Читать книгу Am Rande der See - Hans Leip - Страница 7
Der tote Matrose
ОглавлениеEs war um die Zeit, da ich etwas später die Mieke von Teerstickens Hof kennenlernte. Öllrich, Leuchtturmwächter zu Neuwerk, sagte, sie sei nicht normal. Der Himmel verzeih mir, wenn ich das Ganze ein wenig anders ansehe.
Die Inselbauern fuhren nach jener Sturmnacht, da sie der Bark, die abends auf Scharhörnriff aufgelaufen war, nicht hatten helfen können, eilends hinüber, sobald es die Ebbe erlaubte. Sie fuhren mit ihren hochrädrigen Wagen über das Watt, wie sie es seit alters her zu tun pflegen, um von den Trümmern zu stranden, was möglich ist. Denn es ist ihr gutes Recht, zu nehmen, was das Meer ihnen zuwirft. Aber, wie Öllrich gleich sagte, der vom Turm im ersten Taggrau ausgelugt hatte, das Wrack war schon bis auf die Mastspitze im Treibsand versackt. Und Rose, der Wirt des Hotels zur Meereswoge, des einzigen auf der Insel, hatte die ganzen zwei Stunden ärgerliche Vermutungen ausgestoßen, ehe wir da waren. Dadurch hatte er mich, der neben ihm auf dem Kutschbock saß, in meinem Genuß der Landschaft gestört, weswegen ich ihm gönnte, daß er recht habe, obwohl ich keinen trefflicheren Menschen als ihn kenne. Ich war damals jedoch noch jung, romantisch und unerfahren.
Wir gingen durch den knisternden Sand gleich auf die Baake, die ungeheuerlich in den Tag ragte, denn sie ist das größte Seezeichen Deutschlands. Wir stiegen mit dem Gemeindevorsteher hinauf, dessen Pflicht es ist, weil sich dort hoch im Gebälk eine kleine Hütte für Schiffbrüchige befindet. Jedoch Zwieback, Decken und Wasserkessel waren unberührt, und es gab für Rose keine Gäste zu begrüßen. Somit kletterten wir denn wieder zu den Wagen hinunter. Rose ließ seinen vierschrötigen Blick noch einmal über die endlose Sandwüste gleiten, die gerillt ist vom ewigen Wind. Fern am Westsaum stand der Gischt wie eine atmende Mauer. Die hochbeinigen Wattwagen bewegten sich spinneklein in der Weite umher. Rose schüttelte verächtlich den Kopf und schnalzte seinen Pferden zu, die ohne weiteres die Richtung gegen den Neuwerker Turm nahmen. Aber auf einmal steckte er die Nase höher und lenkte wieder den Sand hinauf, auf eine Stelle zuhaltend, wo ein paar Möwen sich über der Kimmung balgten. Wir hörten auch bald die Brandung, und als wir über die Düne waren, sahen wir etwas Dunkles, und wir fanden da eine angespülte Leiche. Es war ein Matrose, der wohl in der Nacht ertrunken war. Mir zitterte das Herz, als wir zu ihm traten. Er lag mit entblößten Zähnen da, gleichsam ein verzweifeltes Gelächter verbeißend. Die Möwen und Fische hatten schon ihr Teil von ihm genommen, und seine leeren Augenhöhlen standen voll Salzschaum. Rose sah ihm die Taschen nach und nahm an sich, was er hatte, eine Brieftasche, einige Münzen, einen Ring.
„Ein armer Teufel, es ist Glas!“ sagte Rose. „Und dazu ein Engelsmann.“
Dann luden wir ihn auf den Wagen und fuhren davon, denn außer ihm schien keiner mehr da zu sein. Ich wandte voll Grausen meinen Blick über ihn hin, wie er so dalag und vom Wagen ein wenig gerüttelt wurde. Über ihm leuchtete das Meer, und auf dem unbewegten Horizont glitten viele Dampfer dahin. Ich sah es wohl, wie sich der Sand heimtückisch bis an die Fahrrinne der Welt schiebt, gierig mahlend und scharrend, ein Horn und ein Schlund zugleich. Scharhörnriff.
„Nichts für ungut, wenn’s ein bißchen pumpelt!“ sagte Rose, und er meinte den toten Matrosen. Wir schlugen ein gutes Tempo ein, um den Luftzug hinter uns zu lassen. Rose war weit vergnügter als auf der Herfahrt. Er hat ein gutes Herz, dachte ich. Er bemerkte aber gleich darauf, daß sich eine Leichenbergung mehr lohne als das Suchen nach ein paar verrotteten Stengen, denn der Staat bezahle fünfundzwanzig Mark dafür.
Wir holten nunmehr den Wagen des Gemeindevorstehers ein, der auch auf die Wrackbeute verzichtet hatte, aber mehr aus Standesbewußtsein. Rose lieferte ihm richtig alles ab, was er bei dem Toten gefunden hatte. Wir hielten mitten im Watt, Deichsel an Deichsel. Nie sah ich die Muschelbänke ringsum so gelb im kobaltblauen Wasser. Der alte Seebauer entfaltete die Brieftasche mit seinen knotigen Fingern. Etwas Geld war darin und ein Brief das war alles.
„Schlecht zu lesen!“ sagte er nach geraumer Zeit und reichte das feuchte Papier an Rose.
„Wahrhaftigen Gottes!“ bestätigte Rose und reichte es mir.
Es war klar und deutlich geschrieben und unverwischt.
„Von einem Mädchen!“ sagte ich und kramte meine englischen Brocken im Gehirn zusammen. Sie war anscheinend irgendwo in Australien. Es war ein Liebesbrief, und sie schrieb, wie es üblich ist, sie würde ins Wasser gehen, wenn er nicht wiederkäme. Aber dahinter stand, Gott würde ihr den Weg schon zeigen, bis sie ihn fände in der See.
Ich sagte den beiden Männern, was da also stand, und wir sahen eine Weile stumm auf den toten Liebsten.
„Er hat mal gute Zähne!“ kaute der Gemeindevorsteher schließlich aus seiner alten Mundfalte heraus.
Im unendlichen Watt tauchten nun auch schon die Wagen der Nachbarn auf, und wir fuhren weiter.
Auf Neuwerk angekommen, hielten wir gleich vor dem kleinen Leichenhaus, in dem immer ein frischer Sarg bereitsteht für die Heimatlosen. Rose und der Gemeindevorsteher wollten sich nunmehr daran begeben, den Toten abzuladen, aber der Alte hält plötzlich inne und befragt mich noch einmal nach dem Inhalt des Briefes.
„Ne“, sagte er dann zu Rose, „sodenn fahr ihn man wieder zurück!“
„Und das Geld?“ entgegnete Rose.
„Steck ihm wieder bei!“ sagte der Alte und schob die armen Habseligkeiten auf Roses Kutschbock.
„Dunnerslag, den Bergelohn meine ich!“ knurrte Rose hoch.
„Er muß in der See bleiben, du hörst es doch!“ erwiderte der Alte. „Wo soll sie ihn sonst finden!“ Und er sagte dies eigentümlich aus seinem gebeugten Haupte hervor.
Andere Leute waren herzugekommen und beredeten die Sache und den Brief. Rose schrie wütend: „Er schwimmt ja oben!“
Aber man bedeutete ihm, es liege noch ein verrosteter Anker im Vorland, oder einige Steine würden es auch tun. Währenddessen lag der tote Matrose auf dem Wagen dabei; er grinste schaurig in den Himmel, und das Wasser tropfte von den Rädern. Schließlich gingen sie alle davon, und keiner wollte etwas mit der Sache zu tun haben. Rose stand allein da mit seinem Leichnam. Er verbat sich jede Handreichung von mir, wagte auch, wie ich wohl merkte, an meinen Englischkenntnissen zu zweifeln, weswegen ich es begrüßte, daß Öllrich, der Leuchtturmwächter, kam, da er gerade ausgeschlafen hatte, und Rose versprach ihm zehn Mark.
„Ich tu es“, wandte sich Öllrich an mich, wohl um sich vor einem einwandfreien Zeugen reinzuwaschen, „denn man soll immer gegen den Aberglauben angehn!“ Er sei vierzehn Jahre auf Segelschiffen gefahren, sein Sohn sei auch draußen, und er würde ebensowenig wegen einer lächerlichen Deern — hingegen, was er an diesem tue, das möge jemand, solle es so sein, auch an jenem tun.
Damit hoben sie den toten Matrosen herunter und trugen ihn hinein. Sie wagten aber doch nicht, ihn in den Sarg zu legen, sondern legten ihn auf die bloße Erde.
An dem Abend kam kein Mensch in die Wirtschaft, die sich Hotel zur Meereswoge nennt. Rose hatte gleich nachmittags die Habseligkeiten des Toten in ein Paket gepackt, denn er könne es so gut wie der Gemeindevorsteher, und er schickte seinen Knecht bei der zweiten Ebbe mit los, nach Duhnen auf die Post, an den Cuxhavener Amtmann, so unsinnig es zu der späten Stunde war. Der Knecht kam denn auch triefend mit triefenden Pferden lange vor der Zeit zurück, und der Priel habe sich geändert, und er sei bis an den Hals im Wasser gewesen.
„Und das Paket?“
Das Paket sei weg.
„Es ist nicht wegen der fünfundzwanzig Mark, sondern wegen der Albernheit!“ erklärte Rose, als es wieder still war. Und er täte nicht gern etwas umsonst, aber dieser Grog, der solle heute nichts kosten, denn er werde das Geld schon kriegen, schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Da tranken wir bis Mitternacht. Kein Laut war außer uns in der Welt. Und wir sprachen dies und das und redeten mit großer Stimme von sozusagen philosophischen Dingen.
Auf einmal klopft es ans Fenster. Rose erbleicht, steht schweigend auf, geht an die Tonbank, nimmt eine volle Flasche und schwankt hinaus.
Nun geht er dahin! dachte ich, und ich mußte laut auflachen, als er weg war. Er war wohl nicht mehr nüchtern, und mir deuchte, er habe mächtig komisch von hinten ausgesehen, so breit wie kurz, und hatte den Kopf eingezogen wie eine Schildkröte, und die Flasche hatte fast auf dem Boden nachgeschleift, so tief hingen seine Arme. Danach fiel mir der tote Matrose ein, von dem wir den ganzen Abend nicht geredet hatten; ach, das traurige Lied stieg mir im Sinn auf, das sie an der Hafenseite singen:
„Glori —, glori —, glori —, gloria,
Schön sind die Mädchen in Batavia!“
Doch war es nur der Kehrreim, denn es handelt von einem gestorbenen Seemann, und mir kamen die Tränen in die Augen, wenngleich ich nicht auf die anderen Worte kommen konnte. Da dachte ich auch wieder an sein Mädchen, das nun in die See gehen würde, ihren Liebsten zu suchen. Ja, ich betete heimlich, da niemand zugegen war, Gott möge gnädig mit ihr sein und mit seinem Finger die Wellen lenken, sie hinzuführen bis Scharhörnriff, und ich wollte Öllrich auch zehn Mark geben, damit er Tag und Nacht nicht das Fernglas von seinen Augen nehmen solle. Und wir würden sie auch begraben auf dem Heimatlosenfriedhof, neben ihrem Herzallerliebsten. Diese tröstliche Erleuchtung überströmte mich, und ich ging hinaus auf den Deich, um den Kleingläubigen, denen man das schlechte Gewissen sogar von hinten ansah, zuzusprechen: „Fürchtet euch nicht!“
Als ich gegen den Wind an die Stelle kam, wo der Grabenring unten liegt, der den kleinen, kreisrunden Friedhof umschließt, da sah ich in der Dunkelheit die beiden schon daherschwanken, unten am Deich, und sie trugen den Sarg auf ihren Schultern. Die Turmlaterne stand wie ein böses Auge hoch darüber. Ich hörte die Kibitze jammern, und Rose trug in der freien Hand die Flasche und ein Tau, während der Leuchtturmwärter die beiden Spaten hatte. Es geht ein kleiner Steg über den Graben auf den Friedhof. Wie nun die beiden mit dem Sarg auf den Steg kommen, da schreit Rose plötzlich dumpf auf, und sie halten an. Ich starre auf die Stelle hin, ich kann mich nicht rühren, so schaurig ist es. Vor dem Steg auf der anderen Seite, da steht eine Frau, und sie hebt die Hand und weist die beiden Männer mit dem Sarg zurück. Ich sehe, wie der Sarg schief auf den beiden Schultern steht; denn Rose ist etwas kleiner, und ich sehe, wie sich Öllrichs Bart vorsträubt; denn er hebt sich vom Grabenwasser ab, in welchem sich das Leuchtfeuer spiegelt. Und sie gehen keinen Schritt, sie stehen auf dem schmalen Steg, der über den Graben führt, und der Sarg schwankt hin und her. Eine unsinnige Angst erfaßt mich, er könne in den Graben stürzen, oder die von mir so schön erdachte göttliche Fügung könne anderweitig zunichte werden. Ich will hinunter, aber meine Füße sind wie Schlick, ich breche in die Knie, ich würge an meiner Kehle, es kommt kein Laut heraus, und dennoch schrei ich wie verrückt.
„Scharhörnriff!“ schrei ich und schrei es ihr zu. Mein Gesicht schlägt ins Gras.
Als ich wieder aufblicke, da standen die beiden Männer mitten auf der Friedhofskuppe, die so gewölbt ist von dem Gebein der Namenlosen die vielen Jahrhunderte lang. Sie schaufelten, daß die Spaten klirrten.
Es ist vom Grog! sagte ich mir, nahm mich zusammen und stieg den Deich hinab. Ohne Zögern ging ich über den Steg zu den beiden und half ihnen das Tau halten.
„Sie ist wohl wieder ’runter“, sagte Öllrich, „die Mieke stand nämlich vorhin da, die ist nicht ganz normal.“
„Und wir dachten erst, es wär seine Braut!“ lachte Rose, aber sein Lachen klang man dürftig, und er nahm den letzten Zug aus der Flasche; man sah ihm an, daß es kalt war die Nacht.
Ich aber schwieg, denn es hat keinen Sinn, zu deutlich zu zeigen, wenn man einen romantischen Gedanken gehabt hat. Somit war der Hügel bald gemacht, und er sah aus wie eine kleine helle Sandinsel auf dem dunklen Friedhof, und dieser war wieder eine Insel auf einer Insel, und diese lag mitten auf der runden Erde, die wiederum eine Insel ist in dem großen Himmelsmeer. Wir nahmen alle die Mützen ab, und da mir gerade in dem Augenblick der letzte Vers des Liedes einfiel, an dem ich die ganze Zeit herumgegrübelt hatte, so nahm ich die Gelegenheit wahr und sagte ihn auf:
„Ruhe sanft auf blauem Grunde,
Von den Wellen eingewiegt,
Deiner Mutter bring ich Kunde,
Wo ihr Sohn begraben liegt.“
Aber das Gloria ließ ich weg.