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„Endlich ich!” – oder: Identität und Heimat im Fokus theologischer Zeitdiagnose
„Endlich ich!“ – Situationen, die einen solchen Ausruf provozieren, sind in der Regel ambivalent. Wer diesen Ich-Seufzer von sich gibt, hat eine Phase hinter sich, in der dieses Ich nicht sich selbst gehörte. Es musste anderen den Vortritt lassen oder wurde in Beschlag genommen von Aufgaben, die es widerwillig zu erfüllen hatte. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, sich wieder an die erste Stelle zu setzen. Offensichtlich war alles Bisherige vor allem eine Verhinderung eines selbstbestimmten Lebens. Was jetzt kommt, soll endlich ein eigenes Leben werden. Aber ausgerechnet im Moment neu gewonnener Freiheit und Selbstständigkeit wird mit nur einem Wort eine Einschränkung in Erinnerung gebracht. Eine List der Sprache macht auf eine Tücke des Lebens aufmerksam: Es ist endlich. Was am Ende aller Anstrengungen erreicht wird, ist nicht von Dauer. Die Wendung, die das Ziel aller Vorsätze und das Vorhaben eines eigenen Lebens zusammenfasst, erinnert zugleich an die Grenze dessen, was man sich vornimmt und mit dem eigenen Leben vorhat.
Alles ist endlich und das eigene Ich macht davon keine Ausnahme! Ausnahmslos ist alles zu jeder Zeit endlich. Die Zeit des Lebens wird nicht nachträglich befristet. Von Anfang an steht fest, dass sie vergeht. Der Mensch kommt als Sterblicher zur Welt. Aber bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sie wieder verlassen muss, hat er mit sich und seinem Leben viel vor. Er will ein eigenes, selbstbestimmtes und freies Leben führen. Er will herausfinden, was eigentlich in ihm steckt und was er aus sich machen kann. Er will zeigen, was ihn auszeichnet. Mal will er sich von Seinesgleichen unterscheiden, und ein anderes Mal will er einer von ihnen sein. Das Vergangene lässt ihn oft nicht ruhen, und die Frage, was einmal aus ihm wird, versetzt ihn bisweilen in noch größere Unruhe.
Unruhige Menschen erkundigen sich häufig nach der Uhrzeit. Dabei interessiert sie nicht, wie spät es ist. Eher treibt sie die Sorge um, es könnte zu spät sein. Es geht ihnen um den richtigen Zeitpunkt für einen Ortswechsel. Sie fürchten, zu spät zu kommen und etwas zu verpassen. Manchmal tröstet es sie, wenn man ihnen sagt, sie seien gut in der Zeit.1 In welcher Zeit? In dem kurzen Abschnitt zwischen Geburt und Tod?
Die folgenden Reflexionen gehören zur Gattung der Zeitdiagnose.2 Dabei geht es nicht nur um die Frage nach guten oder schlechten Zeiten oder um die Unterscheidung, wofür die Zeit gerade gut oder schlecht ist. Das Augenmerk liegt vor allem auf den besonderen Zeitumständen, welche die Frage nach Identität und eigenem Leben mit Relevanz und Aktualität versehen. Theologische Zeitdiagnostik will herausfinden, was in und zu unserer Zeit an der Zeit ist und zugleich über diese Zeit hinausweist. Ihre Adressaten sollen wissen, wie weit es mit ihnen gekommen ist und was auf sie zukommt.
Theologische Zeitdiagnostik ist ein prekäres Unternehmen. Man sagt ihr häufig ein unkritisches Verhältnis zum Zeitgeist nach, der bekanntlich sprunghaft und launisch, unbeständig und unberechenbar ist. Entsprechend kurzlebig und unzuverlässig müssen Auskünfte über den Geist der Zeit ausfallen. Allenfalls Momentaufnahmen einer sich permanent verändernden Gesellschaft scheinen möglich. Aber dieser Umstand ist es nicht, der an der Seriosität theologischer Zeitdiagnosen zweifeln lässt. Weitaus gravierender ist die Tatsache, dass hierbei doppelt Maß genommen werden muss: an den Zeichen der Zeit und am Evangelium. Denn die Theologie will einerseits nach jenen säkularen Zeichen fragen, welche die jeweilige Zeit setzt. Andererseits hat sie sich dem Anspruch des Evangeliums zu stellen, für die Deutung dieser Zeichen bedeutsam zu sein und in der Zeit eine eigene Zeichensetzung vorzunehmen. Folglich ist die Theologie dazu verpflichtet, etwas zu praktizieren, was in anderen Wissenschaften verpönt ist. Sie muss mit zweierlei Maß messen. Sie muss ermessen, welche Bedeutung die Zeichen der Zeit für die Auslegung des Evangeliums haben und welche Relevanz das Evangelium für die Deutung dieser Zeichen hat.3 Hierbei kommen Regeln des Zeichengebrauchs ins Spiel, die nicht deckungsgleich sind. Daraus resultieren wiederum unterschiedliche Lesarten und Deutungen, was an der Zeit ist und daraus noch werden kann.
Diese Differenzen zur Geltung zu bringen, wenn es um Fragen der Selbstfindung und Selbstbehauptung des Individuums geht, ist ein Ziel der folgenden Essays. Ihnen geht es nicht nur um eine Sichtung gegenwärtiger Bestrebungen, Individualität und Identität auch unter widrigen Umständen zu behaupten. Sie wollen außerdem zeigen, welche unterschiedlichen Strategien dabei eingesetzt werden und welche Alternativen dazu bestehen. Zu diesem Zweck wird in allen Studien eine säkulare Deutungslogik mit einer theologischen Deutungslogik konfrontiert. Bei diesen Gegenüberstellungen kommen die spezifischen Maßeinheiten einer theologischen Zeitdiagnostik zur Geltung: Als maßgeblich für individuelle Freiheit gilt die Größe „Unverfügbarkeit“ und nicht das Leitbild der fortschreitenden Verfügung über ein Maximum unterschiedlicher Handlungsoptionen (Kapitel II). Als Prüfstein für die Entdeckung eines wahren Selbst stellt die Theologie das kritische Gegenüber von Mensch und Gott heraus und nicht ein Authentizitätskonstrukt, bei dem der Mensch nur auf den Weg der Selbsterkundung und Selbstaffirmation geschickt wird (Kapitel III). Bei der Erörterung des Grundsatzes, dass Identität nicht ohne die Markierung von Differenzen erhalten und gesichert werden kann, wird an den Alternativentwurf einer christlichen Anthropologie erinnert. Deren Ansatz operiert zwar auch mit einer Differenz – dem Unterschied zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf. Aber er insistiert darauf, dass diese Differenz keine weiteren diskriminierenden Unterscheidungen generiert, sondern alle zwischenmenschlichen Differenzen relativiert. Es gibt keinen Unterschied zwischen Menschen, der nicht von der je größeren Gemeinsamkeit ihrer Mitgeschöpflichkeit umgriffen wird (Kapitel IV). Dieser Kernsatz des entscheidend und unterscheidend Christlichen eröffnet auch einen neuen Blick auf Konzeptionen einer sozialen Identität, die mit prekären Zugehörigkeitszuschreibungen operieren und dem Diskurs über Identität und Heimat neuen Auftrieb geben.4 In diesem Diskurs begegnen häufig Idealisierungen von identitätsstärkenden Beheimatungen. Das Verhältnis von Glaube und Heimat lässt sich jedoch nicht auf einen solchen einfachen Nenner bringen.5 Die für eine christliche Theologie relevanten biblischen Bezugstexte haben vorwiegend die Heimatlosen im Blick. Sie fremdeln mit der Vorstellung von religiöser Identität und religiöser Beheimatung, die Mitgliedsausweise frommer Vereinigungen abstempelt oder die Verwurzelung in folkloristischen Traditionen beschwört (Kapitel V). Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet. Was auf den Menschen zukommt und worauf er zugeht, ist hier bedeutsamer als das, woher er kommt.
Zeitdiagnosen erfüllen vor allem eine deiktische Funktion, d.h., sie wirken wie Fingerzeige, welche die Konzentration auf Entwicklungen lenken, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig prägen.6 Verbunden ist damit eine Fokussierung sozialwissenschaftlicher Forschung, aber auch eine Reduktion der Komplexität sozialer Wirklichkeit. Anspruch, Reichweite und Grenzen einer Zeitdiagnose sind daher danach zu beurteilen, inwieweit sie eine Aufmerksamkeitslenkung auf signifikante soziale Phänomene bewerkstelligen und sich dabei ihrer Präferenzen und Optionen bewusst sind. Eine weitere Doppelcodierung ist beim Thema „Identität und Heimat“ zu beachten: Die aktuellen Diskurse über Identität und Beheimatung weisen sowohl eine gesellschaftsanalytische als auch eine kulturkritische Komponente auf. Zugleich sind sie selbst ein Gegenstand der Analyse ihrer Anliegen und der Kritik ihrer Resultate.
Dass sich die Theologie um ihrer eigenen Sache willen an der Analyse gesellschaftlicher Vorgänge und an der Kritik ihrer Deutungen zu beteiligen hat, muss man ihr immer wieder neu in Erinnerung rufen.7 Daran erinnert zu werden und der damit verbundenen Aufforderung nachzukommen ist ihr lästig. Denn beim Stichwort „Kritik“ sieht sie sich nicht als Subjekt, sondern primär als Zielscheibe unbequemer Fragen. Die Theologie hat sich seit geraumer Zeit widerwillig daran gewöhnt, dass sie und ihr Gegenstand – die Relevanz des christlichen Glaubens – in der säkularen Gesellschaft lediglich im Modus der Skepsis und des Argwohns thematisiert werden. Aus dieser Erfahrung erwächst die Versuchung, die eigene Sache stets mit dem Gestus der Verteidigung zu vertreten. Gelegentliche Offensiven einer theologischen Sozialkritik erfolgen meist mit einem apologetischen Hintergedanken: Es stünde besser um diese Gesellschaft, wenn sie christlichen Werten mehr Beachtung schenken würde. Das Christentum soll trotz aller Defizite seiner kirchlichen Sozialgestalt identifizierbar bleiben als eine kulturelle Kraft, die eine Gesellschaft zusammenhalten kann.
Dass Kritik nur selten versöhnlich ausfällt und im Regelfall Spaltungen verschärft, empfinden vor allem die Kritisierten. Daher wird an Christen vor allem von Seiten der häufig kritisierten politischen Eliten der Wunsch adressiert, dass sie ihre Gesellschaftskritik in sozialverträglicher Dosierung vorbringen. Flankenschutz erhält diese Empfehlung von zahlreichen Stimmen innerhalb und außerhalb der Kirche, die das Unternehmen der Gesellschafts- und Kulturkritik als das Betreiben von Agenturen des sozialen Unbehagens, des Neinsagens und Dagegenseins am liebsten in die Insolvenz verabschieden.8 Unter solchen Umständen ist es für die Theologie verlockend, in „postkritischen“ Konstellationen nur noch darüber zu reden, was das Leben in dieser Zeit zustimmungsfähig macht oder was unstrittige religiöse Identifikations- und Beheimatungsangebote auszeichnet.
Es ist unbestreitbar, dass jeder Mensch zwar mit Kritik leben muss, aber kein Mensch nur von Kritik leben kann. Und ebenso besteht kaum ein Zweifel, dass ein unablässiges Klagen über das, was im Argen liegt, schließlich nur den Argwohn befördert, dass nichts so gut ist, wie es scheint. Am Ende gibt es nur noch scheinbar Gutes und den Anschein des Guten. Jedoch macht es sich die Theologie zu leicht, wenn sie bei dem Versuch, die Zeichen der Zeit zu deuten, das Moment der Kritik vernachlässigt. Dies gilt vor allem bei den Themen „Identität“ und „Beheimatung“ – und nicht zuletzt, wenn sie ermitteln will, wie es um die Identität und um die Antreffbarkeit des christlichen Glaubens geht.
Um beides könnte es besser stehen, wenn die sozialkritische Relevanz des Evangeliums offensiver vertreten würde. Damit ist gerade nicht seine Instrumentalisierung für einen ebenso einseitigen wie larmoyanten Kulturpessimismus gemeint. Theologische Zeitdiagnosen leben von der Kunst des Unterscheidens und stehen im Dienst einer Aufmerksamkeitslenkung sowohl auf das zu wenig gewürdigte Gute als auch auf das häufig ausgeblendete Negative sozialer Veränderungen. Zeitdiagnosen schulen die Gabe der Beobachtung und stärken die Urteilskraft. Wenn die These zutrifft, dass man in der Gegenwart von Identität und Beheimatung nur reden kann, wenn man zugleich erfasst, was in diesen Diskursen nicht vorkommt, dann sollte die Theologie ihren Blick richten auf jene Leerstellen, die aus dem Abdrängen religiöser Belange in den Bereich vermeintlich geringer sozialer Bedeutung resultieren. Nicht minder ist von ihr zu erwarten, dass sie jene Zeitgenossen zur Selbstkritik ermutigt, die den christlichen Glauben individualistisch verkürzen oder religiöse Beheimatung traditionalistisch engführen. Beides führt zu Dissonanzen mit dem Evangelium.
Dass die Erörterung dieser Dissonanzen zu neuen Kontroversen führt, muss die Theologie nicht schrecken. Wem nicht widersprochen wird, der muss befürchten, niemanden angesprochen zu haben. Für die nachstehenden Versuche, beim Doppelthema Identität und Heimat eine säkulare Deutungslogik mit einer theologischen Deutungslogik zu konfrontieren, ist dies hoffentlich nicht der Fall. Theologische Zeitdiagnosen haben ihr Ziel nicht verfehlt, wenn sie Widerspruch auslösen. Denn was in dieser Zeit an der Zeit ist und daraus mit der Zeit werden kann, wird aus säkularer und christlicher Perspektive zweifellos unterschiedlich gedeutet. Außerdem ist jeder Versuch, die Zeichen der Zeit zu deuten, stets auch ein Akt der Zeichensetzung, der wiederum kontrovers diskutiert werden kann. Vielleicht verhelfen die folgenden Essays dazu, dass sich religiöse und säkulare Zeitgenossen auch darauf – endlich – einen eigenen Reim machen können.