Читать книгу Nächte von Fondi - Hans Hyan - Страница 6
Abneigung.
ОглавлениеVoller Unbehagen stieg Hans Barre die Treppe hinauf.
Er kam aus dem Westen, wo eines der Kinder wohnte, denen er Klavierunterricht erteilte. Und war trotz des schmutzigen Wetters den ganzen Weg gelaufen, bloß um möglichst spät nach Hause zu kommen. Am liebsten wäre er in irgend eine Kneipe gegangen, aber seine Einkünfte waren klein und der Monat noch lange nicht zu Ende.
Und vielleicht hatte sie auch nichts im Hause, er konnte sie doch nicht hungern lassen ... ah, dieser verdammte Leichtsinn, solch eine Last sich aufzubürden!
Er knirschte mit den Zähnen.
Die Gasflamme auf der dritten Etage brannte düster und das Holz der Treppe knarrte unter seinen Füßen. Dem Musiker war es, als öffne sich über ihm eine Tür und jemand träte heraus.
Sie ... sicher sie! Niemand hatte hier sonst solchen leichten, behutsamen Tritt.
Und der kleine magere Mensch schlich mit einem zornigen Ausdruck in dem dunklen, bartlosen Gesicht hinauf.
Sie stand auf der Schwelle des Zimmers, das direkt auf den Flur hinausging, vom Licht der hinter ihr stehenden Lampe scharf silhouettiert, und erwartete ihn mit einem Lächeln.
In ihm wühlte, während er die wenigen Schritte zu ihr hin tat, die Frage: „Wie entgehst du ihrer Umarmung?“
Gut einen halben Kopf größer als er, legte sie den Arm zart um seine Schulter und zog ihn hinein. Seine ganze Seele zwang ihn, sie fortzuschleudern, aber eine Rücksicht, über die er nicht wegkam, hielt ihn davon ab.
„Guten Abend, lieber Hans.“
Ihr Organ hatte gewiß nichts Verletzendes.
„n’ Abend ... ich habe Kopfweh!“
Sie trat rasch zurück. Ihr blasses nervöses Gesicht zuckte schmerzlich zusammen.
Merkwürdig, wenn er ihre schöne, straffe Figur von hinten sah, so mißfiel sie ihm nicht so sehr. Aber ihr Gesicht ... er sah in ihm einen heimlichen Trotz! Eine Auflehnung, die sich unter der Maske der Nachgiebigkeit verbarg! Und wenn sie schon so war, warum gab sie sich nicht auch so? ... Hielt sie ihn etwa für so dumm, daß er sich durch diese Sklavenmiene täuschen ließ?
Das Mädchen hatte unterdessen das Geschirr zurechtgestellt und fragte nun in ihrer ruhig ergebenen Weise:
„Willst Du nicht essen?“
Voller Ungeduld zog und zerrte er an seiner großen Nase. Es fiel ihm ein, daß er sie an dem Abend, wo sie sich nach zwei Jahren zum ersten Male wiedertrafen, eigentlich gar nicht gebeten hatte, mit ihm zu kommen. Das war wie selbstverständlich geschehen.
Ah, er verfluchte innerlich die Leipziger Straße, wo er sie wiedergetroffen, und die Konditorei, in der sie das Rendezvous bei den „Stettiner Sängern“ verabredet hatten. Dort, in dem Restaurationsgarten war er auf den verrückten Einfall gekommen, sie wieder an die alte Geschichte zu erinnern. Und sie? Kaum einen schwachen Versuch hatte sie gemacht, heimzugehen zu ihrer Tante ...
„... Tante! hahaha! ...“
Bestürzt sah sie ihn an, wie er plötzlich hohnlachend das Wort herausstieß.
Er setzte sich und aß die Schinkenstulle, die sie ihm zurechtgemacht hatte. Dabei ließ er seine schwarzen, hartherzigen Augen nicht von ihr.
Ganz langsam stieg das Blut unter ihrer Haut auf.
„Was willst Du denn, lieber Hans, ist etwas nicht in Ordnung an mir?“
Sie zupfte an ihrer Tüllschleife.
Er biß an seiner Oberlippe und stieß dabei verächtliche Töne aus:
„Im Gegenteil, Du bist ja immer so ordentlich! Bist überhaupt so’n ordentliches, braves Mädchen!“
Ihr Blick wurde unsicher und sie zeigte nur ein armseliges, hilfloses Lächeln.
Das brachte ihn nur noch mehr in Wallung:
„Ich möchte bloß wissen, wo Du Dich ... wo Du während der ganzen zwei Jahre gewesen bist?“
Ihre Augenlider, deren bläulicher Schimmer auf die Glut ihrer Küsse schließen ließ, sanken herab.
„Sieh mich doch an!“ befahl er grausam.
Und sie tat es und bot ihre Augen, wie jemand, der geblendet werden soll.
Schadenfroh blinzelnd betrachtete er sie genau und studierte einzeln die Mängel ihres Gesichts, dem das matte Blond ihrer glatt gescheitelten, aus der Stirn gekämmten Haare keinen rechten Abschluß gab. Fast weißblonde Wimpern und Augenbrauen, die zu fein gezeichnet waren für ihre helle Farbe, verstärkten diesen Ausdruck der Nüchternheit. Dadurch bekam der sehr kräftige, rote Mund etwas Unglaubwürdiges. Er erschien unmotiviert in dieser allgemeinen Blässe, und man war versucht, diesem klösterlichen Antlitz das Recht auf so brennende Lippen abzusprechen.
Ab und zu schlug sie ihre schönen, hellblauen Augen auf, die voller Angst um ein wenig Nachsicht flehten.
Da sie noch immer schwieg, wiederholte er:
„Du willst mir also meine Frage nicht beantworten, wo Du die ganze Zeit über gewesen bist?“
Er wußte, daß jedes derartige Wort sie auf die Folter spannte, aber er konnte dem Drange nicht widerstehen, ihr weh zu tun und sich für die unerwünschte Anwesenheit ihrer Person zu rächen.
Sie hatte sich über ihren Teller gebeugt, der Schein der Lampe lag auf ihrem vollen Haarknoten. Aber das Brot auf dem Teller war unberührt und ihre geraden Schultern, die von der prächtigen Brust zurückgedrängt wurden, erzitterten wie unter Schlägen. Vielleicht wollte sie sich aufraffen zur Wahrhaftigkeit. Aber sie kam nicht über ihre Scheu hinweg. Vielleicht fühlte sie auch, daß er sie zertreten wollte. Und dieser kleine, dumme Mensch hätte sich doch nur erinnern brauchen, wie sie die unflätigen Worte, mit denen er sie in den letzten Tagen absichtlich gequält hatte, — wie sie diese verkappten Beschimpfungen richtig begriff und ihnen auswich, als wären es Schmutzspritzer.
Und wenn sie wirklich, von der Not auf den Weg der Schande getrieben, einmal gefehlt hatte — — — wäre nicht jedes andere Weib in solcher Lage für ihn ein Gegenstand des tiefsten Mitleids gewesen?
Er sah, wie ein paar große Tropfen aus ihren Augen auf die weiße Serviette fielen und meinte roh:
„Das werden schöne Dinge gewesen sein, die Du in der Zwischenzeit getrieben hast ... mich wundert bloß, daß Du trotzdem noch immer so liebebedürftig bist!“
Das riß ihr den Kopf in die Höhe. Die Scham entzündete ihr bleiches Gesicht. Aber sie sprach das, was sie auf den Lippen hatte, nicht aus, sondern sagte nur:
„Ich war bei meiner Tante und nachher habe ich bei einer Freundin gewohnt.“
„Und Deine Mutter, die war doch damals, als die Ausstellung war, hier?“
„Ja, aber die wohnt jetzt wieder in Prittkow, das weißt Du doch, lieber Hans!“
„Lieber Hans! lieber Hans!“ äffte er ihr nach, „was ich weiß, is’ nur, daß’n anständiges Mädchen bei ihrer Familie bleibt und sich nich so in der Welt umhertreibt!“
Sie sah ihn groß an, dann schob sie den Teller ein wenig zurück und stand auf.
„Nanu?“
„Ich will gehn.“
„Weshalb denn?“
„,Es ist doch bloß alles, weil Du mich los sein willst.“
„Ich? — ich will Dich los sein?! ... ha! so ist’s richtig! So muß man’s machen! Weil ich will, daß Du offen und ehrlich zu mir bist, sagst Du, ich will Dich los sein!“
Sie stand unschlüssig und schaute traurig vor sich hin.
„Ja, ja, Hans,“ nickte sie, „es ist doch so, ich bin Dir zuviel! Du bist einer von den Männern, die nicht lange bei einer Frau bleiben können ... ich kann es ja auch ganz gut verstehen ...“
Dabei nahm sie ihren Hut vom Bett.
Sofort war er neben ihr und riß ihr den Hut aus der Hand.
„Ach was! mach’ keine Dummheiten! Wo willst Du denn jetzt hin?!“
„Oh, darum sorge Dich nur nicht, ich werde schon ein Unterkommen finden!“
„Quatsch! Du bleibst hier und damit basta. Wenn man so, wie wir, zusammenlebt, dann sind eben solche Auseinandersetzungen manchmal unvermeidlich! ... Un jetzt setz’ Dich hin und iß, daß Du nich noch krank wirst ... ich will ’n bißchen spielen.“
Er ging ans Klavier und spielte eine tolle Melodie, die er zu einem ebenso verrückten Gedicht eines Freundes erfunden hatte. Aber mittendrin brach er ab.
Warum hatte er sie denn nicht fortgelassen? ... Diese verfluchte Sentimentalität!! ... Ach, ihm graute schon davor, sich jetzt umzudrehen. Sicher hatte sie sich wieder leise bis an seinen Stuhl geschlichen und stand jetzt wieder da mit ihrem dämlich verzückten Gesicht, daß er gleich hätte hineinschlagen mögen! Er war eitel und leckte jedes Krümchen Anerkennung begierig auf, aber ihre Bewunderung, die wollte er nicht!
Plötzlich fuhr er herum. Da stand sie richtig, Begeisterung auf den feinen Zügen, die förmlich starr wurden vor Entsetzen über seine wilde Miene.
„Schön! schön! was?“ schrie er und seine Stimme war ganz rauh vor Grimm, „da, spiel’ Du doch mal!“
Sie wagte nicht, zu widersprechen und klimperte so leise, als sei ihr die Furcht schon bis in die Fingerspitzen gekrochen, ein kleines Salonstück.
Jetzt stand er hinter ihr und ärgerte sich über ihre klaren, in dem matten Licht leuchtenden Hände. Jeder Fehler, den sie machte, erfreute ihn, und die Angst, die sie, wie er genau wußte, während des Spielens ausstand, war ihm ein Labsal.
Vom Klavier ging er fort ans offene Fenster.
... Warum hatte er sie denn nicht gehen lassen, vorhin? Dann wäre er jetzt allein in dem Zimmer, das ihm, zusammen mit ihr, wie ein Zuchthaus vorkam. Diese blödsinnige Inkonsequenz! von jeher war es sein schlimmster Fehler gewesen, daß er nie das tat, was er wollte ... Dieses enge Loch, in dem man sich kaum umdrehen konnte, dadrin war kein Platz für zweie! ... Also noch ’ne Nacht mit ihr zusammen ... und morgen wieder und immer weiter ... aber konnte er’s ihr denn nicht jetzt noch sagen? — Nein, nein! Nie! Niemals würde er’s fertig bringen, zu ihr zu sagen: „Geh!“ .... Bei ihm bleiben konnte sie nicht! Er ertrug’s nicht länger! Sie mußte weg und ... und wenn ... und wenn er sie aus dem Fenster schmeißen sollte!
Sein Blick fiel auf den dunklen Heinrichsplatz. Die Luft war warm nach dem Frühlingsregen. Etwas Schwellendes lag darin, das aus der Dunkelheit aufstieg, das die Kräfte hob und die Wünsche brutal werden ließ. Der Himmel war finster und das spärliche Licht der Laternen da unten wirkte, wie rote Farbentupfen auf schwarzem Grunde. Nur die erleuchteten Schaufenster der Läden warfen ihre rechteckigen Lichtbreiten über Trottoir und Damm.
... Von unten heraufsehen, bis zu ihm, nach der vierten Etage hinauf, das konnte niemand. Daran dachte ja auch keiner ... wie viele Menschen sind schon aus dem Fenster gefallen! ... Aber sie war ja viel größer als er, entweder sie würde sich sträuben oder ihn mitreißen ...
Mit einem tiefen Seufzer strich er das lange, schwarze Haar aus der Stirn.
Das Mädchen drehte sich augenblicklich um.
„Spiel doch weiter, Marie“, sagte er sanft.
Und mit heißer Freude über das armselige Almosen gehorchte sie ihm.
Er sah sie starr an, wie sie kerzengrade auf ihrem Stuhle saß und, ohne daß sich auch nur ihr blonder Haarknoten bewegte, die Tasten berührte. Die Töne vernahm er gar nicht. Wie sein Körper, so zog sich auch sein Geist noch einmal zurück vor diesem schwarzen, grauenvollen Abgrund.
Morden ... morden wollte er? ... Wo er nur nötig hatte, ein Wort zu sagen, um allein zu sein ... er würde das Wort aber nicht sagen ... Und fort mußte sie. Sie oder er, einer mußte weg!
Wieder ging er ans Fenster.
... man hört einen Schrei, das ist alles. Wer da runterstürzt, ist tot. Der kann nicht mehr sprechen und niemand verraten ... aber um die Taille fassen darf er sie nicht, sonst reißt sie ihn mit ...
Er sah wie in einen finsteren Kessel hinab, in dem Lichter auf- und niedersteigen und Schatten umherirren.
Erschauernd fühlte er, wie sie neben ihn trat. Und während sie sich mit den Händen aufs Fensterbrett stützte, trat er ein wenig zurück. Das dumpf heraufdringende Geräusch der Straße wurde in seinen Ohren zu mächtigen Orgeltönen, die ihn berauschten und ihn seines Verstandes beraubten.
Von der geheimnisvollen Macht des Wahnsinns zum verzweifelten Entschluß getrieben, bückte er sich und packte mit eisernem Griff ihre Beine.
„Hans! Um Gotteswillen, Hans! ... es klopft!“
Er ließ sie los und sagte mit einem blöden Lächeln:
„Ach wo ...“
Der furchtbare Schreck hatte ihr den Atem genommen. Ihre entsetzten Augen ließen ihn nicht los und, sich am Klavier entlang an ihm vorbeischiebend, stammelte sie:
„Aber — — Hans —“
Da klopfte es noch stärker.
„Machen Se doch auf, Herr Barre, ich weeß ja recht jut, daß Se zu Hause sind!“
Der Komponist öffnete.
Ein kleiner, dicker Mensch mit rundem, fast kahlem Kopf und mit Augen, die im trüben Glanz des Alkohols schwammen, drängte sich durch die Tür, deren Klinke der Musiker in der Hand hielt.
„Ick wollte Ihn, bloß sagen, Herr Barre, det det so nich weiter jehn kann! ...“
„Was denn?“ fragte der andere teilnahmslos.
„Na, mit Ihre Braut! Morjen kommt meine Frau zurick und da paßt ma det nich mehr, daß det Frailein hier bleibt ... hat ma überhaupt schon lange nich jefallen; wenn mir eener dadruffhin anzeicht, denn bin ick Onkel! Ihn’ passiert nischt, aber ick falle rin! ... Se dirfen mir’t nich weiter iebelnehm’, Herr Barre, wenn ick Ihn’ det sage: aber Ihre Braut muß wech! Heute noch. Sonst ... ’s bleibt ma denn eben nischt anders iebrig, als selbst uff de Polizei zu jehn ... und det macht man doch nich jerne ...“
Der Mann war schon längst wieder aus dem Zimmer, als die beiden noch immer ratlos, das Mädchen am Klavier, der Musiker am Tisch neben dem Sofa standen.
Ihre Blicke begegneten sich, aber die Furcht lag jetzt in seinen Augen. Sie wollte ihm etwas sagen. Aber sie konnte nicht. Sie fand keinen Ausdruck für das, was sich ihr auf die Lippen drängte.
Seine Hände, seine Knie zitterten vor nervöser Erschöpfung, als er ihr so gegenüberstand. Er war unfähig zu denken. Wohl fühlte er, daß sie jetzt fortgehen mußte, aber es machte ihn nicht froh. Das Mitleid mit ihr hatte ihn wieder ergriffen, stärker, viel stärker als vorhin, und in seiner Phantasie, die ja die furchtbare Tat längst begangen hatte, litt er jetzt die Gewissensbisse des Mörders. Die tödliche Abneigung, die ihn noch eben nach ihren Füßen greifen ließ, um sie hinabzustürzen, schien sich in diesem bestialischen Willensakt ganz verzehrt zu haben.
Langsam, wie somnambul, trat er auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.
Aber sie wich vor ihm zurück.
Ohne sich zu besinnen, nahm sie ihr graukariertes Cape von der Wand, setzte ihren Hut auf und zog schnell die braunen Glacéhandschuhe an.
Als sie an der Tür war, blieb sie noch einen Augenblick stehen und sagte, die Klinke niederdrückend, furchtsam und leise:
„Ich bin Dir nicht böse, Hans, ich bin Dir gar nicht böse.“