Rückmarsches tragen.
Erst jetzt bemerkte Harry die nasse rote Stelle an seinem rechten Arm. Nein, er hatte sich den Arm nicht beim Handgranatenwurf gezerrt. Es war eine Schussverletzung. Der Kamerad mit der Sanitätshilfsausbildung schnitt sein Hemd auf und untersuchte den Arm. Zum Glück war es nur ein Streifschuss, der schnell verbunden war.
Mit zwei Stunden Verspätung erreichten sie den vereinbarten Treffpunkt. Der Rückmarsch mit der Trage und dem schwer verletzten Zandor hatte ebenso Zeit gekostet wie das kurze, aber heftige und erbarmungslose Gefecht, das Sichern des Kampfortes und die Behandlung der Schussverletzungen. Bei den anderen beiden Gruppen war der Tag ereignislos verlaufen.
Auf der Rückfahrt in die Kaserne wurde der Überfall immer wieder durchgesprochen. Meistens war es allerdings kein Sprechen. Je nach Temperament schrien sich die Kameraden ihre Empfindungen zu, der eine oder andere versuchte sich dabei als Held aufzubauen, oder sie sprachen ganz leise, ganz in sich gekehrt, von dem Glück, das sie alle bis auf Zandor hatten. Immer wieder gingen sie den feigen, aber raffinierten Hinterhalt der Rebellen und die perfekte Reaktion und den Sturmangriff der Gruppe durch.
In der Krankenstation wurde Zandor notversorgt. Der Arzt resignierte. Er konnte für den schwer verletzten Kameraden in seiner kleinen Notfallstation nicht viel tun. Zandor wurde mit einem Sanitätskraftwagen ins Krankenhaus transportiert. Harrys Streifschuss war die letzte der drei Schussverletzungen, die der Arzt anschließend versorgte. „Sie haben sehr viel Glück gehabt. In ein paar Wochen ist das alles verheilt. Ich schreibe Sie für zwei Wochen krank. Da können Sie sich ein wenig erholen“, sagte der Doktor schmunzelnd. Er war ein netter älterer Herr, der irgendwann den Absprung aus der Legion verpasst hatte.
Später in ihrer Unterkunft sprachen Harry und Ian die vergangenen Tage noch einmal durch. Ian hatte in seiner Gruppe zwar nichts Aufregendes erlebt, war aber genauso zwiespältig in seinen Empfindungen wie Harry über die Vorgehensweise der Legionäre bei den Durchsuchungen der Dörfer und armseligen Transporte mit den kargen Ernteerträge der Bauern. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, darin waren sich beide einig.
Abends saß Harry noch sehr spät alleine auf der harten Bank vor dem Logis. Er konnte nicht schlafen. Ein wenig fassungslos betrachtete er seine Hände. Sie zitterten! Völlig verselbstständigt spulte sich der Überfall immer wieder in seinem Kopf ab. Er konnte es nicht abstellen, er konnte nichts dagegen tun. War er es gewesen, war es seine Handgranate gewesen, die drei Menschen das Leben gekostet hatte? Das Bild des völlig zerfetzten Körpers des einen Algeriers ließ sich ebenso wenig wegschieben wie die Fleischfetzen und Stoffreste, die kurz vorher noch einen Menschen ausgemacht und ihn bekleidet hatten und dann in dem Gebüsch klebten. Krampfhaft versuchte er, immer wieder rationale Gedanken in den Vordergrund zu holen. Die haben uns schließlich überfallen, die haben einen Hinterhalt aufgebaut, die wollten uns schließlich alle umbringen. Er erkannte, dass das alles richtig war, aber das Grauen blieb.
Harry konnte erst in den frühen Morgenstunden etwas Schlaf finden. Aber Harry war jung. Der nächste Tag weckte ihn mit strahlendem Sonnenschein. Die Kameraden hatten schon Dienst. Doch er hatte frei, er war krankgeschrieben. Er suchte die beiden anderen Kameraden mit den Schussverletzungen auf. Er versuchte, sie zu einem Spaziergang in die Stadt zu animieren. Aber sie lehnten ab, sie hatten Schmerzen. Die hatte Harry auch, aber sein Streifschuss war sicher nicht so schmerzhaft wie die beiden Durchschüsse. Alleine konnte er nicht gehen, das war verboten. Sie spielten ein wenig Karten, dann nahm Harry sich ein Buch und las. Er fand das Leben wieder ganz erträglich.
Zwei Tage später wurde Harry zum Kommandanten befohlen. Habe ich etwa etwas ausgefressen?, fragte er sich insgeheim, als er sich meldete. Aber nein, er erhielt eine feierliche Belobigung für sein „vorbildliches Verhalten im Gefecht“. Der Gruppenführer hatte in seinem Bericht Harrys Verhalten als tapfer, entschlossen und professionell geschildert. Harrys Verhalten sei es maßgeblich zuzuschreiben, dass der heimtückische Überfall aus dem Hinterhalt bis auf die schwere Verletzung von Zandor so glimpflich ausgegangen sei. „Sie haben entschlossenen und qualifiziert gehandelt. Wenn Sie wieder dienstfähig sind, werden Sie als Gruppenführer eingesetzt. Da diese Positionen für unsere beiden Gruppen besetzt sind, werden Sie nach Dienstfähigkeit in das Fort Sidi Boukekeur versetzt und dort eine Gruppe führen.“
Darf ich stolz darauf sein, dass ich Menschen getötet habe?, fragte sich Harry, als er langsam und grübelnd zu seinem Logis zurückging. Aber sofort meldete sich eine beruhigende und wohlmeinende innere Stimme, die seine Selbstzweifel zerstreute: Erstens ist es gar nicht sicher, dass du, dass deine Handgranate getötet hat, und zweitens war es Notwehr. Wenn du und deine Kumpel die drei Rebellen nicht ausgeschaltet hättet, dann hätten sie euch umgebracht. Langsam überwogen dann doch die Freude über die Belobigung und der Stolz über die Beförderung in seiner Funktion.
Doch auch der Stolz über diese Beförderung war etwas ambivalent, war sie doch mit der Versetzung zum Fort Sidi Boukekeur verbunden. Dieses Fort war ein Außenposten im Niemandsland, wie ihm der Kommandant auf Nachfrage erklärt hatte. Allerdings, so ging es Harry durch den Kopf, hatte er die Kaserne hier in Mascara in seiner Freizeit auch noch nicht verlassen. Er hatte noch nichts von der Stadt gesehen. Umso mehr freute er sich, als er sich beim Abendessen mit einigen altgedienten Legionären zu einem abendlichen Stadtbummel verabredete. „Wir machen richtig einen drauf, mit allen Schikanen“, strahlte Andree, ein Corporales, der schon über ein Jahrzehnt bei der Legion war.
Nach kurzer Diskussion beschlossen die Jungs, in Zivil zu gehen. Das war bis vor Kurzem für die Legionäre noch verboten. Die Anordnung lautete, Legionäre haben sich in jedem Land, in jeder Umgebung und gerade auch in ihrer Freizeit in tadelloser Uniform zu präsentieren, um ihre Verbundenheit mit der Legion und ihren Stolz, ihr anzugehören, zu zeigen. In Algerien wurde nach mehreren Jahren Krieg Zivil jedoch toleriert, um eine unnötige Konfrontation mit der Zivilbevölkerung zu vermeiden, die die Uniformen der Unterdrücker als Provokation empfinden könnte.
Harry genoss den Rummel. Die einladenden Cafés und Kneipen in Kasernennähe lockten. Andree versuchte die Kameraden zu überreden, weiterzugehen. „Ich habe einen Geheimtipp. Das El-Jazair Royal. Dort gibt es tolle Musik und vor allem die schönsten Frauen Nordafrikas. Aber Superfrauen und keine Nutten, so wie hier.“
Zwei Kameraden wollten nicht weiter. Sie strebten zu einer Kneipe mit fantastischen orientalischen Ornamenten in allen Farben bemalt und einer roten Laterne vor der Tür. Es war offensichtlich ihr Stammlokal, sie kannten sich dort aus, sie kannten die Frauen und es war ihnen recht so. Zu viert zogen die anderen weiter.
Harry staunte, als sie durch ein kleines Villenviertel gingen. Protzige Villen im Kolonialstil, alle umgeben von einer halbhohen Mauer. Die Mauern waren etwa alle zwei Meter nach Geschmack der Besitzer unterschiedlich geschmückt mit kleinen Türmchen, stilisierten Ornamenten, Sternzeichen oder auch Engelsfiguren. Kunstvolle schmiedeeiserne Tore verwehrten Fremden den Einlass zu den meist mit protzigen Säulen versehenen Haupteingängen. Aus den Gärten wehte ein zarter, aphrodisierender Duft von den üppigen Blüten der Blumenpracht. Orangen-, Zitronen-, Feigenbäume und wunderschöne Dattelpalmen wechselten sich mit der blühenden Pracht ab. Fast übergangslos kamen sie dann durch einige Gässchen eines Berberviertels, so schmal, dass sie gerade zu zweit nebeneinander gehen konnten. Die Gassen waren zum Teil völlig ungepflastert oder mit grobem Kopfsteinpflaster versehene Berg- und Talbahnen. Zu beiden Seiten standen aneinandergefügt die Häuser, meist schäbig, mit tiefen Mauerrissen zwischen den groben Felssteinen, abgeblätterter Farbe und kleinen Türen und Fenstern, die alle verriegelt und verrammelt waren. Abrupt traten sie aus diesem etwas deprimierenden Viertel auf eine mit Palmen geschmückte Hauptstraße, eine prächtige breite Allee. Der Verkehr darauf beschränkte sich auf wenige Autos und einige elegante Pferdekutschen. Dann standen sie vor dem vornehm wirkenden, mit kunstvollen orientalischen Ornamenten umrankten Haupteingang des El-Jazair Royal. Vorbei an einem riesigen in operettenhafter Generaluniform gekleideten Portier betraten sie einen mittelgroßen Saal. Mehrere geradezu königlich vornehm wirkende Kronleuchter verbreiteten eine strahlende und doch angenehme Helligkeit. Im Saal war es leicht verräuchert, aber alles war überlagert von einem facettenreichen Duft vieler und offensichtlich edler Parfums. Gesprächsfetzen und Lachen wehten von den Tischen und den Paaren auf der Tanzfläche herüber. Der angenehme Geräuschpegel wurde von einer kleine Kapelle dominiert, die auf einem Podium in der Ecke des Saales sehr gekonnt Tanzmusik spielte. Sie fanden einen kleinen Tisch und bestellten. Andree trank Supernova, die beiden anderen Jungs, wohl animiert von der vornehmen Atmosphäre, bestellten eine Flasche Champagner. Harry blieb bei seinem Mineralwasser.
Sie sahen sich um. Mein Gott, die Frauen waren wirklich wunderschön. Die meisten Gäste waren aber offensichtlich Paare. Die Männer waren unterschiedlich gekleidet. Teilweise sportlich, lässig, ähnlich wie die vier Legionäre in ihrer Zivilkluft. Einige elegante Typen trugen Abendgarderobe, meistens in Weiß. Sie wirkten sehr elegant. Genauso wie einige Algerier in ausgesuchter Berbertracht aus schneeweißer Seide. Ein paar Offiziere der regulären französischen Armee in Ausgehuniform nahmen sich dagegen fast wie Fremdkörper aus.
Die holde Weiblichkeit, so weit Harry sich auch umsah, war wunderschön. Oder war es nur die tolle feierliche Beleuchtung, oder vielleicht auch die hohe Kunst des Schminkens? Aber es waren alles Paare. Nein, zum Glück doch nicht. Ein wenig entfernt, in der Nähe des Podiums für die Kapelle, sah Harry zwei kleine Tische mit jungen Frauen, die scheinbar solo waren. Misstrauisch fragte er Andree: „Schau mal da drüben, sind das vielleicht Bordsteinschwalben, die auf Kundschaft warten?“
Andree lachte: „Nein, ganz sicher nicht, das hier ist ein vornehmes Lokal in erster Linie für Paare, meisten wirklich Ehepaare. Hier kommen nicht einmal Edelnutten zur Ausübung ihres Berufes rein. Dagegen würden sich die Damen, ob verheiratet oder ledig, schon wehren. Geh doch ruhig mal rüber, versuch dein Glück, fordere eine zum Tanz auf.“
Harry überwand seine Unsicherheit und stand auf. Andree hielt ihn noch einmal zurück: „Eines solltest du allerdings bedenken: Alle Einheimischen, vor allem die jungen, egal, ob Mann oder Frau, sympathisieren mit den Rebellen. Also sei vorsichtig.“
Harry schlenderte zu den beiden Tischen mit den sechs oder sieben hübschen Frauen. Als er etwas näher kam, sah er nur noch eine. Ihm stockte der Atem. Mein Gott, das war wirklich die schönste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Glänzendes, schulterlanges, blauschwarzes Haar. Die Haut wie Samt und wie heller Milchkaffee. Dunkelbraune, intensiv strahlende Augen. Nein, nicht nur braun, da war noch ein glänzender grünlicher Schimmer. Eine überraschend schmale Nase über einem sinnlichen, etwas breiten Mund. Die roten Lippen so verlockend, dass Harry unwillkürlich an die verbotene Frucht, den Apfel im Garten Eden, denken musste. Dieses Wunder von einer Frau trug ein ärmelloses rotes Kleid mit einem dezenten Ausschnitt. Doch so dezent der Ausschnitt auch war, deutete er doch einen formvollendeten üppigen Busen an, der sich darunter verbarg. Harry war einen Moment staunend und ein wenig fassungslos stehen geblieben. Doch jetzt gab er sich einen Ruck. Da schlängelte sich elegant ein hochgewachsener Berber in einer eleganten weißen Djellaba an ihm vorbei und forderte dieses Wunder zum Tanz auf. Das Wunder schaute einen Sekundenbruchteil zu Harry und ließ ein kleines Lächeln aufblitzen. Harry bildete sich ein, es sei ein bedauerndes Lächeln. Aber erst einmal schritt sein Wunder an der Seite des Berbers zur Tanzfläche. Harry stand wie erstarrt und schaute ihr fast anbetend nach. Ja, üppiger Busen war richtig. Aber darunter kamen eine Wespentaille, dann ein verlockender Po, der sich dezent unter dem Kleid abzeichnete, und traumhaft schöne Beine in roten hochhackigen Schuhen. Von den Beinen, die Harry sofort als traumhaft eingestuft hatte, sah er zwar nur die Waden, aber auch die versprachen viel.
Erneut gab er sich einen Ruck. Du kannst hier nicht wie eine erstarrte Salzsäule stehen bleiben. Möglichst unauffällig machte er einen kleinen Kurswechsel und forderte die nächste Dame zum Tanzen auf. Mit einem unverkennbar amüsierten Lächeln ging sie mit Harry zur Tanzfläche. Nach den ersten Tanzschritten lächelte sie ihn erneut an, wieder amüsiert und auch gleichzeitig herausfordernd. Dann zwitscherte sie: „Sei ehrlich, Fremder, du wolltest gar nicht mit mir tanzen, du wolltest Yamalia auffordern. Du hattest doch nur Augen für sie.“
Harry gab sich entrüstet: „Natürlich wollte ich mit dir tanzen. Ich weiß doch gar nicht, wer Yamalia ist.“
„Komm, schwindle nicht. Den ganzen Weg zu unserem Tisch hast du sie fasziniert angestarrt. Yamalia ist meine Freundin, die neben mir saß und die dir ein anderer weggeschnappt hat, weil er etwas schneller war. Aber ich kenne das und bin es gewohnt, dass alle begeistert von ihr sind. Schließlich ist sie unsere Schönheitskönigin. Also nicht nur unsere, sondern die einzige, die echte, die wahre. Yamalia ist die offizielle Miss Algeria des letzten Jahres. Aber mach dir keine großen Hoffnungen. Yami macht sich nicht viel aus Fremden.“
Mit lockerem Geplauder drehten sie sich weiter. Harry bemühte sich, allerdings ohne großen Erfolg, auch über andere Themen als Yamalia zu sprechen. Nach drei Tänzen endete das Set und sie schlenderten langsam zum Tisch zurück. Harrys Wunder hatte sich gerade wieder gesetzt, als er sich dankend vor seiner Tanzpartnerin verbeugte. Wieder blitzte von, wie er ja nun wusste, der Schönheitskönigin ein kleines Lächeln auf. Hinterher war Harry erstaunt über seinen Mut, aber dieses kleine aufblitzende Lächeln bracht ihn dazu, spontan zu fragen: „Würden Sie den nächsten Tanz für mich reservieren, Yamalia?“
Sekundenlang blickte sie ihn mit ihren wunderschönen Augen erstaunt an. Dann kam ein herzliches, freimütiges Lächeln. „Ja, gerne.“
Harry war selbst erstaunt über seinen Mut und vor allem über seine Spontaneität. Das war sonst nicht seine Stärke. Mit dem guten satten Gefühl, der Anfang sei gemacht – du warst ja richtig gut –, schlenderte er zu seinem Tisch zurück. Andree sah ihn verschmitzt lächelnd an. „Na, Harry, du hast doch nicht etwa Feuer gefangen?“
Jovialer als nötig und als wahrhaftig lachte er seine Verlegenheit weg. Dann meinte er ziemlich leise: „Na ja, sind schon verdammt hübsche Mädchen.“
„Ja, Harry, das sind sie, aber vergiss nicht, vergiss nie, wir sind hier in Feindesland. Die Mädels sind hübsch. Vielleicht bist du ihnen auch wirklich sympathisch, aber in erster Linie sind sie Töchter ihres Landes, sind sie Sympathisanten der Freiheitskämpfer – und du bist der Feind.“
Irgendetwas in Harry war schizophren. Er wusste, dass die sachlichen Argumente von Andree richtig waren. Aber nichts, absolut nichts auf der Welt hätte ihn davon abhalten können, alles, und zwar wirklich alles zu versuchen, um dieses Wunder Yamalia näher kennenzulernen. Gebannt starrte er zur Kapelle. Als er sah, dass die Musiker ihre Instrumente ergriffen, sprintete er los. Rechtzeitig beim ersten Ton stand er vor seinem Wunder. „Darf ich bitten?“ Alle Gedanken waren ausgeschaltet, als Harry, ihren Arm in seinem verspürend, zur Tanzfläche schritt.
Als sie die ersten Tanzschritte machten, waren da nur noch solche Gedanken: Mein Gott, ist die schön, aber du musst was sagen. Du kannst nicht stumm sein wie ein Ölgötze. Sag was! Ihm fiel nichts ein. Er spürte sie nur. Sie lag in seinen Armen, er war selig, aber ihm fiel nichts ein. Bevor es peinlich wurde, platzte er heraus: „Yamalia, du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Du bist, ja, du bist ein Wunder.“
Aus seinem Wunder platzte ein spontanes, schallendes Gelächter heraus. Obgleich ein solches Gelächter auf der Tanzfläche etwas unpassend war, sah Harry sie nur verzaubert an.
„Also, weißt du, Fremder, schöne Frauen haben wir hier sehr viele. Wie meine Freundin mir sagte, weißt du inzwischen, dass ich letztes Jahr zufällig Schönheitskönigin geworden bin. Das hat nichts zu bedeuten. Das hätten genauso gut hundert andere werden können. Aber wer bist du?“
Irgendwo im Hintergrund meldete sich Harrys Gehirn. Es schellten die Alarmglocken. Denk dran, was Andree dir gesagt hat. Wenn du bei diesem Wunder was erreichen willst, kannst du dich nicht als Feind und Unterdrücker offenbaren. Außerdem könnte es gefährlich werden, wenn sie mit den Rebellen zu tun hat. Die sind fanatisch und erbarmungslos.
„Ach, ich bin nur ein deutscher Soziologiestudent. Ich möchte gerne etwas über euer Land kennenlernen, über eure Probleme, eure Gedanken, eure Gefühle. Jedenfalls war das bis vorhin so. Jetzt aber möchte ich nur noch dich kennenlernen, die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Yamalia, du bist wunderbar …“
So ging es auch bei den nächsten beiden Tanzsets weiter. Harry baggerte, so gut er es konnte. Er wusste gar nicht, wie gut er es konnte, er übertraf sich selbst.
„Harry, mir ist heiß und ich habe Durst.“
Lachend und Arm in Arm schlenderten sie durch das Gewühl festlich und farbenfroh gekleideter Menschen, inmitten einer Atmosphäre fröhlicher, feiernder Menschen verschiedenster Nationalitäten. Wer könnte in diesem Saal, in dieser Stimmung glauben, dass unweit dieser Umgebung Hass, Gewalt und bitterste Armut dominierten.
Mit strahlenden Augen nahm Yamalia ein Glas perlenden Champagner entgegen. Harry prostete ihr mit einem Glas Mineralwasser zu. „Auf dich, die schönste Frau, die ich je gesehen habe, und vielleicht auch auf uns beide. Ich möchte dich so gerne ein wenig näher kennenlernen.“
Yamalia sah ihn einen Moment ernst mit ihren wunderschönen Augen an, unergründlich tief und von dunkelbraun bis intensiv grün schimmernd wie ein Gebirgssee im Sonnenschein. Durstig tranken sie. Dann lachte sie auf. Ihre strahlend weißen Zähne waren wie ein Sternenkranz in dem Goldglanz ihrer Haut. Diese Haut in der Farbe wie Kaffee, in den man großzügig dicke weiße Sahne gerührt hatte. Ihre Lippen waren voll, von dunklem Rot und schimmerten feucht. Einen Moment lang wurde sie wieder ernst. „Ja, vielleicht könnten wir uns kennenlernen.“ Dann kam wieder ihr perlendes Lachen. „Sag mal, Harry, spielen wir hier verkehrte Welt? Ich bin Moslem und trinke Champagner und du trinkst Wasser. Oder bist du ein deutscher Moslem? Ich glaube ja auch nicht, dass Allah etwas dagegen hat, eine so schöne Atmosphäre und eine so fröhliche Stimmung mit einem Glas Champagner noch etwas zu verschönern.“
Harry versuchte, sein Wunder nicht allzu auffällig anzuschmachten. „Nein, ich vertrage einfach keinen Alkohol“, meinte er kurz, um dann wieder ein bisschen zu baggern: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Allah der Welt eine so schöne Frau schenkt, um dann bei einem Glas Champagner kleinlich zu sein.“
„Danke, das hast du schön gesagt. Könnte ich dann vielleicht noch ein zweites Glas haben?“
Harry brachte ihr ein neues Glas und sah sie fasziniert an, als sie mit sichtlichem Genuss trank. Ihr leicht gewelltes Haar war tiefschwarz und schimmernd, sodass es aussah, als fiele ein Vorhang aus Onyx auf ihre Schultern. Auch ihre langen Wimpern und ihre weich geschwungenen Augenbrauen zeigten dieses tiefe Schwarz. Ein schwarzer Panther, so schoss es Harry durch den Kopf. Er hatte vor einiger Zeit diese Großkatzen bei Hagenbeck in Hamburg bewundert. Die geschmeidigen Bewegungen und die rassige Schönheit Yamalias weckten Erinnerungen daran.
Locker plauderten sie miteinander. Yamalia studierte Literatur an der Universität von Algier. Sie sprach begeistert von ihren Lieblingsautoren und fragte Harry wiederholt, ob er dieses oder jenes Buch von diesem oder jenem Autoren kenne. Fast immer musste Harry passen. „Nein, ich interessiere mich mehr für die Menschen selbst, für ihr Verhalten, für das, was sie gerne leben möchten, und für das, was sie aufgrund der Lebensumstände oft leben müssen. Eigentlich ist das ja erst mein Vorstudium. Ich versuche, Menschen, Umstände, Mentalitäten kennenzulernen. Mein eigentliches Studium beginnt erst in einigen Monaten. Ich habe mich um einen Studienplatz in Valencia in Spanien beworben“, meinte er, um wenigstens teilweise die Wahrheit zu sagen.
Zwischendurch strebten sie immer wieder zur Tanzfläche und freuten sich darüber, dass sie auch beim Tanzen immer besser harmonisierten. Ihre Tanzhaltung wurde immer enger, immer intensiver und immer intimer. Aber das merkten sie gar nicht. Es war einfach schön. Es war ein Fest. Beim Tanzen für den Körper und beim Miteinanderreden und -lachen ein Fest für die Seele.
Sie machten gerade wieder eine Tanzpause an der Sektbar, als Andree zu ihnen trat. „Bitte, Harry, auf ein Wort“, sagte er und versuchte, ihn möglichst unauffällig etwas abseits zu führen.
Harry sah ihn unwillig an. „Muss das sein?“
„Ja, es muss, unbedingt!“
Harry entschuldigte sich bei Yamalia. „Ich bin in einer Minute wieder da.“
Andree erklärte ihm resolut, dass sie gehen müssten. Den letzten Termin für ihren Nachtausgang hätten sie ohnehin schon überschritten und die anderen wollten auf keinen Fall noch länger bleiben.
Harry fühlte eine heiße Welle der Wut in sich aufsteigen. „Ja, dann geht doch. Ich bleibe auf jeden Fall noch hier. Das ist die tollste Frau, die ich je kennengelernt habe, und ich mache doch nicht alles kaputt, indem ich jetzt einfach gehe.“
Andree redete mit Engelszungen, machte ihm klar, dass er auf keinen Fall alleine hierbleiben dürfe. „Du weißt, es ist streng verboten. Willst du deswegen etwa in den Bunker wandern? Dann siehst du dein Mädchen garantiert nicht wieder. Außerdem ist es wirklich gefährlich. Du weißt doch gar nicht, wie viele fanatische Freiheitskämpfer sich hier unter den Gästen befinden, und wenn sie in dir einen Legionär vermuten, der wehrlos ist, weil er alleine ist, dann ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert.“
Harry wurde nachdenklich. Bei all seinem Tunneldenken, seinem zwanghaften unbedingten Wunsch und Wollen, weiter bei Yamalia zu bleiben, konnte er doch die Erkenntnis nicht wegschieben, dass Andree völlig recht hatte.
„Okay, Andree, aber gib mir noch eine halbe Stunde oder zumindest eine Viertelstunde. Noch ein Tanz und die Möglichkeit, mich mit ihr zu verabreden. Bitte halt die anderen so lange fest.“
Etwas widerwillig sagte Andree zu. „Aber beeil dich bitte!“
Sehr bedrückt ging Harry zurück zu seiner Traumfrau. Die sah ihn schelmisch lächelnd an. „Harry, was ist los? Hat man dir deine Brieftasche gestohlen oder was bedrückt dich so?“
Harry trank einen Schluck Mineralwasser, sah sie zerknirscht an und meinte mit einem verunglückten Lächeln: „Bitte, Yami, lass uns tanzen, ich muss dir etwas sagen.“ Das Fatale war jedoch, dass er noch nicht wusste, was er ihr sagen sollte. Auf der Tanzfläche improvisierte er dann: „Es ist so ein Mist, aber ich muss gehen. Ich habe den anderen Jungs versprochen, dass sie heute Nacht in meiner Pension übernachten können. Die wollen nun unbedingt weg und ohne mich kommen sie nicht rein. Ich möchte so gerne noch bei dir bleiben und ich gehe auch nur, wenn du mir verspricht, dass wir uns wiedersehen und wann. Sonst gehe ich nicht, und wenn ich dadurch meine drei besten Freunde verliere!“
Yamalia sah ihn etwas merkwürdig an. Ja, da lag Misstrauen in ihrem Blick. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte.
„Bitte, Yami, können wir uns morgen wiedersehen? Es ist mir so ernst und so wichtig.“
Sie sah ihn ernst an, kein Lächeln, kein Strahlen in den Augen. Es dauerte lange, bis sie schließlich leise, ganz dicht an seinem Ohr sagte: „Ich möchte dich ja auch wiedersehen, aber merkwürdig ist das schon.“ Wieder eine lange Pause. „Ich weiß nicht, und überhaupt, morgen fahre ich für drei Tage an die Seenplatte von Tiaret.“
Harry sah seine Felle davonschwimmen. Er wusste, dass er nur noch eine Woche krankgeschrieben war. Dann musste er fort von Mascara. Dann trat seine Versetzung nach Fort Sidi Boukekeur in Kraft. Harry versuchte, seine Traumfrau überzeugend anzustrahlen: „Lass uns zusammen fahren. Ich werde dir in diesen Tagen den Himmel auf Erden bereiten, ich werde dich auf Händen tragen. Wir können doch nicht so auseinandergehen. Es fängt doch gerade erst an. Ich liebe dich und ich merke, dass ich dir auch nicht gleichgültig bin.“ Er drückte sie ganz fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Bitte, Liebling.“
Dann ging alles ganz schnell. Sie verabredeten sich für den nächsten Vormittag um zehn Uhr vor der nahegelegenen Moschee. Harry war selig. Der Abschied von Yamalia fiel mit einem sehr dezenten, mehr gehauchten Küsschen für seinen Geschmack recht spartanisch aus. Aber er hatte die Verabredung für morgen. Eine Verabredung für drei Tage und drei Nächte. Ihm wurde ganz schwindelig und ganz heiß. War das Glück? War das Erwartung? Oder war es nur Trieb? Oder vielleicht sogar wirklich Liebe?
Als sie die Kaserne erreichten und den Wachhabenden mit viel Überredung und ein paar Scheinen dazu brachten, ihre Rückkehr um einige Stunden zurückzudatieren, kamen Harry allmählich Bedenken und Zweifel. Wie sollte er es anstellen, drei Tage und Nächte Urlaub zu bekommen? Immer wieder wachte er in dieser Nacht auf und überlegte sich neue Strategien. Am nächsten Morgen ging er ganz früh zum Commandeur. In strammer, formvollendeter Haltung meldete er, dass Colonel Jerez, durch dessen Empfehlung er zum Protegé-Praktikanten wurde, gestern in Mascara eingetroffen sei und heute für drei Tage an die Seenplatte von Tiaret reisen wolle. Als er gehört habe, dass Harry krankgeschrieben war, habe er darum gebeten, ihn zu begleiten. „Der Colonel hat mir aufgetragen, Ihnen seine besten Empfehlungen zu übermitteln, mit der Bitte, mir drei Tage Urlaub zu geben, damit ich als eine Art Begleitschutz mitkommen kann.“
Der Commandeur sah ihn etwas zweifelnd an und es dauerte eine Zeit lang, bis er sich zu einem positiven Entscheid durchrang. „Nun gut, der Name von Colonel Jerez ist in der Legion bekannt, fast schon legendär. Sie bekommen Ihren Urlaubsschein. Sie fahren in Zivil, nehmen aber besser eine Waffe mit.“
Stramm bedankte sich Harry. Er musste sich zwingen, nicht laut zu jubeln. Schnell packte er eine kleine Reisetasche. Ganz unten, unter dem Hemd und der Wäsche zum Wechseln, legte er seine Dienstwaffe und den Urlaubsschein. Rechtzeitig erreichte er den vereinbarten Treffpunkt. Etwas unwillig schob er die Gedanken weg, die ihn kurz streiften. Gedanken wie: Das ist alles auf Lügen aufgebaut und außerhalb der Legalität. Hier gibt es keinen Ex-Colonel Jerez, also bist du als Legionär alleine. Das ist strikt verboten und es ist ja wohl auch gefährlich. Aber diese Gedanken waren unerwünscht, also weg damit. Ein triumphierendes Hochgefühl, wie auf Wolke sieben, setzte sich in seinen Empfindungen durch. Mensch, Harry, du bist tatsächlich mit der Schönheitskönigin dieses Landes verabredet. Aber der Titel war nicht so wichtig. Ihm wurde heiß, wenn er an die rassige Schönheit Yamalias, ihr blitzenden Augen, ihr betörendes Lächeln, ihre verlockenden Lippen und auch ihr lockeres, intelligentes Geplauder dachte.
Er beobachtete das bunte Treiben vor der Moschee, ohne es wirklich aufzunehmen. Etwas nervös steckte er sich eine Zigarette an. Schon zehn Minuten über der Zeit. Vielleicht kommt sie gar nicht. Vielleicht hat sie mir meinen gestrigen, etwas abrupten Aufbruch doch übel genommen. Vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen. Vielleicht hat sie es gar nicht ernst gemeint. Harry wurde langsam richtig zappelig. Gerade wollte er sich eine weitere Zigarette anstecken, als ein kleiner Citroën neben ihm hielt und Yamalia ihm strahlend winkte, einzusteigen. Mein Gott, war sie wieder schön. Harry fühlte körperlich, wie sein Herz anfing zu glühen, als er sie in dem engen Wagen zur Begrüßung kurz in den Arm nahm. Yamalia trug ein luftiges, ärmelloses, rotes Sommerkleid. Harry strahlte sie an und sagte spontan, ehrlich und voller Elan, wie sehr er sich auf ihren gemeinsamen Ausflug freue.
Sie lächelte ihn verheißungsvoll an, wurde dann aber für kurze Zeit ganz ernst. „Ich war mir nicht so sicher, ob es richtig ist.“ Übergangslos wies sie auf eine kleine Ansammlung wunderschöner Palmen, als sie die Außenbezirke von Mascara hinter sich ließen. „Ist mein Land nicht schön?“ Wieder wurde sie ernst. Harry hatte den Eindruck, dass sie ihren verlockenden Mund, ihre vollen roten Lippen wütend zusammenkniff. Eine steile Falte, die er noch gar nicht an ihr gesehen hatte, erschien zwischen ihren sanft geschwungenen Augenbrauen. „Wie viel Krieg, wie viel Grauen und wie viel Blut braucht es wohl noch, bis wir endlich wieder ein freies Volk sind?“ Harry schwieg betreten und mit schlechtem Gewissen. Aber sie erwartete wohl auch keine Antwort, sondern erzählte weiter: „Vor über 130 Jahren, im Jahre 1830, haben die Franzosen das erste Mal versucht, Algerien zu erobern. Aber unser Heerführer Abl al-Quadir stellte sich ihnen entgegen und vertrieb die Franzosen in langjährigen Kämpfen wieder. 1837 kam es zu dem Vertrag von Tafna, in dem die Franzosen sowohl Algeriens Selbstständigkeit als auch Abl al-Qadir als Emir von Algerien anerkannten. Keine zehn Jahre später brachen die Franzosen diesen Vertrag und drangen im Osten erneut in Algerien ein und besetzten es schließlich.“
Harry traute sich nicht, etwas darauf zu sagen. Sie schwieg, hatte wieder diesen strengen, zornigen Gesichtsausdruck, dann spuckte sie voller Hass einen Fluch in ihrer Heimatsprache aus, von dem Harry nur das Wort Allah verstand. Er fühlte sich schlecht, wie ein Verräter kurz vor der Entlarvung. Aber Yamalia fuhr fort.
„Nach der Besetzung ging das Ausplündern erst richtig los. Unser Grund und Boden, unsere Heimat wurde ohne Ende einfach enteignet und Neusiedlern übergeben. Es kamen Franzosen, Italiener, Spanier. Alle bekamen unser Land, nur wir Algerier nicht. 1870 bis 1871 kam es zu einem Volksaufstand gegen diese Enteignungen, der in grausamster und blutigster Weise von über 100.000 regulären französischen Soldaten niedergeschlagen wurde. Etwa ein Viertel unserer gesamten Bevölkerung wurde dabei ermordet. Aber die Unabhängigkeitsbewegung wurde nie völlig erstickt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Zehntausende von Algerien auf französischer Seite gekämpft haben, wurden diese als Menschen zweiter Klasse von den Franzosen wieder verstoßen. Es kam wieder zu Unruhen und Aufständen. Bei einem Massaker bei der Stadt Setif wurden dann Zehntausende meines Volkes von der französischen Armee regelrecht abgeschlachtet. 1954 schließlich begann der organisierte Unabhängigkeitskrieg unter der Führung der FLN, der Front de Libération Nationale. Obgleich die Franzosen mittlerweile mit über 300.000 Soldaten hier kämpfen, werden sie genauso scheitern wie in Vietnam. Die Zeit der Sklaverei muss endgültig vorbei sein. Die ersten Verhandlungen über die Beendigung des Krieges und das Erreichen unserer Selbstständigkeit haben bereits begonnen.“
Harry hatte mit atemloser Spannung zugehört. So detailliert, so wahrheitsgemäß, so schonungslos hatte er bisher nicht einmal annähernd vom Algerienkrieg gehört. Kein Instrukteur der Legion hatte über die Ungerechtigkeiten, den Verrat, die Massaker der letzten 150 Jahre gesprochen. Es wurde nur von Rebellen gesprochen, die sich gegen die legitime Obrigkeit mit hinterlistigen und grausamen Mitteln erheben. Aber trotz der mangelhaften und einseitig gefärbten Informationen, die ihm in der Legion eingetrichtert wurden, war Harry innerlich stets davon überzeugt gewesen, dass es nicht richtig sein konnte, ein Volk mit zwanzig Millionen Einwohnern mit Gewalt zu unterdrücken. Irgendwo im Hinterkopf war ihm durchaus bewusst, dass er selbst zu dieser Unterdrückungsmaschinerie gehörte, wenn auch ohne Überzeugung. Er versuchte, von diesen heiklen und unangenehmen politischen Themen wegzukommen. Auf die gerade sehr eintönige Landschaft, sandig und steinig, nur von kargen grauen Büschen unterbrochen, hinweisend, meinte er: „Man hat den Eindruck, als wäre dieses Land völlig leer. Keine Ortschaften, nicht einmal Bäume.“
Yamalia ging eifrig darauf ein: „Du glaubst gar nicht, wie vielfältig unser Land ist. Angefangen bei den herrlichen Stränden am Mittelmeer. Wir haben Gebirge, Wälder, herrliche Oasen. Warte nur, bis wir bei unserer Seenplatte angekommen sind.“
Gemächlich fuhren sie über die nicht besonders gut ausgebaute Straße. Der kleine Citroën hatte ein Stoffrolldach, das natürlich geöffnet war. Die Sonne brannte, aber der Fahrtwind machte die Hitze erträglich, ja geradezu angenehm. Wie aus dem Nichts tauchten nach einer Straßenbiegung plötzlich einige bunte Verkaufsstände am Straßenrand auf. Es wurde Obst angeboten, aber auch Lederartikel und kleine Haushaltswaren. Yamalia palaverte etwas mit dem Apfelsinenverkäufer, der sich daraufhin mit etlichen Früchten zu einem kleinen separaten Hocker begab. Kurz darauf kam er mit zwei Gläsern frisch gepresstem Orangensaft zurück. Mit Genuss tranken sie in kleinen Schlucken und sahen sich um. Auch hier war die Landschaft recht öde. In einiger Entfernung war ein kleines Dorf zu sehen. Harry dachte mit schlechtem Gewissen an die Durchsuchungsaktionen mit seinen Kameraden. Erfrischt fuhren sie weiter.
„In gut einer Stunde werden wir da sein.“
Nach einiger Zeit wurde die Landschaft freundlicher, irgendwie grüner. Es tauchten mehrere kleine Dörfer mit grünen Inseln drum herum, bebaute Felder und sogar kleine Waldstücke auf. Voraus am Horizont sah Harry einige zarte weiße Wattewölkchen am sonst so makellos blauen Himmel. „Dort liegen die Seen von Tiaret. Das in der Hitze verdunstende Wasser zaubert meist einige zarte weiße Wölkchen wie einen Wegweiser an den Himmel. Es wird dir dort gefallen“, versprach Yamalia.
Je näher sie kamen, desto zauberhafter wurde die Aussicht. Große Palmenansammlungen wurden langsam erkennbar, und bunt wurde es. Zwischen den Palmen wuchsen üppige blühende Büsche. Es war Harry, als kämen sie nach der Öde und der meist grauen Landschaft während der Fahrt in eine andere, schönere Welt. Auch die Luft schmeckte anders. Sie war lieblicher, milder und es duftete nach Blüten und Früchten.
Sie durchfuhren einen kleinen Ort, aber es waren keine Hütten, die am Rand der unbefestigten Straße aus hartem Lehmboden standen, sondern schmucke kleine Wochenendhäuser, die sich blendend weiß hinter blühenden Büschen zeigten. Kleine Läden oder Café-Häuser mit Stühlen und Tischen davor, an denen meistens alte Männer saßen, Tee oder Kaffee tranken und Wasserpfeife rauchten, unterbrachen das Bild.
Yamalia lenkte den Citroën auf eine Einfahrt zu einem langen weißen Gebäude in maurischem Stil. Das Haus war in drei Ferienwohnungen aufgeteilt, die die Organisation der Miss Algeria unterhielt, und eine der Wohnungen hatte Yamalia für diese drei Tage erhalten. Hand in Hand betraten sie die Wohnung, die einen großen Wohnraum, eine kleine Küche, ein Bad und ein Schlafzimmer hatte. Der Wohnraum, dem sich eine Terrasse mit blühendem Garten anschloss, war etwas karg möbliert, hatte ein großes, sehr flaches Sofa, einen kleinen Tisch und mehrere sesselähnliche Arrangements, die nur aus losen Kissen bestanden.
Sie traten auf die Terrasse und nahmen die blühende und duftende Umgebung ganz still und genießend in sich auf. Harry nahm seine Traumfrau sanft in die Arme. Ihm wurde brennend bewusst, dass er sie von dem Moment an, als er sie das erste Mal gesehen hatte, begehrte. Er war mit ihr jetzt an einem herrlichen Ort angekommen, um mit ihr drei Tage und Nächte zusammen zu sein und, ja wirklich, er hatte sie noch nicht einmal richtig geküsst! Liebevoll küsste ihn jetzt Yamalia auf die Wange, sagte lachend: „Komm, mein Romeo, lass uns erst einmal die schöne Umgebung erkunden“, und zog ihn übermütig hüpfend mit sich.
Nach wenigen Minuten erreichten sie den See. Hier gab es keine Häuser mehr, da das Ufergebiet etwas sumpfig war. Auf schmalen, festen Wegen erreichten sie einen Schilfgürtel. Vorsichtig tasteten sie sich durch das Schilf auf einem kaum erkennbaren schmalen Weg weiter zum See. Plötzlich öffnete sich das Schilf auf der einen Seite hin zu einer festen Sandbank direkt am See und doch bis auf eine kleine Öffnung zum Wasser ganz vom Schilf eingeschlossen. Freudig erregt von dem herrlichen Ausblick auf den See, der etwas Geheimnisvolles und etwas Heimliches an sich hatte, und auch etwas atemlos von ihrer Pirsch durch das Schilf, legten sie sich in den heißen Sand. Die heiße Wüstensonne erreichte ihren traumhaft schönen Platz, der abgeschieden wie in einer anderen Welt lag, nur gedämpft und mild gestimmt durch den hohen Schilfbewuchs. Schilf, das sich im heißen Wüstenwind wog. Im Gleichklang, wie die Körper einer perfekt eingeübten Ballettgruppe. Zwischen den Körpern, den Schilfstauden, glitzerte in silbriger Pracht, funkelnd, wie mit Brillanten besetzt, der See dieser herrlichen Oase. Plötzlich wurde das Glitzern der Brillanten auf dem Wasser von einem kleinen Segelboot durchschnitten, das hinter den in perfektem Gleichklang tanzenden Stauden lautlos dahinglitt. Es war ein Bild, es war eine Stimmung wie im Märchen. Ganz still, ganz überwältigt von so viel paradiesischer Schönheit lagen sie Hand in Hand nebeneinander. Keiner sprach, keiner rührte sich. Harry spürte, wie sich Tränen der Rührung im Bauch oder in der Herzgegend darauf vorbereiteten, in die Augen zu steigen. Tränen fehlten gerade noch. Wie sieht das denn aus, dachte Harry und zog Yamalia sanft in die Höhe.
„Komm, lass uns ins Wasser gehen. Lass uns schwimmen gehen.“
Sie testeten das Wasser mit den Füßen. Es war herrlich.
„Aber wir haben kein Badezeug.“
„Hier ist doch kein Mensch.“
Und wirklich, auch das Segelboot war wieder außer Sicht. Verlangend sahen sie auf das Wasser und sich dann etwas verlegen in die Augen.
„Komm, das wird herrlich.“
Harry riss sich seine Kleidung vom Leibe. Bei der Unterhose zögerte er nur einen Moment, dann war auch die weg und er sprang mit einem Jauchzer in das Wasser. Nach wenigen Schwimmzügen drehte er sich um und sah, dass auch Yamalia sich auszog, ins Wasser sprang, tauchte und im Nu neben ihm auftauchte. Lachend und plantschend wie übermütige junge Hunde tobten sie im Wasser, schwammen ein weites Stück hinaus, kehrten wieder um und alberten im Uferbereich. Das Herumalbern wurde sanfter, ging über in Streicheln und schließlich nahmen sie sich in die Arme. Langsam kamen sie auf ihre verborgene Sanddüne zurück. Einer sagte banal: „Wir haben kein Handtuch.“ Regungslos und ganz dicht standen sie sich gegenüber, sahen sich an, in die Augen, die dann weiter über den tropfenden nackten Körper des anderen wanderten. Harrys steife Männlichkeit war genauso wenig zu übersehen wie die prallen, harten Spitzen von Yamalias herrlichem Busen. Sie sahen sich eine lange Weile stumm an, und in beiden war das Zittern eines reißenden Tieres, bevor es zuspringt und sich in die Beute vergräbt. Kann man erklären, was ein Rausch ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt oder die Erde aufbricht und alles wie in Flammen zu verglühen scheint? Wie zwei Meere, die gegeneinander branden, wie zwei heiße Stürme, die sich treffen und die Wolken aufreißen, so fielen sie sich in die Arme – und übereinander her.
Später, in einem Augenblick klarer Nüchternheit, sah er, dass sie im Sand lagen und dass der Staub der nahen Wüste über ihre Körper wehte. Sand knirschte im Mund, in den Haaren und auf der Haut. Sie hatte ihr Gesicht an seine Brust gepresst und in ihn hineingeschrien: „Ich liebe dich, ich liebe dich, bei Allah, ich liebe dich.“ Ist so viel Glück möglich?, dachte Harry. In diesem Land steht die Welt in Flammen und wir ertrinken in Liebe und Leidenschaft. Nackt, zärtlich und zaghaft begannen sie, sich gegenseitig ein wenig zu erzählen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal in einen Fremden verlieben könnte.“
„Ich habe vom ersten Augenblick im El-Jazair Royal gewusst, dass ich dir verfallen bin.“
Beide waren so vollendet glücklich, so vollendet gesättigt von gegenseitiger Zärtlichkeit, so vollendet befriedigt von gegenseitiger Leidenschaft und gegenseitigem Begehren. Zwischendurch waren sie immer wieder lange still. Es war kein verlegenes Stillsein, sondern ein vollkommenes, vollendetes Wohlfühlen. Ein Glücksgefühl, eine Zufriedenheit, die beide so ausfüllte, dass da gar nichts anderes mehr zu sein brauchte.
Irgendwann verschwand die Sonne, war hinter dem Schilfgürtel völlig abgetaucht. Spielerisch und zärtlich versuchten sie, sich gegenseitig den Sand von der Haut zu streicheln. Yamalia war es, die dann als Erste wieder in der Welt ankam. „Wir sollten zurückgehen, und wenn ich meinen Gefühlen noch trauen kann, dann bin ich durstig und hungrig.“
Erst auf dem Rückweg spürte auch Harry Durst und Hunger, dann aber mit Macht. Seit dem Frühstück hatten beide nichts gegessen und bis auf das Glas Orangensaft auf der Fahrt auch nichts getrunken.
„Es gibt hier nur ein kleines Restaurant, aber das ist sehr gut. Lass uns schnell duschen und uns umziehen.“
Die Dusche war etwas eng. Es war selbstverständlich und ganz klar, dass sie sich beide in die enge Kabine quetschten und es dicht aneinandergedrängt genossen, wie das Wasser den Sand, den Schweiß der Reise und den der Leidenschaft abspülte. Zärtlich seiften sie sich gegenseitig ein. Von gegenseitigem Verlangen ergriffen, probierten sie, wie Küsse unter der strömenden Dusche schmecken. Es dauerte nicht lange, da waren Durst und Hunger erst einmal vergessen. Tropfnass, wieder die Welt vergessend, verschlangen sie sich gegenseitig in hemmungsloser Ekstase auf dem breiten französischen Bett des kleinen Schlafzimmers.
Später, sehr viel später, gingen sie Hand in Hand über die unbefestigten und kaum beleuchteten Straßen des kleinen Ortes zu dem Restaurant. Es war inzwischen dunkel und deutlich kühler. Über ihnen prangte der einzigartige Sternenhimmel Afrikas. Nicht Tausende, nein, Millionen glitzernder, funkelnder Brillanten protzten als verschwenderischer Schmuck über ihrer Glückseligkeit. Das glitzernde Himmelsgewölbe schien ganz nah zu sein und auf der linken Seite zeigte sich fast schamhaft die schmale Sichel eines auf dem Rücken liegenden Mondes.
Das Restaurant hatte nur sechs Tische und zwei davon waren besetzt. Der kleine Raum war fast nur von den Kerzen auf den Tischen beleuchtet. Es war, als hätte man die romantische Atmosphäre extra für die beiden Liebenden gestaltet. Harry wollte erst einmal eine große Flasche Mineralwasser, Yamalia einen leichten Weißwein. Mit Feuer und Esprit versuchte sie, ihm die einheimischen Spezialitäten zu erklären, die auf der kleinen Speisekarte standen. Harry hörte gar nicht richtig zu, konnte sich nicht konzentrieren. Fasziniert sah er ihr ins Gesicht, vollkommen verzaubert von ihrer Schönheit, ihrer Mimik, ihrer Ausdrucksstärke. Er konnte es gar nicht fassen, dass er mit dieser Traumfrau hier saß, dass er mit dieser Traumfrau einen perfekten Tag der Liebe, der Leidenschaft und der Hingabe verbracht hatte. Ihre Augen, in denen er sich so verlieren konnte, in denen er jederzeit bereitwillig und ohne Gegenwehr ertrinken konnte, sprühten vor Leidenschaft, als sie ihm eine ganze Reihe einheimischer Leckereien erklärte. Harry, du bist ein Glückspilz, das Leben ist schön, danke, lieber Gott.
Sie einigten sich auf zwei Portionen Lahm Lalou, zart gesottenes Lammfleisch mit Pflaumen und Mandeln. „Und, Harry“, sprühte Yamalia und strahlte ihn mit vorgestreckten Händen suggestiv an, „du musst unbedingt unsere Suppe aus exotischen Früchten probieren, das ist Mangopüree mit Kokoschips, Früchten und Beeren.“
Harry hatte jetzt einen Bärenhunger und ließ sich nur zu gern überzeugen. Das Essen war hervorragend und es war schon bald Mitternacht, als sie satt, zufrieden und entspannt zu ihrer Wohnung zurückschlenderten. Dankbar spürten sie die Wärme, die sich in der Wohnung gestaut hatte, denn es war inzwischen recht kalt geworden. So brutal heiß das Wüstenklima am Tage sein kann, so empfindlich kalt kann es nachts sein. Schon bald kuschelten sie sich im Bett aneinander. Wieder versanken sie in purer Zärtlichkeit.
Sanft umspülte das Wasser den Außenpoller des etwas wackeligen Bootsstegs. Ein leichtes Plätschern, gerade noch hörbar, rhythmisch, beruhigend, fast einlullend. Die Strahlen, die schon wieder mit Macht und Kraft von dem gleißenden, orangefarbenen Ball am makellos blauen Himmel die Welt Nordafrikas trafen, verschenkten ein blitzendes, schillerndes Feuerwerk, wenn sie sich im plätschernden Wasser brachen. Es gab kaum andere Geräusche in diesem warmen Paradies aus gleißendem Wasser, nahen Palmenhainen und einigen hinter dem Schilfgürtel durchscheinenden weißen Mauern. Wenige kleine Segelboote und einige Ruderboote waren am Steg festgemacht. Yamalia verhandelte mit einem Piraten im Ruhestand. So sah er jedenfalls aus. Ein großer, grauhaariger, etwas gebeugter und doch stolzer Mann mit dichten grauen Stoppeln im Gesicht. Er lächelte freundlich beim Sprechen und zeigte ohne Scheu seine Zahnlücken. Er trug eine weite, wehende und nicht überall ganz saubere weiße Djellaba.
„Die Segelboote gehören alle Privatpersonen und sind nicht zu vermieten, aber ein Ruderboot könnten wir haben. Wollen wir?“, fragte Yamalia nach ihren Verhandlungen mit dem Piraten und Harry sagte freudig zu. Auf ihre Frage, ob er denn damit umgehen könne, meinte er übermütig: „Na klar, schließlich war ich mal Seemann.“
Harry ruderte auf den See hinaus. Die Sonne brannte. Es wurde heiß und auch das Eintauchen der Arme oder Beine im Wasser und das Befeuchten des Gesichts brachte nur kurz die gewünschte Abkühlung. Harry steuerte den Uferrand an, an dem das hohe Schilf etwas Schatten schenkte. Er zog die Riemen ein, beide setzten sich nebeneinander und erzählten dem anderen von sich, immer wieder von sanften oder auch heftigen Kussattacken unterbrochen.
Harry erzählte von seinen zwei Jahren Seefahrt. Von seinem Arbeitsunfall in Spanien und seiner einmonatigen Zwangspause. Wie er dabei seine Liebe zu dem Land Spanien und der spanischen Mentalität entdeckt hatte. Seine Liebe zu Nina in dieser Zeit streifte er nur am Rande. Er sprach aber von seiner Freundschaft zu einem einflussreichen Señor, der ihm auch Studienplatz und Stipendium in Valencia ermöglichen würde. Er würde am liebsten Soziologie studieren, müsse aber, zumindest erst einmal, mit Jura beginnen. Die Verbindung des „einflussreichen Señors“ zur Fremdenlegion und seinen wirklichen Status hier in diesem Land verschwieg er natürlich. Dafür erzählte er ausführlich von seiner kaufmännischen Ausbildung und seiner Sehnsucht danach, trotz dieser Ausbildung zu studieren.
Yamalia war in Algier aufgewachsen. Ihr Vater war ein recht erfolgreicher Schmuckhändler. Für sie stand schon früh, eigentlich schon im Kindesalter fest, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Schon in der Schülerzeitung hatte sie mehrere Geschichten veröffentlicht. Ihre Einschreibung zum Studium der Literatur war dann nur folgerichtig. Aber schon am Ende des ersten Semesters begann die „Miss-Story“, wie sie es nannte. Nach einer kleinen regionalen Miss-Wahl an der Universität kamen weitere Ausscheidungen bis zur Wahl zur nationalen Schönheitskönigin. „Vor allem dadurch stagniert mein Studium. Außerdem gibt es Wichtigeres zu tun, solange wir unter der Knechtschaft Frankreichs leben müssen.“
Auf diese Aussage ging Harry vorsichtshalber nicht ein. Er hatte ein ganz schlechtes Gefühl, weil er sie in dieser verdammten Sache Fremdenlegion belügen oder ihr zumindest die Wahrheit verschweigen musste. Aber es ging doch nicht anders. Er war sich ziemlich sicher, dass Yamalia auch aktiv etwas mit der Freiheitsbewegung zu tun hatte, und ihre kurze Bemerkung, es gebe jetzt Wichtigeres zu tun, untermauerte das. Aber er wollte nicht weiter darüber nachdenken und schon gar nicht darüber sprechen.
Zwischendurch waren sie zum Bootssteg zurückgerudert und hatten dort am nahen Obststand leckere Früchte und Wasser gekauft.
„Komm, wir machen Picknick auf unserer Sandbank.“
Sie mussten ein wenig suchen, bis sie die Stelle vom Wasser aus gefunden hatten. Dann zogen sie das Boot etwas an Land, packten ihre Vorräte und betraten mit einem schon richtig vertrauten Gefühl ihre Sandbank. Erst einmal schwammen sie eine Runde im See. Erfrischt, entspannt und glücklich breiteten sie die heute mitgebrachten Handtücher aus. Sogar Bikini und Badehose hatten sie heute dabei. Mit Behagen genossen sie ihr Picknick, erzählten weiter von sich, ein wenig von ihren Familien und ganz wenig und sehr zurückhaltend auch von der Zukunft. Im Schattenbereich des Schilfgürtels war es herrlich warm, aber nicht heiß. Träumerisch legten sie sich zurück und blickten in den makellos blauen Himmel, auf das glitzernde, dezent vor sich hin flüsternde Wasser. So etwa musste es im Paradies, dem Garten Eden, gewesen sein. Harry fragte träge, ob es den Garten Eden auch im Islam gebe. Doch bevor sie das wirklich erörtern konnten, begannen ihre Hände zu sprechen. Sanftes zärtliches Streicheln der noch feuchten onyxfarbenen Haarpracht, der Stirn, der Wangen, der Augenlider, der Lippen. Harrys Hände wanderten ihren Rücken auf und ab. Kleine, federleichte Küsse folgten. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, näherte sich, drängte sich an seinen Mund und öffnete den ihren für seine Zunge, die Einlass begehrte. Seine sanft streichelnden Hände befreiten sie von dem Oberteil ihres Bikinis. „Komm her!“, flüsterte Yamalia und nestelte ungeduldig an seiner Badehose. Endlich lag Haut auf Haut. Weiche Rundungen schmiegten sich an harte Muskeln. Beide begannen unter den Händen des anderen zu glühen. Beide gierten danach, vollends von dem anderen Besitz zu nehmen. Wie ein junges Fohlen drängte sie sich an ihn, ihre langen Beine wollten ihn umschlingen. Harry wollte hinauszögern, wollte genießen. Sein Streicheln, seine Berührungen wurden fester, gingen von ihren Waden hinauf zu ihrer Brust und zurück über ihren Bauch. Obwohl ihr magisches Dreieck sich ihm entgegendrängte, setzte sein Streicheln erst wieder an den Schenkeln an. Sie vergaßen die Welt und tauchten ein in leises, wollüstiges Stöhnen. Harry bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, ihre Augenlider, ihre Nase, ihre wunderschönen vollen Lippen. Jetzt nicht mehr so federleicht, sondern heftig und fordernd. Er fuhr mit seiner Zunge in das tiefe Tal zwischen ihrem vollen Busen, erst sanft, dann heftig. Dann wandte er sich ihren harten Brustwarzen zu, küsste sie, spielte mit der Zunge und nahm sie dann zwischen seine Zähne. Yamalia wälzte sich ungeduldig hin und her, presste sich an ihn, wollte mehr. Ihre Beine entfalteten sich wie eine Blüte, sie wollte ihn, sie wollte ihn jetzt. Als sie seine pralle Männlichkeit spürte und in sich aufnahm, brach ein Urschrei der Erleichterung aus ihr heraus. Sie verschmolzen zu einem Fleisch, zu einer Leidenschaft. Es dauerte nicht lange, bis beide ihren Höhepunkt erreichten. Zu lange hatten sie die Gier aufeinander angestachelt. Mit einem Schrei, der ihr so gehörte wie ihm, erklommen sie den letzten Gipfel, aneinandergeklammert, schweißnass, zitternd. Gesättigt vom Glücksgefühl verträumten sie die nächsten Stunden. Zärtlich, harmonisch plätscherten ihre Gespräche dahin, mit Worten, mit den Händen und mit den Lippen. Zwischendurch immer wieder lange, träge Pausen, erfüllt von dem Gefühl, dass es so, wie es ist, gut ist, die Welt könnte stehen bleiben. Ihre Seelen waren gefüllt mit Wohlbehagen.
Irgendwann setzte sich Yamalia abrupt auf, murmelte etwas vor sich hin, in dem Allah vorkam, und stieß Harry an. „Wir müssen das Boot zurückbringen, wir haben die Zeit schon überschritten. Der alte Mann will bestimmt nach Hause oder ins Café.“
Als sie den Bootssteg erreichten, wartete der Pirat im Ruhestand schon ungeduldig auf sie. Doch Yamalia umgarnte ihn mit ihrem Charme und er zeigte ein freundliches, verständnisvolles Lächeln. Harry drängte sich der Gedanke auf, dass man ihn so malen können müsste. Ein wettergegerbtes, verwittertes Gesicht mit dichten grauen Bartstoppeln, blitzenden Augen und großen Zahnlücken im lächelnden Mund. Das Ganze von Kopf bis Fuß umrahmt von der weißen Djellaba. Aber was palaverten die beiden noch so lange?
„Harry, kannst du mir bitte zwanzig Franc geben?“
Wortlos fischte Harry einen Schein aus seiner Hosentasche. „Ist das nicht ein bisschen viel für eine Stunde Verspätung? Das ist ja mehr als doppelt so viel wie die Bootsmiete für den ganzen Tag.“
Yamalia lachte. „Nein, nein, warte nur ab, das wird eine Überraschung.“
Harry war neugierig und drängelte, wollte wissen, was sie ausgeheckt hatte, als sie zu dritt, mit dem Piraten, zum Rand des kleinen Ortes gingen. Aber er bekam lediglich ein „Warte nur ab“ zur Antwort.
Sie kamen zu einem längeren Gebäude am Ortsrand, in dem der Pirat verschwand. Harry drängelte: „Was wird das hier?“
„Warte nur ab.“
Nach einigen Minuten kam ihr Pirat mit einem anderen Berber und zwei gesattelten Pferden aus dem Gebäude. Yamalia jubelte. „Das ist die Überraschung, wir machen eine kleine Reiter-Safari.“
Harry wurde etwas mulmig zumute. „Aber ich kann doch gar nicht reiten, ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.“
„Ach, das wird schon gehen, ich bin auch nicht besonders gut“, lachte seine Traumfrau, setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich elegant auf eines der Pferde.
Harry versuchte etwas ungelenk, es ihr gleich zu tun, brauchte aber die Hilfe des Pferdebesitzers, um in den Sattel zu kommen.
„Bleib ganz locker, du wirst schnell ein Gefühl dafür bekommen.“
Im Schritt verließen sie die Ortschaft und erreichten die umliegende Steppen-und Wüstenlandschaft. Unter Yamis beruhigenden Unterweisungen versuchten sie einen kurzen Trab, dann wieder Schritt, dann einen längeren Trab und schließlich einen kurzen Galopp. Es ging, aber wie? Harry hatte unzählige Male das Gefühl, beim nächsten Schritt kopfüber im Wüstensand oder im Steppengras zu landen. Nach einer Stunde flehte er um eine Pause. Ihm tat alles weh. Schultern und Rücken wegen seiner verkrampften Haltung und der Hintern fühlte sich an wie rohes Fleisch. In einer kleinen Sandmulde mit einigen Büschen drum herum banden sie die Pferde an. Mit Ächzen und Stöhnen war Harry aus dem Sattel gerutscht, ging steif hin und her und versuchte, die Verkrampfungen zu lockern. Übermütig lachte seine Traumfrau ihn aus, tröstete ihn aber gleich wieder: „Wenn das dein erster Ritt war, dann hast du das schon sehr gut gemacht.“
Doch Harry maulte: „Ich bin sicher, dass du mich für die Nacht völlig kampfunfähig gemacht hast.“
Fast gleichzeitig sahen sie die rasch größer werdende Staubfahne am Horizont. Hasserfüllt stieß Yamalia einen Fluch in ihrer Heimatsprache aus und sah in ohnmächtigem Zorn auf die LKWs, die in der Staubwolke sichtbar wurden. Sie zog Harry hinter die Büsche. In einigen hundert Metern Entfernung fuhren etwa zwanzig Militär-LKWs vorbei.
„Diese Verbrecher, diese Mörder! Aber lange wird das nicht mehr so gehen!“, stieß sie hervor.
Harry konnte nur unsicher und mit schlechtem Gewissen dazu schweigen.
Erst als sich die Staubwolke verzogen hatte, schwangen sie sich wieder auf die Pferderücken, das heißt, sie schwang sich elegant, er aber quälte sich hinauf. In langsamem Trab erreichten sie die kleine Pferdefarm und schlenderten dann zurück zu ihrer Ferienwohnung. Harry war wie gerädert, duschte ausgiebig und alleine, versuchte, mit viel kaltem Wasser die Schmerzen an seinem verlängerten Rücken zu lindern, und wartete dann etwas erleichtert auf der Terrasse auf seine Liebste.
In ihrem Restaurant empfahl Yamalia eine weitere Spezialität des Landes. Hut Bil Karfas, einen leckeren, pikanten Fisch-Sellerie-Eintopf. Sie genossen das Essen im Kerzenschein, Yamalia ihren Wein und Harry sein Mineralwasser dazu. Hinterher gab es eine Schale feinster, sehr süßer Blätterteigvariationen. Liebevoll plauderten sie von ihrer Sandbank, der Bootsfahrt und dann auch von ihrer Reiter-Safari, bei der Harry aber wieder einen etwas gequälten und verkrampften Eindruck machte. Melancholisch wurde es, als sie darauf kamen, dass sie morgen Mittag die Ferienwohnung räumen mussten. Bei Harry baute sich Druck auf. Er wollte so gerne fragen, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Er traute sich aber nicht, da er seine Leiche im Keller verbergen musste. Yamalia nahm ihm etwas von dem Druck, als sie wie nebenbei erklärte, sie wolle morgen gleich weiter nach Algier, um sicherzustellen, dass es mit ihrem Studium, jetzt, nach der „Miss-Story“, weitergeht.
Als sie im Dunkeln, unter dem glitzernden afrikanischen Diamanten-Himmelsgewölbe, Hand in Hand zur Wohnung zurückgingen, waren ihre Empfindungen sehr ambivalent. Da war die Glückseligkeit der vollendet schönen Liebestage und -nächte, da war aber auch die Melancholie des bevorstehenden Abschieds. Bei Harry kam noch das schlechte Gewissen dazu, dass er gezwungen war, seiner Liebsten etwas Wesentliches verschweigen zu müssen.
Im Bett kuschelten sie sich aneinander und verwöhnten sich gegenseitig mit sanften Zärtlichkeiten. Yamalias Bewegungen wurden verlangender und ungeduldiger. Harry bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, knabberte zärtlich an ihrem Ohrläppchen und stöhnte dann mit gewollt komischer Tragik flüsternd in ihr Ohr: „Es tut mir ja so leid, Liebling, aber du hast mich mit deiner Safari leider völlig kampfunfähig gemacht.“
Yamalia kicherte leise: „Das werden wir ja sehen, ruh dich nur aus, mein kleiner, gequälter Reiter.“ Sie kniete sich über Harry, der wie ein sterbender Schwan auf dem Rücken lag. Ungeheuer sinnlich und ganz langsam fuhren ihre Lippen, ihre Zunge über Harrys Gesicht, seinen Hals, seine Brust, den Bauch, den ganzen Körper. Als die Verwöhnorgie mit Lippen, Zunge und Zähnen bis zu seinem kleinen Zeh vollendet war, knabberte sie zärtlich an seinem linken Ohr und fragte dann flüsternd: „Geht es dir schon besser, mein kleiner Liebling?“
„Mhmmh …“ Harry konnte nicht antworten. Er platzte beinahe vor Verlangen, genoss aber das Verwöhnspiel unendlich und wollte es verlängern. Yamalia verlagerte ihre Stellung etwas. Sie begann mit den harten Nippeln ihres vollen Busens wollüstige Wunschträume auf sein Gesicht und seinen Körper zu zeichnen. Sie pflügten Gefühlsalleen auf seine nackte Haut. Ihre Zungenspitze malte zärtliche Muster, die überall auf seinem Körper Brandherde hervorriefen. Harry konnte nicht mehr. Er riss sie an sich. Die Nacht explodierte, als er leidenschaftlich in sie eindrang.
Später, viel später, fragte sie flüsternd, wie er denn so schnell und so restlos seine Reitverletzungen hatte kurieren können. Harry brummte zufrieden, erst einmal gesättigt, etwas Unverständliches. Er ließ sie nicht los. Er hielt sie umklammert, wollte eins sein, wollte eins mit ihr bleiben. Sie schliefen nicht viel in dieser Nacht. Immer wieder flammte die Leidenschaft auf, und wenn sie an Morgen dachten, wurde es zur verzweifelten Leidenschaft.
Unwirsch wischte Harry über seine Stirn und versuchte, die Fliege zu verscheuchen, die ihn da kitzelte. Aber sie ließ sich nicht verscheuchen. Also öffnete er die Augen und versuchte, wach zu werden. Die Fliege war Yamalia, die ihn mit einer kleinen Feder kitzelte. Sie war bereits fertig angekleidet.
„Komm, du Schlafmütze, steh auf, wir wollen frühstücken gehen.“
Brummend ging Harry unter die Dusche und wurde endlich richtig wach. Er fühlte sich wohlig eingebettet von dem Erlebnis einer vollendet schönen Liebesnacht. Darunter kam eine Schicht großer Traurigkeit vor dem nahen Abschied. Still gingen sie die kleine Strecke zu dem Bäcker mit angeschlossenem Bistro. Auch bei ihrem Milchkaffee und den Frühstücksbrötchen redeten sie nicht viel. Harrys Gedankenkarussell drehte sich immer wieder um diese Frage: Wie kann ich ihr die Wahrheit sagen, ohne sie zu verlieren?
Yamalia, wunderschön, war ganz still und trotz ihres dunklen Teints etwas blass. Ihre Gedanken kreisten ebenso ergebnislos um eine Frage: Wie kann ich, als führendes Mitglied der Freiheitsbewegung, mit ihm, einem Ausländer, von dessen Gesinnung ich nicht wirklich etwas weiß, zusammenbleiben?
Still sahen sie sich an. Harry ertrank wieder in ihren wunderschönen Augen. Ihre Hände fanden sich und verschränkten sich ineinander. Harry sagte leise: „Die Liebe ist ein seltsames Tier, es fällt uns Menschen an und macht uns an einem Tag tollwütig vor Glück und vielleicht am nächsten Tag abgrundtief traurig vor Kummer.“
Yamalia lächelte etwas gequält. „Komm, mein kleiner Poet, lass uns gehen.“
Voller Wehmut packten sie ihre wenigen Reiseutensilien in die Taschen. Still standen sie sich gegenüber, jeder eine Tasche in der Hand, wortlos, lange wortlos. Dann murmelte Harry: „Ich möchte nicht weg.“
Yamalia sah ihn an. Ihre traurige Miene wandelte sich. Erst langsam, dann blitzartig von Trauer in pure Leidenschaft. Sie ließ ihre Tasche fallen und sprang Harry regelrecht an. „Ich will auch nicht fort. Ich möchte mit dir für immer hier zusammen sein.“
Harry schleuderte seine Reisetasche fort und nahm sie in die Arme. Sie verloren sich in einem endlosen Kuss. Sie konnten sich nicht loslassen. Jedes Zeitgefühl verlor sich. Sie klammerten sich aneinander, küssten sich, verbissen sich ineinander und murmelten unverständliche Liebesschwüre. Endlich lösten sie sich.
„Wir müssen die Wohnung räumen, die nächsten Bewohner kommen bald.“
Harry war ganz leer. Fahrig nahm er seine Tasche auf. Dabei polterte der Revolver auf die Fliesen und der Urlaubsschein segelte ein Stück weiter auf den Boden. Yamalia sah mit starren Augen auf die Waffe. Dann nahm sie den Urlaubsschein auf und las ihn. Ihr Schrei hatte etwas Unmenschliches.
„Nein, nein, das kann doch nicht sein! Du bist Legionär! Du gehörst zu den schlimmsten Mördern! Du Schwein! Du Verräter! Du hast mich verraten! Nein, nein, das ist so teuflisch. Nein, nein!“ Ihr Blick wurde ganz starr. Abgrundtiefe Verzweiflung flackerte darin auf und dann so etwas wie Irrsinn. Wie eine Furie stürzte sie sich auf den Revolver und richtete ihn auf Harry. „Ich bringe dich um! Du Schwein! Du Verräter! Wie kannst du mir das antun? Krepieren sollst du!“ Tränen liefen über ihr schönes Gesicht. Aber der mörderische, verzweifelte, irre Blick blieb.
Harry stand ganz still. „Yamalia, wenn du es tun musst, dann erschieß mich. Aber was sollte ich denn tun? Sofort, als ich dich das erste Mal gesehen habe, war ich voller Verlangen nach dir, voller Begierde und dann voller Liebe. Ich hatte nur einen Gedanken, ich wollte dich. Ich wollte dich ganz. Ganz und gar, mit Haut und Haaren. Alles andere war unwichtig, war gar nicht mehr da. Wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte, hätte ich doch nie eine Chance gehabt. Und ich bin kein Feind. Ich kämpfe nicht gegen Algerien. Ich bin auch kein richtiger Legionär. Ich bin nur Praktikant, nur für neun Monate dabei, und in drei Monaten ist Schluss. Dann gehe ich wirklich nach Valencia an die Universität. Dieses Dreivierteljahr Praktikum war meine Eintrittskarte für das Studium. Das hat mir mein spanischer Gönner, der mir den Studienplatz besorgt, quasi zur Bedingung gemacht. Ich fühle mich unendlich elend, unendlich schlecht, abgrundtief verzweifelt, dass ich dich getäuscht habe. Aber ich konnte nicht anders. Ich begehrte dich, ich liebe dich vom ersten Moment an. Und ich liebe dich auch jetzt und mehr denn je, und das wird sich auch nie ändern. Wenn du es also tun musst, dann erschieß mich. Diese drei Tage waren es wert, zu sterben. Ich konnte nicht anders. Ich kann nicht anders. Ich liebe dich.“
Yamalia sah ihn weiter mit diesem Blick eines weidwunden Tieres an. Voller Seelenpein, Verzweiflung und Schmerz. Der Revolver war immer noch auf Harry gerichtet. Dann senkte sie den Blick, warf den Revolver auf das Sofa und verbarg das Gesicht hinter ihren Händen. Sie taumelte zum Kissensessel, saß ganz still, sagte kein Wort und die Tränen quollen unter ihren Händen hervor.
Nach einer endlos langen Zeit der Stille und der Verzweiflung versuchte Harry es noch einmal mit rationalen Argumenten. „Der Krieg ist doch praktisch vorbei. Es laufen schon Friedensverhandlungen in Genf. Es werden schon Truppenteile abgezogen. Die Franzosen werden alle gehen, alle gehen müssen. Algerien wird frei sein. Schon bald! Dann können wir uns auch wiedersehen, in Spanien, in Valencia, oder auch in Algier.“
Yamalia erhob sich wie eine alte Frau. Mit leeren Augen sah sie Harry an. „Nimm deine Sachen, wir müssen gehen. Und sei still!“
Die Fahrt verlief schweigend, qualvoll schweigend. Über eine Stunde kein Wort. Bei einem Obststand am Straßenrand bremste sie mit den Worten „Ich habe Durst“ ab. Schweigend stiegen sie aus. Yamalia besorgte zwei Gläser Saft. Schweigend tranken sie. Harry hielt es nicht mehr aus.
„Yamalia, glaubst du mir, dass ich dir nie wehtun wollte? Jedes Wort, das ich dir vorhin gesagt habe, ist wahr. Ich liebe dich, und wenn du mich vorhin erschossen hättest, hätte ich es verstanden. Können wir die Politik nicht vergessen? Wir sind zwei Menschen, die zueinandergefunden haben, und das ist ein großes Geschenk.“
Die einzige Antwort war: „Sei still.“
Nach ewig langer Schweigezeit fragte Yamalia plötzlich, wo er seine restlichen drei Monate in der Legion ableisten werde. Harry war so froh, dass sie etwas mit ihm gesprochen hatte, dass er eifrig erklärte: „Ich bin noch sechs Tage krankgeschrieben, dann werde ich von Mascara auf einen Außenposten versetzt. Der Name ist Fort Sidi Boukekeur.“
Yamalia verriss plötzlich den Wagen so scharf, dass Harry sich erschrocken an die Dachhalterung klammerte. Mit Mühe lenkte sie den Wagen wieder auf die Straße zurück.
„Was war das denn?“
„Nichts.“
Wieder dieses lähmende Schweigen. Harry machte noch einige Gesprächsversuche, aber ohne Erfolg. Schweigend erreichten sie Mascara. Sie hielt an der Moschee. Harry versuchte es noch einmal: „Yamalia, wollen wir so auseinandergehen? Ich liebe dich, wir lieben uns.“
„Harry, du gehörst zu unseren schlimmsten Feinden. Die Fremdenlegion ist von allem Schlimmen das Schlimmste. Ich hätte dich erschießen müssen. Ich konnte es nicht. Ich habe mich schuldig gemacht. Jetzt hör gut zu, ich erläutere das nicht weiter. Geh auf keinen Fall während der nächsten Woche nach Fort Sidi Boukekeur. Auf gar keinen Fall. Leb wohl. Vielleicht können wir uns wirklich einmal wiedersehen, wenn der Krieg vorbei ist.“
Harry war ganz aufgeregt. „Was ist das für eine Warnung, was bedeutet das?“
„Bitte lass mich, ich steige jetzt aus.“
„Aber bitte, lass uns etwas vereinbaren, wie wir uns wiedersehen. Ich werde dir auf jeden Fall von Valencia aus über die Universität Algier meine Adresse mitteilen.“
„Bitte steig jetzt aus, leb wohl.“
Er stieg aus. Yamalia fuhr sofort davon, ohne zu winken, ohne sich umzudrehen.
Alles in Harry war leer. Er stand auf dem Bürgersteig, schaute sich um, aber er nahm nichts wahr. Vor der Moschee saßen einige alte Männer auf einer Steinbank und wuschen sich die Füße. Einige Meter weiter standen einige Berber in weißen Trachten und diskutierten, heftig, laut und mit ausholenden Gesten. Harry sah es, aber er nahm es nicht auf. Langsam, so als trüge er ein Gepäck von mindestens hundert Kilo, und nicht nur seine leichte Reisetasche, ging er in Richtung Kaserne. Abwesend meldete er sich zurück, abwesend ging er in sein Zimmer. Er setzte sich auf sein Bett und brütete vor sich hin. Drei traumhaft schöne Tage hatte er mit seiner Traumfrau verbracht. Jetzt hatte er sie verloren. Für immer? Wahrscheinlich. Er hatte sie belogen, er hatte sie getäuscht, aber verdammt noch mal, er hatte doch keine andere Möglichkeit gehabt.
Ganz langsam kam er wieder in der Wirklichkeit an. Was war das mit der Warnung von Yamalia vor dem Fort Sidi Boukekeur? Das konnte er nicht ignorieren. Nicht für sich selber, aber auch nicht für seine Kameraden. Sehr zäh nahmen seine Überlegungen Struktur an. Er musste den Kommandeur informieren. Aber er konnte natürlich, wieder mal, nicht die ganze Wahrheit sagen.
„Ich habe, als ich mit einem Ruderboot im Schilf eine Pause gemacht habe, zufällig ein Gespräch belauscht. Leider nicht vollständig, nur teilweise. Aber eines war klar, es ging um einen Überfall auf Fort Sidi Boukekeur. Und zwar jetzt, in den nächsten Tagen.“
Der Kommandeur hörte sich Harrys Bericht resigniert an. „Alles zerbricht. Sie treiben uns raus. Natürlich werde ich Ihre Meldung weitergeben. Aber ich glaube, dass es nichts bewirken wird. Es brennt überall.“
Langsam ging Harry zurück zu seinem Logis. Seine Gedanken kreisten: Ich hab’s jedenfalls versucht. Aber was ist mit mir? In vier Tagen läuft meine Krankschreibung ab, und dann muss ich selbst zu diesem verdammten Fort Sidi. Das darf nicht sein. Dafür hat Yamalia mich nicht gewarnt. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Aber das schob Harry erst einmal auf. Auf später. Er war eigentlich nur traurig und teilnahmslos. So vergammelte er den Tag und den nächsten und den übernächsten. Dann wurde er zum Kommandeur befohlen.
„Praktikant Linnemann, ich habe eine schlimme Nachricht. Ihre Warnung war berechtigt. Das Fort Sidi Boukekeur wurde angegriffen und von den Rebellen eingenommen. Es ist nichts bekannt über die Besatzung, die Zahl der Opfer oder der Überlebenden. Das Fort wurde offiziell aufgegeben. Ja, es ist schlimm, alles zerbricht. Ich fürchte, unsere Tage in Algerien sind gezählt.“
Harry war völlig leer. Es war passiert. Wer war Yamalia? Was hatte sie für einen Einfluss, für eine Kompetenz?
In den nächsten Wochen sickerte langsam durch, dass Verträge unterzeichnet worden waren. Algerien würde selbständig werden. Die französischen Truppen würden das Land verlassen und die Legion machte den Anfang. Es kam immer noch zu Kämpfen, durch Ultras, durch fanatische Rebelleneinheiten, also durch die Unverbesserlichen, die Extremen beider Seiten. Deshalb war Harry erleichtert, als er mit seinen Kameraden auf einem Truppentransporter eingeschifft wurde. Die Reise war kurz. Schon am nächsten Vormittag bezogen sie ihre neuen Quartiere in der Nähe von Calvi auf Korsika.
Sechs Wochen vor dem Ende seiner neunmonatigen Praktikantenzeit wurde Harry zu seinem Kommandeur befohlen. Er warb dafür und empfahl Harry, sich regulär für fünf Jahre bei der Legion zu verpflichten. Trotz der Lockung mit einer sofortigen Beförderung und der Zusage zur Aufnahme in die Offizierslaufbahn lehnte Harry dankend ab. Natürlich, denn er hatte andere Ziele. Nach mehreren Versuchen hatte er es geschafft, Señor Jerez in Gandia telefonisch zu erreichen.
„Ja, ich habe einen Studienplatz für das Jurastudium an der Universität in Valencia sichergestellt. Allerdings kein Stipendium. Aber Geld hast du ja genug verdient mit deinen Grundstücksgeschäften, und das liegt hier auf deinen Namen auf der Bank bereit und es ist auch schon einiges an Zinsen dazugekommen. Das erste Semester beginnt in fünf Monaten, am 1. Oktober. Spätestens einen Monat vorher musst du die Selectividad, das Prüfungsverfahren zur Eignung zum Hochschulstudium, durchlaufen. Aber das schaffst du schon.“
Harry war begeistert. Er diente seine restlichen Wochen Legion ohne innere Anteilnahme, irgendwie automatisch ab, obgleich die Zeit auf Korsika Drill pur war. Täglich mussten die jungen Männer Geiselbefreiungen üben. Unterbrochen wurde der Drill nur für einen Teil der Legionäre, der eine Zusatzausbildung zu Präzisionsschützen erhielt. Harry gehörte dazu. Er durchlebte das alles wie in einem großen, lockeren Gewand. Innerlich gehörte er nicht mehr dazu. Schon bald gehörte er zu der kleinen Gruppe, die mit der Fähre nach Marseille übersetzte, um dann die letzten Diensttage in Aubagne zu verbringen.
Mit einem ansehnlichen Gehaltsscheck und auch reichlich Bargeld, er hatte ja während seiner Dienstzeit kaum Geld ausgegeben, trat er schließlich die lange Heimfahrt mit der Bahn nach Bremen an. Bald setzte die Abenddämmerung ein. Träumend sah Harry aus dem Abteilfenster. Nicht immer nahm er wirklich wahr, was er sah. Immer wieder ließ er einzelne Wochen oder auch Tage dieses Dreivierteljahres Fremdenlegion Revue passieren. Ja, er hatte viel erlebt. Die meiste Zeit, die Zeit des Drills, der Strapazen, der Schikanen, konnte er bald ablegen. Einzelne Begebenheiten durchlebte er erneut und manche immer wieder. Die rücksichtslosen Durchsuchungen der Dörfer, die angstvollen, aber auch hasserfüllten Blicke der bettelarmen Bewohner. Den Rebellenüberfall aus dem Hinterhalt auf seine Gruppe, der zu dem langsamen und qualvollen Tod eines Kameraden führte. Den Angriff der Kameraden auf die Freiheitskämpfer im Hinterhalt und deren entsetzliches Ende mit den Fleischfetzen in den Büschen und nicht zuletzt seinen eigenen Anteil daran. Die Schussverletzung, die er sich dabei zugezogen hatte, führte dann auf Umwegen zu den Tagen, die er sicher nie in seinem Leben vergessen würde. Seine Zeit mit Yamalia. Die Tage und Nächte der totalen Liebe und Leidenschaft. So total, dass für nichts anderes Raum oder Zeit blieb. Außer, dass er seine Liebe, sein Wunder, belügen musste, vom ersten Moment an und dann durchgehend. Aber er hatte ja keine andere Möglichkeit gehabt, er war gezwungen gewesen, sie zu belügen. So sah er das auch während seiner Träumereien auf der Rückreise. Und dann der schreckliche Moment, als Yamalia begriff, dass Harry sie belogen und betrogen hatte. Der jähe Umschwung ihrer Gefühle von Liebe und Leidenschaft in Entsetzen, in sprachlose Enttäuschung, in unbändige Wut und in Hass. Wut und Hass so umfassend, dass sie Harry töten, dass sie Harry erschießen wollte. Aber es war noch ein Rest der Liebe da, und sie konnte nicht schießen. Dieses restliche Polster der Liebe reichte sogar aus, um Harry gezielt vor Fort Sidi Boukekeur zu warnen, um sein Leben zu retten, obgleich sie damit gleichzeitig Verrat an ihrer großen Mission des Freiheitskampfes verübte. Harry sehnte sich danach, Yamalia irgendwann wiederzusehen, sie wieder in den Armen zu halten, ohne dass Krieg, Hass und Gewalt zum Lügen zwangen.
Nach der letzten Grenzkontrolle, als die deutsche Grenze passiert war, schlief Harry ein. Er träumte von einem Gefühl der Verlassenheit und Melancholie, die ihn im Schlaf ergriff. Irgendwann erwachte er mit dem Gefühl der Verlorenheit, der Gewissheit, etwas Schönes für immer verloren zu haben. Er schlief wieder ein und als er das nächste Mal aufwachte, fühlte er sich erfrischt. Langsam kam er zu sich und spürte, wie sich Optimismus in ihm ausbreitete. Optimismus und Vorfreude auf das Leben, das vor ihm lag. Er reckte sich und streckte seine Arme. Ein neuer Tag, ein neues Leben. Er atmete tief ein und aus.