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1. Rund um die Île de la Cité Notre-Dame de Paris – Pont-au-Change – Palais de Justice – Place Dauphine – Pont-Neuf Métro-Linie 4: Haltestelle Cité

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Wenn man von der Métro-Haltestelle Cité in östlicher Richtung die Rue de Lutèce entlanggeht und dann rechts in die Rue de la Cité einbiegt, gelangt man nach wenigen Metern zur Place du Parvis Notre-Dame und der Pariser Hauptkirche. Die Kathedrale Notre-Dame nimmt den größten Raum der Île de la Cité ein. Die beiden Türme der Kirche erheben sich bis zu einer Höhe von 69 Metern und werden noch von dem 90 Meter hohen Dachreiter über dem Vierungsturm überragt. Der Vorplatz der Kirche wurde etwa 1860 durch die Modernisierungsmaßnahmen des Präfekten Baron Haussmann um das Vierfache vergrößert. Dadurch verlor sich der Charakter einer aus dem dichten Häusermeer steil aufsteigenden Kathedrale, der bis dahin vorherrschend war und die Bedeutung der Kirche für Paris schon im Stadtbild deutlich vor Augen führte. In der Gegenwart haben die vielen Hochhäuser diese herausragende Stellung der Kathedrale weiter stark relativiert. Sie ist aber auch heute noch das meistbesuchte Bauwerk Frankreichs.

Notre-Dame steht etwa im geographischen Mittelpunkt der französischen Hauptstadt. Eine kleine Bronzeplakette auf dem Vorplatz der Kathedrale bezeugt, dass man sich gewissermaßen auch im Zentrum Frankreichs befindet: Hier ist der Kilometer 0 der großen französischen Nationalstraßen, alle Entfernungsangaben von Paris werden von diesem Punkt aus berechnet, auch wenn dies als geographisches Zentrum nicht korrekt ist.

Ihre räumliche zentrale Funktion nimmt die Kirche auch in der fiktionalen Literatur zu Paris ein. Notre-Dame ist von allen Pariser Baudenkmälern in den verschiedenen literarischen Gattungen am ausführlichsten und präzisesten beschrieben worden. Ein Werk stellt sie sogar in den Mittelpunkt der Handlung, Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris (Der Glöckner von Notre-Dame) (1831), und setzt ihr ein literarisches Denkmal.

Victor Hugo (1802–1885), der als Lyriker, Dramatiker und Romancier bedeutende Werke verfasst hat, war Wortführer der romantischen Bewegung in Frankreich. Sie hatte das Mittelalter neu entdeckt; die Literatur und Architektur dieser Epoche rückten wieder in das Zentrum des ästhetischen Interesses. Der Roman wurde begeistert aufgenommen und erreichte schon ein Jahr nach der Veröffentlichung die achte Auflage. Einer der berühmtesten französischen Schriftsteller der damaligen Zeit, der Lyriker Alphonse de Lamartine, bezeichnete Hugo aufgrund dieses Werkes als „Shakespeare des Romans“. Notre-Dame de Paris ist ein herausragendes Beispiel für die Wirksamkeit von Literatur in der Öffentlichkeit und trug wesentlich dazu bei, dass die vom Einsturz bedrohte Kathedrale von Grund auf renoviert wurde.

Bis in unsere Zeit ist Hugos bekanntestes Prosawerk durch Neuauflagen, Übersetzungen und besonders Verfilmungen lebendig geblieben – man denke zum Beispiel an die französische Fassung Jean Delannoys mit Anthony Quinn als Quasimodo und Gina Lollobrigida als Esmeralda. Zuletzt hat die Musicalfassung des Romans mit dem Text des Kanadiers Luc Plamondon und der Musik des französisch-italienischen Komponisten Richard Cocciante seit der Pariser Erstaufführung 1998 für Furore gesorgt.

Hugos Notre-Dame de Paris beeindruckt seine Leser zunächst einmal durch die melodramatische Handlung, die wichtige Elemente der Dramentheorie Hugos in das fiktionale Erzählen umsetzt, so vor allem die Verbindung der traditionellen ästhetischen Kategorie des Erhabenen mit dem für die Moderne charakteristischen Begriff des Grotesken. Dies wird schon bei den drei Hauptpersonen der Handlung deutlich. Esmeralda, die hübsche Zigeunerin, wird stets von einer Ziege begleitet; Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame, dessen äußere Gestalt hässlich und abstoßend wirkt, zeigt eine aufrichtige, edle Gesinnung; der Archidiakon Frollo schließlich, der wegen seiner Gelehrsamkeit berühmt ist, tritt als dämonische Gestalt und als lüstern-triebhaftes Wesen in Erscheinung. Da Esmeralda seine ungestümen Annäherungsversuche strikt zurückweist, lässt er sie als Hexe am Galgen hinrichten. Frollo beobachtet vom nördlichen Turm der Kathedrale aus den Todeskampf der Zigeunerin auf dem Hinrichtungsplatz vor dem Rathaus und bricht beim Tod Esmeraldas in satanisches Gelächter aus. Quasimodo, der ihn aus der Nähe heimlich beäugt hatte, stürzt ihn daraufhin vom Turm in die Tiefe. Zwei Jahre später werden in einem Beinhaus vor den Toren der Stadt Paris die Skelette Quasimodos und Esmeraldas gefunden, die sich eng umklammert halten. Der Glöckner von Notre-Dame musste noch lebendig in das Leichenhaus gelangt sein, hatte den geliebten Körper umarmt und war dann gestorben. Das blindwütige Schicksal (die „fatalité“) hatte zugeschlagen.

Der Roman beeindruckt aber nicht nur durch die dramatische Handlung der zentralen Figuren und durch groteske Massenszenen. Seine besondere Wirkung verdankt das Werk vor allem der starken Symbolkraft der Kathedrale, die im Grunde die zentrale mythische Figur des Buches ist. Das belegt auch der Originaltitel Victor Hugos, Notre-Dame de Paris (die deutsche Übersetzung stellt dagegen den Glöckner Quasimodo als Hauptfigur in den Mittelpunkt). Die bedeutende Rolle der Kirche zeigt sich darin, dass die drei Hauptfiguren in direkter Beziehung zum Bauwerk Notre-Dame leben: Frollo und Quasimodo wohnen in der Kathedrale, für Esmeralda dient sie am Ende des Romans vorübergehend als Zufluchtsstätte. In einer Rückblende wird erzählt, dass fünfzehn Jahre vor Beginn der Haupthandlung am Sonntag Quasimodogeniti (frz. „Quasimodo“) ein missgestaltetes Findelkind am Eingang der Kirche abgelegt wurde. Der Archidiakon adoptiert es, zieht es auf und tauft es auf den Namen des Tages, an dem es gefunden wurde. Als die Romanhandlung im Jahre 1482 einsetzt, ist aus dem Findelkind der Glöckner von Notre-Dame geworden.


Notre-Dame de Paris

Die Kathedrale spielt aber auch eine eigenständige Rolle. Ihr ist das erste Kapitel des dritten Buches gewidmet (Notre-Dame). Victor Hugo wechselt dort des Öfteren die Zeitperspektiven und stellt kunsthistorische Betrachtungen darüber an, wie man die Kirche stilistisch einzuordnen habe. Sie sei ein charakteristisches Beispiel für den Baustil am Übergang von der Romanik zur Gotik: „Es ist keine romanische Kirche mehr, aber auch noch keine gotische Kirche.“ Heute sieht man die im Jahre 1163 beginnende, über 150-jährige Baugeschichte von Notre-Dame stilgeschichtlich als Entwicklung von der Frühzur Hochgotik. Zeitlicher Schwerpunkt der Beschreibung ist das Erscheinungsbild der Kirche im Jahre 1831:

Es gibt sicherlich nur wenige schönere Seiten im Buch der Architektur als diese Fassade […]. Nacheinander und dann auch wieder gleichzeitig entfalten sich vor dem Auge – in vielfältigen Formen, aber in einer ruhig geordneten äußeren Gestalt – die drei in Spitzbogenform herausgemeißelten Portale, das reich geschmückte und gezackte Band der 28 Königsnischen, das riesige zentrale Rosenfenster, das von zwei Seitenfenstern eingerahmt wird […], die hohe und filigrane Galerie mit kleeblattförmigen Arkaden, die auf ihren feingliedrigen Säulen eine schwere Plattform trägt, schließlich dann die beiden massigen schwarzen Türme mit ihren schieferbedeckten Fensteröffnungen. Diese harmonisch aufeinander abgestimmten Teile eines prachtvollen Ganzen, die sich in fünf mächtigen Stockwerken übereinander vor dem Auge in großer Zahl und ohne Verwirrung zu stiften mit ihren zahllosen Einzelheiten der Bildhauer- und Zieselierkunst entfalten und die sich zur ruhigen Größe eines monumentalen Ganzen wie eine gewaltige Symphonie aus Stein vereinigen.

Insgesamt preist Victor Hugo die Kirche Notre-Dame de Paris als „ein auch heute noch majestätisches und erhabenes Bauwerk“. Sie sei die „Königin der Kathedralen“, eine Formulierung, die bis in unsere Tage verwendet wird.

Im Bereich des Romangeschehens spielen sich die Ereignisse auf der Zeitebene des Jahres 1482 ab, wie es auch der Untertitel angibt. Die Kathedrale des späten 15. Jahrhunderts – im „Herbst des Mittelalters“ (Johan Huizinga) – ist unter dem Einfluss der handelnden Personen ständigen Verwandlungen unterworfen. Besonders gilt das für die Gestalten, die direkt in der Kirche leben; sie verändern auch den Charakter von Notre-Dame. Dem Glöckner ist es in erster Linie zu verdanken, dass die Kathedrale lebendig wird:

Die Gegenwart dieses außerordentlichen Wesens [Quasimodos] hauchte der ganzen Kathedrale eine Art lebendigen Atem ein. Es schien von ihm eine magische Ausstrahlung auszugehen, die alle Steine von Notre-Dame beseelte und die alte Kirche bis ins tiefste Innere erschütterte – zumindest meinte dies der immer stärker werdende Aberglaube der Menge. Schon die Vermutung, er sei dort anwesend, genügte, um die tausend Statuen der Galerien und Portale in lebendiger Bewegung zu sehen. Die Kathedrale schien wirklich unter seinen Händen ein folgsames und fügsames Wesen zu werden. […] Man hätte sagen können, dass er das gewaltige Bauwerk mit Leben erfüllte.

Im Abendlicht der ersten Märztage erscheint Notre-Dame rot leuchtend und mit scharfen Konturen:

An diesen klaren, warmen und heiteren Tagen gibt es eine bestimmte Stunde, in der man das Portal von Notre-Dame bewundern muss: Das ist der Augenblick, in dem die Sonne, die sich schon zum Untergang neigt, die Kathedrale fast direkt anschaut. Ihre Strahlen, die immer waagrechter werden, weichen langsam vom Pflaster des Platzes zurück und steigen steil an der Fassade hoch; sie lassen Tausende von Hochreliefs aus dem Schatten heraustreten: die große zentrale Fensterrose leuchtet wie das glühende Auge eines Zyklopen auf, das das Feuer der Schmiede reflektiert.

Die zunächst idyllisch anmutende Beschreibung bekommt durch den Vergleich mit dem Flammenschein der Zyklopenschmiede einen dämonischen Aspekt. Im elften Buch des Romans wird dieses Bild wieder aufgenommen. Esmeralda ist wegen eines Mordes (den sie nicht begangen hat) zum Tode verurteilt worden. Kurz vor ihrer Hinrichtung, die auf dem Vorplatz von Notre-Dame stattfinden soll, wird sie von Quasimodo den Henkersknechten entrissen und kann für kurze Zeit aufgrund des kirchlichen Asylrechts in der Kathedrale bleiben. Als ihr dieses Recht aber durch einen Beschluss des Pariser Parlaments wieder abgesprochen wird, versuchen ihre Freunde, kleine Gauner und Landstreicher der Stadt, sie nachts aus dem verbarrikadierten Bauwerk zu holen und in ihre Obhut zu nehmen. Der Aufruhr des Pöbels wird durch die königlichen Soldaten blutig niedergeschlagen. Der Schriftsteller Pierre Gringoire und ein Unbekannter, in dem man bald den Archidiakon Frollo erkennt, zwingen Esmeralda unter dem Vorwand, sie befreien zu wollen, die Kirche zu verlassen. Beim Blick zurück auf die nächtliche Kathedrale, die sich schwarz von dem weit leuchtenden, roten Lichtschein abhebt, der den Vorplatz erhellt, „sahen die mächtigen Türme von Notre-Dame wie zwei riesige Feuerböcke eines Zyklopenfeuers aus“. Die gigantische Ansammlung der aufbegehrenden Landstreicher und Ganoven mit ihren brennenden Fackeln und die drohende öffentliche Hinrichtung verwandeln die Kathedrale erneut: In den mythischen Flammen, die die Zyklopen, die Schmiedegesellen des Feuergottes Hephaistos, entfacht haben, kann man den Vorschein eines bevorstehenden infernalischen Geschehens erblicken.

Abends ändert sich der Charakter des Bauwerks vor allem dann, wenn der Archidiakon Frollo sich in seiner Nähe aufhält. Dann wirkt die Kathedrale dunkel und verlassen, die Fassade düster. Eines Nachts wagt er es noch nicht einmal, dieses „verhängnisvolle Bauwerk“ auch nur anzuschauen. Als er dann die Kirche betritt, scheint sie zu erzittern, sich zu bewegen, lebendig zu werden, als ob „die gewaltige Kathedrale nur noch einem Elefanten von magischer Größe ähnelte, der keuchend mit seinen Pfeilern als Füßen voranschritt und seine zwei Türme als Rüssel benutzte“. An einem anderen Abend zeigt Frollo dem königlichen Leibarzt die mächtige Kathedrale. Ihre beiden Türme heben sich in schwarzen Umrissen vom Sternenhimmel ab und lassen Notre-Dame „als eine gewaltige Sphinx mit zwei Köpfen erscheinen, die sich mitten in der Stadt niedergelassen hatte“. Die Sphinx wird zum Symbol für den Archidiakon, seine intellektuellen Fähigkeiten und sein geheimnisvolles Wesen. Auch Quasimodo und die Kirche gleichen sich einander an. Zu Beginn der Handlung wird er als „sonderbarer Zentaur, halb Mensch, halb Glocke“ beschrieben. Kurz bevor der Glöckner Esmeralda befreit, hat er eine Gestalt angenommen, die den fabelhaften dämonischen Wasserspeiern zwischen den Türmen gleicht: „Ohne seine halbrote, halbviolette Kluft hätte man ihn für eines dieser Steinungeheuer gehalten, die seit sechshundert Jahren das Wasser durch ihre Mäuler von den langen unteren Dachrinnen der Kathedrale abfließen lassen.“

Die gegenseitige Beeinflussung von Kathedrale und Mensch vollzieht sich aber nicht nur im Abgründigen, Dämonischen und Monströsen. Der schönen Zigeunerin Esmeralda vermittelt die Kirche während ihres Asyls Ruhe und Ausgeglichenheit. Die religiöse Aura der sie umgebenden Gegenstände übt auf ihre verletzte Seele eine heilsame Wirkung aus, obwohl sie das nicht bewusst empfindet. Einen ähnlichen Effekt haben die Glocken. Durch Chateaubriands Werk Le Génie du christianisme (Der Geist des Christentums) aus dem Jahre 1802 war die poetische Kraft der christlichen Religion literarisch gestaltet worden. Der architektonische Reiz der gotischen Kathedralen und die lyrische Wirkung der Kirchenglocken stellten seither gängige Themen der romantischen Literatur in Frankreich dar. Für Esmeralda haben die Glocken von Notre-Dame eine außerordentlich beruhigende Wirkung: „Besonders die Glocken ließen sie wie in einer Wiege hin- und herschaukeln. Diese großen Instrumente umfingen sie in breiten Wellen wie ein starker magnetischer Zauber.“

Die religiöse Bedeutung der mittelalterlichen Kathedrale verbindet Victor Hugo im zweiten Kapitel des fünften Buches mit einer Theorie der Wissensvermittlung. Diese Ideen entstehen aus einem gelehrten Disput zwischen dem Archidiakon Frollo und dem Leibarzt des Königs. Der Autor bittet seine Leserinnen (!) ausdrücklich um Verzeihung, dass er den Fortgang der Handlung einen Augenblick unterbricht, um die für das 15. Jahrhundert neue Erkenntnis zu entwickeln. Frollo hatte mit der rechten Hand auf ein offenes Buch und mit der linken Hand auf die Kirche gezeigt und gesagt: „Das Buch wird das Bauwerk töten.“ Die mittelalterlichen Kirchen waren Orte der religiösen Unterweisung, die für das Leben der Menschen eine große Bedeutung hatten. Gerade die Portale von Notre-Dame, durch die man in den Innenraum eintritt, vermitteln mit ihrem Reichtum an Skulpturen symbolhaft die biblische(n) Geschichte(n) und theologischen Botschaften, ganz besonders in einer Zeit, in der nur wenigen eine Lektüre der Heiligen Schrift möglich war. „Bis zu Gutenberg war die Architektur die erste und universelle Schrift“, heißt es bei Hugo. Die Erfindung des Buchdrucks lässt eine neue Ära des Wissens entstehen; statt der Bibel aus Stein gewinnt nun die Bibel aus Papier große Bedeutung. Das Gedruckte kostet wenig und wird sich schnell verbreiten: „Der Buchdruck wird die Architektur töten.“ Dies werde auch die Machtpositionen im Staat ändern, aus der Herrschaft Gottes, der Theokratie, entstehe die Herrschaft des Volkes, die Demokratie. Die Wissensvermittlung geschehe zukünftig im Wesentlichen durch die Schrift.

Neben der verherrlichenden Beschreibung der Kathedrale mit ihren schönen architektonischen Formen, ihrer religiösen Aura und ihrem manchmal dämonischen Charakter steht in Victor Hugos Roman aber auch die vehemente Klage über den Verfall der Kirche am Beginn des 19. Jahrhunderts. Damit wechselt der Autor wieder zur zeitgenössischen Gegenwart über. Das Baudenkmal sei durch verheerende Zerstörungen zu einer Ruine geworden. Schuld daran trügen die Zeit, die politischen und religiösen Umwälzungen und die wechselnden Moden. Die Witterungseinflüsse aus fünf Jahrhunderten hätten größere Korrosionsschäden an der Kathedrale hervorgerufen, die aber mit der Belastung durch die gegenwärtige Umweltverschmutzung nicht zu vergleichen sind.

Politische Unruhen haben das Erscheinungsbild der Kirche stark beeinträchtigt: Während der Französischen Revolution wurden 1793 die meisten der 28 Statuen der Königsgalerie, die sich als einheitliches Band über den drei Portalen der Kathedrale entlangzieht, auf den Vorplatz gestürzt; man sah in ihnen – nach der Legende – Skulpturen französischer Könige und nicht alttestamentarische Herrschergestalten Israels und Judäas. Die Figuren wurden im 19. Jahrhundert erneuert. Die ursprünglichen Köpfe und die Torsi dieser insgesamt 3,50 Meter hohen Statuen wurden überraschend erst im Jahre 1977 wieder entdeckt und befinden sich heute im Pariser Musée de Cluny.

Die bedeutendsten Schäden richteten nach Victor Hugo aber die sich immer wieder erneuernden epochenbezogenen Kunstauffassungen seit der Renaissance an. Im Namen des guten Geschmacks („le bon goût“) seien bereits bestehende Wunden in dem gotischen Bauwerk durch verfehlte Modernisierungen noch vergrößert sowie durch überflüssige barocke Verzierungen und unnützes Beiwerk verschandelt worden. Die innere Logik der Strukturen, die symbolische Einheit der Formen und die Schönheit der architektonischen Gestaltung habe man dadurch zerstört.

Victor Hugos Verherrlichung der Pariser Kathedrale und seine Klage über den Verfall hatten eine große Wirkung auf die französische Öffentlichkeit und schließlich auch auf die Staatsorgane Frankreichs. Durch eine Verordnung des Königs Louis-Philippe aus dem Jahre 1844 wurde die Restaurierung der Kathedrale beschlossen, die in wesentlichen Teilen der Architekt Viollet-le-Duc durchführte und die bis 1864 dauerte. Noch 1846, im Erscheinungsjahr des Romans La Cousine Bette (Tante Lisbeth), warf Honoré de Balzac (1799–1850), einer der Hauptvertreter des französischen Realismus, seinen Landsleuten vor, sich nicht genügend für die Vollendung der Kathedrale einzusetzen. Die Erzählfigur des Werkes sieht hier einen großen Unterschied zu Italien:

Noch zu keiner Zeit hat der sogenannte „neue“ Reichtum die Gelegenheit versäumt, übelsten Kitsch als Kunst in die Welt zu setzen. Paris hätte schon zehnmal ein neues Venedig sein können, wenn die Pariser nur halb soviel Kunstsinn gehabt hätten wie die Italiener. Noch vor gar nicht langer Zeit hat ein Mailänder Bürger eine halbe Million Franc hinterlassen mit der Bestimmung, die Kuppeln des Domes zu vollenden. Kein Pariser Bürger denkt je daran, die unvollendeten Glockentürme von Notre-Dame ausbauen zu lassen.

Und doch geben sie alle vor, ihr Paris mehr wie sich selbst zu lieben.

Größeren Einfluss auf die Vollendung von Notre-Dame übte die Entwicklung im Nachbarland aus. Die Romantik in Deutschland hatte die Gotik als deutschen Stil entdeckt; der unvollendete Kölner Dom wurde seit 1833 renoviert und entwickelte sich zum Symbol des deutschen Einheitswillens.

In Victor Hugos Roman, der das Mittelalterbild des literarischen Publikums lange und nachhaltig prägte, kommen unter den handelnden Figuren nur zwei historische Personen vor, König Ludwig XI. und der Schriftsteller Pierre Gringoire. Der Dichter steht zu Beginn im Mittelpunkt des Geschehens, denn eines seiner Bühnenwerke soll im Palais de Justice (Justizpalast) vor Studenten und dem einfachen Pariser Volk aufgeführt werden. Es handelt sich um eine Moralité, ein belehrendes, allegorisches Theaterstück, das aber keinen biblischen Stoff, sondern die Verheiratung des französischen Thronfolgers, des Dauphin, mit Margarete von Flandern zum Thema hat. Die Aufführung geht im allgemeinen Tumult der lärmenden Zuschauer unter. Religiöses Theater, vor allem Mysterien- und Mirakelspiele, wurden besonders auf den Vorplätzen der großen Kirchen dargeboten, deren Fassaden mit ihrem reichen Skulpturenschmuck als symbolisches Bühnenbild dienten. Der berühmteste dieser theatralischen Aufführungsorte war der Vorplatz der Kirche Notre-Dame, der etwa 2,50 Meter über dem übrigen Platz lag – der Höhenunterschied ist später wieder ausgeglichen worden – und der viele Zuschauer anlockte.

Die Kathedrale erscheint in der französischen Literatur allerdings nicht nur im Kontext dramatischer Handlungen wie bei Victor Hugo, sondern auch im Zusammenhang fröhlichen, frivolen und derb realistischen Geschehens, wie es für den „esprit gaulois“ der Franzosen charakteristisch ist. Einer seiner wichtigsten Repräsentanten, François Rabelais (1494–1553), hat in seinem Roman Gargantua (1534) dafür ein drastisches Beispiel gegeben. Das Werk ist das erste Buch eines fünfteiligen Romanzyklus; es ist allerdings nicht erwiesen, ob der letzte – posthum erschienene – Band ganz oder teilweise von Rabelais stammt. Der Autor berichtet in Gargantua zunächst von der Jugend und der Erziehung des gleichnamigen Helden, eines unförmigen Riesen. Dessen Vater Grandgosier lässt ihn durch verschiedene Erzieher unterrichten, die ihn mit den mittelalterlichen Methoden des Lernens vertraut machen. Das reine Buchwissen der gelehrten, meist lateinischen Werke macht Gargantua schwachköpfig, albern und einfältig – eine Satire auf die überkommenen scholastischen Unterrichtsverfahren. Der Vater schickt daraufhin den Sohn mit dem welterfahrenen Erzieher Ponocrates nach Paris, damit sie dort die Erziehungsmethoden der damaligen französischen Jugend kennenlernen. In der Hauptstadt wird Gargantua zuerst bewundert und begafft; dann aber bedrängen ihn die Einwohner der Stadt so heftig, dass er auf die Türme von Notre-Dame flüchtet, um vor ihren Nachstellungen in Sicherheit zu sein. Als er schließlich eine große Menschenmasse versammelt sieht, sagt er klar und vernehmlich:

Ich glaube, diese Rüpel wollen, dass ich Ihnen meine Willkommensgabe und mein Gastgeschenk entrichte. Das ist recht und billig. Ich werde Ihnen ein Trinkgeld geben, aber nur aus Spaß [„par rys].

Lächelnd knöpfte er dann seinen wohlgestalteten Hosenlatz auf, holte sein bestes Stück heraus und bepisste sie so stark, dass er zweihundertsechzigtausendvierhundertachtzehn von ihnen ertränkte, Frauen und Kinder nicht mitgezählt.

Rabelais setzt die Wortspiele mit dem Namen der französischen Hauptstadt fort: Die wenigen Bürger, die diesem Wasserstrom entkommen waren, flüchten sich auf eine Anhöhe und fluchen: „Bei der Heiligen Mutter, man hat uns aus Spaß („par rys“) gebadet. Deswegen wird die Stadt seitdem Paris genannt.“ Der Name kommt aber, wie wir wissen, vom keltischen Volksstamm der Parisii her, der sich im 3. Jahrhundert vor Christus auf der Île de la Cité niederließ und eine Siedlung von Flussschiffern und Fischern gründete. Der bekannte französische Historiker Jean Favier hat in seinem Werk Paris. Deux mille ans d’histoire (Zweitausend Jahre Geschichte) (1997) die Ursprünge des Namens erläutert: Die Kelten nannten den Ort Lutuhezi, Ort der Sümpfe; daraus entwickelte sich der lateinische Name Lucoteciia oder Leucotecia, den auch der griechische Geograph Strabon (1. Jh. v. Chr.) verwendet. Ihn zitiert Rabelais, nur treibt er ein frivoles Spiel mit der Etymologie des Ortes. Er führt Leucotecia, französisch Leucèce, auf das griechische Wort leukos („weiß“) zurück und behauptet keck, die Siedlung habe ihren Namen „wegen der weißen Oberschenkel der Damen dieses Ortes“. Der alte Name der Hauptstadt findet sich in Caesars De bello gallico (Über den Gallischen Krieg) zur Form Lutetia zusammengezogen; im Französischen wurde daraus Lutèce. In Paris erinnert an den ehemaligen Stadtnamen zum Beispiel noch die Rue de Lutèce, die in der Nähe des Platzes von Notre-Dame zum Palais de Justice (Justizpalast) führt.

Nach diesen freizügigen Wortspielereien und einem verbalen Schlenker zur Charakterisierung der Pariser Einwohner („sie sind gute Flucher sowie gute Juristen und ein wenig überheblich“) kommt Rabelais wieder auf die Kirche Notre-Dame zu sprechen, auf deren Türmen Gargantua noch immer sitzt. Der Riese betrachtet die Glocken und lässt sie harmonisch erklingen. Das bringt ihn auf die Idee, sie als große Schellen um den Hals seiner Stute zu hängen, die er „mit Briekäse und frischen Heringen beladen“ seinem Vater zurückschicken möchte. Deshalb nimmt er die Glocken mit nach Hause. Erst nachdem die Pariser Universität den gelehrten Sophisten Janotus de Bragmardo zu Gargantua geschickt hat, der in einer – von Rabelais satirisch übertriebenen – Rede um die Rückgabe der Glocken bittet, kann sich der Riese dazu entschließen. Jetzt erfreut sich die Pariser Bevölkerung wieder am Geläut von Notre-Dame und erklärt sich zum Dank bereit, in Zukunft für die Stute Gargantuas zu sorgen. Der Sohn aus der Provinz kann sich jetzt wieder den neuen Erziehungsmethoden der Renaissance widmen. Lange wird das allerdings nicht dauern.

In den literarischen Werken der folgenden Zeit, die sich ausführlicher mit der Kathedrale befassen, steht meist der religiöse Kontext im Zentrum, besonders bei prunkvollen Trauerfeiern für bedeutende Persönlichkeiten. Im 17. Jahrhundert fand vor allem die Totenmesse für Ludwig II. von Bourbon, Prince de Condé, genannt der Große Condé, auch in der Literatur eine große Resonanz. Der französische König Ludwig XIV., als Sonnenkönig gefeiert, bat den Schriftsteller Bossuet, Bischof von Meaux und Mitglied der Académie française, die Trauerrede auf den brillanten Feldherrn zu halten. Bossuet erfüllte diese Bitte am 10. März 1687 in einer langen emphatischen Rede, in der er zuerst die militärischen Erfolge des Verstorbenen, dann seine geistigen und religiösen Qualitäten lobte. Am Ende rief er den versammelten Trauergästen zu:

So mögen Sie alle aus seinen [des Fürsten Condé] Tugenden Nutzen ziehen: und dass sein Tod, den Sie beklagen, Ihnen zugleich als Trost und als Beispiel diene. Was meine Person angeht, wenn es mir erlaubt ist, nach all den anderen diesem Grab die letzte ehrenvolle Pflicht zu erweisen, oh Fürst, der Sie eine würdige Gestalt für unsere Lobreden und unsere Trauerbekundungen sind, Sie werden ewig in meinem Gedächtnis leben.

Großen Eindruck machte Bossuets Rede auch auf Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné. Die durch etwa 1500 Briefe bekannt gewordene Schriftstellerin schrieb noch an demselben Tag an ihren Vetter, den Comte de Bussy:

Es handelt sich nochmals um Tod und Traurigkeit, mein lieber Cousin. Aber wie soll ich Euch von der schönsten, großartigsten und strahlendsten Begräbnisfeier berichten, die jemals stattgefunden hat, seitdem es Sterbliche gibt? Es ist diejenige des verstorbenen Monsieur le Prince [des Fürsten Condé], die man heute in Notre-Dame begangen hat.

Berühmt wurde auch die Kaiserkrönung Napoleons I. am 2. Dezember 1804. Das schon vom Senat zum Empereur proklamierte Staatsoberhaupt ließ den Papst zu dem feierlichen Akt aus Rom kommen, setzte sich aber während der großen Zeremonie im letzten Augenblick die Kaiserkrone selbst auf. Der Maler Jacques-Louis David (1748–1825) hat diesen Moment in seinem Monumentalgemälde „Die Krönung Napoleons I.“ (1806/07) festgehalten, das sich heute im Louvre befindet. François-René de Chateaubriand berichtet in seinen Mémoires d’outre-tombe (Memoiren von jenseits des Grabes) (1848–1850) von den Feierlichkeiten:

Am 2. Dezember 1804 fand die Salbung und Krönung des Kaisers in der Pariser Notre-Dame-Kirche statt. Der Papst sprach das folgende Gebet: „Allmächtiger und ewiger Gott, […] verbreite durch meine Hände den Schatz Deiner Gnade und Deine Segnungen auf Deinen Diener Napoleon, den wir trotz meiner persönlichen Unwürdigkeit heute in feierlicher Weihe zum Kaiser in Deinem Namen krönen.“

Im 20. Jahrhundert haben drei große festliche Gottesdienste die Bedeutung der Pariser Hauptkirche für die französische Öffentlichkeit hervorgehoben: am 26. August 1944 die Feier zur Befreiung Frankreichs, am 9. Mai 1945 das Te Deum aus Anlass des militärischen Sieges im Zweiten Weltkrieg und am 12. November 1970 das Requiem zum Tode des Präsidenten Charles de Gaulle (1890–1970). 8000 Personen, darunter viele ausländische Staatsoberhäupter, wohnten diesem Trauergottesdienst in der Kathedrale bei, mehr als 100.000 Menschen verfolgten die Messe auf dem Vorplatz. Man ehrte de Gaulle als militärischen Führer, als Staatsmann und als Schriftsteller. Seine Erinnerungen – Mémoires de guerre (Kriegsmemoiren) (1954–1959) und Mémoires d’espoir (Memoiren der Hoffnung) (1970/71) – wurden wegen ihrer literarischen und rhetorischen Qualitäten und ihrer geschichtsphilosophischen Reflexionen vielfach gewürdigt. Charles de Gaulle hatte in seinen testamentarischen Verfügungen festgelegt, dass während der Feier in Notre-Dame keine Trauerrede gehalten werden sollte. Es wäre eine hervorragende Gelegenheit für André Malraux (1910–1976), den Kultusminister des Staatspräsidenten der Jahre 1958–1969, gewesen, sich hier nochmals auszuzeichnen – hatte er doch berühmte und viel beachtete Grabreden für den Maler Georges Braque (1963), den Widerstandskämpfer Jean Moulin nach der Aufnahme seines Leichnams in das Panthéon (1964) und den Architekten Le Corbusier (1965) gehalten.

Malraux, der Romancier und Verfasser kunstphilosophischer und kulturhistorischer Werke, wird aber aufgrund seines politischen Amtes noch in anderer Weise mit der Kathedrale in Verbindung gebracht. Ein Gesetz, das im Jahre 1962 vom französischen Parlament verabschiedet wurde und den Namen „loi Malraux“ (Malraux’ Gesetz) erhielt, förderte den Erhalt alter Stadtviertel und Bauwerke. Auch Notre-Dame war davon betroffen: Seit 1970 wurden der schwarze Ruß und die Schadstoffe vom Gebäude entfernt, das dann weiß und fast geschichts- und konturenlos sowie quasi zweidimensional ohne architektonische Tiefenwirkung erschien; es schockierte das ästhetische Empfinden der meisten Besucher erheblich. Doch seitdem legte die Umweltverschmutzung wieder einen Grauschleier über das Bauwerk und machte eine Wiederholung der umfangreichen Säuberung erforderlich.

Eine eher unspektakuläre Trauerfeier fand am 25. Februar 1955 für einen Schriftsteller statt, der ebenfalls an prominenter Stelle in der Politik tätig war: Paul Claudel. Der Lyriker und Dramatiker war viele Jahre im diplomatischen Dienst beschäftigt, unter anderem als Generalkonsul in Prag, Frankfurt am Main und Hamburg. Die Kathedrale Notre-Dame wurde für sein Leben sehr wichtig: Im Alter von 18 Jahren besuchte der junge Mann, der in einer agnostischen Familie aufgewachsen war, am Weihnachtstag des Jahres 1886 die Messe. Beim Hören des Magnifikat wurde er so ergriffen, dass er eine plötzliche Hinwendung zum katholischen Glauben fühlte:

In einem Nu wurde mein Herz ergriffen, ich glaubte. Ich glaubte mit einer so mächtigen inneren Zustimmung, mein ganzes Sein wurde geradezu gewaltsam emporgerissen, ich glaubte mit einer so starken Überzeugung, mit solch unbeschreiblicher Gewissheit, dass keinerlei Raum auch nur für den leisesten Zweifel offen blieb, dass von diesem Tage an alle Bücher, alles Klügeln, alle Zufälle eines bewegten Lebens meinen Glauben nicht erschüttern, ja auch nur anzutasten vermochten.

Claudel verfasste diesen Text unter dem Titel Meine Bekehrung im Jahre 1913 für eine religiöse Zeitschrift. Am Ort dieses Glaubenserlebnisses, am zweiten Pfeiler auf der Südseite des Chors von Notre-Dame, erinnert eine Gedenktafel an diese Bekehrung. Der Schriftsteller André Maurois, der als Romancier, Historiker und Biograph bekannter Autoren (z.B. Lord Byron, Alphonse de Chateaubriand, Honoré de Balzac, Victor Hugo, George Sand und Marcel Proust) hervortrat, nahm an der Trauerfeier für Paul Claudel in Notre-Dame teil und berichtete in seinem Werk Choses nues (Nackte Tatsachen) aus dem Jahre 1963 von der Totenmesse:

In dem eisigen Gotteshaus zittern die Mitglieder der Akademie in Uniform vor Kälte; aber was sie sehen, ist so schön, daß sie darüber das Frieren vergessen. Ihnen gegenüber läßt eine schlichte und zugleich komplizierte Rosette ein übernatürliches Licht einfallen […]. Ein Akademiemitglied, mit leiser Stimme: ‚Schauen Sie dort oben diese Menschen auf der Empore […]. Wie klein sie wirken vor den Maßen der Kathedrale! Man meint, Quasimodo oder den Erzdechanten Claude Frollo zu sehen, wie sie sich über das steinerne Maßwerk beugen.

Eine Gattung fehlt bisher: die Lyrik. Hier wird die Kathedrale meist nur kurz erwähnt, fast nie genauer beschrieben; poetische Stimmungen werden nur selten evoziert. Aber es gibt doch einige Beispiele für eine intensivere Darstellung des Bauwerks in Gedichten des 19. und 20. Jahrhunderts. Paul Verlaine, der wegen seiner zahlreichen wohlklingenden Verse berühmt wurde, veröffentlichte in der Sammlung Liturgies intimes (Innige Liturgien) (1892) ein Gedicht mit dem Titel Complies en ville (Komplet in der Stadt) [Komplet ist der letzte abendliche Teil des Stundengebets]. Er schildert darin die abendlichen Eindrücke in der Kirche Notre-Dame, die von freudigen religiösen Empfindungen geprägt sind:

Beim Verlassen von Paris tritt man in Notre-Dame ein […].

Das ist die größte Freude und das höchste Licht, Das sich in den Strahlen der alleinigen Wahrheit sammelt […]. Empfehlen wir unsere Seele dem Gott der Wahrheit.

Beeindruckend fanden französische Dichter auch die Fensterrose der Kathedrale. Der Lyriker und Essayist Jules Laforgue (1860–1887) hat ihr ein Gedicht mit dem Titel Devant la Grande Rosace en vitrail de Notre-Dame (Vor der großen gläsernen Fensterrose von Notre-Dame) gewidmet. Dessen erste Strophe lautet:

Die feierliche Orgel stimmt Das Dies irae des letzten Tages an! Die große achteckige Fensterrose Strahlt noch schmerzerfüllter Vor Anbetung und Liebe.

Die Lyrik ist aber auch distanzierter und respektloser mit der Kathedrale umgegangen. Der Dichter und Erzähler Gérard de Nerval (1808–1855), der die romantische Bewegung prägte und ein guter Kenner der deutschen Literatur war, die er auch übersetzte (Goethes Faust I. Teil, Faust II. Teil, Heine, Bürger), reflektiert im Jahre 1832 über das Alter von Notre-Dame. Ist die Kirche zeitlos? Sie sah Paris schon bei seiner Geburt. Aber in 1000 Jahren wird die Kirche eine Ruine sein, der ‚Zahn der Zeit‘ wird sie zerstört haben. Eine Hoffnung gibt es allerdings noch: Die Menschen, die aus aller Welt herbeiströmen und die zerstörte Kirche sehen, erblicken ein Bauwerk, das noch in der Agonie menschliche Züge trägt – Knochen und Nerven des Gebäudes bezeugen dies. Aber bei der Lektüre von Victor Hugos Roman werden sie Notre-Dame in ihrer Phantasie wieder zum Leben erwecken. Die Literatur macht die Kathedrale unsterblich:

Notre-Dame ist sehr alt: Vielleicht ist sie dereinst noch da Und wird Paris begraben, wie sie es entstehen sah; Doch wird die Zeit in abertausend Jahren in die Knie zwingen Den ungeheuren Körper – gleich dem Stiere, den ein Wolf geschlagen; Der Zahn der Zeit wird Eisennerven lautlos durcheinander schlingen Und lustlos träge an den alten Felsenknochen nagen.

Aus allen Ländern dieser Erde werden Menschen kommen Die aufrechte Ruine zu betrachten. Und beklommen, Versonnen werden sie das Buch Victors von neuem lesen. Dann werden sie zu sehen meinen, daß der alte Dombau lebt, So kraft voll und so prächtig, wie er ehemals gewesen, Und sich, dem Schatten eines Toten gleich, erhebt.

Das Gedicht zeigt auch, wie beeindruckt die Schriftstellerkollegen von Victor Hugos Roman gewesen sind.

Respektloser geht der Romancier, Lyriker und Essayist Raymond Queneau (1903–1976) in seinem Gedicht Chacun son tour (Jeder kommt einmal dran) mit der Kathedrale um. Viele Kirchen seien in der Vergangenheit zerstört worden, dann kommt auch Notre-Dame einmal an die Reihe:

Man reißt Notre-Dame nieder Die Zerstörungsmaschinen beginnen ihre Arbeit Die Leute sagen sich, man muss dies Akzeptieren So ist es geplant […].

Die Kathedrale Notre-Dame überstand die destruktiven Phantasiegebilde Queneaus ebenso wie die Zerstörungspläne der Französischen Revolution im Jahre 1793, der Kommune 1871 und die Hitlers 1944. Sie strahlt nach wie vor in altem Glanz.

Die einschneidenden Modernisierungsmaßnahmen des Präfekten Baron Haussmann haben auf der Île de la Cité nicht nur den Vorplatz der Kathedrale wesentlich vergrößert, sie ließen auch ein Viertel mit alten Häusern, verrufenen Spelunken und schmalen, winkligen Gassen verschwinden, das für das ehemalige Paris seit dem Mittelalter charakteristisch war. Der besonders durch seine Feuilletonromane bekannt gewordene Eugène Sue (1804–1857) schildert diese dunkle Gegend zu Beginn der Mystères de Paris (Die Geheimnisse von Paris):

An einem kalten, regnerischen Dezemberabend des Jahres 1838 schritt ein Mann von riesenhaftem Wuchs über den Pont-au-Change, um sich in das Gewirr von finsteren und engen Gäßchen zu begeben, das sich vom Justizpalast bis zur Notre-Dame erstreckte.

Es pfiff ein heftiger Wind. Das bleiche Licht der Laternen spiegelte sich im schwärzlichen Wasser des Rinnsteins, der in der Mitte des kotigen Pflasters hinlief.

In den schmutzigen Häusern führten dunkle, übelriechende Gänge zu finsteren Treppen, die so steil waren, daß man sich beim Hinaufsteigen an einem Seil festhalten mußte, das von der feuchten Wand herabhing.

Im Erdgeschoß der Häuser befanden sich Läden, deren armselige Auslagen mit Eisen vergittert waren; so sehr fürchteten die Verkäufer die kühnen Diebe dieses Stadtteiles […].

Sues Werk erschien zwischen Juni 1842 und Oktober 1843 in der französischen Tageszeitung Journal des Débats und ist einer der ersten und erfolgreichsten Feuilletonromane, der ein großes Massenpublikum erreichte. Die männliche Hauptperson, der deutsche Großherzog Rudolf von Geroldstein, lebt als Arbeiter verkleidet in den Elendsvierteln der Île de la Cité. Um für eine alte moralische Schuld zu büßen, betätigt er sich als Wohltäter der Armen und Unterdrückten, belohnt die Guten und bestraft die Bösen. Es gelingt ihm, das Straßenmädchen Fleur-de-Marie (Marienblume) dem Milieu der Unterwelt zu entreißen; am Ende entpuppt sie sich als seine – bereits für tot erklärte – Tochter.

Der Roman wird auch in zwölf deutschen Zeitungen nachgedruckt und häufig nachgeahmt, in Deutschland entstehen unter anderem die Geheimnisse von Berlin, von Hamburg und von München. Ein bekannter deutscher Leser hat zu den Geheimnissen von Paris eine fast achtzigseitige Kritik geschrieben: Karl Marx. In der Heiligen Familie (1845) tadelt er die rein paternalistisch moralische Seite des Romans, der für das Elend des Proletariats keine Abhilfe bringe. Es werde deutlich, „daß Herrn Sue, Herrn Rudolph und der kritischen Kritik die allerbekanntesten ökonomischen Verhältnisse ‚Mysterien‘ geblieben sind“.

Geht man von Notre-Dame zurück zur Rue de la Cité und zur Rue Lutèce, so kommt man an deren Ende zum Boulevard du Palais. Biegt man nach rechts in diese Straße ein, so erreicht man nach wenigen Metern den Pont-au-Change. Diese Brücke, die am zitierten Anfang der Geheimnisse von Paris erwähnt wird, erhält bei dem Lyriker, Romancier und Essayist Robert Desnos im Jahre 1944 eine dramatische politische Bedeutung. Paris wird wieder zur „Hauptstadt der Welt“, deren Verteidigung auch andere Länder vom Joch der Besetzung befreit.

DER WÄCHTER VOM PONT-AU-CHANGE

[…] Im Süden, im Norden, im Osten und im Westen Nichts als Kriegslärm, der sich auf Paris zu bewegt. Ich bin der Wächter vom Pont-au-Change. Ich wache im Herzen der Stadt bei wachsendem Dröhnen, In dem ich des Feindes panische Alpträume erkenne, Das Siegesgeschrei unserer Freunde und das der Franzosen, Die Schmerzensschreie unserer Brüder, gefoltert von Hitler-Deutschen.

Ich bin der Wächter vom Pont-au-Change Und bewache nicht nur Paris diese Nacht, Diese Sturmnacht über dem fiebrigen müden Paris, Sondern die ganze Welt, die uns umgibt und zusammendrängt. In der kalten Luft zieht all das Kriegsgebraus Bis an diesen Ort, wo seit langem schon Menschen leben. […]

Robert Desnos (1900–1945) gehörte zunächst der surrealistischen Bewegung an, von der er sich aber im Jahre 1929 wieder trennte. Die engagierte politische Position gegen die deutsche Besetzung Frankreichs, die auch aus dem Gedicht klar hervorgeht, führte ihn in die Résistance. Im Jahre 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Dort starb er nach der Befreiung des Vernichtungslagers im Juni 1945 an Typhus.

Vom Pont-au-Change führt der Boulevard du Palais zum Palais de Justice (Justizpalast). Hier lag seit dem Mittelalter der zentrale politische Schwerpunkt von Paris, die Königsburg. In ihrer die Insel beherrschenden Stellung ist sie auf dem Kalenderblatt des Monats Juni im bekannten Stundenbuch (um 1415) des Duc de Berry deutlich zu erkennen. Die Burg der Könige als Zentrum der weltlichen Macht und in unmittelbarer Sichtweite die Kathedrale Notre-Dame als Zentrum der geistlichen Macht – eine symbolhafte Verkörperung der mittelalterlichen Zweischwerterlehre im städtischen Kernbereich der Île de la Cité.

In der Grande Salle des Palais de Justice findet zu Beginn des Romans Notre-Dame de Paris eine Theateraufführung des Schriftstellers Pierre Gringoire statt. Victor Hugo beschreibt diesen ehemaligen Festsaal mit den Statuen der französischen Könige, der „damals als der größte überdachte Raum auf der Welt angesehen“, inzwischen aber durch den Großband des Jahres 1618 zusammen mit anderen Teilen des Justizpalastes zerstört wurde. An seiner Stelle entstand im Zentrum des Gebäudes die Salle des Pas-Perdus (Saal der verlorenen Schritte), in der sinnbildlich mancher Gang vor Gericht vergeblich war.

In diesem Saal und im übrigen Justizpalast lässt Honoré de Balzac (1799–1850) den dritten Teil des Romans Splendeurs et Misères des Courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) spielen, der auch ein Dokument für die Strafverfahren am Ende der Restaurationszeit mit ihren Einflussnahmen und Pressionen darstellt. Der dritte Teil erschien im Juli 1846 als Feuilletonroman in der Zeitung L’Époque; erst posthum im Jahre 1855 wurden die vier Teile der Splendeurs et Misères des Courtisanes im Rahmen der Comédie humaine (Menschliche Komödie) veröffentlicht, die den weitaus größten Teil des Romangesamt werkes enthält.

Der Roman setzt die Handlung des Werkes Illusion perdues (Verlorene Illusionen) fort und vermittelt einen breiten Überblick über die damalige Pariser Gesellschaft vom Hochadel über das Bürgertum bis in die Bereiche der Hausangestellten, Prostituierten, Straftäter und Verbrecher hinein. Der Dichter und Journalist Lucien de Rubempré kehrt nach seinem ersten Scheitern in die französische Hauptstadt zurück. Er wird von dem ehemaligen Strafhäftling Vautrin, der jetzt in der Verkleidung des spanischen Priesters Carlos Herrera auftritt, mit kriminellen Machenschaften dazu angetrieben, in eine alte Adelsfamilie einzuheiraten. Das nötige Geld für die Heirat Luciens lässt Carlos Herrera vom steinreichen Baron von Nucingen erpressen:

Die skrupellosen Machenschaften werden von der Polizei entdeckt; Lucien de Rubempré sowie Carlos Herrera bringt man in der grünen Minna („le pannier à salade“) zum Justizpalast. Balzac widmet einen Abschnitt des dritten Teils der „geschichtlichen (!), archeologischen, biographischen, anekdotischen und physiologischen Geschichte des Justizpalastes“.

Der Palais-de-Justice ist ein wirrer Haufen übereinander aufgetürmter Bauwerke, von denen die einen Größe ausstrahlen, die anderen aber unansehnlich sind; es stört, dass ein stimmiger Gesamteindruck fehlt. Die Salle des Pas-Perdus ist der größte aller bekannten Säle; aber seine Kahlheit wirkt schreckenerregend, er nimmt den Augen Mut und Hoffnung.

Die Salle des Pas-Perdus, die hier als „große Kathedrale der Rechtsverdrehung“ apostrophiert wird, stürzt auch Lucien de Rubempré ins Unglück. Er ist den raffinierten Verhörmethoden des Untersuchungsrichters Camusot nicht gewachsen, enthüllt die verbrecherischen Handlungen und nimmt sich in der Gefängniszelle das Leben. Vautrin alias Carlos Herrera kann seinen Kopf aber noch aus der Schlinge ziehen, gibt seine wahre Identität preis und wird aufgrund seiner einschlägigen Kenntnisse zum Chef der Sicherheitspolizei ernannt.

Jacques Prévert (1900–1977), der in Deutschland vor allem als Drehbuchautor des Kultfilms Les Enfants du Paradis (Die Kinder des Olymp) (1945) und als Verfasser von Gedichten bekannt wurde, die als Chansons – von berühmten französischen Interpreten wie Juliette Gréco und Yves Montand gesungen – große Popularität erlangten, hat die fragwürdige Seite der Justiz zynisch beschrieben. Vom Seine-Ufer der Bouquinisten aus erscheint der Justizpalast in dem einleitenden Abschnitt Encore une fois sur le fleuve (Noch einmal über den Fluss) seiner Histoires (Geschichten) (1946) mit zwei verschiedenen Seiten:

Aber als der Bouquiniste den alten errötenden Mann betrachtet wendet dieser verlegen seine Augen ab und lässt das arme obszöne Buch liegen er wirft einen unschuldigen gleichgültigen Blick auf das andere Ufer der Seine auf den goldfarbenen Quai des Orfèvres [Kai der Goldschmiede] dort wo die Justiz einen Palast bewohnt der von furchterregenden grauen Bullen bewacht wird wo sie das Elend be- und verurteilt, das es gewagt hat aus seinen Elendsbehausungen herauszukriechen.

Innerhalb des Palais de Justice befindet sich die Sainte-Chapelle, die schon auf dem Kalenderbild des Monats Juni im Stundenbuch des Duc de Berry neben der Königsburg steil emporragt. Balzac weist im dritten Teil des Romans Splendeurs et Misères des Courtisanes auf die gewaltige Größe der beiden Bauwerke hin:

Wenn man diese ausgedehnte Hauptstadt von der Höhe der Laterne [d.h. des lichteinlassenden Aufsatzes der Kuppel] des Pantheons aus betrachtet, erscheint der Palais [de Justice] mit der Sainte-Chapelle als das Beherrschendste unter einer Vielzahl von Bauwerken. Dieser Palast unserer Könige, in dem man entlanggeht, wenn man den riesengroßen Saal der verlorenen Schritte durchquert, war ein Wunderwerk der Architektur; er ist es noch in den klugen Augen des Dichters, der ihn erkunden will, wenn er die Conciergerie genauer betrachtet.

Der Schlusssatz erhält einen zusätzlichen biografischen Sinn, wenn man weiß, dass Balzac beim Schreiben des dritten Romanteils am 13. Dezember 1845 die Conciergerie besucht hat, um sich über den Handlungsort genauer zu informieren.

Die Sainte-Chapelle stellt den ältesten Teil des Palais de Justice dar. Sie wurde 1248 geweiht und von König Ludwig IX., dem Heiligen, mit kostbaren Reliquien ausgestattet. Den Brand von 1630 überstand sie ebenso wie die Zerstörungspläne der Französischen Revolution. Die Kirche besteht aus zwei Geschossen; die Oberkapelle war ursprünglich nur für die königliche Familie bestimmt. Sie besticht durch das farbige Lichtspiel der Fenster, die zu etwa zwei Dritteln noch aus dem 13. Jahrhundert stammen, die Wandflächen wurden fast völlig in Glas umgewandelt.

Ebenfalls im dritten Teil des Romans Splendeurs et Misères des Courtisanes hebt Balzac den „hohen und großartigen Bau der Sainte-Chapelle“ hervor, der allerdings Teile des Palais de Justice mit Schatten bedecke:

Dieses Viereck, diese Insel von Häusern und Baudenkmälern, wo sich die Sainte-Chapelle befindet, das herrlichste Juwel aus dem Schrein des Heiligen Ludwig, dieser Ort ist das Heiligtum von Paris, es ist der heilige Platz, die heilige Kirche. Und vor allem stellte dieser Ort die erste vollständige Stadt dar.

Der bewunderungswürdigen Sainte-Chapelle stellt Balzac die düstere Conciergerie gegenüber, die mit dem Palais de Justice einen großen Gebäudekomplex bildet. Die Erinnerung an die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution ist um das Jahr 1846 noch sehr lebendig. In der Zeit von Januar 1793 bis Juli 1794 war die Conciergerie Vorhalle der Angeklagten zu den Revolutionsgerichten und Vorhölle der Verurteilten zur Hinrichtung mit der Guillotine. Nicht nur viele Adlige wie die französische Königin Marie-Antoinette, sondern auch Dichter wie André Chénier (1762–1794), den Victor Hugo als Vorläufer der romantischen Lyrik feierte, schickten die Revolutionäre von hier aufs Schafott.

Die Conciergerie – historische Bezeichnung, schreckliches Wort, noch schrecklicheres Objekt – ist mit den Revolutionen Frankreichs verbunden, besonders mit denen von Paris. Sie hat die meisten der großen Verbrecher gesehen. Wenn sie von allen Bauwerken in Paris das interessanteste ist, so ist sie auch das am wenigsten bekannte … bei den Leuten, die zu den oberen Klassen der Gesellschaft gehören.

Balzac bedauert vor allem, dass die Conciergerie den ehemaligen Königspalast mit seiner bedeutenden Architektur immer stärker zurückgedrängt habe.

Leider hat die Conciergerie den Palast der Könige überwuchert. Das Herz blutet einem, wenn man sieht, wie man Kerker, Kammern, Gänge, Unterkünfte und Säle ohne Licht und Luft in dieses großartig zusammengefügte Bauwerk hineingeschnitten hat, in der das Byzantinische, das Romanische und das Gotische, diese drei Seiten alter Kunst, durch die Architektur des 12. Jahrhunderts miteinander verbunden worden sind.

Auch wenn Balzac Spuren byzantinischer Kunst im Palais de Justice zu entdecken glaubt, so ist seine Kritik an den Umbauten und am Verschwinden älterer wertvoller Bausubstanz von anderen geteilt worden.

Zwischen der hinteren Seite des Justizpalastes, an der Rue de Harley, und dem Pont-Neuf erstreckt sich die Place Dauphine. Nachdem Ende des 16. Jahrhunderts drei kleine Seine-Inseln – darunter die kleine Ilot de la Gourdaine – mit der Île de la Cité verbunden und auf ihre Höhe aufgeschüttet wurden, erteilte König Heinrich IV. im Jahre 1607 den Auftrag an den Parlamentspräsidenten Achille de Harlay, den freien Raum anlegen und bebauen zu lassen. Der Platz, der sich der nach Westen auslaufenden Île de la Cité anpasst, wurde zu Ehren des Thronfolgers (dauphin), des späteren Königs Ludwig XIII., Place Dauphine genannt. Die dreieckige Form hat die erotische Phantasie der Pariser Bevölkerung angeregt: Da sie die Île de la Cité, das historische Zentrum der Stadt – auf den Menschen projiziert –, zwischen den Schenkeln der Seine liegen sah, verglich sie das magische Dreieck des Platzes mit dem Schamdreieck einer Frau.

Die gleichmäßige Bebauung der Place Dauphine mit einheitlich gestalteten Häusern aus Ziegelstein und weißen Steinen ist durch vielfältige Umgestaltungen weitgehend verloren gegangen. Die dem Palais de Justice zugewandte Häuserfront wurde im Jahre 1874 wieder abgerissen – angeblich, damit man das Justizgebäude besser bewundern könne. Geblieben ist ein sehr reizvoller, schattiger, Ruhe ausstrahlender Platz, der auch die Schriftsteller beeindruckt hat.

Gérard de Nerval (1808–1855) beginnt seine Erzählung La Main enchantée (Die verzauberte Hand), die erstmals 1832 mit dem Zusatztitel Histoire macaronique (Burleske Geschichte) erschien, mit einer Beschreibung der Place Royale – heute der Place des Vosges –, die er mit der Place Dauphine vergleicht:

Es gibt einen anderen Platz in der Stadt Paris, der nicht weniger ein Gefühl des inneren Wohlbefindens durch sene regelmäßige Anlage hervorruft und der als Dreieck so ähnlich ist wie der andere [die Place des Vosges] als Viereck. Er ist unter der Herrschaft Heinrichs des Großen angelegt worden, der ihn Place Dauphine nannte. Man bewunderte damals, wie wenig Zeit man für die Gebäude benötigte, um das freie unbebaute Gelände der Île de la Gourdaine zu bedecken. Die zügige Umwandlung des ehemaligen Geländes erregte ein starkes Missbehagen bei den Kanzleigehilfen, die hierher kamen, um mit großem Lärm herumzutollen, und auch den Anwälten, die hierher kamen, um über ihre Plädoyers nachzudenken. Es war ein Spaziergang in der grünen und blühenden Natur, wenn sie aus dem widerlichen Hof des Palastes herausgingen.

Als die Place Dauphine bebaut war, kehrten die Gerichtsleute wieder zurück.

Die Hauptperson der Erzählung, Godinot Chevassut, bewohnt eines der neuen Häuser des Platzes; er wird im Jahre 1609 in seltsam magische Ereignisse hineingezogen, an deren Ende die verzauberte Hand – so der Titel – eines gerade gehängten Tuchmacherlehrlings abgetrennt wird und sich selbstständig zum Wohnort eines Zigeuners bewegt, der die Verhexung ausgelöst hatte.

185 Jahre später, in den Wirren der Französischen Revolution, hat sich die Place Dauphine schon wesentlich verändert: Die ursprüngliche Schönheit ist heruntergekommen. Anatole France (1844–1924), dem 1921 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, beschreibt im zweiten Kapitel seines historischen Romans Les Dieux ont soif (Die Götter dürsten) (1912) den Platz im Jahre 1794:

Evarist Gamelin verließ die Bernabitenkirche und machte sich auf den Weg nach der Place Dauphine […]. Im volkreichsten Viertel von Paris gelegen, hatte dieser Platz seit hundert Jahren sein schmuckes Aussehen verloren. Die Paläste an seinen drei Seiten, die unter Heinrich IV. gleichmäßig in rotem Ziegelbau mit Querlagen von weißem Sandstein erbaut waren, als Wohnsitze prunkvoller hoher Beamter, hatten ihre vornehmen Ziegeldächer gegen zwei, drei elende Stockwerke aus Bruchstein eingetauscht, oder sie waren ganz abgerissen worden, und an ihre Stelle waren würdelose Mietshäuser mit dürftigem Kalkverputz getreten. Ihre Straßenfronten waren unregelmäßig, armselig, schmutzig, von zahlreichen ungleichen, schmalen Fenstern durchbrochen, die Blumentöpfe, Vogelkäfige und trocknende Wäsche zierten. Hier hauste eine Schar von Handwerkern, Goldschmieden, Uhrmachern, Optikern, Buchdruckern, Näherinnen, Schneiderinnen und Wäscherinnen sowie etliche alte Juristen, die der Sturm der Revolution nicht mit der alten Justiz fortgefegt hatte.

Der Maler Evarist Gamelin, die zentrale Person des Romans, ist Mitglied des Revolutionstribunals, dessen grausame Verurteilungen und maßloser Blutdurst ihn aber nicht an den neuen fortschrittlichen Idealen zweifeln lassen. Mit Robespierre zusammen wird er schließlich ebenfalls durch die Guillotine hingerichtet.

Sehr viel reizvoller erscheint die Place Dauphine in der Erzählung Nadja (1928) von André Breton (1896–1966). Der Wortführer der surrealistischen Bewegung berichtet von Ereignissen, die sich in der Zeit zwischen Oktober 1926 und Februar 1927 abgespielt haben sollen. Eines Abends fahren Breton und Nadja zu einem Restaurant an der Place Delphine und lassen sich das Essen im Freien servieren:

Diese Place Dauphine ist wohl einer der zutiefst zurückgezogenen Orte, die ich kenne, eines der schlimmsten terrains vagues, die es in Paris gibt. Jedesmal, wenn ich mich dort befand, fühlte ich mich alle Lust verlieren, anderswo hinzugehen, mußte ich mit mir selbst kämpfen, um mich aus einer sehr geschmeidigen, allzu angenehm zudringlichen und alles in allem erschöpfenden Umarmung zu befreien.

Breton fügte der Erzählung im Jahre 1928 44 Fotografien von Jacques Boiffard hinzu, darunter ein Bild des Platzes mit dem Restaurant.


Pont-Neuf

Durch den schmalen Durchgang an der Dreiecksspitze des Platzes gelangt man zum Pont-Neuf (Neue Brücke). Trotz ihres Namens ist es die älteste und immer noch eine der längsten Pariser Brücken. Sie ist seit ihrer Erbauung im Wesentlichen unverändert geblieben; im Jahre 1607 wurde sie von König Heinrich IV. eingeweiht, dessen Reiterstatue (1634) mitten auf der Brücke das erste Personendenkmal auf einem öffentlichen Platz in Frankreich war. Die Statue wurde 1792 von Revolutionären zerschlagen. Während der Restauration stellt man sie im Jahre 1818 dort wieder auf. Victor Hugo widmete in der Sammlung Odes et Ballades (Oden und Balladen) (1826) die sechste Ode dieser Wiederaufstellung (Le Rétablissement de la Statue de Henri IV). Er beteiligte sich selbst voller Enthusiasmus am Transport:

Von tausend Armen gezogen, rollt der schwere Koloss voran. Oh! Fliegen wir, schließen wir uns diesem frommen Streben an! Was bedeutet es schon, wenn mein Arm sich in der Menge verliert! Heinrich sieht mich aus der Höhe des Himmels. Ein ganzes Volk hat diese Bronzestatue Deinem Gedächtnis gewidmet.

Die Legende berichtet, dass der Metallgießer des Denkmals, ein glühender Anhänger Napoleons, die Gelegenheit dazu benutzt habe, nicht nur eine kleine Figur des Kaisers, sondern auch eine zweibändige Ausgabe von Voltaires Epos La Henriade (Der Heldengesang auf Heinrich IV.) (1723) in den Sockel der Statue einzuschließen. Das Werk des Aufklärers ist eine Lobeshymne auf den französischen König, dem die Sorge für sein Volk wichtigste Leitlinie seines Handelns gewesen sei.

In seiner schon erwähnten Erzählung La Main enchantée erinnert Gérard de Nerval an den Erbauer der Brücke:

Der Pont-Neuf, der unter Heinrich IV. vollendet wurde, ist das wichtigste Bauwerk seiner Regierungszeit. Nichts gleicht der Begeisterung, den sein Blick ausdrückte, als er, nachdem die langwierigen Bauarbeiten beendet waren, mit zwölf großen Schritten die Seine vollständig überquert hatte […].

Aber die Brücke wurde auch bald der Treffpunkt der Pariser Müßiggänger, deren Zahl groß ist; besonders aller Gaukler, Quacksalber und Gauner, deren Geschäfte durch die vorbeilaufende Menge erst richtig in Schwung kommen – wie eine Mühle durch das strömende Wasser.

Der Pont-Neuf war die erste Pariser Brücke ohne die bis dahin übliche Häuserzeile. Man konnte zum ersten Mal vom Übergang direkt auf die Seine blicken. Es gab auch Bürgersteige, die die Passanten vor Straßenschmutz schützten. Bei der Bevölkerung wurde die Brücke schnell beliebt, was aber im 18. Jahrhundert auch die Polizei auf den Plan rief:

Für die Stadt ist der Pont-Neuf das, was für den menschlichen Leib das Herz: Zentrum allen Lebens und aller Bewegung. Wer bestimmte Leute treffen will, seien es Einheimische oder Fremde, braucht nur täglich eine Stunde lang im Gewimmel dieser vielbegangenen Brücke auf und ab zu bummeln, und schon läuft ihm der Gesuchte in die Arme. Auch die Spitzel lauern dort, und wenn sie ihren Mann nicht binnen ein paar Tagen gesichtet haben, wissen sie mit Sicherheit, daß er Paris verlassen hat.

Louis-Sébastien Mercier (1740–1814), der unter anderem als Theater- und Romanautor, Dramentheoretiker und Historiograph Bedeutung erlangte, verfasste diesen Text in seinem noch heute lesenswerten Tableau de Paris (Mein Bild von Paris), dessen erste Gesamtausgabe im Jahre 1788 erschien. Das sehr umfangreiche Buch mit mehr als 2400 Seiten gibt einen breiten Überblick über das Alltagsleben der Pariser Bevölkerung am Vorabend der Französischen Revolution und beschreibt die soziale Wirklichkeit von den Höhen der adligen und großbürgerlichen Gesellschaft bis hinein in die Welt der Handwerker, Arbeiter, Bettler und Dirnen. Besonders die Missstände des Ancien Régime werden kritisch herausgestellt. Das Werk, dessen Anlage kaleidoskopartig und unsystematisch ist, wurde ein großer Erfolg; in über 100.000 Exemplaren erreichte es europäische Leser.

Mercier schildert auch die Quacksalber und Rekrutenwerber, die auf dem Pont-Neuf ihr Unwesen treiben. Aber entgegen anders lautenden Gerüchten sei die Brücke auch bei Nacht sicher:

In der Provinz glaubt man, daß, wer den Pont-Neuf nachts begehe, Gefahr laufe, in den Fluß geworfen zu werden, und man redet von Cartouche und seinen Anschlägen, als ob es diesen berühmten Dieb noch immer gäbe, dabei ist der Pont-Neuf die sicherste Brücke von ganz Paris […].

Am Ende der Brücke treiben jene ihr Geschäft, die man als Aufkäufer von Menschenfleisch bezeichnet: die Rekrutenwerber. Die Männer, die sie den Obristen zutreiben, werden von diesen an den König weiterverschachert. Früher verschleppten die Werber junge Leute, deren sie durch Gewalt oder List habhaft wurden, in einen stillen Winkel und preßten ihnen dort die Verpflichtung mit Hilfe von Zwang und Schlägen ab. Inzwischen hat man diesem monströsen Mißbrauch ein Ende bereitet, nicht jedoch den Listen und Betrügereien, mit denen die Kanaille angeworben wird. Die Menschenfänger bedienen sich dabei seltsamer Methoden. So haben sie eine Leibwache aus leichten Mädchen, die sie auf junge Leute mit einem gewissen Hang zur Ausschweifung ansetzen. Weiter verfügen sie über Kneipen, wo sie jene, die den Wein mögen, betrunken machen. Auch tragen sie zur Fastnacht und zu Martini lange Spieße mit sich herum, bestückt bis oben hin mit gebratenen Truthähnen, Hühnern, Wachteln und Häschen, damit die, welche den Verlockungen der Wollust gegenüber standhaft blieben, nun der Verführung durch die Völlerei erlägen.

Dass die Gegend aber auch im 20. Jahrhundert gefährlich zu sein scheint, davon berichtet das schon zitierte Gedicht Encore une fois sur le fleuve (Noch einmal über den Fluss) aus Jacques Préverts Zyklus Histoires:

Ich war dabei, als etwas sich direkt in der Nähe des Pont-Neuf ereignet hat nicht weit von dem Bauwerk, das man Haus der Münze nennt Ich war dabei, als sie sich hinüberlehnte und ich habe ihr dann einen Stoß versetzt Es blieb nichts anderes übrig Ich bin die Not ich habe meine Arbeit erledigt und die Seine ebenfalls als sie über sie den brüderlichen Arm gelegt Vollkommen brüderlich Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit, das ist vollkommen Oh wohlwollende Not wenn du nicht existiertest, müsste man dich erfinden.

Im Jahre 1985 war der Pont-Neuf für 14 Tage völlig verwandelt: Das Ehepaar Christo hatte ihn mit Stoff verhüllt.

Paris

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