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VII
ОглавлениеHundert weiße Milchglaskugeln, die von der Decke der großen Halle in der Villa Hermann herniederhingen, beleuchteten eine Gesellschaft, die sich aus den Spitzen der Behörden, der Industrie, aus Militärs, Gelehrten und Künstlern, lauter prominenten Persönlichkeiten, zusammensetzte.
Man saß bei Sekt und Nachtisch an der hufeisenförmigen Tafel am oberen Ende des Festraums, und die Kapelle, hinter Rosen und Lorbeer versteckt, spielte moderne Komponisten.
Aber schon tänzelten die Zigeuner des Bela Janos herein, nach dem großen Tanzparkett hinüber auf der Südseite der Halle. Und kaum sangen ihre Geigen die ersten Weisen, so schwebten auch schon die Paare über das spiegelnde Getäfel des Parketts.
„Wirklich, es ist ein ästhetischer Anblick“, sagte Oberregierungsrat Henderson zu der Baronin Korf, die gleich ihm das Zusehen beim Tanzen höher schätzte als das Tanzen selbst.
„Aber was ist mit unserem Wirt?“ fragte die Dame dagegen, „ich habe Konsul Hermann noch nie in einer so bedrückten Stimmung gesehen.“
„Wundern Sie sich darüber, gnädige Frau?... Ich glaube, wenn mir anderthalb Millionen gestohlen würden, würde ich ganz anders lamentieren.“
„Also ist es wirklich wahr, Herr Oberregierungsrat ... anderthalb Millionen? Ich habe gedacht, die Fama macht da auch wieder aus der Mücke einen Elefanten.“
„Nein, da ist nichts übertrieben. Wir, ich und meine Leute, wir sind ja mit der Sache so eng befaßt, daß wir es schon wissen müssen.“
Der Brillantstern in dem fast weißen Haar der Dame zitterte funkelnd, als sie interessiert nickte.
„Ich bin wahnsinnig neugierig, Herr Oberregierungsrat! Haben Sie denn überhaupt einen Verdacht auf irgend jemanden?“
„Bis jetzt nicht, leider! Wir wissen eigentlich noch so gut wie gar nichts. Und ich sitze hier wie auf Kohlen, gnädige Frau. Ich erwarte jeden Augenblick den Anruf eines meiner Herren, der heute abend mit einem ganzen Heer von Beamten auf Streife ist, um den zweiten Täter zu fassen.“
„Den ersten, den haben Sie tot aufgefunden, nicht wahr? ... Das habe ich in der Mittagszeitung gelesen ... um Gottes willen, wie schrecklich ist das! In was für einer wilden Zeit wir doch leben! Ein Mord gilt heute kaum noch so viel wie früher ein einfacher Diebstahl.“
Herr Henderson nickte:
„Ja, das merken wir am besten. Die Kriminalpolizei ist mit Arbeit überlastet, und dann beschimpft man uns noch obendrein, wir bekämen nichts raus!“
Ein Tanzpaar ging an den Plaudernden vorüber. Er ein ausnehmend kräftiger Mann mit hoch und frei getragenem Kopf, unter dessen breiter Stirn zwei seelenvolle Augen leuchteten. Sie, ganz in weiß Crêpe de Chine mit wundervollen Spitzen, an ihn geschmiegt, als wären sie beide allein auf der Welt.
Die Dame am Tisch beugte sich zu Herrn Henderson und flüsterte:
„Da reden sie immer von der neuen Sachlichkeit und von der verschwundenen Romantik in der Liebe! Schauen Sie sich die beiden an, Herr Oberregierungsrat ... wenn das nicht noch so ist wie zu Zeiten unserer Eltern und Großeltern, dann will ich nie mehr Pommery trinken.“ Sie lächelte und deutete mit einem schalkhaften Zwinkern auf den Kühler, dem Herr Henderson schnell die silberhalsige Flasche entnahm, um seiner Partnerin die Sektschale zu füllen.
Es sprang, freilich ein wenig zu spät, ein Lohndiener heran, der dem Oberregierungsrat die Flasche abnahm und sie wieder in den Kübel stellte. Henderson richtete sein Monokel auf den Mann, der, in schwarzem Frack, nur an der silbernen Raupe auf der Schulter als Bedienter kenntlich war.
„Ah, aha!“ Herr Henderson wollte etwas sagen, verschluckte es aber. Nur ein leises Lächeln spielte um die grauen Borsten auf seiner Oberlippe. Das war doch? ... Ja ... ganz sicher! ... Das war er!
Doktor Splittericht, der nach Übereinkunft mit dem Hausherrn heute hier die Rolle des Lohndieners spielte, sah den Oberregierungsrat mit großen Augen an. Sie verstanden sich. Dann eilte der Pseudo-Lohndiener nach dem Tanzparkett hinüber und reichte da Erfrischungen herum.
Jemandem, der zu beobachten verstand, wäre es nicht verborgen geblieben, daß der Detektiv sich immer in der Nähe der blonden Tochter des Hauses aufhielt.
Der große, blendend erhellte Raum schwirrte von Stimmen. Auf der Tafel flammten in silbernen Leuchtern und in Girandolen aus altem Meißener Porzellan noch die duftenden Wachslichter, und der Rauch von Zigarren und Zigaretten schwebte wie eine durchsichtige Wolke über den Rosensträußen, deren Blumen, ihren Duft doppelt verströmend, schon die Köpfe hängen ließen. Die Tanzmusik hörte auf zu spielen, und mit einem mächtigen Akkord einsetzend, intonierte die Tafelkapelle den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin“. Alle Gäste wußten, wem zu Ehren man heute hier feierte, und von allen Seiten liefen sie nun zusammen, reckten die Hälse, plauderten und lachten und warteten auf den Hausherrn, der vor den Lorbeerbüschen auf eine kleine Estrade trat und die Verlobung seiner Tochter mit dem Komponisten Karl von Wieland bekanntgab.
Wieland, als Musiker bekannt und geschätzt, war vor kurzem zur musikalischen Leitung der Staatsoper berufen worden. Er hatte eine große Anzahl von Verehrern und Freunden, und wohl keiner war in der Gesellschaft, der ihm das Glück mißgönnte, als Schwiegersohn des millionenschweren Bankiers eines der schönsten Mädchen der Hauptstadt heimzuführen.
Der Konsul sprach nicht viel, aber jedes seiner Worte kam aus seinem Herzen und ging ins Herz der Hörer. Dann trat Wieland mit seiner Braut hinzu, und der Vater räumte ihnen den erhöhten Platz zwischen dem Lorbeer.
Alles drängte herbei, den Verlobten zu gratulieren. Auch Herr Henderson mit seiner Dame war unter den Glückwünschenden.
Aber da geschah schon etwas Störendes:
Ein anständig, aber gar nicht festlich gekleideter Mann trat rasch an Herrn Henderson heran und sagte leise einige Worte zu ihm. Darauf wandte sich der Oberregierungsrat zu der Baronin und verschwand mit einer hastigen Entschuldigung aus dem Kreise der Gratulanten und — das wurde allgemein bemerkt — aus der Festhalle.
Der alte Martin, der vertraute Diener des Konsuls und nebenbei ein Juwel von einem Hausmeister, winkte sofort mit seinem Seidentuch nach der Kapelle hin, die auf der Stelle eine schmetternde Fanfare blies. Aber die Gästeschar war irritiert, man sah nach der Tür, durch die Oberregierungsrat Henderson verschwunden war, alle Augen suchten nach einem Menschen, der die Erklärung für diesen eiligen Abschied hätte geben können; man fand niemanden, und der Gesellschaft bemächtigte sich eine unruhige Zerstreutheit.
Der Konsul war sich dieser Tatsache ebenfalls schnell bewußt geworden. Aber er wollte nicht, daß in seinem Hause heute abend von diesem scheußlichen Diebstahl gesprochen würde. Er nahm seinen ganzen Lebensmut, seine ganze Frische oder was noch davon übrig war, zusammen, ging zu den Gästegruppen, plauderte mit ihnen, animierte, was sonst gar nicht seine Art war, zum Trinken und zum Rauchen und tat alles, um eine Mißstimmung, wenn sie aufgekommen war, zu zerstreuen. Man tanzte auch wieder, man unterhielt sich, aber über diesen vielen geputzten, glänzenden Menschen schwebte eine stumme, unruhevolle, beinahe erbitterte Frage:
Warum sagte man ihnen nichts? Warum erfuhren sie nicht, was geschehen war? Anderthalb Millionen sind doch kein Pappenstiel! Davon muß man doch reden! Das war ja beinahe eine Brüskierung! In dieser Zeit der Not und des allgemeinen Mangels, da darf man nicht über den Verlust eines solchen Riesenvermögens weggehen, als wäre eine Schnupftabakdose gestohlen worden. Im Grunde genommen war es ja nur, daß bei all diesen leiblichen und seelischen Genüssen der Hunger nach Sensation nicht gestillt wurde. Man wollte nicht mit leichten Scherzen, mit Lachen und Tanzen unterhalten sein, wenn ein so prachtvoller Skandal in der Luft lag!
Aber der Gastgeber kämpfte gegen diese Neugier auf seine Weise weiter. Die Musik schwieg nicht einen Augenblick. Es wurden Überraschungen hereingebracht ... Riesentiere, wie sie in New York den Festtrubel heute beleben, Elefanten, Nashörner, Riesenschwäne und Alligatoren aus Gummi, die, aufgepustet, die Gäste faszinierten und die Stimmung zu heißer Lustigkeit und lautem Gelächter aufpeitschten.
Wie Karneval war es plötzlich. Eine Ausgelassenheit, wie sie in diesem Hause vielleicht noch nie gesehen worden war, bemächtigte sich besonders der Jugend. Der Wein tat seine Wirkung und machte die Sinne doppelt lebendig.
Eben schluchzten und klagten die Geigen noch. Dann gellte das Schlagzeug, die große Trommel dröhnte und die Saxophone quiekten und schnalzten. Man tanzte nicht mehr so ruhig und getragen wie zuerst. Die Bewegungen wurden wilder, die Tänzerinnen lachten und schrien leise im Arm ihrer Kavaliere, die sie fest umschlangen.
Was war’s, das den Jubel plötzlich wie in schriller Dissonanz abbrechen ließ? —
Noch vor Minuten war Rose Hermann im Arm des Bräutigams der Musik gefolgt. Dann hatte er sie einen Augenblick zu ihrem Sessel gebracht, war von einem der Freunde fortgezogen worden und hatte nach einem, wie er meinte, so kurzen Gespräch Rose wieder aufgesucht.
Sie war weg. Seine Augen forschten umsonst nach ihr. Eine Freundin Roses, die eben mit ihrem Kavalier vorübertanzte, gab Wieland Bescheid: vor ein paar Minuten sei ein junges Mädchen in hellem Kleid, wohl Roses Zofe, an sie herangetreten und habe ihr etwas gegeben. Was, konnte sie nicht genau sehen, aber wahrscheinlich sei es ein Brief gewesen.
Auch jetzt wieder von jener Ahnung bedrängt, die ihn am Nachmittag bei ihren Tränen überkommen hatte, eilte der Musiker durch die Halle zwischen den Gästen und Tanzenden durch, achtlos, beinahe schon unhöflich, und suchte Rose.
Er fand sie nicht. Aber die Zofe sah er am Ausgang der Halle eben hinter den Lorbeerbäumen verschwinden. Wieland verdoppelte seine Schritte und holte das Mädchen an der Saaltür ein.
Er war fast atemlos:
„Wo ist meine Braut, Annette?“
Die Zofe war sichtlich bestürzt und unruhig:
„Ich weiß es nicht, Herr ... Herr von Wieland.“
Es klang scharf und heftig, als er erwiderte:
„Sie müssen es wissen, Annette, Sie haben ihr ja eben erst den Brief gebracht!“
Das Mädchen erschrak so, daß ihr das Blut wie eine rote Welle bis unter das dunkle Stirnhaar flog.
„Ja, ja“, sagte sie weinerlich, „ja, Herr von Wieland, aber ...“
„Von wem war der Brief?“
„Ich weiß es nicht ... ich hab’ keine Ahnung.“
„Sie wissen es wohl! Reden Sie, antworten Sie mir augenblicklich!“
Er griff sie hart bei dem Handgelenk und schüttelte sie. Und sie, schon schluchzend:
„Ich weiß es nicht, ich weiß wirklich nicht, Herr von Wieland!“
„Kommen Sie mit!“
Er zog sie aus der Tür der Halle in den Gang, der in die Zimmerflucht hinüberführte. Die erste Tür links war geschlossen, die zweite stand halb offen, das Zimmer war erhellt.
Er blieb einen Augenblick zweifelnd stehen und sah zu dem Mädchen hin, dessen Arm er nicht losgelassen hatte.
Sie verstand seine stumme Frage:
„Ja ... ja, hier ist das Schlafzimmer des gnädigen Fräuleins ...“ Und sie weinte wieder.
„Heulen Sie nicht!“ herrschte er sie an. „Sagen Sie mir die Wahrheit, das ist alles, was ich von Ihnen will! ...“ Er zog sie in das Zimmer hinein.
„Wie oft haben Sie Fräulein Rose schon solche Briefe überbracht?“
Das Mädchen antwortete nicht, sie weinte ganz laut, sie schrie fast. Da nahm er sie bei den Schultern und rüttelte und schüttelte sie wutknirschend:
„Sie sollen still sein! Ihr Geschrei nützt Ihnen gar nichts! Ich will wissen, wie oft Sie schon den Postillon d’amour gespielt haben? Sagen Sie es mir, sofort! Ich lasse Sie nicht los!“
Aber das Mädchen war nicht imstande, zu sprechen. Sie wimmerte und schluchzte nur und schien ganz niedergeschmettert von dieser Entdeckung.
Wieland wurde immer wütender:
„Wo ist Rose? Sie werden es mir sagen, und wenn ich Sie zur Polizei bringen soll! Da werden Sie den Mund schon aufmachen!“
„Nein! Bitte, bitte, nicht ... nicht zur Polizei!“
„Dann sagen Sie, was Sie wissen!“
„Ich weiß ja nichts, ich weiß gar nichts.“
„Aber Briefe haben Sie gebracht? Das können Sie doch nicht leugnen? Ich habe Sie ja abgefaßt dabei!“
Das war nicht wahr, aber die Zofe, deren schwarze Augen vom Weinen ganz verschwollen waren, deren kleiner roter Mund offenstand wie bei einem unglücklichen Kinde, wußte gar nicht, was mit ihr geschah. Sie wußte nur, daß sie wirklich schon seit langer Zeit, schon über zwei Jahre, beinahe so lange, wie sie in diesem Hause diente, ihrer jungen Herrin Briefe überbracht hatte, von denen niemand etwas wissen durfte. Vielleicht hatte das ihrem Wesen jenen selbstbewußten, schnippischen Ton gegeben, von dem Rose Hermann sich manchmal so unangenehm berührt fühlte. Das war die Überlegenheit, die die Dienerin gegen die Herrin ausspielte und die jetzt, im Augenblick der Entdeckung, für sie selbst zu einer furchtbaren Angst wurde, zu der Erkenntnis eines großen Unrechts.
Der leichtherzige Sinn des Mädchens konnte dem Angriff dieses vor Eifersucht rasenden Mannes nicht standhalten. Sie wand sich und weinte, sie klagte und versuchte zu entrinnen, aber überall griffen seine harten Worte, seine wilden Drohungen nach ihr und bezwangen Widerstand und Unwahrheit.
Am Ende dieser peinvollen Unterredung wußte der Komponist, daß seine Braut schon seit zwei Jahren solche mit der Schreibmaschine geschriebenen Briefe erhielt, die Rose gleich, nachdem sie sie gelesen, vernichtet hatte.
Von wem diese Briefe stammten, wer an Rose Hermann schrieb, das konnte Annette dem Musiker nicht sagen. Er redete, drängte und drohte immer mehr! Er schien wirklich willens, sie sofort auf die Polizei zu schleppen. Er tat es nicht. Aber wenn er es getan hätte, er hätte auch nicht mehr von Annette erfahren. Wer der Schreiber dieser Briefe war, das hätte sie auch auf der Polizei nicht gestanden. Sie wußte es in der Tat selber nicht. Sie hatte eines Tages einen an ihre Adresse gerichteten Brief erhalten. Wenige Zeilen nur, ohne Unterschrift. Der Absender bat die Zofe, den inliegenden versiegelten Brief heimlich der jungen Herrin zu geben. Den beigeschlossenen Zwanzigmarkschein sollte sie als Trinkgeld behalten.
Annette gab den Brief ab. Zwanzig Mark kann man immer brauchen, und nebenbei macht es ja Spaß, so eine kleine Heimlichkeit mit seiner Herrschaft zu haben! Dann kam wieder ein Brief und noch einer. Zuletzt fast jede Woche einer. Einmal hatte sie einen solchen Brief, der nicht fest verschlossen war, neugierig geöffnet. Er enthielt zwei Hundertmarkscheine, die sie, vor Angst am ganzen Körper fliegend, in ihrem Busen verbarg. Den Brief, der keine Unterschrift zeigte, hatte sie ebenso wie den Umschlag verbrannt.
Nie hatte Rose nach diesem Brief gefragt. Aber ein paar Tage später kam ein anderer Brief an die Zofe selbst. In ihm teilte der Briefschreiber Annette kurz mit: er habe Kenntnis davon, daß sie den letzten Brief an das gnädige Fräulein nicht abgegeben und die inliegenden zweihundert Mark unterschlagen habe. Ob er sie deswegen bei der Polizei anzeigen und zur Bestrafung bringen sollte, das müsse er sich noch überlegen.
Seitdem lebte Annette in ewiger Angst. Ihre Herrin war freundlich und gut zu ihr wie stets. So wäre sie gewiß nicht gewesen, wenn ihr dieser unheimliche Mensch etwas von den zweihundert Mark gesagt hätte. Aber nun konnte es Annette nicht wagen, so oft sie schon daran gedacht hatte, seine Briefe nicht mehr zu bestellen. Sie war ein willenloses Werkzeug in seinen Händen geworden. Und wenn sie auch viel zu heiter von Natur und zu lebenslustig war, um etwa dauernd den Kopf hängen zu lassen, so gab doch ihr schwacher und leichtherziger Charakter ihr auch keine Möglichkeit, diese Sklavenkette abzuwerfen.
Das war’s, was alle Bemühungen des Komponisten nutzlos machte. Annette hätte so gern gesprochen! Sie hätte diesen Mann, der immer freundlich zu ihr gewesen war, schon längst aufgeklärt in der Hoffnung, damit ihre arme Herrin, deren seelische Leiden ihr nicht verborgen blieben, von ihrem Peiniger zu befreien. Aber die Angst um ihr eigenes Leben, um ihre Sicherheit war größer und ließ sie schweigen.
Der Musiker, vor Aufregung seiner Sinne kaum mächtig, stieß das Mädchen von sich und ging.
Er durchschritt planlos die Zimmerflucht, stand wieder in dem kleinen Musiksalon, wo er am Vormittag Rose im Arm gehalten hatte. Seine Augen irrten umher, immer auf der Suche nach einem Lebenszeichen, einer Abschiedszeile der Verschwundenen. Dann war er in den Zimmern des Konsuls, knipste die Beleuchtung in der Bibliothek an, stöberte in den hohen Regalen nach Büchern, die Rose gehörten, um da vielleicht ein verräterisches Blatt in irgendeinem Buche zu finden, und kam so in einem Zustand, der nicht Traum, nicht Wachen war, wieder in die Festhalle.
Die gleißenden Farben der Dekorationen, der Lärm der plaudernden, lachenden, tanzenden Menschen, die zerflatternden Klänge der Musik — es kam dem Komponisten vor, als schwirrten unheimlich große, grellbunte Rieseninsekten umher, drohten und griffen nach ihm! Angst überfiel den Gejagten. Fort, nur fort aus dieser bunten Scheinwelt mit ihrer schamlosen Lüge! Er gehörte da nicht hinein! Immer hatte er sich ferngehalten von diesen Menschen, bis sie, die eine, kam, an die er geglaubt, der er ganz vertraut hatte und die ihn doch hineinzog in den schillernden Sumpf, in dem er untergehen mußte.
Durch den grellen, lärmenden Jubel jagte an diesem Abend zum zweiten Male das Gespenst der Furcht. Die Gäste sahen einen großen, wie sie selber gekleideten Mann, der doch so ganz anders schien, dem das blonde, amerikanisch lang getragene Haar wild und wirr um den Kopf hing und dessen große, hellblaue Augen im Irrsinn brannten. Er sah niemanden, er ging rasch und ohne Rücksicht zwischen den Tanzenden durch und hörte nicht die Stimme des Konsuls, der ihm nacheilte, ihn fragen wollte. Verschwand in der Tür, die zu den Garderoben führte.
Dort holte ihn Konsul Hermann noch ein. Aber sein Forschen und Drängen war umsonst, der Musiker sah ihn mit leerem Blick an und beantwortete seine Fragen ohne Sinn und Zusammenhang.
„Sprich doch, Karl!“ Der Konsul dämpfte seine Stimme und konnte kaum reden. „Sag doch, ist etwas geschehen zwischen dir und Rose? ... Habt ihr euch gezankt? ... Wo ist sie denn nur? Wo ist Rose?“
Der Musiker bewegte kaum die Lippen. Ein paar unverständliche Worte, ein flüchtiger Händedruck, und Konsul Hermann war allein in dem Garderobenraum und fühlte sich den neugierigen Blicken der Frauen ausgesetzt, die sich den Anschein gaben, als sähen und hörten sie nichts.
Doch dieser große und starke Mann, der sich aus eigener Kraft und aus den kleinsten Anfängen emporgearbeitet hatte, verlor auch jetzt nicht die Gewalt über sich selbst. Er bekam es fertig, mit einer der Garderobenfrauen zu scherzen und der anderen ein Glas Sekt zu versprechen (das er nachher auch gleich hinausschickte), um dann wieder in die Halle zurückzukehren. Was immer geschehen war, er durfte die Haltung nicht verlieren. Auf keinen Fall sollte sein Haus zum Mittelpunkt eines Skandals werden. Über all seiner Angst und Unruhe, die zuletzt doch nur seinem Augapfel, seiner Rose galten, blieb stark und beherrschend das Gefühl seiner Würde, das Bewußtsein seines Ansehens und Kredites im öffentlichen Leben. So schwere Kämpfe er auch schon zu bestehen hatte, nie verließ ihn der Glaube und die Zuversicht zu sich selbst. Er würde auch hier in diese schauerliche Angelegenheit Licht bringen und seinem Hause die Ruhe und den Frieden wiedergeben. Er besaß Geld. Und Geld allein ist Macht. Alles, mit Ausnahme des Lebens, kann man dafür kaufen ... Des Lebens! ... Ein Schauer durchrann den Mann. Er sah sich nach Beistand um. Er dachte an Doktor Splittericht. Drüben bei dem Blumenparterre stand der alte Martin und folgte seinem Herrn mit den Augen. Der Konsul winkte ihn heran und schickte ihn aus, den Doktor-Kommissar zu suchen. Er selbst sah sich überall nach ihm um. Aber Splittericht hatte das Haus verlassen. Warum? Wohin? ... Von nirgends kam Antwort.