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SEEMANNSCHAFT UND NAVIGATION

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Um ein Schiff sicher und effizient zu führen, müssen Kapitän und Besatzung die für die Erfüllung dieser Aufgaben erforderlichen Regeln guter Seemannschaft beherrschen. Um das Wort „Seemannschaft“ zu erklären, greife ich immer wieder auf die Definition aus dem „Oxford Companion to Ships and the Sea“, Oxford von 1976 zurück. Sie lautet: Seemannschaft, im weitesten Sinne, ist die Kunst, ein Schiff von einem Platz nach einem anderen über See zu bringen, ist eine Mischung aller Künste, ein Schiff zu entwerfen … es auf See und im Hafen zu führen und zu manövrieren und ist die Wissenschaft der Navigation, durch die es seinen Weg vom Abgangsort zum Bestimmungsort findet. Die Seemannschaft vieler Seeleute wird leider nicht sehr hoch eingeschätzt. So fragte 2001 die britische Fachzeitschrift „Safety at Sea“: Verließen uns mit der Arche die guten Traditionen der Seemannschaft? Dabei sei noch auf einen besonderen Punkt hingewiesen.


„Seemannschaft“, die Unfälle beim Betreten eines Feederschiffes geradezu herausfordert

Im Zusammenhang mit dem Untergang des ehemaligen DSR-Lehr- und Ausbildungsschiffes GEORG BÜCHNER in der Danziger Bucht sprach ein Rostocker Schifffahrtsexperte davon, dass einer der Gründe für den Untergang des Schiffes mangelnde Seemannschaft gewesen wäre. Nun müssen sich auf einem zu verschleppenden toten Schiff durchaus keine Seeleute befinden, und dort, wo keine Seeleute sind, kann es beim besten Willen auch keine Seemannschaft geben. Welch grausame Auswirkungen das Fehlen des unbedingt erforderlichen seemännischen Könnens hat, bewies die Kollision des Hamburger Vollschiffes MARGRETHA mit dem norwegischen Dampfer MASCOT am 13. März 1909. Das Seeamt Hamburg schrieb in seinem Spruch: „Nach der Kollision haben die neun Seeleute der ‚Margretha‘, welche sich in das Steuerbordrettungsboot begeben hatten, einen hohen Grad von Kopflosigkeit und Mangel an seemännischen Eigenschaften gezeigt, indem sie es versäumt haben, den an Bord Zurückgebliebenen und später mit dem Schiff Untergegangenen, insbesondere der Frau und dem Kind des Kapitäns, nach Möglichkeit Hilfe zu bringen … Inzwischen eilte der Kapitän mit seinem Kinde wieder an die Reling und bat nochmals die Leute in dem nahen Boot, doch wenigstens sein Kind zu retten. Die in dem Boot befindlichen neun Leute haben dann auch nach ihrer nicht widerlegten eidlichen Aussage den ernstlichen Willen gehabt, an die Schiffsseite heran zu manövrieren, um das Kind aufzunehmen, haben auch gerufen: ‚Wir kommen!‘ Es gelang ihnen aber nicht, das Boot an das Schiff heranzubringen, da sie in ihrer Kopflosigkeit auf der einen Seite mit drei, auf der anderen mit einem Riemen ruderten und niemand mit einem der noch vorhandenen Riemen steuerte. Das Boot drehte sich daher im Kreise und es verging kostbare Zeit, während welcher die ‚Margretha‘ sich so mit Wasser füllte, dass ihr Sinken und Kentern jeden Augenblick bevorstand. Schließlich gaben die Bootsleute ihre Versuche, an das Schiff zurückzurudern, auf und flüchteten, um nicht in den Sog des sinkenden Schiffes hineingezogen zu werden … Vollends unbegreiflich erscheint aber das Verhalten dieser neun Leute, nachdem die ‚Margretha‘ untergesunken war. Trotzdem sie wussten, dass acht Menschen an Deck gewesen waren, welche jetzt im Wasser um ihr Leben rangen, haben sie ihr Boot, wie sie zugeben, einen Augenblick treiben lassen und sind dann, da sie keine Hilferufe hörten, fortgerudert.“

Bei der Hamburger Bark APOLLO befand sich die Seemannschaft, vor allem die Schiffsführung, auf keinem höheren Niveau. Der Kapitän wurde von der Reederei völlig zu Recht zum Ersten Offizier degradiert. Vielleicht ist ihm in einer ruhigen Minute der Spruch unserer Vorfahren En Schipp oewer See to bringen, dor hüürt väl to eingefallen. Seine Seemannschaft reichte jedenfalls dafür nicht aus. Die erst acht Jahre alte Bark brachte auf einer außerordentlich langen Reise von 192 Tagen Kohle von Sunderland nach Valparaiso. Am 19. Dezember 1885 versegelte sie nach Tonala am Golf von Tehuantepec. Unterwegs übernahm sie in Callao noch 300 t Steine als Ballast, die weder durch Längs- noch durch Querschotten gesichert waren. So etwas konnte nur ein außerordentlicher Dummkopf oder ein Lebensmüder machen. 260 sm vor dem Bestimmungsort warf der Erste Offizier eigenmächtig Ballast aus der sich an Backbord befindenden Ballastpforte. Wenn es dunkel wurde, schloss der Erste sie, dichtete sie aber nicht ab. Dadurch drang Wasser ein und der Ballast ging über. Erst nach drei Wochen wurde die Pforte wieder abgedichtet. Am 13. Januar hatte man sich bis auf 80 sm Tonala genähert, wurde aber durch flaue Winde abgetrieben. Am 25. Januar sichtete man zum ersten Mal die Küste und am 30. hatte man sich bis auf sechs Seemeilen dem Ziel genähert. Der Wind frischte auf und am 4. Februar waren es sieben bis acht Seemeilen bis Tonala. Am nächsten Tag hatte man sich dem Land so weit genähert, dass das Schiff mit einem Boot davon wegbugsiert werden musste. Am 7. Februar stürmte es, der Ballast löste sich. Das Schiff wurde vor den Wind gebracht und war am 8. Februar über 260 sm vom Ziel entfernt. Als sich Sturm und See legten, wollte man Acapulco zur Reparatur anlaufen. Nachdem der Kurs für kurze Zeit geändert worden war, wollte der Kapitän auf einmal Guayaquil ansteuern. Er wollte wohl unbedingt Napoleons Spruch Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit bestätigen. Mit NO-Wind segelte man nun nach Süden. Es setzte der S-Passat ein und der Kapitän segelte mit ihm bis zum 22. Februar nach Südwest. Dann entdeckte die Besatzung, dass die Wassertanks leck gesprungen waren. Da sie befürchtete, dass das Wasser knapp werden könnte, wurde der Kurs nach Hawaii abgesetzt, wo man am 24. März in Honolulu einlief. Die Besatzung hatte die Nase endgültig voll und verweigerte die Weiterreise. Das wurde damals als Meuterei eingestuft, woraufhin der Konsul die gesamte Mannschaft ins Gefängnis brachte. Die Mannschaft begründete ihre Haltung damit, dass der Schiffer Groth nachts nicht an Deck gewesen wäre, der Erste häufig auf seiner Wache geschlafen hätte usw. Irgendwann kamen die „Lords“ wieder aus dem Gefängnis, was einige nutzten, um zu desertieren. Ein amerikanischer Kapitän brachte das Schiff nach San Francisco, wo es ein neuer, von Hamburg geschickter Kapitän übernahm. Der vorherige „Alte“ blieb als Erster Offizier an Bord und der vorherige Erste wurde gefeuert. Nicht umsonst hatte Harry Morton in seinem Buch „The Wind Commands“ geschrieben: Genaue Navigation war für den Tiefwasser-Seemann auf allen Ozeanen wichtig. Aber auf dem Pazifik war sie durch seine Größe, die selbst die Breite des Atlantik unbedeutend erscheinen lässt, lebenswichtig. Aber selbst auf dem weniger großen Atlantik konnten die Seeleute böse Überraschungen erleben. 1957 berichteten die Schifffahrtszeitungen „De Zee“ und „Hansa“ über einen ungewöhnlichen Seeunfall. Im Februar 1956 strandete ein neuer Tanker rund 200 sm von seinem Loggeort. Hätte sich die Besatzung an den Spruch Der Pessimismus der Überlegung ist die Vorbedingung zum Optimismus der Tat gehalten, wäre ihr zweifellos in den Sinn gekommen, dass ein Kompass versagen kann. Dagegen hilft immer die optimistische Tat der Kompasskontrolle, die der Kapitän angewiesen, die aber nicht einer seiner drei Wachoffiziere durchgeführt hatte. Anscheinend kannte der Kapitän auch Lenin nicht, von dem der folgende Spruch stammen soll: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die unterlassene Kontrolle dürfte der Kapitän bereut haben. Das Schiff verließ den Delaware River und begab sich auf die Reise nach Südamerika. Gegen Mittag wurde letztmalig ein Schiffsort festgestellt und das Schiff auf den Kurs von 118 Grad eingesteuert. Zehn Minuten später gab es in der Übertragung der Signale vom Mutter- auf die Töchterkompasse eine unbemerkt gebliebene Unterbrechung. Nach einer Viertelstunde setzte die Übertragung, ebenfalls unbemerkt, wieder ein. Der Rudergänger hatte zwar mit Verwunderung bemerkt, dass das Schiff die ganze Zeit eisern auf dem Kurs von 118º lag, dies aber nicht seinem Wachoffizier gemeldet. In der Viertelstunde änderte sich der Kurs des Schiffes um 111º. Die Kreiseltochter am Ruder nahm ihren Dienst mit 118º wieder auf, steuerte aber in Wirklichkeit 7º. Dieser Kurs führte sie direkt auf Fire Island, das der Insel Long Island bei New York vorgelagert ist. Am Tage hatte man durch das verhangene Wetter, das die Sonne verdeckte, die Kursänderung nicht bemerkt. In der Nacht müssen die Wachen tief und fest geschlafen haben, denn es wurde nicht vermeldet, dass die US-Küste an dieser Stelle abgedunkelt gewesen wäre. Um 1.50 Uhr in der Nacht kam dann das große Erwachen und beendete alle Träume vom schönen Südamerika.

Die Beachtung des lateinischen Seemannsspruches

Glücklich, wen fremde

Gefahren vorsichtig machen

hätte viele Seeunfälle sowohl früher als auch heute verhindern können. Außerdem haben die Seeleute nicht umsonst über Jahrhunderte das Wetter beobachtet und ihre Beobachtungen den mit Wind, Wetter und Strom beschäftigten Instituten, wie der Deutschen Seewarte von 1875 bis 1945, zugeschickt, damit diese sie verallgemeinern und den Seeleuten in Segelanweisungen und Monatskarten zur Verfügung stellten. Diese Daten, neben den aktuellen Wetterberichten, sind wichtige Grundlagen für die Reisevorbereitung einschließlich des zu wählenden Kurses. Das galt auch für das 2001 in Hamburg von Blohm & Voss gebaute Kreuzfahrtschiff EXPLORER, das gelegentlich schon Warnemünde angelaufen hat. Es befand sich im Januar 2005 auf der Reise von Vancouver nach Hakodate auf dem Nordpazifik. Am 23. Januar hatte die EXPLORER bei Bft. 8 schon leichte Seeschlagschäden erlitten. In der Nacht vom 26. zum 27. des Monats geriet es mit 681 Studenten, 113 zum Lehrbetrieb gehörenden Personen und 196 Besatzungsmitgliedern südlich der Aleuteninsel Adak in sehr schweres Wetter (Bft. 9 – 10). Mehrfach kam es zu kleineren Schäden. Um sie zu beseitigen und um die Lage des Schiffes zu verbessern, wurde der Kurs zeitweise von 285º auf 30º und auf 80º geändert. Nachdem der Kurs am frühen Morgen auf 240º geändert worden war, wurde das Schiff durch zwei Wellen von etwa 16 m Höhe getroffen.


Die EXPLORER in Warnemünde


Vergleich der Höhe der Brücke zwischen der EXPLORER und der QUEEN VICTORIA

Sie schlugen die Fenster der Brücke ein und fluteten die Schiffsführungszentrale, als das Schiff mit 7 Knoten gegen die See anging. Durch das eingedrungene Wasser kam es zu einem Kurzschluss und einem zeitweiligen Ausfall der Maschinen. Der Kapitän ließ den Notruf „Mayday“ senden und löste den Generalalarm aus. Alle Personen an Bord versammelten sich mit ihren Rettungswesten an den Bootsstationen. Mit Hilfe von Reserveanlagen konnte das Schiff seine Reise wieder aufnehmen, den Kurs ändern und mit 14 kn in Richtung Hawaii laufen. Die Untersuchung des Seeunfalls erinnerte daran, dass das Schiff für das Mittelmeer und nicht für Winterreisen auf dem Nordatlantik oder Nordpazifik gebaut worden war. Der Kapitän des Schiffes, das eher an eine Jacht als an ein für schweres Wetter gebautes Passagierschiff erinnert, hatte einen für die Jahreszeit zu nördlichen Kurs gewählt. Seine miserable Reisevorbereitung führte das Schiff in das Gebiet mit den durchschnittlich höchsten Wellen auf den Nordpazifik. Das hätte er, wenn er die amerikanische Pilot-Chart für den Nordpazifik studiert hätte, erkennen können und erkennen müssen. Der chinesische Philosoph Laotse hat nicht umsonst gesagt: Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. Das gilt ganz besonders für die Reisevorbereitung. Heute wird diese Aufgabe meistens dem Zweiten Offizier übertragen. Der Kapitän soll dann den in die Seekarte (Papier oder elektronisch) eingetragenen Kurs kontrollieren und sanktionieren. Solange mir die Rotation des Schiffes genug Zeit für diese Aufgabe gewährte, habe ich sie immer selbst erledigt. Das deshalb, weil dies einerseits eine wichtige Aufgabe ist und sie mir andererseits Spaß gemacht hat.

Dies hat der Kapitän der RENA, die der griechischen Reederei Costamare gehörte und 1990 als ZIM AMERICA in Kiel gebaut worden war, offensichtlich anders gesehen. Das Containerschiff, das 236 m lang war und 3351 TEU befördern konnte, befand sich am 5. Oktober 2011 auf der Reise von Napier nach Tauranga in Neuseeland, als es um 2.20 Uhr in der Bay of Plenty auf das Astrolabe Riff lief. Die Untersuchung der zuständigen neuseeländischen Behörde ergab, dass der ursprüngliche Reiseplan durchaus den üblichen Anforderungen entsprach. Aber schon bei der Verseglung um die Mahia-Halbinsel wurde deutlich, dass Kapitän und Wachoffizier den Sinn einer seemännisch fundierten Reiseplanung nicht verstanden hatten. Der Plan wurde zur Wegeinsparung („Eckenschneiden“) verändert und zu keinem Zeitpunkt wurde der festgelegte Kurs eingehalten.


Die 1991 in Kiel gebaute ZIM KOREA ist eins von sechs Schwesterschiffen der ZIM AMERICA

Darüber hinaus übertrug der Kapitän dem Zweiten Aufgaben, für die er selbst zuständig war. Der Kurs des Schiffes wurde vom Zweiten nach einem Telefongespräch mit dem Kapitän in Richtung Astrolabe Riff zur Einsparung der zu laufenden Distanz geändert. Diese Veränderungen widersprechen den Regeln guter Seemannschaft. Einen solchen Gedanken hätte der Kapitän mit allem Für und Wider selbst anhand der Karte kontrollieren müssen. Das Ergebnis dieser nicht seemännischen Arbeitsweise war der Totalverlust des Schiffes, eine beachtliche Umweltverschmutzung und eine sehr teure Beseitigung von Teilen des Wracks.

Eine der schönsten Definitionen in der Seefahrt ist die folgende aus dem Fachbuch „The American Practical Navigator“ (Ausgabe 1995): Die Navigation eines Schiffes verbindet Wissenschaft und Kunst. Ein guter Navigator sammelt Informationen von jeder zur Verfügung stehenden Quelle, wertet diese Information aus, ermittelt einen Schiffsort und vergleicht diesen Schiffsort mit der vorher durch Koppeln bestimmten Position. Ein Navigator bewertet ständig die Position des Schiffes, erkennt mögliche gefährliche Situationen, bevor sie entstehen und ist mit seinen Überlegungen immer der jeweiligen Situation voraus. Der moderne Navigator muss die Grundkonzepte der vielen heutigen Navigationssysteme verstehen, ermittelt ihre Genauigkeit und kommt so zu den bestmöglichen Entscheidungen für die Führung des Schiffes.

Diese Definition gab es zur Zeit eines alten Kapitäns, der mit seinem Segler aus Geordie (Umgebung von Newcastle upon Tyne) Kohle in der Küstenfahrt transportierte, noch nicht. Wenn es sie gegeben hätte, würde er sie wahrscheinlich nicht beachtet haben. Bei dickem Wetter wurde der Kohlefrachter auf die Nordsee hinausgetrieben. Der Schipper wandte sich an seinen Steuermann, wo denn die Seekarte wäre, denn ihm sei so, als hätten sie eine an Bord. Nach einigem Suchen fanden sie die Karte fein säuberlich aufgerollt unter dem Staub der Jahrzehnte. Der Kapitän rollte sie auf, sah aufmerksam hinein und rammte seinen rechten Daumen auf die Karte. „Wi sünd ungefähr hier“, sagte er. „Möönsch“, sagte der Steuermann, „lot mal sehn.“ Der Alte lüftete seinen Daumen und beide starrten voller Schrecken auf die Karte. Genau dort, wo der Daumen gewesen war, befand sich ein schwarzer Fleck. Schließlich sagte der Schiffsführer: „Is dat Fleegendreck, denn sünd wi richtig. Aber wenn nich …! Klar zum Halsen!“ Zumindest hat der Küstenschiffer anscheinend gewusst, wo er hinwollte.

1973 hatte mein Flottenbereich entweder keinen Kapitän oder niemand wollte dieses riskante Unternehmen übernehmen. Die JOHN SCHEHR sollte von Rostock nach Wismar in die Werft versegeln. Das sind unattraktive Aufgaben mit einem hohen Risikofaktor, weil auf den in die Werft bestimmten Schiffen in der Regel zahlreiche Anlagen nicht oder nur eingeschränkt funktionieren. So war es auch auf diesem Typ-X-Schiff. Der Kompass funktionierte noch, aber mit dem Radar konnte man kein Ziel peilen. Nur der bewegliche Entfernungsring ermöglichte mir im dichten Nebel, die Abstände zur Küste festzustellen. Mit ihrer Hilfe navigierte ich das Schiff und brachte es, ohne Schiffbruch zu erleiden, nach Wismar. Die Amerikaner sprechen von jeder zur Verfügung stehenden Quelle. Ich hatte nur eine, aber sie ermöglichte mir, die Position meines Schiffes festzustellen und den notwendigen Kurs anzuweisen.


Die JOHN SCHEHR vom Typ X auf der Elbe

Auf diese Weise konnte ich den Spruch von Laotse Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg befolgen. Mit dem richtigen Weg haben doch eine ganze Reihe von Kapitänen Probleme gehabt, weil sie nicht die richtigen Seekarten an Bord hatten. In der letzten Verhandlung eines Seeamtes, an der ich als Beisitzer teilgenommen habe, ging es um die Grundberührung des 999 RT großen Küstenmotorschiffes RUTHENSAND. Das Schiff kam mit einer Ladung Splitt von Abenrade nach Sassnitz-Mukran. Dem Kapitän war es nicht gelungen, sich eine Seekarte zu besorgen. Vom Schiffsmakler in Stralsund erhielt er einen Fax-Abzug von der Seekarte, mit dem er dann versuchte, seinen Liegeplatz in Mukran anzusteuern. Das klappte nicht. Die Reparatur des Bodenschadens, den er sich am 13. Juni 1992 auf den Steinen vor Mukran zuzog und der in der Volkswerft Stralsund repariert wurde, kostete über 100 000 DM.

Bei dem Kühlschiff CAP TRIUNFO war das Suchen des Weges noch ein bisschen komplizierter. Im August 2001 lud das Schiff in Südamerika Bananen für Italien. Auf der Reise erhielt der Kapitän die Order, die Bananen nach St. Petersburg zu bringen. Das akzeptierte er, wenn er auch die dafür nötigen Seekarten nicht an Bord hatte. Er bestellte sie für Skagen, wo er sie nicht bekam. Die für den Öresund bekam er rechtzeitig, die für das schwierige Seegebiet Golf von Finnland aber nicht.


Einfahrt in den Hafen Sassnitz-Mukran

Er tat das, was er nicht durfte: Er setzte die Reise fort und befahl dem Zweiten Offizier, provisorische Karten zu zeichnen. Der versuchte dies mit Hilfe des Katalogs der Seekarten der Britischen Admiralität. Wie schon bei dem später zu beschreibenden Seeunfall der Rostocker KÄTHE NIEDERKIRCHNER ging das schief. Am 5. September 2001 lief der „Bananendampfer“ auf Grund. Die Bergung des Schiffes und die Reparatur kosteten eine Million US-Dollar. Die Unsitte, ohne die erforderlichen Seekarten zur See zu fahren, stirbt einfach nicht aus.

Das galt auch für den Kapitän eines Frachters, der nach Stralsund wollte. Die Online-Ausgabe der Deutschen Schiffahrts-Zeitung THB meldete am 6. Juni 2012:

Frachter-Kapitän fuhr auf Sicht nach Stralsund - 06. 06. 12

Samstag, 02. Juni 2012

Lediglich auf Sicht und ohne Seekarte hat der Kapitän eines Frachtschiffes den Hafen von Stralsund angesteuert. Wie die Wasserschutzpolizei mitteilte, stellten Angehörige der Behörde am Vortag bei einer Kontrolle fest, dass der unter der Flagge von Gibraltar fahrende Frachter keine Seekarten für den Bereich Rügen-Stralsund an Bord hatte. Dem Kapitän sei daraufhin mitgeteilt worden, dass er den Hafen erst verlassen dürfe, wenn er sich mit aktuellem Kartenmaterial eingedeckt habe.

Gelegentlich war jedoch nicht das Fehlen einer Seekarte schuld an der Orientierungslosigkeit des Kapitäns. Am 15. Juli 1982 berichtete das britische Schifffahrtsmagazin FAIRPLAY, dass eines Kapitäns Orientierungslosigkeit fast eine Meuterei ausgelöst hätte, als er sich mit seinem Schiff auf der Reise von Le Havre nach Großbritannien befand. Die Besatzung war außer sich, weshalb die Behörden eingreifen mussten. Die Besatzung wurde befragt. Es gab eine ganze Reihe unterschiedlicher Antworten, aber alle waren sich darin einig, dass das Schiff nach Portsmouth bestimmt war. Nur der Kapitän war anderer Meinung. Er sagte, dass er den Kurs nach Plymouth in die Karte eingetragen hätte. Als man ihm sagte, dass die Besatzung der Meinung war, dass das Schiff für Portsmouth bestimmt sei, antwortete er: „Oh ja, ich verwechsle immer die beiden.“

Auch bei dem folgenden Beispiel hielt sich der Schiffsführer nicht an den von den Amerikanern aufgeführten Grundsatz: Ein guter Navigator sammelt Informationen von jeder zur Verfügung stehenden Quelle. Dieser Grundsatz ist schon lange Bestandteil einer nach den Regeln guter Seemannschaft durchgeführten Navigation. Wir können davon ausgehen, dass ihn der Kapitän des Schoners ANNA LOUISE aus Barth kannte. Am 22. April 1881 hatte der Schoner Stralsund verlassen und begab sich auf die Reise nach Kiel. Am 1. Mai bekam man Darßer Ort in einem Abstand von vier Seemeilen in Sicht. Von da an wurde das Wetter dick und der Schiffsführer begann an seinen Künsten zu zweifeln. Er beschloss, das Loggen zu lassen und nur noch das Lot zu nutzen. Er kreuzte gegen den flauen westlichen Wind, indem er jedes Mal, wenn das Lot eine geringe Wassertiefe anzeigte, auf den anderen Bug ging. Am Morgen des 2. Mai kam der Segler um 2 Uhr plötzlich fest. Bald darauf kam ein Feuer in Sicht, dessen Identität der Schiffer nicht feststellen konnte. Um 8 Uhr erreichte sie ein dänischer Lotse und erklärte Kapitän Ehlert zu seinem großen Erstaunen, dass er mit seinem Schiff im Großen Belt auf der Insel Sprogö gestrandet sei. Die Nutzung des Lotes und des Logs wäre wohl doch die bessere Variante gewesen.


Die Insel Sprogö im Großen Belt

Den Spruch Irren ist menschlich werden viele Seeleute oft genug verflucht haben. Das vor allem deshalb, weil, wenn sie etwas genauer oder intensiver hingeschaut hätten, sie den Irrtum durchaus hätten bemerken können. Das gilt auch für die Strandung des Stettiner Dampfers URSULA. Das Flensburger Seeamt kam am 18. April 1895 in seinem Spruch zu dem folgenden Schluss: … Die Stelle, wo das Schiff strandete, liegt eine halbe Seemeile NzO von einem Wirtshaus im Dorfe Stein. Das am Strand stehende Wirtshaus gehört dem Gastwirt Stelk. Es ist demnächst festgestellt worden, dass in der Nacht, wo die URSULA strandete, in diesem Wirtshaus Tanzmusik war und das Licht, welches der Schiffer für das fest Feuer von Friedrichsort gehalten hat, von einer im Wirtshaus brennenden Petroleumlampe herrührte …

Ganz nach dem Gusto des jeweiligen Autors ist das Versagen der Seeleute bei 50 bis 85 Prozent der Seeunfälle die Ursache für das Eintreten der international registrierten Seeunfälle. Seit Langem wissen die zahllosen „Experten“, dass es auch Seeunfälle gibt, die die Seeleute nicht verschuldet haben. Das belegt auch das seit Jahrhunderten existierende Sprichwort

Es ist nicht allzeit des Schiffsmanns Schuld,

wenn das Segel reißt,

der Mastbaum bricht und das Schiff anstößt.

Auch in dem folgenden Beispiel waren die Seeleute der US-Navy nicht schuld daran, dass ihr Minensucher auf ein Riff lief und auf ihm sitzen blieb. Das EUROPÄISCHE SEGEL-INFORMATIONSSYSTEM veröffentlichte zu dem Seeunfall folgende Meldung:

Elektronische Seekarte versetzte Riff, auf dem Minensucher strandete, um acht Meilen.

Im Januar 2013 strandete der Minensucher USS ‚Guardian‘ auf dem Tubbataha Riff. Am 18.1. waren die letzten sieben Mann abgeborgen worden, nachdem bis dahin die Bergungsbemühungen fruchtlos geblieben waren. Der Havarist wurde in der Brandung 90 Grad herumgedrückt, was weiteren Schaden am Korallenriff verursacht haben könnte. Mehrere Hilfsschiffe waren unterdessen zur Strandungsstelle unterwegs zu der Position 80 Meilen ostsüdöstlich von Palawan Island … Am 19.1. veröffentlichte die U.S. National Geospatial-Intelligence Agency (NGA) erste Erkenntnisse zur Unglücksursache, nach denen die digitalen nautischen Karten falsche Daten enthalten können, die den Minensucher vom Kurs abbrachten. Da die elektronischen Seekarten auch auf anderen Schiffen der US-Marine genutzt werden, ergingen an diese vorsorglich Warnungen. Im konkreten Fall war wohl die Position des Tubbataha Riffes auf der digitalen Karte falsch verzeichnet und um acht Meilen versetzt ausgewiesen worden.

Da ich die Umstände wie Wetter, Erkennbarkeit des Riffs, Vorhandensein und Aufmerksamkeit des Ausgucks nicht beurteilen kann, will ich auch gar nicht erst anfangen, an dieser Aussage herumzumäkeln, zumal uns das Sprichwort ja eindeutig bestätigt, dass wir nicht immer schuld sind. Vielleicht hätten sich die amerikanischen Seeleute aber doch an das ungeschriebene Gesetz ihrer Kollegen auf den Großen Seen erinnern sollen. Es besagt: Ständige Wachsamkeit ist der Preis, schwimmen zu bleiben. Hätte es der Kapitän des Hamburger Dampfers OTTILIE am 13. März 1891 beachtet, wäre er mit seinem Schiff nicht auf ein Riff der Purdy-Inseln, die zum Bismarck-Archipel gehören, gestrandet. Das Kaiserliche Seeamt in Hamburg kam zu der Auffassung, dass seine unzureichende Navigation daran schuld war, dass das Schiff zum Totalverlust wurde. Nachdem er schon mit seiner Navigation Schiffbruch erlitten hatte, sorgte er durch unmäßigen Alkoholgenuss dafür, dass seine Seemannschaft sprichwörtlich über Bord ging. Im Spruch des Seeamtes findet sich folgende sehr anschauliche Beschreibung seiner Aktivitäten nach der Strandung des 170 Registertonnen großen Dampfers: … Als nun Steuermann Ebers die Leine, welche den Anker am Boote hielt und dieses hinten völlig unter Wasser drückte, durchschnitt, gerieth Schiffer Budde der Art in Wuth, daß er unter den heftigsten Schimpfworten den Steuermann Ebers zum Passagier machte, an seiner Stelle aber den als Passagier an Bord befindlichen Gärtner Tillmann zum Steuermann ernannte. Schiffer Budde befand sich zur Zeit jener Ankermanöver in einem so schwer angetrunkenen Zustande, daß er sich, um nicht umzufallen, an der Reling festhalten mußte. Er machte zunächst selbst noch einen Versuch mit dem Ausbringen des Ankers, doch scheiterte jener Versuch ebenfalls gänzlich. Schiffer Budde begab sich dann in seine Kajüte und blieb dort in betrunkenem Zustande stundenlang liegen, ohne sich um irgendetwas zu bekümmern … Als Steuermann Ebers zu dieser Zeit beschäftigt war, die vier an Bord befindlichen Ochsen ins Wasser zu lassen, um sie an Land schwimmen zu lassen, sprang Schiffer Budde in schwer angetrunkenem Zustande über Bord und schwamm denselben nach mit dem Ausruf, er wolle die Ochsen retten … Er war zur Zeit nur mit einer leichten javanischen Hose bekleidet, die sich indeß bei dem Schwimmen abstreifte. Mit blutendem Kopfe, welchen er sich durch einen Stoß gegen die aus dem Wasser ragenden Korallen zugezogen hatte, gelangte er schließlich auf die Insel des Latent-Riffes und stand dort vollständig nackt bei den dort gelandeten malayischen Frauen. Ob der Anblick des nackten Kapitäns die Malaiinnen „erfreute“, berichtete das Seeamt nicht.

Weiberröcke und Leichen

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