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Schertenleib

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Es war ein Haus aus der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre. Es hatte zwei Wohngeschosse und einen grossen Estrich. Ein Bekannter hatte mir über einen Bekannten, der die Hausbesitzerin kannte, die seit anderthalb Jahren leer stehende Wohnung im Obergeschoss vermittelt. An einem hochsommerlichen Tag zog ich ein, schuftend und schwitzend unter Mithilfe zweier kräftiger Freunde.

Im Erdgeschoss hauste ein älteres Ehepaar, Schertenleib mit Namen. Sie wohnten da, wie man mir gesagt hatte, schon seit Jahrzehnten. Sie bewirtschafteten auch den grossen Garten, der nicht das kleinste Unkraut und kein einziges dürres Blättchen aufwies. Es war dies eine Gemüseplantage, die vor Rechtschaffenheit nur so strotzte.

Ich hatte Herrn Schertenleib bereits eine Woche vor meinem Einzug meine Aufwartung gemacht. Er hatte mich unter der Pergola empfangen, mich bei einem Bier, das er pedantisch zu haargenau gleichen Teilen in zwei Steinguthumpen verteilte, eingehend befragt oder besser: verhört und dabei höflich zum Ausdruck gebracht, dass er, wenn schon nicht der Hausbesitzer, so doch der inoffizielle Hausmeister und ich ein unbedeutender Wurm sei. Dann setzte er den Humpen an und tat fünf oder sechs geräuschvolle Schlucke. Seine in sehnige Falten eingebettete Gurgel bewegte sich säbelnd auf und ab.

«Ich habe fünf Schafe», sagte er und sah mich lauernd an.

«Aha», sagte ich.

Er gab ein trocken blökendes Lachen von sich. Dann war ich entlassen – ob in Gnaden oder Ungnaden, wusste ich nicht.

Frau Schertenleib hatte ich an jenem Abend nicht zu Gesicht bekommen. Ich wusste aber, dass da eine Frau Schertenleib war. Warum ich es wusste, ist mir rückblickend unklar; es könnte sein, dass es mir mein Bekannter mit dem Bekannten, der die Hausbesitzerin – Sie wissen schon –, dass es mir also dieser Bekannte gesagt hatte. Es könnte aber auch sein, dass ich an jenem Abend ihre stille, verborgene Anwesenheit im Hausinnern instinktiv gespürt hatte. Überdies verströmte Schertenleib die Behaglichkeit eines Mannes, dem es gut ging, weil er den Haushalt nicht selbst zu führen brauchte.

Am Tage des Umzugs sah ich die Frau des Hauses zum ersten Mal; sie ging mit einem Kessel dampfenden Seifenwassers von der Waschküche hinauf in ihre Wohnung. Es war eine kurze, nichtssagende Begegnung.

«Guten Tag», sagte ich, während ich eine schwer bepackte Kiste mit Geschirr hinauftrug.

Sie murmelte etwas Unverständliches und verschwand mit dem Seifenwasser in ihrer Wohnung.

Herrn Schertenleib hingegen sah ich den ganzen Tag. Er werkte im Garten. Er trug ein weisses Trägerleibchen und hellbraune kurze Hosen. Seine Beine waren sonnengeröstet und storchendürr, mit Knien wie Knoten in einem Grashalm. Zwischendurch setze er sich auf die grün gestrichene Bank neben dem Hauseingang und sah uns beim Zügeln zu. Zuweilen machte er eine Bemerkung, etwas Launiges wohl, und lachte dazu rumpelnd. Überhaupt hatte er eine rumpelnde Stimme, laut und leicht verrusst.

Am nächsten Tag sah ich Frau Schertenleib ausführlicher, von meinem Küchenfenster aus, als sie mit ihrem Herrn Gemahl zum sonntäglichen Spaziergang aufbrach, er in kurzärmligem weissem Hemd vorab, sie in diskret geblümtem Rock behutsam zwei Schritte hintendrein. Ich beschloss, den Kontakt zu diesem Ehepaar soweit als möglich zu meiden.

Am Montagabend, als ich von der Arbeit nach Hause kam, wartete Schertenleib neben der Haustür auf mich.

«Herr Mieter», sprach er mich humorig an – er sollte mich fortan immer so nennen – «darf ich Ihnen rasch etwas zeigen?»

«Ja, bitte», sagte ich.

Er führte mich an die rechtsseitige Hausfassade. «Ich habe mir erlaubt, für Ihr Fahrrad hier einen Abstellplatz herzurichten», sagte er und wies schwungvoll auf ein grosses Brett, das er mit einem unterlegten Kantholz in die Waagrechte gebracht hatte. Der Plattenweg um das Haus herum stieg hier nämlich leicht an.

«Gestern habe ich gesehen», fuhr er fort, «wie Sie das Fahrrad beim Hauseingang abstellten, und da dachte ich mir, dass es nicht beim Eingang stehen sollte, sondern hier. Hier stört es weniger und ist erst noch besser vor Regen geschützt. Macht es Ihnen etwas aus, das Fahrrad künftig hier abzustellen?»

«Nein, ich werde es von jetzt an hier abstellen.»

«Und übrigens: Meine Frau bittet Sie, tagsüber sämtliche Fensterläden zu öffnen; das Haus macht mit offenen Fensterläden einen wohnlicheren Eindruck», fügte er hinzu.

«Ich habe einen Fensterladen im Schlafzimmer absichtlich zubehalten, weil ich dachte, vielleicht schadet zu viel Sonne dem Teppich», verteidigte ich mich zaghaft.

«Sie können ja einen schweren Stoffvorhang anbringen, das sieht weniger verschlossen aus als die Fensterläden.»

«Ich werde es mir überlegen. Und danke für den Abstellplatz.»

«Gern geschehen.»

Ich ging ins Haus. Es roch nach altem, blank geschrubbtem Holz, Kellermoder und Küchendunst. Im Treppenhaus begegnete ich Frau Schertenleib. Sie stieg mit einem Kessel schmutzigen Wassers, worin abgekämpft ein Waschlappen schwamm, in den Keller.

Schertenleib arbeitete in einer grossen Maschinenfabrik und stand am Morgen bereits um halb sechs Uhr auf. Das ging unter Gepolter und Getöse. Er liess dazu laut das Radio laufen – volkstümliche Musik – und gab mürrische Laute von sich. Seine Frau hörte ich derweil zudienend in der Küche hantieren.

Am Mittwochabend fing er mich bereits am Gartentor ab.

«Herr Mieter», sprach er und reckte seine wuchtige, das ganze Gesicht dominierende Nase vor. «Ich habe gedacht, vielleicht kommen Sie von selber drauf, aber ich sage es Ihnen besser doch: Auf dem Abstellplatz, den ich Ihnen gemacht habe, ist Ihr Fahrrad zwar gegen Regen einigermassen geschützt, aber eben doch nicht ganz. Ich schlage daher vor, dass Sie sich einen Überzug anschaffen, wissen Sie, so einen aus Plastik. Sicher ist sicher.»

«Danke für den Tipp», sagte ich. «Vielleicht kaufe ich mir bei Gelegenheit tatsächlich so einen Überzug, wer weiss.»

«Ich würde es Ihnen sehr empfehlen.»

Als ich das Fahrrad zum Abstellpodest schob, lief er mir wie ein Schatten nach.

«Sind Sie übermorgen Abend zu Hause?», fragte er. «Die Hausbesitzerin» – dieses Wort sprach er mit Ehrfurcht aus – «hat sich angekündigt. Sie möchte auch bei Ihnen schnell vorbeischauen.»

«Ist gut, ich werde da sein», sagte ich.

Die Hausbesitzerin kam mit einem hochrädrigen Geländewagen angefahren, einem in der Art, wie sie Segler oder Reiter bevorzugt fahren. Sie war eine blonde, sportliche Frau in mittleren Jahren. In ein paar Sätzen sprang sie die Treppe hoch und klingelte bei mir.

«Haben Sie sich eingerichtet? Haben Sie alles, was Sie brauchen?», fragte sie. «Rufen Sie mich an, falls noch irgendetwas etwas defekt sein sollte, ich lasse es reparieren.» Dann ging sie hinunter zu Schertenleibs.

Dort blieb sie ziemlich lange. Ich hörte sie reden; meistens aber redete Schertenleib. Als sie ging, wurde sie vom Ehepaar feierlich ans Gartentor eskortiert. Er trug zur Feier des Tages ein weisses Hemd, seine Frau ihren diskret geblümten Rock. Die beiden winkten, als die Hausbesitzerin wegfuhr. Sie winkten noch, als das Auto längst ausser Sichtweite war.

Am Dienstag in der zweiten Woche begegnete ich Schertenleib im Treppenhaus. Er hatte einen schweren, altmodischen Lampenschirm aus Alabaster unter dem Arm, einen der drei Exemplare, die noch von meinem Vormieter stammten. Bei meinem Einzug hatte ich sie demontiert und auf dem Estrich gelagert.

«Gut sehe ich Sie gerade, Herr Mieter», sagte Schertenleib. «Ich habe die Hausbesitzerin gefragt, ob ich diese Lampenschirme haben könne, und sie hat Ja gesagt. Sie haben ursprünglich ihren Grosseltern gehört. Die sind wertvoll. Ich nehme doch an, Sie haben nichts dagegen?»

Nein, hatte ich nicht. Schertenleib verschwand mit dem angeblich wertvollen Stück in seiner Wohnung. Was wollte er wohl mit diesen Dingern? Seine Wohnung veredeln? Oder Handel treiben? Vermutlich Letzteres.

Beim Hinaufgehen fiel mein Blick auf das kleine Fenster beim Treppenabsatz. Es war mit einem rot karierten Vorhang versehen. Tagsüber war dieser Vorhang offen; sobald es eindunkelte, wurde er gezogen, vermutlich von Frau Schertenleib, die ich aber bei dieser Verrichtung nie sah. Ich sah sie nur, wenn sie mit einem Kessel Seifenwasser unterwegs war.

«Herr Mieter», sprach Schertenleib am übernächsten Tag, «es geht mich ja nichts an, aber es wäre sinnvoll, wenn Sie Ihre Schuhe jeweils vor Betreten der Wohnung ausziehen und auf einer Kunststoffablage – die sind nicht teuer – ausserhalb der Wohnung lagern würden. So bringen Sie garantiert keinen Dreck in Ihre Wohnung.»

«Das tönt gut», sagte ich. Frau Schertenleib kam gerade die Kellertreppe hochgestiegen. Das Wasser im Kessel dampfte. Es roch nach Seife.

Ich schloss auf, trat in meine Wohnung, warf mich aufs Sofa und plante den ersten Mord meines Lebens. Ich führte ihn aber nicht aus. Stattdessen zog ich eine Woche später bereits wieder aus. Zum Glück hatte ich so schnell eine andere Wohnung finden können. Seither hause ich zwar in einer erbärmlichen Bruchbude, aber Ehepaar Schertenleib gibt’s hier zu meinem unsäglichen Glück keines. Die beiden bin ich los.

Eigentlich haben sie mir ja nichts zuleide getan. Aber Leute, die einem unaufgefordert Veloabstellplätze bauen und ohne Unterlass mit Seifenwasser durchs Haus geistern, machen mich mit der Zeit ein wenig nervös.

Unter der Seufzerbrücke

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