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Zweites Kapitel - Telefon tête à tête
ОглавлениеAls Walé Rosmarie kennen lernte, mietete er diese kleine Wohnung, um der von Rosmaries nahe zu sein. Der Schlafraum ist der Größte, damit Träume Platz haben. In einem engen Zimmer nisten sich Alpträume ein, so ist Walés Idee.
Drei Fenster, ein Sessel, ein länglicher Tisch vor der spartanischen Liege, gegenüber die Musikanlage. Zwei Fenster besitzt das Wohnzimmer.
Wenn Walé den runden Tisch ovaliert, indem er die Platte auszieht, können daran bequem sechs Gäste sitzen, ohne dass sie den Koch stören. Über die ganze Breitseite ein durchgehendes Fenster, mit der Glastüre auf den Balkon hinaus, der überfüllt mit Pflanzen und Kräutern ist. Ein grünes Nest. Bistrostühlchen mit Tisch.
Ein Fenster hat das kleinste Zimmer, eher eine Kammer, und der Blick geht hinaus auf die Ziegelbrandwand des Nachbarhauses, die Walé betrachtet als riesiges Monumentalrelief. Moose, Minifarne, Gräser, Löwenzähne, winzige Bäumchen wachsen aus den maroden Mörtelritzen. Käferchen, Eidechschen, Vögelchen steigen respektvoll über Ameisenstraßen. Schatten und Lichtspiele bewundert Walé allweil aufs Neue. Vor dem Fenster, ein Tischen mit Segeltuch Klappstuhl, auf der Rückwand ein Krimskrams und Bücherregal, das ist alles in dem sogenannten Arbeits- und Denkzimmer. Denkzimmer müssen klein sein, damit die Gedanken sich sammeln können, nicht entfleuchen.
Es ist August. Heiß. Walé läuft in Shorts und freiem Oberkörper durch die Wohnung und jedes Mal, wenn er an dem mannshohen Spiegel im Flur vorbeigeht, zieht er automatisch den Bauch ein. Eben ist er davor stehen geblieben, besieht sich, denkt an Wiktor und dass, wenn der neben ihm stünde, sie zu viert wären. „Außergewöhnlich ungewöhnlich“, brummt er, sieht sich konzentriert in die Augen und murmelt: „Selbst die Augenfarbe stimmt“. Erst an Wiktor ist ihm aufgefallen, wie vermolligt er selbst geworden.
Er knipst die nackte Glühbirne an, die an einer Art Galgen, der außen, am Fensterrahmen befestigt, in den Hinterhof hängt. Der leiseste Luftzug lässt die an einem Kabel hängend Glühbirne, swingen, pendeln, wirft grandiose Lichtspiele gegen die terrakottafarbene Ziegelwand.
Das Fenster ist geöffnet, ein leichtes Windchen haucht herein, draußen tanzt ein kleiner, runder Lichtmond über die Mauer.
Er kann, obwohl er die ganze Zeit daran denkt, Wiktor nicht antelefonieren. Er kennt die Telefonnummer nicht und wenn, würde er nicht anrufen, um mit Wiktor zu sprechen, wäre es ihm doch unangenehm, wenn Rosmarie am Apparat wäre. Er findet es einfach verrückt, eigenartig, überraschend, unangenehm, völlig witzig, äußerst befremdlich, liebenswürdig, sehr besonderig die Begegnung doch gerade noch rechtzeitig in seinem Leben, indem nicht mehr allzuviel passiert, geschieht.
„Außer, dass er mir äußerlich gleicht, weiß ich nichts von ihm. Womöglich ist er ein ausgezeichneter Blödmann… und wenn er doch so ist wie ich? Und wie bitte bin ich? Ich bin, äh – puh- hm- also, konsequent inkonsequent, äh- sozial- listig, puh- liebens- und lebenswert – genau - ach ja, tolerant, feministisch, ungläubig, abergläubig, künstlerisch, kitschig, kitzlich, unmoralisch moralisch, mimosig, zickig, Freidenker, nachtragend, verzeihend, alkoholisch, mäusezärtlich und zu viel alleinig. So wie ich Wiktor auf die Schnelle kenne, könnt er diese Eigenschaften auch haben, oder wünsche ich mir das? Nur allein, ist er nicht, er hat Rosmarie und Susy.“
***
Rosmarie schließt in diesem Moment die Wohnungstür ihrer Mutter auf und die ruft „Ros bist du`s?“
„Ja, Mam!“ Mam krümmt sich irgendwie in das Sofa, denn sie ist nicht rustikal, rundlich wie ihre Tochter, sie ist dünn und lang wie ihre Enkelin. Sie hört wie Rosmarie ihre Schuhe von sich schleudert und als sie wehleidigen Blickes, schmollmündig eintritt, weiß sie, das Kind hat wieder mal Trouble mit ihrem Ehemann, was sie nicht verstehen kann, ist Wiktor doch das liebenswerte Wollschaf, das man sich als Partner nur wünschen kann. Rosmarie fragt ihre erschlaffte Mutter, um abzulenken, ob sie es wieder mit dem Kreislauf habe.
„Ja, ich glaube es ist die Hitze.“
„Sollen wir einen Sekt dagegen trinken?“
„Die Idee hatte ich auch schon, wollte aber für mich allein keine Flasche öffnen“.
Rosmarie hantiert in der Küche, Mam ruft hinüber, ob Wiktor endlich eine andere habe.
„Quatsch, er hat einen, anderen“.
„Was?“
„Einen Mann!“
„Einen Mann?“
Rosmarie tablettiert Sekt samt Gläser heran, stellt alles auf dem Sofatisch ab, schenkt ein. Während dessen hat sich Sophia eine lange, dünne Menthol Zigarette angezündet.
„Wieso unbequemst du dich herum des Nachts?“
„Am Tag wäre es auch nicht bequemer.“
Sie nippen zuerst in ihren Gläsern, nehmen dann einen kräftigen Schluck, ohne sich zuzuprosten.
„Was ist mit Wik, ist er schwul geworden?“
„Falentin ist aufgetaucht, wir sind ihm im Theater begegnet“.
„Ach du lieber Gott. Wie sieht er denn aus?
„Er sieht Fiktor noch ähnlicher“.
„Noch ähnlicher?“
„Ja!“
„Und wie waren sie?“
„Von den Socken, aber sehr angetan voneinander“.
„Wie hat Su reagiert?“
„Susanne war fasziniert“.
„Natürlich, hat sie doch ab jetzt zwei Väter“.
„Hör bloß auf, das fehlte mir noch“.
„Wieso hast du auch damals Val nicht aufgeklärt?“
„Ich dachte, ich könnte ihm das nicht antun. Die ganze Zeit über als ich mit ihm zusammen lebte, liebte und wartete ich auf einen anderen Mann, der auch noch fast so aussah wie er“.
„Das war doch mehr oder weniger Zufall, Ros.“
„Sicher, aber ich nahm ihn nur wegen der Ähnlichkeit, so konnte ich die Trennung von Fiktor einigermaßen überstehen“.
Rosmarie lernte Wiktor in einem Entwicklungsprojekt in Afrika kennen. Ein einjähriges Projekt, das ein Krankenhaus aufbauen und einarbeiten sollte. Sie hatte gerade ihr Hebammen-Diplom abgeschlossen und Wiktor, der Apotheker, legte eine Ehe-Pause ein, um sich sozial zu läutern, danach die Apotheke seines Vaters zu übernehmen und die bröckelnde Ehe wieder zu kitten. Fast ein Jahr widerstand Wiktor der verliebten Rosmarie, bis er sich ebenfalls verliebte. Er verheimlichte aber nicht seine Frau und die abgenützte Partnerschaft nach Rückkehr aus Afrika auffrischen, neu beginnen zu wollen. Als Rosmarie Wiktor zum ersten Mal sah und den Schock der Ähnlichkeit zu Walé einigermaßen verdaut war, beschloss sie ihn als Wiktor-Ersatz anzunehmen, solange bis der sich endgültig für sie entschieden haben würde und dessen war sie sich gewiss.
Kein halbes Jahr verging und Wiktor trennte sich von seiner Frau und Rosmarie wurde Frau Apothekerin.
Die Ablöse war sehr simpel. Als Wiktor das Jawort gab, verneinte Rosmarie Walé von einer Sekunde auf die andere, verließ ihn. Während Wiktor mit Rosmarie aufs Land zog, blieb Walé städtisch und hörte und sah nichts mehr von ihr, bis auf die beiden unbedeutenden Begegnungen.
Walé war so verblüfft über die abrupte Trennung, dass er keinerlei Traurigkeit empfinden konnte, nur Unverständnis und das ist relativ einfach zu ertragen. Nichts blieb von ihr, kein Foto, kein Brief, keine zärtliche Kitschigkeit, nichts. So betrank Walé sich eine Woche und vergaß sie einfach. Und wenn er sich doch ab und zu erinnerte, schmunzelte er sie einfach weg.
Sophia hat sich erhoben, langbeint durch das Zimmer, prüft da und dort die Staubverhältnisse auf den Möbeln. Rosmarie verfolgt sie mit wachen Augen, kennt die Rituale ihrer Mutter, die plötzlich stehen bleibt, die Lippen zusammen presst, die Augen gegen die Zimmerdecke verdreht, die Backen aufbläst, die Luft kräftig ausstößt und unerbittlich fragt: „Wer ist der Vater?“
„Was?“
„Wer von beiden ist der Vater von Su? Ich Idiotin, das, ist doch deine unaussprechliche Problematik! Oder?“
Rosmarie windet sich, wartet auf Erklärungskräfte, trinkt solange, schnieft nun ein näselndes, Falentin. „Vaaaaaaal“, schmettert Sophia durch das Zimmer, das die As wie Gummibälle durch den Raum springen lässt. Nun hat Rosmarie sich in das kleine Sofa gekuschelt, in das sie rund hinein passt.
„Bist du sicher?“
„Ich weiß es ganz genau, Mam.“
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott, oh Gotti”.
„Gott sei Dank, hatte das Harlem zu! Sonst säßen wir nun dort in peinlichen Erklärungen“.
„Ach, ihr wolltet ins Harlem?“
Rosmarie erzählt, wie die Begegnung abgelaufen war.
„Andererseits, wenn das Harlem geöffnet gehabt hätte, hättest du die Sache jetzt hinter dir“, behauptet Sophia. Sie fordert die Tochter auf, aus sicherer Distanz Walé an zu rufen, um zu beichten.
„Ich kann nur alle Heiligen anrufen, dass sie mir helfen“ fleht Rosmarie. „Ach Mam, was kann ich nur tun?“
„Wir betrinken uns und morgen schenkst du Wiktor reinen Wein ein“. Und nun kommt die typische Mutterfrage;“ Hast du schon was gegessen?“
„Oh Mam, ich will doch jetzt nichts essen, ich bin vor dem Essen geflohen!“
„Na ich mach uns eine Kleinigkeit“.
„Nein Mam bitte“.
„Was Klitzekleines“.
„Neiiiiiiiiiiiiin!“
Sophia weiß keinen Rat, außer dem einen, dass Rosmarie mit der Wahrheit raus muss, was die vehement ablehnt, aus Angst, dass Wiktor sie verlässt. Es ist spät genug, um sich bettfein zu machen, und während Rosmarie im Bad ist, überzieht und richtet sie die andere Hälfte des Ehebettes, denn natürlich hat die Tochter darauf bestanden, bei der Mutter zu schlafen, im Fall, dass es noch etwas zu quatschen gibt.
***
Neben Wiktor liegt Susy und sie Quatschen.
Eine Kerze züngelt auf dem Fensterbrett, schummert Dämmerlicht. Beide tragen weiße, weite T-Shirts als Nachtkleider, weil das Kind es so wollte, damit sie gleich aussehen. Wiktor hat eine Bierflasche in der Hand, sie auf dem Bauch abgesetzt. Susy ein Fläschchen Bionade. Ab und an prosten sie sich mit Skol zu. Aus dem Wohnzimmer romantisiert Julio Eglesias zu ihnen herüber. Ein leichter Windhauch lüftelt durch das Zimmer, dennoch ist es Schweißperlen schwül und die zwei wünschen sich ein Gewitter, mit Blitz und Donner, der sich anhört als rattere ein Güterzug über eine Eisenbrücke und es prasselt schwerer Regen auf die Terrasse und dicke Tropfen springen in die Höhe, wie gläserne Fröschlein.
„Sag mal Wiktor, was hast …“
„Sag Papa, Tochter!“
„Sag mal Papa, was hast du in dem Augenblick gedacht, als du Walé gesehen?“
„Mit dem, dachte ich, hat mich deine Mutter betrogen!“
„Warum?“
„Reines Feeling“
„Echt“.
„Ja“.
Er erzählt, wie sie damals von Afrika zurückkehrten, er zu seiner damaligen Frau. Was hätte er tun sollen, hatte er ihr doch einen Neuanfang versprochen. Aber er war all die Zeit mit dem Herzen bei Rosmarie und deshalb haben ihn die Schuldgefühle gegenüber seiner Frau fast umbracht. Susy ist sehr interessiert an der Geschichte, weil sie möglicherweise unmoralisch.
„Weißt du was Sus?“.
„Nö Wik“.
„Ich glaube, Ros hat mich damals mit Walé ausgetauscht“.
„Wie meinst du das?“
„Sie konnte die Trennung nicht ertragen, da lief ihr Walé über den Weg, der mir ähnelte und sie tröstete sich mit ihm“.
„Auch mit Sex?“
„Na klar“.
„Könnte dann Walé auch mein Vater sein?“
„Oh, oh, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen“.
„Ich mein ja nur, Papa“.
Schon dass er nie auf den Kosenamen „Rosmarin“ gekommen war, geschweige denn auf die Idee, dass Susy von einem anderen Mann sein könnte, ärgert Wiktor. Susy sieht ihm an, wie es in ihm arbeitet und beide sind froh, als sie die ersten Regentropfen auf das Fensterbrett trommeln hören, sie zur Terrassentüre eilen, um die Glasfröschlein hüpfen zu sehen. Ein sehr nahes Blitzgezacke erhellt die Nacht und der darauf folgende Donnerschlag lässt die Fensterscheiben vibrieren. Wohlig erschreckt klammert sich Susy an Wiktor, der sie noch fester an sich drückt, küsst sie ins Haar.
***
Derselbe Donnerschlag hat Walé aus seiner Lethargie gerissen. Er löscht die Galgenlampe und wie von einem außerirdischen Gelicht getroffen, erglüht die Ziegelwand von einem neuerlichen Blitz und ein trockener Donnerhall wälzt sich durch die Straßenschluchten. Er kann das Naturschauspiel, das er sonst so bewundert, nicht richtig auskosten, sind seine Gedanken doch bei Wiktor und er verspürt den dringenden Wunsch mit ihm zu telefonieren. Doch was, wenn Rosmarie am Telefon ist?
Natürlich ist er sich nun sicher, dass sie ihn mit Wiktor austauschte, aber er möchte nicht so ins Blaue recherchieren. Warum nicht mit Rosmarie sprechen, weiß sie doch alles am besten. Aber, sie war so in peinlicher Ablehnung die ganze Abendzeit. Er denkt an Susy, die ihm offensichtlich zu getan, ihn keinen Moment aus den Augen ließ. Mit dem sich bildenden Gedanken, dass sie eventuell seine Tochter sein könnte, beginnt ein ungeheurerer Regenguss. Er knipst die Galgenlampe an und aus der sich entwickelnden Wasserfallmauer schwemmt es die Farne, sogar die Moose werden herausgesogen. Nur ein paar Bäumchen können sich halten. Walé macht sich Sorgen, was aus den Tierchen geworden ist.
***
Sophia ist nicht aus der Nachtruhe gebracht, doch Rosmarie hat der Bombendonner aus dem leichten Schlaf gerissen, aus dem beginnenden Traum, in dem Walé sie zur Rede stellt. Dem will sie sich nun aussetzen, telefonieren, um sich ihr Gewissen rein zu sprechen.
Sehr vorsichtig lüpft sie sich aus dem Bett, zehenschleicht sie ins Wohnzimmer, sucht die Nummer aus dem Telefonbuch, wählt, doch es ist besetzt.
***
Wiktor ist sicher, dass Susy nach der längeren Kuschelei eingeschlafen ist. Auch er schleicht sich aus dem Bett, in die Küche, findet den Zettel mit Walés Nummer, muss sehr geduldig warten, bis der sich endlich schlaftrunken aus dem Bett geschält, das Telefon gefunden hat. Er wusste schon vorher, dass es Wiktor ist, und spricht ihn mit Namen an.
„Wiktor“.
„Woher weißt du …?“
„Ich habe die ganze Nacht gehofft, dass du anrufst“.
„Warum hast du mich nicht angerufen Walé?“
Ich dachte, es wäre nicht so gut, wegen Rosmarie.“
„Sie ist zu ihrer Mutter“.
„Ach, macht sie das immer noch, dass sie Aussprachen flieht?“
„Genau.“
Walé schlendert, das Telefon am Ohr, durch die Wohnung, die vom Stadtgelichte nie so richtig dunkel wird.
Wiktor steht barfuß auf der nassen Terrasse. Der Regen endet so abrupt, wie er begonnen. Der Garten dampft in feuchter Schwüle.
„Ist es bei dir auch so verdammt schwül?“
„Logisch, ich bin gerade auf dem Weg zum Balkon.“
„Ich stehe auf der Terrasse.“
„Vielleicht kommt ein Windchen auf.“
„Ja, das wäre ideal.“
„Walé?
„Ja!“
„Was denkst du über unsere Begegnung?“
„Ich weiß nicht richtig, aber ich glaube, ich finde sie witzig.“
„Witzig?“
„Ja!“
Wiktor setzt sich auf einen Korbsessel unter das Terrassendach, während Walé auf einem Balkonstuhl Platz genommen hat, auf die Straße hinunter blickt, mitternachtsgeschäftig, voller Menschen.
„Rosmarie fand es wohl nicht so witzig.“
„Sie war völlig überrascht.“
„Komischerweise reagierte Susy ganz cool.“
„Ja, sie ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.“
„Schläft sie?“
„Ja“, denkt Wiktor, doch Susy hängt über dem Terrassendach soweit aus dem Fenster, dass sie gut versteht, was darunter gesprochen wird. Als Wiktor nun in das Haus tritt, schleicht sie sich die Treppe hinunter, verharrt in der Dunkelheit. Währenddessen erklärt Walé, dass er bei Wiktors Anblick sofort wusste, dass er der Ehemann von Rosmarie sei.
„Ich vermutete gar nichts, bemerkte nicht einmal unsere Ähnlichkeiten, erst als Susy sie lauthals kundtat, wurde sie mir bewusst“.
Wiktor schenkt sich Wein ein, was Walé anscheinend gehört hat, denn er fragt Wiktor, was er trinkt.
„Rotwein“.
„Gute Idee“ findet Walé, macht sich auch auf in die Küche, will wissen, welche Weine Wiktor bevorzugt.
„Italienische“.
„Die Weißen auch?“.
„Weißwein trinke ich nur zu Fisch. Ich mag gerne das Bier“.
Walé hat einige Mühe die Flasche zu öffnen, hat er doch den Telefonhörer unters Kinn geklemmt.
„O.k., Wiktor, sollen wir auf einander anstoßen?“
„Ja klar, Cheerio Walé! Ich freue mich so, dass wir uns begegnet sind.“
„Salute! Und ich freue mich ebenso.“
Sie prosten sich zu, als stünden sie sich gegenüber. Walé drückt ganz nebenbei den CD Player, der auf dem Kühlschrank steht, und dezent erklingt Bach‘sche Klavier Musik, die Wiktor sofort erkennt.
„Goldstein Variationen, bist du Bachler?“
„Sagen wir Klassiker!“
„Speziell?“
„Sagen wir Cello!“
„Cello“, echot erfreut Wiktor, und nun beginnt eine leidenschaftliche Unterhaltung über das Cello, über Cellisten, Komponisten. Boccherini, Brahms, Britten, Coupertin, Fritzenhagen, Grieg, Hayden, Fanny Hensel, Vivaldi, Tartini, Fuchs fällt Walé noch ein, Zelinsky Wiktor. Alles Cello Liebhaber und die Interpreten werden herunter gesagt. Cassales, Founier, Jacqueline de Pre, Rostopovich, Moser von den Jüngeren, Ma yo yo, Maintz, Lipkind, Berger… Glas in der Hand, die Flasche in der Armbeuge, Telefon am Ohr, schreiten beide wieder ins Freie, sind sich einig, Bach und Beethoven sind die Größten, vielleicht noch Schubert, Fanny Hensel und ihr Mendelssohn und sie lachen miteinander weil sie sich so Musik identisch sind, und sie lachen um das Lachens willens, prosten sich allweil wieder zu. Ihre Gesichter sind offen, die Augen glänzen, Gutmütigkeit um ihre Münder, sehen in den Sternenhimmel, sind entspannt, weich in ihren Bewegungen, in ihrem Habitus eine Art von Seligkeit.
Susy ist in Staunerei, so hat sie Wiktor noch nicht erlebt. Er spricht mit seinem Zwilling, als wäre er verliebt, er säuselt stimmlich. Kicherig hat sie sich hinter die Terrassentür geschlichen, sitzt auf dem Boden, eine Bierflasche in Händen, aus der sie jeweils trinkt, wenn die Männer auf einander anstoßen. Sie fragt sich, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde, wenn sie diese beiden Turteltauben sehen, hören könnte.
***
Rosmarie schläft, schläft neben ihrer Mutter, beide einander zugewandt. Sophia lässt nur ihr hageres Gesicht sehen, ihr Körper ist im Plumeau versteckt, trotz der Hitze. Rosmarie hat das Leintuch mit dem sie sich bedeckt, zu den Füßen gestrampelt, sie hat unruhige Beine im Schlaf, vor allem, wenn sie träumt. Ihr Mund steht offen, sie atmet tief im Gleichklang ihres Herzens und dieser Rhythmus wird ab und an unterbrochen von einem Erleichterung suchenden Seufzer aus ihrer Brust.
Sie träumt in wilder Augenzwinkerei von der abendlichen Begegnung mit Walé, sieht eine Frau bei ihm, die ihr haargenau bis auf die Wimpernanzahl gleicht. Zwei völlig identische Paare und sie lacht auf, denn auch Susy ist im Doppel ihrer Traumszenerie. Sie fühlt sich sehr zu Walé hingezogen, beflirtet ihn schamlos in Gegenwart seiner Frau, was den anderen sehr peinsam ist, sie aber nicht tangiert. Sie animiert Walé mit ihr zu gehen. Sie schreiten durch ein hohes, rundes Portal in eine sonnengleisende Parkanlage, schweben in die Fontäne eines mächtigen Springbrunnens, verschwinden darin und damit ihr Traum. Befreit atmet Rosmarie tief und laut aus, schickt ein unverständliches Gebrabbel hinterher, das Sophia anscheinend wahrgenommen hat, denn sie dreht sich abrupt auf den Rücken, verfällt sogleich wieder in gemütliche Schnarcherei. Sie träumt nie. Sie erzählt sich Geschichten oder formuliert Reportagen, knapp, präzise, logisch, doch erfunden, für die nächtliche Unterhaltung. Am Morgen schreibt sie sie in ihr Nachtbuch, dass niemand zu lesen bekommt, auch nicht ihre Tochter. Im Moment erklärt sie sich, warum alte Menschen keine Tiere mehr halten sollten. Sie begründet das, weil ihr Mitgefühl nicht mehr intakt ist. Diese These will sie gerade mit Beispielen untermauern, da fällt ihr ein, wie sehr sie sich immer ein Nerztierchen gewünscht hat, das sich anschmiegt wie ein Nerzkrägelchen, das den Körper hinauf, hinunter trippelt, Massagetierchen. Doch dessen kalte Augen verleideten ihr den Wunsch, unterbricht sie ihre Nachtgedanken.
***
In der Zwischenzeit sind die Männer in ihre Küchen zurückgekehrt, um den Trank zu erneuern. Walé fragt, ob Wiktor jemals an Rosmarie gezweifelt habe.
„Was meinst du damit?“
„Hattest du nie den Verdacht, dass sie dich betrogen hat?“
„Da ich bei meiner Frau lebte, hatte ich kein Recht, von ihr Treue zu verlangen“.
„Du hast nie von mir gehört?“
„Nein, nicht bis heute Abend.“
„Wie ich. Verrückt, oder?“
„Völlig verrückt!“
Eine kleine Stille, in der sich Wiktor an den klobigen, schweren Eichentisch gesetzt hat, mit nachdenklicher Miene in der Antipasti nascht, das Besteckgeklapper Walé fragen lässt, was er tue.
„Ich esse ein bisschen.“
„Gute Idee, dann hol ich mir Käse und wir essen zusammen.“
Beide richten sich eine Nachtvesper auf Tabletts, um sie hinaustragen zu können, denn in den Wohnungen ist es noch allweil zu hitzig. Ein kleines Amüsement erlaubt sich Wiktor, indem er sein Tun für Wiktor kommentiert.
„Ich telefoniere nach Mitternacht, mit dem Ex Geliebten meiner Frau, der noch dazu genauso aussieht wie ich. Trage ein Tablett mit Vorspeisen und Bier auf die Terrasse, um mich auf eine längere Nacht vorzubereiten, in der wahrscheinlich die unwahrscheinlichsten Dinge zu Tage treten werden!“
„Und ich tue es dir gleich, hi, hi….“
Als Wiktor nun durch das Wohnzimmer auf die Terrassentür zugeht, sieht er Susy im Wandschatten kauern. Er stellt das Tablett ab, beugt sich zu ihr und sie schläft. Schlummert mit Schäfchen-Gesichtsausdruck, selig, drei geleerte Bierflaschen neben sich. Nimmt das Telefon vom Tablett, ruft nach Walé.
„Ja, was ist los? Du hörst dich an, als hättest du ein Gespenst gesehen!“
„Ich habe Susy gefunden.“
„Wieso, hattest du sie verloren?“
„Walé bitte, sie liegt betrunken hier im Flur, hinter der Terrassentür“.
„Betrunken?“
„Oder besoffen, wie du willst“.
„Wie kommt sie denn dahin, ich dachte du hast sie ins Bett gebracht“.
„Sie hat sich hinuntergeschlichen, denke ich, um uns zu belauschen und darüber ist sie eingeschlafen“.
„Trinkt sie regelmäßig?“
„Walé bitte, mach dich nicht lustig. Sie war ziemlich durcheinander, aufgedreht, nach unserem Treffen. Sie spielt zwar die Coole, trinkt ab und zu, um uns zu provozieren, wenn wir ihr zu bieder sind. Aber heute trank sie, um sich zu beruhigen“.
„Denkst du, sie hat alles mit angehört?“
„Zumindest wird sie wissen, dass du mit ihrer Mutter ein Verhältnis hattest“.
„Verhältnis klingt blöde.“
„Dein Wort.“
„Weißt du, ich habe es gemocht, mit Rosmarie zusammen zu sein. Sie war so eine andere Frau für mich. Es war so neu für mich mit ihr. Ich war nicht verliebt in sie, denn ich spürte, dass sie das auch nicht in mich war. Ich wollte mich emotional nicht mehr auf jemanden einlassen… aber es war toll, wie sie auf mich einging, wie begierig sie darauf war, mich zu lehren…“
„…um dich, mich mehr und mehr anzugleichen“.
„Ja, wie wir jetzt wissen“.
„Was wohl Susy darüber denkt?“
„Oh, sie wird morgen, oder besser gesagt heute, damit rausrücken. Hundertprozentig!“.
„Wiktor, du solltest sie wieder zu Bett bringen, bevor Rosmarie sie so zu Gesicht bekommt“.
„Die ist bei ihrer Mutter, wie du weißt.“
„Sie könnte nachhause kommen.“
„Nein, nein, sie wird erst kommen, wenn sie weiß, dass niemand im Haus ist. Wenn Susy in der Schule ist, ich beim Schwimmen bin.“
„Sollen wir es gut sein lassen für heute, Wiktor“.
„Was meinst du damit?“
Wir können morgen weiter reden“.
„Es ist bereits Morgen“.
„Bring sie ins Bett, Wiktor, und rufe mich wieder an, wenn du Lust hast, ok“.
„Ja, sehr“.
Wiktor besieht sich sein Mädchen, wie es behutsam grinst und schnarchelt im Alkoholschlaf, ausgezeichnet zufrieden aussieht. Er schiebt ihr seine Arme bis zu den Ellenbogen unter ihre Achseln, umarmt sie so, lädt das Kindermädchen über die Schulter. Sie schlenkert in ihrer Länge, ihm vorne und hinten hinab, wie eine schnurlose Marionette. Er schafft es sich aufzurichten, schleppt die Schlafseufzende hinauf in ihr Zimmer, lädt sie sanft in ihr Bett ab, lässt sich schwer schnaufend neben sie fallen, wird augenblicklich von ihr umarmt, umklammert. Außer Atem in fester Umarmung hat er nun Zeit, sich des Erlebten auszusetzen.
Bloß ein paar lächerliche Stunden, und sein Leben ist unglaublich, völlig durch einander. Susy grunzt wonniglich, dreht sich ab, lässt so Wiktor aus der Umklammerung. Der bleibt liegen, denkt, was er im selben Moment bedauert, ob seine Tochter seine Tochter ist - oder ist sie das Kind von Walé? Ähnlich ist sie keinem von beiden, sie kommt aus der Sophienecke, ihrer Großmutter. „Ehrlich gesagt“ denkt Wiktor, würde er am liebsten hier liegen bleiben, tief schlafen, irgendwann erwachen und alles wäre ein simpler Traum. Gleichzeitig verspürt er den Wunsch, nochmals mit Walé zu sprechen, der vielleicht auf seinen Anruf wartet. Als er die Stufen hinunter steigt in das Wohnzimmer, kommt er in Versuchung seine Stimmung mit Musik zu untermalen. Er tut dies auch. Die lyrischen Pianostücke von Grieg und das zärtliche Klaviergetupfe begleitet ihn hinaus in den Garten. Er wählt Walés Nummer.
„Wiktor?“
„Ja Walé“.
„Hast du sie ins Bett gekriegt?“
„Erwacht?“
„Nein“
„So schade, dass du nicht hier sein kannst“.
„Wieso?“
„Ich würde dich gerne sehen, dir gegenüber sitzen“.
„Nimm einen Spiegel“, albert Wiktor, fühlt sich geschmeichelt.
„Das ist nicht das Gleiche. Wir sind uns vielleicht nur äußerlich ähnlich. Übrigens sind das die lyrischen Stücke von Grieg im Hintergrund“.
„Wir kennen dieselbe Musik!“
„Wir kennen die gleiche Frau!“
Wiktor geht die kleine, abschüssige Wiese hinunter, fragt, wann er Rosmarie kennengelernt habe. Walé, der seit einiger Zeit zusieht, wie sich graue, samtige Nachtfalter in die Flamme der Fackel stürzen, die auf dem Balkon flackert, erzählt so gut er die Daten in sich trägt. Wiktor genießt das kühle, feuchte Gras unter seinen Füßen, bleibt am Ufer des selbst angelegten Teichs stehen, sieht das Spiegelbild der Nacht darin und erzählt nun seinerseits die Begegnung mit Rosmarie. So finden sie allmählich heraus, wie und was, weshalb und warum.
„Warst du blitzverliebt in sie?“
„Nein, erst auf den dritten, vierten Blitz. Wir waren allein da unten in Afrika, obgleich der vielen Menschen um uns. Man ist emotionalisiert, weißt du, sucht gleichgesinnten Kontakt, den wir langsam schlossen.“
„Du warst nicht so richtig verliebt in Rosmarie, hm?“
„Wie kommst du denn da drauf?“
„Du warst so, so gleichgültig mit ihr heute Abend“.
„Gleichgültig ist nicht richtig. Vorsichtig ist besser“.
Walé hat seine Beine hoch gelegt, betrachtet sie skeptisch, fragt Wiktor, der auf eine weitere Erklärung wartet, ob er auch zu dünne Beine habe. Ein wenig verwirrt, ob des neuen Themas antwortet er.
„Was meinst du, mit zu dünn?“
„Zu dünn, um schön zu sein!“
„Ich hatte immer schlanke Beine, mit kleinen Füßen, fand sie nie hässlich“.
„Hässlich meine ich nicht, ich finde nur, dass sie nicht mehr zu meiner übrigen Korpulenz passen.“
„Was für ein unappetitliches Wort. Ich sage mopsig, oder mollig. Und weißt du was? Lieber dünne Beine als zu dicke. Dicke Beine bei Männer sind grässlich!“
„Ganz meiner Meinung, Wiktor. Bei Frauen allerdings mag ich die dicken, besser gesagt, die kräftigen“.
„Rosmarie hat kräftige!“
Und nun schwärmt Walé von Freni, die noch kräftigere Beine hat, Beine wie gedrechselte Säulen. Freni war bis zu den Hüften schlank, fast dünn. Eine Taille, die man wirklich mit zwei Händen umspannen konnte, mündete in ausladende Hüften, getragen von langen, sehr stämmigen Beinen, die auf großen, wohl geformten Füßen standen. Walé hat diese Schilderung wie ein Gedicht vorgetragen.
Sie sind beide in einem Stadium angelangt, indem der Alkohol geschwätzig macht. Wenn Männer gemütlich angetrunken sind, dann tratschen sie, kommen ins wehleidige Schwärmen, Emotionieren, verraten Geheimnisse. Neugierig geworden will Wiktor wissen, was es mit Freni auf sich und Walé erzählt, spricht und redet sich in Schwelgerei, in Schmerz, Rührung in der Stimme, Tränenschwemme, Nase hochziehen und Ach und Weh und Freni. Wiktor ist still, ergriffen, Walé ebenfalls und sie genießen das Schweigen der Verbundenheit. Erst ein aufmunterndes Räuspern seitens Wiktors lässt Walé fort sprechen, dass Freni seine einzige, ehrliche Liebe.
„Sie war Geliebte, Freundin…“
„… Mutter, Schwester und Hure“, unterbricht Wiktor.
„Woher weißt du es?“
„Alle Männer hätten es am liebsten, wenn die Frau alle Rollen besetzen könnten!“
„Wer sagt das?“ fragt Walé, ein wenig gebremst in seiner Schwelgerei.
„Rosmarie sagt das“.
„Ach was“.
„Ja sie sagt, dass Männer sich nur über Frauen identifizieren können!“
Mit diesem Satz hat Wiktor sich erhoben, geht den Weg in die Küche, wartet auf Walés Reaktion, die auf sich warten lässt. So sagt er, dass er keinen Wein mehr trinken kann, er nach einem kalten Bier lechzt, in dieser heißen Nacht. Walé ist im selben Moment auf dem gleichen Weg, er schmunzelt angenehm berührt, denn auch ihn verlangt es nach kühlem Bier. So stehen beide vor ihrem Kühlschrank und jeder sagt dem anderen, dass er auf sein Wohl trinke.
„Auf dein Wohl Wal“.
Auf das deine, mein Wiktor“.
„Mit rülpsen“ will Walé wissen.
„Na klar“ bestätigt Wiktor.
Sie setzen die Flaschen an den Mund, lassen das Bier in die Kehle laufen, indem sie den Kopf soweit in den Nacken drücken, dass der Flaschenhals mit der Speiseröhre eine Linie bildet. Ein Kohlesäurekickser beim Absetzen und nun folgt ein langgezogener, heiserer Rülpser, ähnlich dem Brunftgebrüll eines Hirsches, was die Männer in einen Freudentaumel ausbrechen lässt, zumindest lachen sie dem entsprechend.
„Wenn das Rosmarie hören würde“ frohlockt Wiktor. Walé erinnert sich an die unzähligen, läppischen Querelen mit Rosmarie, in denen es auch darum ging, den anderen einigermaßen zu verletzen. Das gelang ihm mühelos mit einem Rülpser. Wiktor ist ausgezeichnet gut gelaunt, wünscht sich, dass dies Gespräch nie endet. Ist erstaunt über seine freudige Offenheit, überrascht von dem lebhaften, ungewohnten Gespräch mit einem Mann. Ein freundschaftliches Gespräch, fällt ihm dazu noch ein. Er hatte nie einen Freund, obwohl er sich zeitlebens danach gesehnt habe, zumindest so gesehnt, wie nach der Liebe einer Frau. Von Rosmarie abgelenkt, hat dieser Wunsch in ihm geruht, doch nun erwachte er wieder und er ist in aufgeregter Vergnüglichkeit. Ein trockener Stotterrülpser aus Walé entzückt ihn derart, dass er ganz freudig verrät, was Susy ihm zugesteckt.
„Du hast Rosmarie, Rosmarin genannt“.
„Woher weißt du das?“
„Von Susy“.
„Von wem weiß sie es?“
„Du hast Rosmarie heute Abend so begrüßt, sagte Susy.“
„Ich habe sie mit Rosmarin begrüßt?“
„Ja!“
„Gott, muss ich überrascht gewesen sein!“
„Unglaublich, wirklich unglaublich,“ stöhnt Wiktor.
„Wie, was?“
„Es ist unglaublich, dass ich all die Jahre nicht darauf gekommen bin, sie Rosmarin zu benennen. Rosmarin dieses herbe, dennoch köstliche Gewürz.“
„Wiktor bitte, du wärst auch nicht auf die Idee gekommen, mich Valentinol zu nennen.“
„Sie hat dich Valentinol geheißen.“
„Manchmal, meinte sie, dass ich eine Art von Medizin sei, die ihre momentane Erleichterung verschaffen würde.“
„Walé!“
„Hm“.
„Sie hat mich Fiktorin genannt“.
„Nein!“
„Doch!“
Daraufhin trinken sie, rülpsen großartig. Walé fühlt sich unbeschwert wie lange nicht. Wiktor ist begeistert von ihrem Männer Gespräch und sagt dies auch Walé, und der entgegnet, nachdem er einen andächtigen Schluck genommen hat, dass es den Anschein habe, dass sie sich gut verstünden.
„Jawohl wir verstehen uns sehr gut“, bestätigt Wiktor in ernstem Ton.
„Weil wir betrunken?“
„Nein, weil wir seelenverwandt.“
„Wie kommst du auf die Idee, Wik?“
„Das ist doch keine Idee, Wal, das ist vorbestimmt. Warum sollen sich zwei Männer so ähnlich sein?“
„Rosmarie hat uns ähnlich gemacht“.
„Verstehe ich nicht“.
Beide öffnen ein weiteres Bier, beide begeben sich wieder ins Freie. Walé auf seinen Balkon. Es ist inzwischen still geworden in der Stadt, ab und an quengelt eine Polizei- oder Notarztsirene durch die Straßen. Wiktor bummelt hinunter zum Teich, pinkelt genüsslich in das Wasser, während Walé am Telefon erzählt.
„Als sie mich kennen lernte, begann sie sogleich meinen Typ zu verändern. Ich hatte damals relativ langes Haar, um von meinen Geheimratsecken abzulenken und einen Schnauzbart. Den Bart redete sie mir schon nach ein paar Tagen aus und nach einem Monat schleppte sie eine Haarschneidemaschine an, redete solange auf mich ein, bis ich einwilligte, sodass sie mir die Haare zu einem Stupfelschnitt kürzte. Damals trug ich ausschließlich, Jeans, T-Shirt, Tweed Sakko, Tennisschuhe. Eines Tages, ich denke es war so im zweiten Monat, brachte mir Rosmarie eine ganze Kollektion von Klamotten mit. Polohemden, V-Ausschnitt Pullover, Cord- und Leinenhosen und Jacken, Hemdblousons, raffinierte Gürtel, Wildleder Clogs, Mokassin. Sie veranstaltete eine regelrechte Modenschau mit mir. Sie hatte so viel Spaß und Freude an meiner Veränderung, dass es mir anfing selbst zu gefallen.
Es gab keine Hausmannskost mehr in meinen „neuen“ Leben und ich hatte nichts gegen chinesisches, italienisches Essen. Ich begann sogar Wein zu trinken, obwohl ich davon Sodbrennen bekam.
Während es aus Walé nur so heraus sprudelt, da er sich immer mehr bewusst wurde, was damals vor sich ging, sinkt Wiktor in sich zusammen, große Ernsthaftigkeit in seinem kleinen Gesicht. So unglaubwürdig wie ihr Zusammentreffen an sich schon war, findet er auch Walés Schilderungen. Ganz langsam begreift er, dass Rosmarie sich da ein Double herangezogen hatte, das ich ersetzen sollte, ihn ersetzt hat. Wiktor wandelt durch den Garten, hie und da verweilend, wie im Augenblick als Walé ihm eröffnet, dass Rosmarie ihn mehr oder weniger in die Klassische Musik eingeweiht.
„Hast du denn bis dahin keine gehört?“
„Chopin, Mozart ein bisschen, tra, la, la… Bach, Beethoven, Brahms, Busoni, das A B C der Musik rauf und runter hat sie gelehrt. Sie hat mich in meinem neuen Outfit in Konzerte geschleift, danach gingen wir toskanisch Essen und sie redete, dozierte und mir gefiel das irgendwie. Denn noch niemand hatte sich bisher so intensiv um mich bemüht. Sie deckte mich mit CDs ein, immer mal wieder brachte sie einen Druck, eine Grafik, schmückte meine karge Wohnung mit ihrer Kunst, die alsbald die meine wurde. Ich lernte Bildhauer kennen, deren Namen ich bis dato noch nie vernommen hatte. Rosmarie war ganz vernarrt in…“
„Giacometti“, weiß Wiktor, den es ein wenig überraschte, dass Walé vor Rosmarie so unbedarft gewesen war. Aber nun kennt und mag er all dies, an dem sich Wiktor selbst erfreut und in dieser Übereinstimmung, lässt sich gut kommunizieren, findet er. All dies, was er einst Rosmarie gelehrt, lehrt sie Walé, um ihn anzugleichen. „Unglaublich“, staunt er erneut über Rosmaries Vehemenz, die sie aufbrachte um aus Walé, Wiktor zu formen. Er druckst herum, fragt schließlich Walé, wie lange er denn mit Rosmarie zusammen sei. Spontan weiß der, dass es ziemlich genau ein halbes Jahr war, worauf Wiktor zu der Erkenntnis gelangt, dass Rosmarie sofort nach ihrer Rückkehr aus Afrika nach einem Ebenbild suchte, während er, mit seiner Frau den Neuanfang versuchte.
Beide verspüren eine gemütliche Schläfrigkeit. Das Gespräch schleppt, dehnt sich durch viele kleine Pausen, was sie nicht stört. Wiktor bummelt zum Haus zurück und will wissen, wie er und Rosmarie sich getrennt haben. Walé lehnt an der Balkonmauer, spürt die aufgestaute Hitze in ihr, blickt hinauf in das Stück Himmel, das die Stadt ihn sehen lässt, fragt Wiktor, ob er auch den Rest des Mondes sehen kann. „Ein silbernes Wimpernhaar, zart empfindlich im Himmelsauge.“ Wiktor, der wieder Platz genommen hat, findet Walés Vergleich sehr lyrisch, dennoch besteht er auf einer Antwort seiner Frage.
„Wir hatten unsere Wohnungen behalten, darauf bestand sie. Keiner übernachtete jemals beim anderen, auch wenn es noch so spät oder schon früh. Geschlafen wurde getrennt. Ich sah sie nie aufwachen, geschweige denn, dass wir zusammen frühstückten. Als ich sie eines Vormittags anrief, um zu bereden, wann wir uns sehen, da sagte sie mir knallhart, dass wir uns nie mehr sehen werden. Zack aus! Grob setzte sie noch hinzu, dass ich ja nicht versuchen sollte ihr aufzulauern. Aufzulauern! Das war’s. Die Trennung. Von einer Minute zur andern!“
„Sie hat nicht mehr mit dir darüber gesprochen?“
„Sie hat überhaupt nicht mehr mit mir gesprochen!“
„Und gesehen?“
„Zufällig, alle paar Jahre, für Sekunden. Ein Hallo und vorüber.“
Wiktor ist es wunderlich, mit welch gleichgültiger Stimme Walé berichtet. Er selbst ist erschüttert: Mit welch berechnender Brutalität sie vorgegangen ist, um ihn mit zärtlichster Innigkeit auf zu nehmen, als wäre nichts geschehen. Sie beküsste, bestreichelte ihn den ganzen Tag, wollte auf keinen Fall etwas von Wiktors Trennung hören, die er vollzogen. Sie tat, als wäre keine Zeit vergangen, sie tat als wären sie nie auseinander. Sie holte ihn ins Bett, als wäre nie etwas geschehen und zwei Monate später, betranken sie sich herzlich, als Rosmarie gestand, das sie in guter Hoffnung war. Für sie war die Rückkehr von Wiktor so selbstverständlich, dass der sich ohne großes Bedenken einfügte, anpasste, froh darüber war, dass alles so glimpflich von statten gegangen war.
Aus dem Telefonhörer lässt sich ruhiges, gleichmäßiges Atmen vernehmen und Wiktor fragt:
„Walé bist du eingeschlafen?“
„Nein, aber in einer Minute wäre ich es.“
„Weißt du noch das Datum, als ihr euch getrennt.“
„Es war genau am 17. Juli, denn am 17. Juli hat Freni Geburtstag und ich verbrachte die Trennungsüberraschung in ihren Armen“.
„Ihr habt euch cool getrennt, hm.“
„So wie du dich von deiner Frau, hm.“
„Oh Walé, was weißt du, was das für ein ungeheures halbes Jahr. Nach der Rückkehr, vorsichtiger Frohsinn, Begehrlichkeiten, ehrliche Zuneigung und Aufrichtigkeit, der Wunsch nach Fortsetzung der Ehe. Die unauslöschlichen Gedanken an Rosmarie, die schwindenden Gefühle für meine Frau. Die endlosen Lügen. Dann, endlich das Geständnis des Verhältnisses zu Rosmarie. Die Tränen, die Enttäuschung, die Wut, die Trauer, die Eifersuchtsausbrüche, neue Lügen, neue Mitleidsvereinigung, Selbsthass, Sehnsucht, zerstörerische Diskussionen, handgreifliche Streitereien und endlich der Rauswurf. Die so selbstverständliche Aufnahme von Rosmarie, die hingebungsvolle Liebe an den zurückgekehrten Geliebten.“
Walé ist betroffen, gänsehäutig, wegen Wiktors Beziehungsdrama, das er herunter betete, im geraden Tonfall, als hätte er es auswendig gelernt. Ihn fröstelt, ob der so nachvollziehbaren Dramatik, obwohl er immer noch an der mit Hitze aufgeladenen Wand lehnt.
Wiktor ist erleichtert, dass er seine Erklärungsrede so reibungslos hervorgebracht hat. Wie viele Nächte formulierte er sie für sich selbst. Nun gab er sein Debüt für Walé. Als der nicht darauf eingeht, fragt er ihn, ob er mit Freni zusammen war, was Walé verneint, lakonisch mitteilt, dass sie in geschlechtlicher Partnerschaft, einem Bummsverhältnis, lebten, schließt er ab.
Sie befinden sich in einer, lautlosen, trockenen Pause. Wenn sie sich jetzt sehen könnten, würden sie schmunzeln, wie ähnlich versunken sie mit gesenkten Köpfen vor sich hin starren.
Walé hat für sich beschlossen, die Nacht zu beenden, teilt dies Wiktor mit und nachdem sie entschieden, gleichzeitig das Telefon auszuschalten, tun sie dies.
Wiktor fühlt sich erschöpft, denkt auch, wie sich sein Leben von einer Stunde auf die andere völlig verändert. Warum hat sie das mit Walé getan? Warum konnte sie nicht warten? Warum sogleich ein Ersatzmann? Warum, warum? Was soll die Grübelei, denkt er, doch dass er mit ihr reden muss, um alles zu erfahren, zu verstehen. Was er auch noch nicht versteht, ist die in so kurzer Zeit entstandene Sympathie, Zuneigung, das Vertrauen in Walé. Er kann es immer noch nicht begreifen, dass Rosmarie tatsächlich Walé so umgemodelt, dass er wie er Wiktor wurde. Selbst die Namen beginnen gleich und dann erst, Victorin und Valentinol. „Unglaublich, unglaublich, un-glaub-lich!“ Er muss grinsen wegen der Rezepte von Rosmarie, muss lächeln, wenn er den Namen Walé her sagt.
„Walé, wie weich. Walé, wie der Beginn eines Liedes. Walé, so vertraut.“
Löscht die Lichter, geht leicht wackelig hinauf, zu Susys Zimmer, rückt sie zurecht, die quer über dem Bett lag. Besieht sich das Kind und ganz langsam fragen ihn seine Gedanken wieder, ob es sein Kind oder ob Walé nicht ihr Vater sei. Zeitlich würde dies ziemlich genau hinkommen, doch es ist ihm Moment egal, wer es ist. Wie süß sie ist, wenn sie da liegt und schläft, in kleiner Schnarcherei. Er behaucht sie mit Küsschen, worauf Susy einen langen singenden Seufzer ausstößt, sich igelig einrollt.
Obwohl Wiktor weiß, dass er nicht schlafen kann, knipst er die Lampe aus, legt sich neben Susy, sieht durch das Fenster den feinen Mondschnipsel im verschwärzten Himmel, erinnert sich, dass Walé ihn mit einer silbernen Wimper verglichen hatte. Ob der noch auf seinem Balkon sitzt, denkt er, schließt die Augen, um ihn sich vor zu stellen.
***
Walé, sitzt auf seinem Balkon. Sternenklar ist noch die Nacht, er wünscht sich eine Sternschnuppe, um sich etwas wünschen zu können, rätselt allerdings, was er sich wünschen könnte, wenn eine auftauchen würde. Doch sich vorher etwas auszudenken, gilt nicht. Der Wusch muss spontan kommen.
Er spürt die aufkommende Kühle des nahen Morgens, geht durch die Wohnung, öffnet die Fenster. Und als er das zur Ziegelwand öffnet, da begreift er plötzlich, dass sich schon ein Wunsch erfüllt hat, ohne dass er sich ihn sich wünschte. Es war nicht sein Wunsch einen Zwilling zu haben, aber jetzt da er ihn hat, scheint es für ihn, als hätte sich da ein Wunsch erfüllt, den er gar nicht erdacht hatte. Als er über die angesetzte Bierflasche in den Himmel blickt, witscht ein Meteor mit gleisendem Schweif durch den Sichelbogen des Mondes und Walé denkt: „Zu spät, hat sich schon erfüllt!“