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Vorwort

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Unter allen Städten ist keine, die sich inniger mit dem Buche verband als Paris. Wenn Giraudoux Recht hat und es das höchste menschlicher Freiheitsgefühle ist, schlendernd dem Lauf eines Flusses zu folgen, führt hier noch der vollendetste Müßiggang, die beglückteste Freiheit also, zum Buch und ins Buch. Denn über die kahlen Seine-Quais hat sich seit Jahrhunderten der Efeu gelehrter Blätter gelegt: Paris ist ein großer Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird. Kein Monument in dieser Stadt, an dem sich nicht ein Meisterwerk der Dichtung inspiriert hätte.

Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die ‚Hauptstadt der Welt‘ Walter Benjamin, Denkbilder

Paris, eine der faszinierendsten europäischen Metropolen, gilt als Stadt der Modernität und als Stadt der Träume. Dieser Band aus der Reihe „Literarische Entdeckungsreisen“ möchte eine lebendige Verbindung schaffen zwischen dem realen Paris der Gegenwart und dem erinnerten Paris der nahen und fernen Vergangenheit, zwischen der Stadt und dem Buch, zwischen der Wirklichkeit und der Dichtung. Damit können Leser historische und literarische Schauplätze der Seinestadt (wieder) entdecken.

Walter Benjamin bezeichnet Paris als „die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ oder als „Hauptstadt der Welt“. Die Entwicklungstendenzen des modernen Lebens finden sich hier wie in einem Brennpunkt vereinigt. Die französische Metropole stellt einen exemplarischen Mikrokosmos dar, ein Resümee des gesamten Universums („l’abrégé de l’univers“), einen „Ort des gesteigerten Bewusstseins“, wie es der Romanist Karlheinz Stierle formuliert hat. In dieser Stadt ist eine unermessliche Fülle an Wissen gesammelt. Zunächst in dem konkreten Sinn, dass seit der Französischen Revolution in öffentlichen Bibliotheken und in den vielen Museen ein unerschöpflicher Reichtum an Kenntnissen für die Bürger zur Verfügung steht. Dann aber auch im übertragenen Sinn, dass der Betrachter der französischen Hauptstadt wie in einem „großen Bibliothekssaal“ sitzt und im aufgeschlagenen Buch Paris sein Wissen erweitert. In der Welt des Buches entziffert er das Buch der Welt.

Aber er erwirbt durch die Lektüre nicht nur abstrakte theoretische Kenntnisse wissenschaftlicher Art. Die Bibliothek Paris enthält Sachbücher und Belletristik. Das Lesen bezieht sich immer auch auf das Leben: Die bunte Fülle von Ereignissen der äußeren und inneren Welt „verdichtet“ sich in den sprachlichen Kunstwerken. Der gegenwärtige Blick des Reisenden auf die Straßen, Plätze und Baudenkmäler von Paris verbindet sich mit dem historischen Blick des Schriftstellers; die Beobachtung menschlichen Treibens an den verschiedenen Orten der Stadt verknüpft sich mit dem epischen Geschehen an literarischen Schauplätzen: Die Kirche Notre-Dame de Paris ruft dem Reisenden beispielsweise die Beschreibung und die tragische Handlung des gleichnamigen Romans von Victor Hugo ins Gedächtnis, die Opéra Garnier die verborgenen Wege des Bauwerks und die Kriminalgeschichte von Gaston Leroux’ Phantom der Oper (vornehmlich in der Musicalfassung); der Gang durch das Kaufhaus „Le Bon Marché“ lässt ihn an Zolas Werk Das Paradies der Damen denken und der Blick auf die Stadt vom Friedhof Père Lachaise aus an Rastignacs Paris-Vision am Ende von Balzacs Vater Goriot.

Dieser Band wendet sich an Parisreisende, die Freude an der Kunst und Kultur der Seinestadt und zugleich Interesse an der französischen Literatur haben, auch an ihrer Einordnung in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Kontext sowie in historische Zusammenhänge. Der handliche Begleiter führt die Leser zu den literarischen Schauplätzen der französischen Metropole und durch die Pariser Straßen, Alleen und Boulevards. Die Spaziergänge beginnen in der Regel an der Métro-Haltestelle, die dem ersten Besichtigungsort am nächsten liegt.

Sie haben also eine Einladung zu zwei unterschiedlichen Entdeckungsreisen in der Hand: Sie spazieren zu den dichterisch bedeutsam gewordenen Orten, zu Bauwerken, Denkmälern und Plätzen und Sie begeben sich auf einen imaginären Ausflug zu Werken der – fast ausschließlich – französischen Literatur mit dem Thema Paris. An den jeweiligen Orten – sowohl real als auch fiktiv – verschmelzen diese beiden Wege und eröffnen eine zusätzliche (literar-)historische Tiefendimension. Und es gibt auch einiges Unbekannte zu entdecken – in der Seinestadt und in der französischen Literatur.

Das Ordnungsprinzip des Bandes ist die Topographie von Paris. Im Mittelpunkt der acht unterschiedlich langen Rundgänge stehen literarisch bedeutsam gewordene Baudenkmäler. Zusätzlich ist ein kurzes Kapitel dem Blick auf Paris gewidmet. Einige der Orte sind durch die vielfältigen Umgestaltungen der Stadt, insbesondere durch die radikalen Baumaßnahmen des Präfekten Baron Georges – Eugène Haussmann in der Mitte des 19. Jahrhunderts, verschwunden und nur noch in der Erinnerung – und in der Dichtung – existent.

Diese Form der Anordnung bringt es mit sich, dass sich literarisch Bedeutsames mit weniger Wichtigem mischt, dass auf ein Zitat aus einem Roman der Weltliteratur eine Textstelle aus einem trivialeren Werk folgen kann. Die Textpassagen aus über fünf Jahrhunderten französischer Literatur, eine der umfangreichsten und bedeutendsten in Europa, ergeben eine kleine, auf Paris bezogene Anthologie der Dichtung Frankreichs. Darstellung und Texte fügen sich zu einem Mosaik der Literatur und Geschichte unseres Nachbarlandes.

Die literarischen Gattungen sind sehr unterschiedlich vertreten. Die Beschreibung der äußeren städtischen Welt gelingt am besten der erzählenden Dichtung, vor allem dem Roman, der sich in Frankreich aber spät entwickelt. Sieht man von einigen Ausnahmen – wie beispielsweise Furetières Bürgerlichem Roman aus dem Jahre 1666 – ab, so findet man erst am Anfang des 18. Jahrhunderts im Roman der französischen Frühaufklärung eine genauere Schilderung der urbanen Wirklichkeit und eine detailliertere Beschreibung der zeitgenössischen Straßen, Plätze und Bauwerke. Der ökonomische Aufstieg und die kulturelle Vorherrschaft des Bürgertums bewirken in dieser Zeit eine stärkere Berücksichtigung seiner großstädtischen Lebenswelt im Roman, denn dieser wird im Wesentlichen in bürgerlichen Kreisen gelesen. Den Höhepunkt wirklichkeitsnaher Städtedarstellung bietet die französische Literatur ab 1830 in den realistischen Erzählwerken Stendhals, Balzacs und Flauberts und später in den naturalistischen Romanen Zolas. Die Werke dieser Autoren werden daher ausführlicher behandelt, zumal sie einem größeren Lesepublikum bekannt sind. Für die französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts steht die genaue Beschreibung der Stadt Paris und ihrer Bauwerke vielfach nicht mehr im Mittelpunkt der Darstellung. Einerseits hat sich die erzählende Dichtung hin zum „Dingroman“ entwickelt (wie zum Beispiel im „Nouveau Roman“): Es werden nur noch Details der zu beschreibenden Gegenstände wiedergegeben und bis in die einzelnen Bestandteile hin geschildert; die Beziehung zum gesamten Objekt, seine Bedeutung und seine Symbolhaftigkeit werden aber nicht thematisiert. Andererseits verlagert sich die Handlung teilweise in das Innere der Personen, in Bewusstseinsvorgänge. Die Außenwelt verliert an Realität und zerfällt; sie bekommt in diesen Werken einen heterogenen, fragmentarischen, banalen, imaginären oder auch phantastischen Charakter.

Die dramatischen Gattungen eignen sich nur wenig für eine detaillierte Darstellung städtischer Schauplätze. Zwar ist es nach den Normen der Dichtungstheorie auch dem bürgerlichen Trauerspiel in Frankreich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gestattet, das alltägliche Leben der nicht-adeligen Schichten auf der Bühne zu behandeln. Aber nur wenn – was selten der Fall ist – die städtische Umwelt selbst Teil der dramatischen Handlung wird, wie beispielsweise in Giraudoux’ Theaterstück Die Irre von Chaillot, kann die urbane Außenwelt deutlicher hervortreten.

Eine präzisere Bestimmung der Stadtthematik erweist sich bei der Lyrik als besonders schwierig. Die detaillierte Beschreibung der äußeren Welt ist kein Ziel dieser literarischen Gattung. Die traditionelle Dichtung war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich Bekenntnis- und Gefühlslyrik, die sich vorwiegend mit der inneren Welt der Personen beschäftigte. In der französischen Literatur erfolgt nach der Romantik eine entscheidende Änderung dieser Konzeption: Baudelaires Dichtung bezeichnet nach Hugo Friedrich den Anfangspunkt der „Entpersönlichung der modernen Lyrik“. Der Autor der Blumen des Bösen ist zugleich einer der ersten Lyriker, in dessen Werken das Thema der Großstadt eine zentrale Stellung einnimmt. Die nachfolgenden Lyriker seit Rimbaud verstärken die Abkehr von der traditionellen Gefühls- und Erlebnislyrik. Sie haben die großstädtische Wirklichkeit verfremdet, deformiert, zerstört und aus den zerschlagenen Teilen der Realität neue phantastische, künstliche und chaotische Welten geschaffen. Die traditionelle Lyrik, die ebenso wie die moderne Stadtpoesie weiterhin fortbesteht, hat trotz ihrer fundamentalen Unterschiede eine Gemeinsamkeit: Pariser Straßen, Plätze und Bauwerke werden im günstigsten Fall namentlich angeführt, in Vorstellungen evoziert oder bruchstückhaft erwähnt, aber so gut wie nie detaillierter beschrieben. Entsprechendes gilt auch für das Chanson. Diese Texte sind daher für unsere literarischen Spaziergänge nur selten verwendbar.

Neben den traditionellen Genres des Romans und der Erzählung, des Dramas und der Lyrik werden vereinzelt auch Texte aus Essays, autobiographischen Schriften, Memoiren, Reportagen oder wissenschaftlich-dokumentarischen Werken erwähnt, sofern sie von bedeutenderen Schriftstellern verfasst oder von literarischem Wert sind.

Aus der Fülle der fiktionalen Literatur zum Thema Paris war eine Auswahl zu treffen. Nur solche Texte fanden Verwendung, die die Stadt, ihre Bauwerke, Denkmäler, Straßen oder Plätze nicht nur erwähnt, sondern auch charakterisiert oder beschrieben haben. Deshalb bedeutet die Nichterwähnung eines Werkes kein Qualitätsurteil.

Begeben wir uns also auf eine „literarische Entdeckungsreise“ zu Pariser Bauwerken und Denkmälern, zu Plätzen und Straßen und nehmen wir dazu einen virtuellen Handkoffer voll von Werken der französischen Literatur mit. An den jeweiligen Orten schauen wir, welche Schätze uns die Bücher anbieten, und vertiefen uns in die Texte.

Paris

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