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Drittes Kapitel

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Der Prokurist der Firma Olivier empfing Herrn Seidler mit echt französischer Liebenswürdigkeit, „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Kommissar!“ sagte er und hielt dem Besucher eine Kiste Zigarren hin.

„Ich muß Sie schon gleich berichtigen“, erwiderte Seidler höflich, „ich bin noch nicht Kommissar.“

„Aber das tut ja gar nichts zur Sache. Wenn Sie es jetzt noch nicht sind, werden Sie es vielleicht morgen sein!“

„Oh — so schnell geht das nicht.“

„Sie sind Deutscher!“

„Ja.“

„Und arbeiten hier bei uns?“

„Das ist ein Zufall. — Aber, nun sagen Sie bitte — — mir wurde gestern bereits gesagt, daß hier einmal Schlüssel verlorengegangen sind.“ „Schlüssel? Ja, richtig. Aber das ist verdammt lange her. Ich verstehe nicht, daß Sie diesem Umstande noch Bedeutung beimessen.“

„Oh — monsieur Leon, Bedeutung! Bedeutung gewinnt bei uns unter Umständen schon ein Stecknadelknöpf, ja, ein Haar, so daß manchmal das Ergebnis einer Nachforschung im wahrsten Sinne des Wortes an einem Haare hängt. — Also: wann etwa sind die Schlüssel verlorengegangen — und wie sind sie abhanden gekommen?“

„Das — ja, das wird jetzt schon so an die zwei Jahre her sein. Ich hatte die Schlüssel unserem damaligen Buchhalter gegeben, weil ich am nächsten Morgen erst später kam. Als ich dann eintraf, stand das ganze Personal vor der Tür, der Buchhalter hatte das Bund verloren. Man hatte inzwischen schon nach dem Chef geschickt, um die anderen Schlüssel herbeizuholen.“

„Hm — können Sie sich noch besinnen, was damals der Buchhalter angab — ich meine: wo und wieso er die Schlüssel verloren hatte?“

„Er sagte, bei einer Bierreise seien sie ihm abhanden gekommen. Jedenfalls sind die Schlüssel verschwunden geblieben.“

„Der Buchhalter ist nicht mehr hier bei Ihnen?“

„Nein. Er ist kurze Zeit später entlassen worden. Wir kamen Unregelmäßigkeiten auf die Spur.“

„Unterschlagungen?“

„Wenn Sie es genau wissen wollen: ja! Aber es war keine bedeutende Summe. Um alles Aufsehen zu vermeiden, sahen wir von einer Anzeige ab. Der Mann stellte uns dann auch sein neues Motorrad, das er sich gerade angeschafft hatte, als Entschädigung zur Verfügung, so daß der Schaden für uns so gut wie behöben war.“

„Wie hieß der Mann?“

Herr Léon holte die Personalakten herbei. Er blätterte einen Augenblick. Dann hatte er das Gewünschte gefunden. „Hier“, sagte er, „ist alles genau aufgezeichnet. Er nannte sich Werner Kießling.“

„Ein Deutscher?“

„Nein, ein Schweizer, der sich hier sprachlich weiter ausbilden wollte. Er wies ein Zeugnis von einer Hamburger Firma vor.“

„Wissen Sie zufällig, ob der Mann sich noch hier in Valence befindet?“

„Nein. Keine Ahnung.“

Seidler schrieb sich die einzelnen Daten sowie die damalige Adresse des Mannes auf. Dann fuhr er fort:

„Ist das Schloß damals verändert worden?“

„Ja, natürlich. Herr Olivier ließ es für alle Fälle gleich ändern.“

Seidler rückte etwas nervös hin und her. Dadurch erschien ihm die ganze Schlüsselgeschichte wieder bedeutungslos.

„Seitdem ist kein Schlüssel mehr verlorengegangen?“

„Nein.“

„Können Sie mir vielleicht noch den Schlosser benennen, der damals die Änderung vornahm?“

Dem Prokuristen kam diese Frage wieder recht sonderbar vor. Aber ja — er konnte den Schlosser nennen. Auch dessen Adresse wurde von Seidler gewissenhaft aufgeschrieben.

„Ich danke Ihnen zunächst, Herr Léon!“ sagte er dann verbindlich und verabschiedete sich.

Die Schlosserei lag in der Rue Martin. Seidler mußte einen Hof überschreiten. Aus einem langen, verwahrlosten Schuppen klang ihm lebhaftes Hämmern und das Surren einer Maschine entgegen.

Er trat ein. Der Schlosser, ein breiter, stattlicher Mann in blauer Schürze, kam ihm entgegen.

„Sie wünschen, mein Herr?“

„Ich komme im Auftrage der Firma Olivier“, erwiderte Seidler, den Mann begrüßend, „Sie können sich wohl noch entsinnen, daß Sie vor etwa zwei Jahren die Schlösser erneuern müßten.“

Der Alte wischte sich an der Schürze die Hände ab. „Ja, ja — ich besinne mich wieder“, entgegnete er, „da war doch ein Bund abhanden gekommen!“

Er sprach den Dialekt des Provinzialen und war für Seidler schwer zu verstehen. Der Kriminalassistent faßte ihn scharf ins Auge und fragte weiter:

„Es wurden damals vier neue Schlüssel bestellt, nicht wahr?“

Der Mann besann sich. „Vier? Warten Sie mal — hm — ja, kann stimmen. Richtig! Einer wurde ja dann noch nachbestellt. Erst sind es nur drei gewesen.“

In Seidlers Augen blitzte ein freudiges Leuchten auf. „Darf ich wissen“, fragte er weiter, „wer die Nachbestellung bei Ihnen gemacht hat?“

Der Mann kratzte sich hinter dem Ohr, als ob er dort die Erinnerung herholen müßte. Dann erwiderte er:

„Soviel ich mich noch besinnen kann, war es der Buchhalter, den Sie damals hatten.“

„Wohl ein Herr Kießling?“

„So mag er geheißen haben. Jedenfalls war es ein deutscher Name.“

„Sie haben die Nachbestellung damals ohne weiteres angenommen und ausgeführt?“

Der Schlosser blickte Seidler ein wenig befremdet an. „Ja — warum sollte ich nicht? Er brachte mir einen Brief von der Firma mit.“

„Haben Sie diesen Brief zufällig noch?“

„Ja, lieber Herr — da müßte ich erst alles noch einmal durchsehen. Das weiß ich wahrhaftig nicht. Es ist auch wirklich zu lange her.“

„Der vierte Schlüssel wurde dann von dem Buchhalter abgeholt?“

„Ja. Darauf kann ich mich noch besinnen.“

„Es wäre mir doch sehr lieb, wenn Sie den Brief einmal suchen würden. Ich kann Ihnen ja dabei behilflich sein.“

„Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll! Was nützt Ihnen heute der alte Brief? Sie stellen ja ganz komische Fragen!“

„Ich bin beauftragt, darüber Nachforschungen anzustellen. Es war auch sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mir so freundliche Auskunft gaben. Aber nun kommt es mir noch auf den Brief an.“

„Na schön“, erwiderte der Meister gutmütig, „ich werde mal nachschauen. Nur jetzt habe ich keine Zeit dazu.“

„Das ist verständlich. Aber vielleicht vertrauen Sie mir einmal Ihre Korrespondenz an. Dann kann ich ja nachsehen.“

In dem Mann schien plötzlich irgendein Mißtrauen wach zu werden. „Nein“, sagte er mit veränderter Stimme, „das möchte ich lieber nicht tun. Doch meinetwegen können Sie morgen wiederkommen. Dann suche ich Ihnen den Brief heraus — sofern er überhaupt noch vorhanden ist. Ich pflege allerdings alles Schriftliche aufzuheben.“

„Ganz wie Sie wünschen, Meister. Ich werde mir dann erlauben, morgen wieder hier vorzusprechen.“

Nachdenklich verließ Seidler den Hof. Mit dem bisherigen Resultat war er durchaus zufrieden. Irgend etwas stimmte hier nicht. Das war sicher. Schade, daß er den Brief noch nicht gleich erhielt. Allein schon wegen der Zeitbestimmung erschien er wichtig.

Im übrigen hatte er Glück gehabt, daß der Schlossermeister ihm ohne weiteres so bereitwillig Auskunft gab. Das war wohl seiner Naivität zuzuschreiben. Wenn man nur immer so leichtes Arbeiten hätte!

Er rief noch einmal Herrn Léon an.

„Nur eine Frage, Herr Léon — — Sie haben damals bestimmt nur drei neue Schlüssel anfertigen lassen?“

„Jawohl, nur drei. Wieso fragen Sie?“

„Das werde ich Ihnen morgen erzählen. Dann werden Sie vielleicht noch etwas viel Interessanteres zu hören bekommen.“

Die Witwe Annette Defleur, ein kleines, bewegliches Persönchen, besaß eine für ihre Verhältnisse sehr große Wohnung in der Avenue Romain. Von den sechs Zimmern hatte sie allerdings stets vier vermietet, wodurch sie zu einem recht netten Zuschuß zu ihrer Pension kam. Für ihre Pensionäre sorgte sie mütterlich, nahm Rücksicht auf alle Wünsche und war dadurch sehr beliebt. Ein Leben ohne Sorgen für andere wäre ihr zu einsam und zwecklos erschienen.

Die Mieter wechselten nicht sehr oft. Im Gegenteil, manche blieben, da sie sich wohl fühlten, jahrelang. Nur wenn es einmal einem, trotz der guten Behandlung seitens der Witwe, im Leben zu einsam wurde, so daß er heiraten und sich ein eigenes Heim gründen wollte, verlor sie ihn. Andere Gründe des Fortziehens kamen nur selten vor.

Es klingelte. Behende huschte sie an die Tür.

„Guten Tag, Madame, — entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich wollte mich nur einmal nach einem Ihrer früheren Mieter erkundigen.“

„Bitte, treten Sie näher, mein Herr! Mit wem habe ich denn die Ehre?“

„Mein Name ist Seidler. Es handelt sich um den Schweizer namens Kießling, der einmal bei Ihnen gewohnt haben soll.“

Die Dame fährt überrascht zusammen. Ein verhaltener Ruf des Staunens kommt ihr über die eng zusammengekniffenen Lippen.

„Ja — aber das ist wirklich sonderbar!“ meint sie, „vorgestern ist Herr Kießling noch bei mir gewesen, nachdem ich ihn fast zwei Jahre lang nicht mehr sah!“

Auch Seidler ist überrascht. „Was?“ fragt er, „zwei Jahre lang ist er nicht hier gewesen? Wo steckte er denn in der Zeit?“

„Er war doch damals nach Belgisch-Kongo ausgewandert. Nun ist er wieder mal nach Europa gekommen, weil, wie er sagte, das Heimweh zu sehr an ihm gefressen hat.“

„Das ist mir sehr interessant. War er lange bei Ihnen?“

„Nein. Er hat nur eine Tasse Kaffee bei mir getrunken. Sie sind wohl ein Freund von ihm?“

Seidler besann sich rasch. „Ja“, erwiderte er, einer Eingebung folgend, „wir sind früher einmal in Hamburg zusammen gewesen. Später verlor ich ihn aus den Augen. Leider. Er war ein netter Mensch!“

„O ja!“ erwiderte Frau Defleur, „wir sind immer gut miteinander zurechtgekommen.“

„Hier ist er doch bei der Firma Olivier tätig gewesen, nicht wahr?“

„Ganz richtig. Aber die Stellung hat ihm dort auf die Dauer wohl doch nicht so recht behagt. Auf Grund von Beziehungen ist er daraufhin in die Kolonie gegangen. Es hat mir damals sehr leid getan, daß ich ihn hergeben mußte.“

So sprach sie von ihren Mietern — etwa wie eine Mutter, die eins ihrer Kinder verloren hatte.

Seidler kniff ein wenig die Augen ein, eine Angewohnheit, die man bei ihm stets beobachten konnte, wenn er nachdenklich wurde oder rasch und scharf denken mußte.

„Schade“, begann er nach einer Pause, „ich hätte ihn gerne wiedergesehen. Wissen Sie nicht, wo er wohnt?“

„Nein. Er sagte, daß er nur auf der Durchreise hier sei, und daß er wahrscheinlich bald wieder nach Afrika zurückfahren werde. Er leitet dort eine Farm.“

„Hatte er Ihnen von dort aus einmal geschrieben?“

„Nein. Aber daß er mich nicht vergessen hat, das bewies er ja durch seinen Besuch bei mir. Allerdings muß ich es auch bedauern, daß ich Ihnen keine Adresse angeben kann.“

Seidler bedankte sich für die Auskunft und verabschiedete sich.

Bei Lebrun waren inzwischen verschiedene telegraphische Nachrichten eingegangen. Was die beiden Handwerksburschen betraf, so wurden die Angaben des einen bestätigt. Die des anderen stimmten nicht. Er wurde erneut ins Verhör genommen. Nach einer stundenlangen, zermürbenden Vernehmung bequemte er sich endlich einzugestehen, daß er falsche Angaben machte, und berichtigte sie. Nach einigen telephonischen Rückfragen konnte festgestellt werden, daß es sich bei ihm um einen gesuchten Verbrecher handelte, der an einem Einbruchsdiebstahl in Avignon beteiligt war.

Dadurch verstärkte sich naturgemäß der Verdacht gegen ihn. Aber es war zunächst weiter nichts aus ihm herauszubekommen.

Lebrun nahm sich erneut seinen Begleiter vor. Der wollte ihn erst vor drei Tagen kennengelernt haben. Der Befragte war noch ein jüngerer Mensch, der, was die Art seiner Aussagen betraf, einen nicht ganz unglaubwürdigen Eindruck machte.

„Was hat Ihnen denn Ihr Begleiter erzählt?“ fragte Lebrun, „ich meine über seine Herkunft und das Ziel der Wanderschaft?“

Der junge Mann blickte den Fragenden ängstlich an, gab aber dann seine Antworten mit einer nicht zu verkennenden Sicherheit.

„Von seiner Vergangenheit hat er nicht viel gesprochen,“ erwiderte er, „im übrigen wollte er nach Paris. Ich hatte dasselbe Ziel. Deshalb hatten wir uns ja auch zusammengetan. Zu zweit wandert sich‘s leichter.“

„Sie behaupten also, rein zufällig in der Nähe der Unglücksstelle gewesen zu sein?“

„Ja.“

„Wann kamen Sie in den Schober, in dem Sie genächtigt haben?“

„Es mochte so gegen acht Uhr gewesen sein. Wir waren sehr müde, aßen nur noch die Brote, die wir bei uns hatten, und legten uns schlafen. Bis wir durch das Krachen aufgeschreckt wurden.“

„Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß Ihr Genosse während des Abends den Schober noch einmal verlassen hat?“

„Nein. Ich schlief fest, glaube aber auch nicht, daß er noch einmal fortging.“

„Also, erzählen Sie weiter — Sie wachten von einem Krachen auf. Was geschah dann?“

„Jaques, mein Begleiter, zerrte mich sofort hoch und sagte, wir müßten auf der Stelle verduften, es schiene etwas passiert zu sein, und es wäre nicht nötig, daß wir uns einem Verdacht aussetzten.“

„Wenn er von einem Verdacht sprach, so mußte er also schon wissen, daß ein Verbrechen geschehen war! Ist Ihnen das denn nicht aufgefallen?“ „Ich habe nicht weiter nachgedacht und bin mit ihm einfach davongelaufen. Kurze Zeit danach wurden wir festgenommen.“

Ein Beamter trat ein. „Verzeihen Sie, Herr Kommissar, daß ich störe. Eben ist eine Meldung gekommen, daß man in einer Herberge in Montélimar die Papiere eines gewissen Pierre Lorrain gefunden habe.“

„Ah — das ist dieser Mann hier. Demnach hat er uns also doch nicht beschwindelt!“

Über die Züge Lorrains ging ein befriedigtes Grinsen. „Nein, Herr Kommissar“, sagte er lebhaft, „Sie können mir wirklich glauben. Ich habe Ihnen nichts vorgemacht.“

Lebrun wandte sich dem Beamten zu. „Nach dieser Feststellung glaube ich, daß wir Herrn Lorrain wieder entlassen können. Allerdings nicht ohne die Versicherung seinerseits, daß er sich bis auf weiteres in den von uns zu bezeichnenden Städten jeweilig bei der Polizei meldet. Auch hat er uns den Weg, den er einschlagen will, genau anzugeben. — Erklären Sie sich damit einverstanden, Lorrain?“

„Jawohl, Herr Kommissar!“ Der Mann strahlte.

„Veranlassen Sie“, wandte sich Lebrun wiederum seinem Untergebenen zu, „daß die Papiere des Mannes so rasch wie möglich hierher gesandt werden. So lange freilich muß er noch bleiben.“

Der Beamte ging mit Lorrain hinaus. Lebrun ließ den leitenden Kommissar zu sich kommen. Er erklärte ihm kurz den Fall und bemerkte:

„Die Bedenken, die ich in Ihren Zügen lese, Kollege, sind unbegründet. Lorrain wird natürlich weiter beobachtet. Einer Ihrer Beamten wird sich gleichfalls als Handwerksbursche verkleiden und wird sich dann unterwegs mit dem Burschen anzubiedern versuchen, verstehen Sie, wie ich das meine?“

„Jawohl. Ein guter Gedanke!“

„Sollte der Mann tatsächlich — was ich übrigens kaum noch glaube — mit dem Verbrechen irgendwie in Verbindung stehen, so wird man ihn erstens auf diese Weise noch einmal ganz harmlos aushorchen können, und zweitens würde man feststeilen, ob er mit irgendwelchen Hintermännern in Verbindung tritt.“

Das Telephon läutete.

„Hier Lebrun!“

„Hier Kommissar André, Paris. Ich komme auf Ihre gestrige Frage zurück, Lebrun. Sie wollten doch wissen, ob irgendeine Persönlichkeit von Bedeutung den Unglückszug benutzt haben könnte. Befindet sich auf der Liste der Passagiere, die Sie dort haben auf stellen lassen, ein gewisser Vicomte de Girard?“

„Jawohl.“

„Das war unser Außenminister. Er reiste inkognito.“

„Ah! Vielen Dank, Kollege! Demnach wäre die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß ihm der Anschlag gegolten hat.“

„Richtig. Ich habe hier bereits alles eingeleitet, um auch in dieser Richtung Klarheit zu schaffen. Nachdem erst vor einigen Wochen ein Attentat gerade auf diesen Minister versucht worden ist, erscheint mir der Fall um so verdächtiger.“

Lebrun blätterte in den Akten, als ihm ein Herr aus Etoile gemeldet wurde. Es war ein Inspektor der dortigen Kriminalpolizei, der seinen Besuch bereits angesagt hatte. Er brachte das Ergebnis seiner Erkundigungen über den Schriftsetzer Latour mit.

„Bitte, nehmen Sie Platz, Inspektor!“ lud Lebrun den Besucher ein, „also was können Sie mir über Latour berichten?“

Der Inspektor entwickelte ein anschauliches Bild des Mannes. Latour war als ein äußerst sensibler, neurotisch veranlagter Mensch bekannt. Bei seiner allgemeinen Verworrenheit konnte man ihn beim Ami de peuple nicht länger gebrauchen, wo er zwei Jahre lang tätig war. Vor einigen Monaten wurde er dort entlassen. Er gab sich nun allen möglichen phantastischen Plänen hin. Vor allen Dingen glaubte er plötzlich eine ausgesprochen journalistische Begabung in sich zu entdecken. Er sandte fortgesetzt Artikel an die verschiedensten Blätter ein, freilich ohne damit einen besonderen Erfolg zu haben. Sein Geltungsbedürfnis war jedenfalls außerordentlich ausgeprägt.

Lebrun zog ein wenig die Schultern hoch. Er hatte aufmerksam zugehört. Kein einziges Mal unterbrach er den anderen, bis der zu Ende gekommen war.

„Was halten Sie von der Glaubwürdigkeit dieses Mannes?“ fragte er schließlich, nachdem er noch eine Weile sinnend geschwiegen hatte. Der Inspektor zuckte die Achseln.

„Der Mann scheint mir ein regelrechter Phantast zu sein. Ich persönlich würde ihm nicht zuviel Glauben schenken.“

Lebrun berichtete die Geschichte, die ihm der Verdächtigte vortrug. „Na“, fragte er, „und was halten Sie davon?“

„Nichts, Herr Kommissar!“ war die einfache Antwort.

„So? Und warum nicht?“

„Weil der Mann zu der fraglichen Zeit, als er das Gespräch belauscht haben wollte, gar nicht in Etoile, sondern in Livron war.“

„So? Das haben Sie festgestellt?“

„Jawohl. Meiner Meinung nach dürfte er die ganze Geschichte erfunden haben, nur um sich interessant zu machen.“

Lebrun kritzelte mit dem Bleistift etwas auf ein Stück Papier. „Merkwürdig“, sagte er, „eine ähnliche Vermutung wurde mir gestern schon von unserem jungen deutschen Kollegen Seidler eingeflößt. Sie ist auch nicht von der Hand zu weisen. Aber damit würde auch die Belastung Moulins im wesentlichen wieder in sich zusammenfallen.“

„Ja, ja — eine vertrackte Geschichte, Herr Kommissar!“

„Soll sie der Teufel holen! — Trotzdem — wir dürfen nicht locker lassen.“

„Darf ich fragen, Herr Lebrun, ob man sich wenigstens über das Motiv des Anschlages klar ist?“

Der Kommissar war aufgesprungen und lief nervös hin und her.

„Nein. Eben auch nicht. Im Gegenteil. Durch eine Nachricht, die ich vorhin aus Paris erhielt, erscheint mir alles noch komplizierter. Unser Außenminister — Sie wissen, auf den man kürzlich erst einen Anschlag machte! — ist in dem fraglichen Zuge gewesen. Da man außerdem einen erheblichen Goldtransport mitführte, zu dessen Sicherung ein besonderer Postbeamter kommandiert worden war, können sowohl politische wie auch räuberische Motive maßgebend gewesen sein.“ Der Inspektor wiegte bedächtig seinen massiven Kopf hin und her. Er äußerte sich nicht weiter darüber, sondern sagte nur schmeichlerisch:

„Na — Sie werden trotz allem der Sache bald auf den Grund kommen, Herr Kommissar!“

Lebrun sah auf. „Ja, das werde ich! Darauf können Sie sich verlassen. Aber es wird ein hartes Stück Arbeit sein.“

Kriminalassistent Seidler hielt den Brief in der Hand, den ihm eben der Schlosser gegeben hatte. Das Schreiben bestand nur aus vier, fünf Zeilen und enthielt die Aufforderung, noch ein Schlüsselpaar anzufertigen. Es trug die Unterschrift des Prokuristen Léon.

Seidler ließ sich bei diesem melden. Dann hielt er ihm das Blatt vor die Augen.

„Haben Sie diesen Brief unterzeichnet, Herr Léon?“

Der Prokurist starrte das Blatt an. Dann schweifte sein Blick, nicht sehr geistreich, auf Seidler ab.

„Dieser Brief — — was soll das — —? Ich weiß überhaupt nichts davon.“

„Aber erlauben Sie bitte, er trägt doch als Unterschrift Ihren Namenszug!“

Léon schaute erneut den Brief an. Mißtrauisch prüfte er seine Unterschrift.

Seine Unterschrift? Nein — — das hatte er nicht geschrieben!!

„Der Brief ist gefälscht!“ rief er aus.

Um Seidlers Mund glitt ein triumphierendes Lächeln. „Jawohl!“ erwiderte er, „das wollte ich nur auch von Ihnen noch hören! Und wissen Sie, wer der Fälscher war?“

„Etwa Kießling?“

„Erraten!“

„Hm — ich verstehe das alles nicht!“

Seidler fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Auch ich tappe noch ziemlich im Dunkeln“, erwiderte er, „bitte, versuchen Sie sich zu besinnen, ob nicht nach jener Schlüsselaffäre damals aus Ihren Räumen etwas auf mysteriöse Weise verschwunden ist!“

Herr Léon schien einen Augenblick nachzusinnen. Dann sagte er rasch und bestimmt: „Nein. Nicht das Geringste.“

„Bestimmt nicht?“

„Bestimmt nicht. Ich wüßte es doch genau.“

„Das kommt mir allerdings sonderbar vor“, erwiderte Seidler, sich über das Kinn streichend, „aber auch dafür werden wir eine Erklärung finden.“

Der Prokurist betrachtete seine klobigen Hände und meinte:

„Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Kießling der nächtliche Anrufer war?“

„Doch — das nehme ich sehr stark an.“

„Zu diesem Zweck also soll er sich vor fast zwei Jahren den Schlüssel erschlichen haben? Verzeihen Sie, bitte, Herr Kommissar, aber eine solche Behauptung kommt mir geradezu lächerlich vor. Namentlich noch, wenn man den Grund des Anrufes mit in Betracht zieht.“

„Es ist auch mir klar“, erwiderte Seidler gemessen, „daß es sich hier nur um die Ausnutzung einer Gelegenheit handelte. Wie die Einzelheiten miteinander in Zusammenhang stehen, das herauszubekommert, ist schließlich mein Beruf.“

„Wissen Sie — ich würde dabei viel zu kribbelig werden. Diese Ruhe und Ausdauer hätte ich wirklich nicht!“

„Schließlich ist es kein Schaden, wenn nicht alle Leute gleich Kriminalisten werden!“ erwiderte Seidler ein wenig spitz. „Ich glaube jedenfalls auf dem richtigen Wege zu sein und werde ihm weiter folgen.“

„Werden Sie mich auf dem laufenden halten?“

„So weit es im Interesse der Forschungen notwendig erscheint, natürlich.“

„Ich bin gespannt. ob Ihre Ansicht das Richtige trifft.“

„Daran zweifle ich gar nicht mehr. Was sagen Sie, wenn ich Ihnen berichte, daß Kießling am Unglückstage hier in Valence war?“

„Wirklich? Er ist hier gesehen worden?“ „Jawohl. Das ist er.“

„Dann allerdings — —“

„Also!“

Das letzte Signal

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