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1. Nach dem Regen
ОглавлениеIn der Talebene rauschte der von einem Gewitter hoch angeschwollene Fluss. Er führte viel Holz mit sich, kleine und grosse Äste, auch ganze Baumstämme und Wurzelstöcke. Das Gewitter hatte weit entfernt in den Voralpen getobt. Hier jedoch, ausgangs des langen Tals, wo sich die Hügel allmählich im Flachland verloren, hatte es nur leicht genieselt. Die Luft in dieser Juninacht war feucht und warm. Es roch nach Laub und Erde.
Auf einer Geländeterrasse am rechten Ufer des Flusses Emme duckte sich eine einzelne, mit Riedgras gedeckte Bauernhütte an die Flanke des gerodeten Hügels. Lutperga, die Tochter des Hauses, schlief ruhig in ihrer Stube auf dem Laubsack. Die Haut der blutjungen Frau und ihr helles Haar schimmerten im spärlichen Licht der Nacht, das, nachdem sich die Wolken verzogen hatten, nun wieder durch die Fensterluke fiel.
Ihr verwitweter Vater Hilmar lag wie immer halb angezogen auf der Küchenbank. Als ehemaliger Kriegsmann war er es gewohnt, ohne grosse Bequemlichkeit in steter Alarmbereitschaft zu schlafen.
Der kräftige Hofhund, der nachts frei umherstreifte, liess plötzlich nahe beim Haus ein leises Knurren hören. Es war kurz nach Mitternacht. Sofort schrak der Bauer auf und griff nach seinem Schwert, das er stets in Reichweite hatte – auch das eine Gewohnheit aus der Zeit, als er noch im Heer seines Königs, des grossen Karl, gedient hatte. Er schlüpfte in sein Lederwams, öffnete lautlos die Tür und trat hinaus in die Nacht. In der Faust hielt er den blanken Stahl.
Er sah sich rasch um. Vor ihm und rechterhand zeichneten sich im Düster gespenstisch die Heupuppen auf dem Feld ab, die er tags zuvor mit Lutperga aufgeschichtet hatte. Linkerhand breitete sich wie ein dunkler Wall der Buchenwald aus. Der Hund, der sich jetzt dicht an Hilmar drängte, knurrte abermals, vermischt mit ängstlichem Jaulen. Der Bauer umfing den Schwertgriff fester und drang langsam auf die Wiese vor. Der Hund blieb, den Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt, beim Haus zurück.
Die an dreibeinigen Holzgestellen zum Trocknen aufgeschichteten Heuhaufen bildeten hervorragende Verstecke für Diebe, Räuber und Meuchler. Verbarg sich ein ungebetener Gast hinter einer der Puppen? Das wollte Hilmar herausfinden. Er blickte sich vorsichtig um. Hinter den ersten Haufen war nichts. Hinter dem zweiten Haufen – nichts.
Auf einmal vernahm er von der Waldseite her ein Zischen wie von einer Wildkatze, die ein anderes Tier aus ihrem Revier verscheuchen will, nur lauter und aggressiver, auch kälter und schneidender, fast metallisch.
«Hallo? Wer ist da?», rief Hilmar in die Nacht hinein. «Zeig dich, du hinterhältiger Strauchdieb, und stelle dich einem ehrlichen Kampf! Oder bist du vielleicht ein Bettler? Dann brauchst du dich nicht zu verstecken, ich habe noch nie einem Armen Essen und Nachtlager verweigert.»
Plötzlich schoss unvermittelt etwas aus dem Wald hervor, war von einem Moment zum andern einfach da, dicht vor Hilmar, und sperrte sein schreckliches Maul auf. Das Wesen war nur einen Kopf grösser als der Bauer, aber mit enormen Muskeln bepackt und gänzlich von einer schuppig-ledrigen Haut bedeckt, die den Leib schützte wie ein Kettenpanzer. Der vollständig kahle Kopf wies keine sichtbaren Ohren auf. An der Stirn ragte beidseitig je ein hornartiger Auswuchs auf. Im faltigen Gesicht glommen gelbliche, schlangenhafte Augen, und anstelle eines Mundes sprang eine fürchterliche Schnauze vor, in der zwei Reihen todbringender Zähne aufblitzten. Das Wesen zischte und verströmte einen schwefligen Atem.
Hilmar hatte im Lauf seines Kriegerlebens gelernt, jederzeit und in jeder Situation handlungsfähig zu bleiben, denn er wusste: Jener kurze Augenblick, in dem man starr ist vor Schreck, entscheidet oft über Leben und Tod. So riss er nun trotz seiner Angst, die ihm fast den Atem raubte, reflexartig die Faust mit dem Schwert hoch und richtete die Waffe gegen das Ungeheuer, bereit, seine Haut so teuer als möglich zu verkaufen.
Sein Gegner stiess beim Anblick des Schwerts einen kreischenden Laut aus. Darin drückte sich, sehr zu Hilmars Erstaunen, weniger Angriffslust denn Furcht aus. Der Reptiloide warf den Kopf in den Nacken, schleuderte ihn wütend hin und her, schrie weiter und fletschte die Zähne. Statt anzugreifen, rannte er ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war, an Hilmar vorbei auf dessen Hütte zu. Im bleichen Mondlicht sah der Bauer, dass der Dämon eine höckrige Wirbelsäule hatte, die in einen ebenfalls höckrigen Schwanz mündete.
Beim Hauseingang blieb das Wesen stehen. Ein kurzes, aber schmerzvolles Jaulen des Hundes ertönte, dann reissende, knackende und fetzende Geräusche, wenige Momente nur, und bevor der herbeirennende Bauer die Tür erreichte, machte sich der Feind bereits wieder aus dem Staub, schneller als der Teufel.
Hilmar blickte ihm hinterher. Täuschte er sich, oder verwandelte sich die schreckliche Nachtgestalt plötzlich in einen Menschen, vollkommen nackt, hellhäutig und überaus wohlgestaltet? Schnell hatte das Dunkel des Waldes den Fliehenden verschluckt.
Entsetzt sah Hilmar, was das Ungeheuer angerichtet hatte. Der Hund existierte nicht mehr. Stattdessen lag eine Masse von Blut, Fleisch, Knochen und Fell vor dem Haus und klebte teilweise auch an der Wand und der Tür.
«Bestie!», presste Hilmar in unbändiger Wut zwischen den Zähnen hervor.
Er stiess sein Schwert in die Scheide und trat ins Haus. Sein Herz klopfte wie wild. Lebte Lutperga noch, oder war auch sie Opfer des blitzschnell angreifenden und mörderisch rasenden Unholds geworden?
Sie lag in ihrer Kammer und atmete tief und ruhig. Auf ihrem Gesicht lag ein friedlicher, fast lächelnder Ausdruck. Das Geschehen vor dem Haus, das Kreischen des Angreifers und das Jaulen des Hundes hatten ihre Nachtruhe nicht gestört.
Hilmar kniete nieder und dankte Gott, dass seiner Tochter nichts geschehen war. Die ganze Nacht blieb er wach an ihrem Bett. Als der Tag anbrach, gab er Lutperga in die Obhut des Bauern Betto, der mit seinen Leuten auf der anderen Seite des Hügels lebte, und ritt in die Stadt.