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Außenseitergedanken zur Entstehung der Welt

Meinem Vater Albrecht Unsöld zum 100. Geburtstag gewidmet

Ist die Welt zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt entstanden, zum Beispiel durch den viel zitierten Urknall, oder lässt sich ein solcher Anfang nicht feststellen, so dass wir annehmen müssen, dass es nur Umlagerungen bzw. Transformationen einer „ewigen Weltsuppe“ gibt, wo sich die Dinge zusammenziehen und wieder ausdehnen, wo Energie zu Masse wird und umgekehrt und so fort?

Die Bezeichnungen scheinen alle sehr unbeholfen zu sein, zeigen aber, dass es zunächst einmal um eine Adaptation der Vorgänge an die menschliche Sprache handelt. Der Urknall geht auf Edwin Hubble zurück. Diese Bezeichnung hat einige Seriosität, weil sie der christlichen Vorstellung von einer einmaligen Schöpfung entspricht. Umgekehrtes gilt für die Bezeichnung einer blubbernden Weltsuppe, die das Lieblingskind vor allem der russischen Kosmologen ist, deren Namen hier im Westen weniger bekannt sind. An erster Stelle ist hier der in Stanford lebende Andrej Linde zu nennen. Möglicherweise wurde hier eine leicht abwertende Bezeichnung gewählt, weil die Vorstellung dem christlichen Weltbild widerspricht.

Solche Umlagerungen und Transformationen können „natürlich“ singulär sein, d.h. sie gehen plötzlich, unmessbar schnell vor sich, was einem Eingeständnis gleichkommt, dass wir den genauen Ablauf der Umwandlung im einzelnen nicht kennen bzw. beschreiben können. Solch ein Vorgang ist zum Beispiel die Umwandlung von Energie in Masse, etwa in ein Positron-Elektron-Paar bzw. umgekehrt. Mikroskopisch gesehen ist ein solche Umsetzung ein Urknall. Super-makroskopisch könnte die Weltentstehung im Prinzip entsprechend zu verstehen sein. Ebenso sind Quantensprünge solche singuläre Ereignisse. Haben sie auch „super-makroskopische“ Entsprechungen?

Andererseits: Wenn solche singuläre Ereignisse laufend vorkommen, sind sie offensichtlich gar nicht so singulär, sondern man kann von einem Kontinuum singulärer Ereignisse reden. Das würde bedeuten, dass Schöpfung praktisch routinemäßig vorkommt, also für die russischen Vorschläge sprechen.

Es ist ein fester Teil unserer modernen Naturwissenschaften, dass eine durch Experimente überprüfbare Theorie vorliegen soll. Wir können aber nur immer in begrenztem Rahmen Experimente machen, - im Prinzip im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Labors. Die gesamte Welt steht uns als Experimentierfeld nicht zur Verfügung, nur als Beobachtungsfeld. Sowohl der immer weiter gehenden Miniaturisierung als auch – und dies vor allem? - einer immer größeren Ausdehnung, zum Beispiel durch immer noch größere Beschleuniger, sind Grenzen gesetzt. Diese Tatsache sollte uns zu denken geben, ob überhaupt der richtige Weg eingeschlagen wird. Kommen wir nicht wie die alten Griechen, die noch keine Laborexperimente machten, wieder an den Punkt, dass Gedankenexperimente das eigentlich Wichtige werden?

Wollen wir die „Welt“ und ihre „Entstehung“ und (was wir gerne verschweigen) ihr „Ende“ „verstehen“, so müssen wir uns zuerst genau über die Bedeutung dieser Wörter einigen, sie definieren oder was auch immer.

Was ist die bzw. eine Welt? Die deutsche Sprache mit ihrer Möglichkeit eines bestimmten oder unbestimmten Artikels macht uns da gleich auf einen ganz wichtigen Aspekt aufmerksam: Bevor wir überhaupt nur anfangen, von „Welt“ zu reden, ist bereits die Frage da, ob es nur eine oder viele Welten gibt (oder geben soll?). Im Grunde ist das wahrscheinlich bereits eine Sache des dogmatisch regelbaren Sprachgebrauchs. Aber warum sollen wir Dogmatik einführen, wenn es nicht zwingend notwendig ist? Simple Schlussfolgerung daraus: Wir sollten wie in den russischen Vorschlägen die Möglichkeit vieler Welten zulassen.

Jedes Land ist eine Welt für sich, jede Stadt, jedes Lebewesen, jedes Elementarteilchen. Wenn ein Elementarteilchen „entsteht“, ist das eine Schöpfung oder eine Transformation? Es ist ein singuläres Ereignis, also eines von der Sorte, wo wir nicht genau Bescheid wissen, - ein wichtiges Eingeständnis. Heisenberg hat uns gezeigt, dass zu solchen Punkten eine Unschärfebeziehung gehört. Eine Unschärfebeziehung bezüglich der Entstehung von Elementarteilchen kennen wir aber noch nicht. Ist sie nicht vorhanden oder noch nicht entdeckt?

Hier ist jetzt der Sprung von der Entstehung eines Elementarteilchens auf die Entstehung unserer populär so genannten Welt nahe liegend. Wäre auch hier nach einer Unschärfebeziehung zu suchen, die uns auf den ersten Blick ein weiteres Vordringen unmöglich macht, im Grunde aber weiterbringt?

Vorweg müssen wir auch noch ein Wort darüber verlieren, was wir denn mit „verstehen“ meinen. Darüber gibt es lange philosophische Abhandlungen, doch hier sei es kurz gemacht. Verstehen sei als beschreiben verstanden. Das Ziel der Beschreibung ist eine Transformation der sogenannten äußeren Welt in die innere Welt unseres Gehirns. Die beste und am weitesten anerkannte Methode dazu ist die Mathematik. Es sei aber nicht aus den Augen verloren, dass es kein Dogma gibt, dass dies die einzige Methode ist. Wir alle wissen, wie sehr sich zum Beispiel Künstler und Literaten dagegen sträuben, die fast immer ein „leicht gestörtes“ Verhältnis zur Mathematik haben.

Wie können wir mit der Mathematik die Welt beschreiben? Bislang waren sich da so ziemlich alle einig: Man baut sich ein hübsches System mit Hilfe der sogenannten Funktionen in verschiedenen Dimensionen auf, mit denen sich viele Naturvorgänge so schön beschreiben lassen, angeblich in Raum und Zeit, und mit dem sich all die verblüffende Technik hat aufbauen lassen, an der sich heute die Menschen so ergötzen.

Konkret: Es wird die Abhängigkeit einer Größe in einer Dimension von einer oder mehreren anderen Dimensionen beschrieben. Dadurch werden die so beschriebenen Vorgänge häufig auch manipulierbar gemacht. Diese Methode hat sich in vielen Wissenschafts- und Technikbereichen durchgesetzt und erfolgreich bewährt. Doch nicht überall: Wo es ums Werden und Vergehen geht, also um Prozesse über mehrere Generationen hinweg, da versagt diese Methode auffällig. Denn der Generationenbegriff lässt sich merkwürdigerweise bzw. eben auffälligerweise in diese Mathematik nicht ohne weiteres einführen.

Neuerdings gibt es eine zweite Art von Mathematik, die noch sehr in den Kinderschuhen steckt. Diese sogenannte Mathematik der Fraktale beschreibt nicht die Abhängigkeit einer Dimension von anderen, sondern die Abhängigkeit einer Generation von einer oder mehreren anderen. Diese Mathematik ist im Prinzip komplementär zu der bisherigen genau in dem Sinne, wie es Welle und Teilchen zueinander sind. Dimension und Generation könnten demnach als komplementäre Begriffe aufgefasst werden, und sofort würde auch hier die Möglichkeit einer Suche nach Unschärfebeziehungen auftauchen.

Wenn aber zwischen Generationen und Dimensionen eine Unschärfebeziehung bestehen würde, hätte dies natürlich größte Bedeutung für unsere Suche nach einem Anfang der Welt. Schon stehen wir dort vor dem Problem, dass wir uns zwar immer näher an einen (bewusst wird nicht gesagt: den) Urknall heran tasten können, dabei aber andere Größen, über die wir etwas aussagen wollen, immer unschärfer werden.

Zurück zur Theorie der Fraktale: Ein ganz wichtiger Punkt dieser Mathematik ist das Auftreten von sogenannten Selbstähnlichkeiten. Damit ist gemeint, dass bei einer Entwicklung über mehrere Generationen hinweg verblüffenderweise ganz ähnliche Strukturen auftreten. Genau dies beobachtet man immer wieder in der Natur. Doch dem sind im Prinzip in Raum und Zeit keine Grenzen gesetzt. Also müssten wir die Selbstähnlichkeiten auch in viel größerem Rahmen finden als bisher. Da sticht zum Beispiel in die Augen, wie ähnlich ein atomares System und ein Planetensystem sind. Handelt es sich hier nicht möglicherweise auch um Selbstähnlichkeiten ein und desselben Systems, - eben des Systems, das wir üblicherweise Welt nennen?

Wenn das aber so ist, dann muss es zu diesem System so etwas wie eine Startformel geben, etwa wie die Cardioide bei den als Apfelmännchen weltbekannten Fraktaldarstellungen. Dann würde es sich aber sofort als Aufgabe ergeben, nicht etwa aus einer Startfunktion die Fraktale zu berechnen, sondern aus den Fraktalen die Startfunktion, also die Umkehrung, die uns dann die schon lange gesuchte Weltformel liefern würde. Gleichzeitig würde der Streit um den Urknall damit vermutlich in sinnvollere Bahnen gelenkt werden. Dieser Ansatz wäre zunächst ein rein mathematischer.

Ein sinnvoller Startansatz würde sicher im Bereich der Eulerschen Gamma-Funktion liegen, die die starke Kernkraft beschreibt. Die anderen Kräfte, d.h. die elektromagnetische, die schwache und die Gravitationswechselwirkung, sollten gleichsam selbstähnliche fraktale Kinder davon sein. Verblüffende Parallelen zur Stringtheorie fallen ins Auge, wo ebenfalls die Strings als Kinder der Standardformel aufgefasst werden können, d.h. das Graviton als selbstähnliche Folgefunktion des für die starke Kernkraft verantwortlichen Austauschteilchens. Umgekehrt könnte eine bislang unbekannte Elternfunktion der auf der Gammafunktion basierenden Standardformel der starken Kernkraft uns in Richtung einer Weltformel führen. Auch hier ließe sich eventuell analoges sagen, wenn statt von Kräften man von Teilchen ganz verschiedener Größenordnungen ausgeht, von Himmelskörpern bis zu Austauschteilchen.

Ein anderer Weg dahin mag sein, dass wir die Idee ernst nehmen, dass zum Beispiel die Entstehung eines Elektrons und eines Positrons aus „reiner“ Energie trotz seiner scheinbaren Winzigkeit ein Urknall sein mag. Was befindet sich in den entstehenden Teilchen, wie sieht ihre Entwicklung im allerersten Moment ihrer Entstehung aus, entwickelt sich ein Elektron weiter? Auf den ersten Blick sind solche Fragen durch die Quantentheorie verboten. Aber sind sie das wirklich? Ist es nicht vielleicht möglich, zum Beispiel von dieser Seite aus zu einer Art Standardformel oder sogar ihr selbst zu kommen?

Die bisherigen Ansätze, auch bei Andrej Linde, haben zumeist versucht, möglichst alle Elementarteilchen und/oder Naturkonstanten aus einem einzigen theoretischen Ansatz zu entwickeln. Deren Zahl ist mindestens viermal größer als die Zahl der bekannten Kräfte, und ihre Werte scheinen ein chaotisches Wirrwarr zu sein. Es scheint also einfacher zu sein, von den verschiedenen Kräften auszugehen und die Frage nach den Zahlen erst zu einem späteren Zeitpunkt zu stellen. Dann wären nur die verschiedenen Kräfte selbstähnlich und die Frage nach den Konstanten bzw. den möglichen Elementarteilchen dadurch relativiert. Und kann man nicht die Himmelskörper in einem Atemzug mit den Elementarteilchen nennen, auch wenn eine Selbstähnlichkeit nicht erkennbar erscheint? Aber in den sie bewegenden Kräften ist die Selbstähnlichkeit viel eher annehmbar, - siehe die Ähnlichkeit zwischen atomarem und Planetensystem.

2005

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