Читать книгу Am Rande der See - Hans Leip - Страница 8
Stiller Strandgarten
ОглавлениеFolgendes begab sich nach dem Ersten Weltkrieg, aber Ähnliches begibt sich immer wieder.
Es hatte bis zum Mittag geregnet. Der Himmel blieb noch eine Weile bedeckt, und niemand in der großen Stadt dachte daran, sich einem Spaziergang mit Traufe auszusetzen; somit war es sehr einsam diesen Nachmittag auf den Straßen hinter den Vororten und auf der Elbchaussee und die Hügel hinunter die Meile Strand entlang bis Blankenese. Selbst als die Sonne aus abziehenden ockerfarbenen Flören durch die hellgrünen Wipfelschleier zu fingern begann, belebte es sich kaum, denn der Mensch braucht Zeit zur Besinnung. Nur ein einziger Wagen rollte langsam von Ottensen her über das blanke Pflaster den Weg am hohen Ufer hin zwischen den alten Patriziergärten. Es war ein edler und großer Wagen, eine Dame saß am Volant, und sie war allein. Ihr Gesicht, als es durch die Scheibe sinnend über die tiefe Strombreite sich in die Ferne den rauchblauen, sanft schwingenden Graten der Lüneburger Heide zuwandte, war so jung nicht mehr, aber es war schmal und gut gezeichnet, bräunlich, großäugig und im Ausdruck von einer sonderbar kindlichen Erwartung. Er kam von weit her. Der Wagen trug nicht das HH der Stadt, die es eben durchfahren hatte, auch nicht das D Deutschlands, es war eine fremde Bezeichnung, in der sich selbst der greise Gärtner der Bülowschen Villa nicht auskannte, der gerade vorm Gartentor stand, und er hatte hier noch Wagen aus sozusagen aller Welt erlebt.
Eine Pforte weiter nun hielt der Wagen. Sollte es ein Käufer sein? dachte der weißhaarige Mann und strich über seine Joppe. Die Dame stieg zögernd heraus, sie tat es anmutig, aber sehr zaghaft. Sie war schlank, von angenehmer Größe und war in Schwarz, doch sommerlich gekleidet. Es ist eine vornehme Dame, sagte sich der Gärtner; denn seine Augen waren vom Horizonte der Elblandschaft die weiten Blicke gewöhnt, und als sie sich ein wenig scheu umsah, nahm er die Mütze ab, obschon es bis zur nächsten Tür an fünfzig Schritte sein mochte. Sie nickte zurück, ja eine gewisse Helligkeit flog über ihr Gesicht. Dann sah sie, daß die Gartenpforte rostig war und mit einem schmutzigen Bindfaden verschlossen, sah, daß der Kiesweg ungepflegt sich zum Haus hin in verwilderte Büsche verlor, und sah die leeren Fenster des Hauses, und daß es seit längerem ohne Anstrich geblieben war. Eine Weile stand sie reglos. Ihr Mund war keineswegs mehr kindlich, er war in Fröhlichkeit und Leid erfahren, er hatte unzweifelhaft Enttäuschungen hinter sich, und es schien, als wolle er sich vor einer unerwarteten, letzten und tiefen Enttäuschung mit einem heftigen Schlußstrich bewahren, so dünn preßten sich die Lippen zusammen.
Der alte Gärtner war einige Schritte herangekommen, ihm war nämlich, als müsse es so sein. Sie wollte ihm entgegengehen, um die Stimme nicht zu sehr erheben zu brauchen, aber ihre Füße waren erschrockener und trauriger als es ihr Herz zugab, sie kam nicht recht von der Stelle und blieb bei einem Schilde stehen, das über den Zaun ragte und besagte, das Haus sei nebst Garten und Wirtschaftsräumen zu verkaufen. „Dieser hochherrschaftliche Besitz ...“ stand da, und das Schild war schon ziemlich verwittert. „Es ist schon ’n paar Jahrende zu verkaufen!“ sagte der Gärtner. Er war nun heran.
„Heinrich!“ antwortete sie da mit gepreßter Kehle.
„Heinrich, das bin ich noch immer“, erwiderte er bescheiden und glücklich; denn es hatte lange keiner zu ihm gesagt: „Gnäi Frau waren wohl auch mal zu Besuch hier, ist ja nun aber tot, lange tot, Seine liebe Durchlaucht, unser Fürst Bülow. Ich muß ja noch immer ’n büschen aufpassen auf ’n Garten, damit wenn einer kömmt, es zu kaufen, allens in Schuß sein tut. Abers kömmt ja niemand. Slechte Zeiten. Oder wollen gnäi Frau etwa?“
„O nein! Ist denn dieses auch zu verkaufen?“
„Das da? Wo gnäi Frau ihr Wagen halten tut? Jahrende schon, sind ja zu slechte Zeiten, gnäi Frau. Kam doch der Herr Direktor immer noch mal vor, zu Fuß, ist nämlich ganz arm geworden, der Herr Direktor. ‚Heinrich‘, sagte er immer, ‚slechte Zeiten, abers wird wieder besser‘, sagte er. Nu is er auch gestorben, is an die drei Monate her.“
„Das war mein Bruder!“ sagte da die Dame mit leiser, verzweifelter Stimme: „Ich hörte es, er sei tot. Ich komme von Kuba; es dauert so lange, ehe man alles weiß; ich wußte ja nicht, wie schlimm manches hier aussieht bei euch in Deutschland.“
Der alte Gärtner verzog seinen verwitterten Schädel in drei Dutzend mißtrauische Falten, aber auf einmal sagte er freudig: „Die Farbe von Haar, das stimmt. Dann sind Sie, o ja, nu kenn ich Sie, gnäi Frau, nu sind Sie die Irmel, soo klein waren Sie damaligen. Und gingen in Internat und waren wohl auch später mal da und heirateten nach Übersee, und die alten Herrschaften starben beide im Süden, und der Sohn, der Herr Direktor, was der Bruder war von gnäi Frau, übernahm die Firma. Aber die slechten Zeiten, da ist nichts mehr mit dem Export, und ist eine arme Stadt geworden, die liebe Vaterstadt, un allens Schulden und Elend, da hilft kein Tünche und Hochbahn und Großartigkeit und große neue Schiffe, is nix dahinter!“
Sie schluckte eine Weile an Tränen. Dann verwies sie den Kleinmut. Es sei nur eine Übergangszeit. Und sie bat den alten Mann, die Gartenpforte aufzubinden; er nahm sein Messer mit zittrigen, knotigen Fingern, und durchschnitt das Band, vermeinend, es werde nun wohl bald ein richtiges Schloß wieder daran kommen, und er entschuldigte sich, daß drinnen im Garten alles verwahrlost sei, niemand wolle etwas daran wenden, und er könne ja auch nicht mehr recht, und sei es ja seines Amtes auch nicht für dieses Grundstück, und die Schlüssel für das Haus hätten die Makler.
„Ich will nicht in das Haus, nur ein bißchen durch den Garten“, erwiderte die Dame, und Heinrich solle nur wieder in den seinen gehen. Sie bedankte sich, sie lächelte sogar. Aufrecht und fest ging sie den sandigen Weg hinein, und hinter ihr sachte lehnte der Gärtner die wacklige Gartentür wieder an.
Sie ging eine Weile und kam um das Haus auf der Ostseite herum, die Fensterläden hingen schief herab, im Keller waren Scheiben zerschlagen, man sah die Küchenfliesen, das lustige Schachbrett, aber sie waren lange nicht gescheuert. Die Ilexbüsche auf dieser Seite waren üppig über den wuchernden Rasen geschossen, sie blühten in wilden gelben Dolden, der Duft war nicht heimatlich, er war schwül und bitter, roch nach Konfirmation und Beerdigung und nach Westindien, wo sie lange Jahre hatte leben müssen und das sie nicht liebte. Die Rhododendren hatten schon dicke Knospen, aber das war üppiger in den Tropen. Auf der kleinen Lichtung jedoch standen Löwenzahn golden im Gras und die kleinen Marmelblumen, und dann sah sie den Mandelbaum wieder, den sie gepflanzt hatte, als ihr letzter Milchzahn ausgefallen war, und der war darunter begraben worden; das Stämmchen war drei Hände hoch gewesen, mehr nicht und war nun höher als sie, strahlte seine Zweige nach allen Seiten gerade heraus wie ein mildes Feuerwerk, und stand voller seidiger rosa Blüten. Da begann sie zu weinen und ging weinend weiter und sah durch den Tränenschleier die Arabis wie eine weiße Brandung über die Terrasse schäumen, sah die Fetzen der einst weißrot gestreiften Sonnenmarkise im Winde winken, sah die steinernen Löwen, die einen Schnurrbart hatten wie Wilhelm II., der so oft nebenan zu Besuch gewesen und blickte wie durch Nebel hinab auf den Strom, wo weiße Segel in der Brise lagen starr wie Scherben alten Porzellans. Doch über ihr riefen Amseln in den lichten Gewölben der Bäume. Es säuselte im jungen Laube, der frühe Sommer duftete rings, und auch ein Duft von Wasser stieg die Wege herauf. Sie mußte daran denken, daß Gärtner Heinrich, wenn er ein Trinkgeld erhielt, immer zu sagen pflegte: Es hat einen guten Geruch.
Weiter und weiter ging sie umher in dieser zahmen nordischen Wildnis, in der keine Schlangen, keine giftigen Dornen zu fürchten waren. Der Park war groß, sie kam auf den Altan, der hoch überm Abhang in die perlmuttfarbene Luft ragte. Sie blickte ergriffen über das breite glitzernde Wasser, das Füllhorn der Hanse, die Fährstraße der Welt. Drüben die Sände, die flachen Inseln, die saftigen Marschniederungen, winzig auch Kirchtürme, Leuchttürme und Windmühlen und dann die Kuppen und Forsten der Heide, die in milchfarbenem Dunst zergingen. Aber auch Öltanks standen am jenseitigen Ufer, eine ganze Stadt von Öltanks war da aufgewachsen und die Hellinge und Krangerüste einer Werft. Als sie fortging, waren da noch Wiesen gewesen, Gräben und Schilfdickichte, darin ihr Vater Enten jagte und ihr Bruder und sie Urwald gespielt hatten. Sie hatte den richtigen Urwald kennengelernt und sehnte sich nach den kleinen Schilfwäldern zurück. Unter ihr stürzte sich das grünsilberne verwilderte Gewipfel aus Akazien, Weiden, Erlen und blühenden Birnbäumen schluchtig ins Stromtal hinab; der Strand leuchtete kuchengelb durch das frühzarte Blättergespinst. Blasse Wellen, schon rosafarben in der schrägen Sonne, kräuselten wie kindliche Lippen und hatten kleine weiße Zähne. Ach, da fiel ihr ein, wie oft sie als Kinder hier kleine Gesellschaften hatten geben dürfen zu Kuchen und zu Kakao; das liebliche unnütze Geschwätz, die fröhlichen Herzen, das süße Gelächter, die Augen blank wie die Sonnenfunken auf der Strombreite, das Getrappel der zieren Füße wegauf, wegab, die Huhu- und Nu-all-Rufe, die sich in den grünen Gründen verloren, es wisperte noch in ihren Ohren, es hing zwischen den jungen Zweigen, aufbewahrt in den silbernen Schellen dieser herben, kühlen, reinlichen Luft, gewiegt von den Westwinden, die von der Nordsee kommen und salzig auf der Zunge schmecken und Kraft in sich tragen wie Schwarzbrot und Holsteiner Vliesenwurst. Es waren aber mehr die salzigen Tränen, die sie schmeckte. Ein Verlangen stieg in ihr auf nach der Kühle der kleinen Wellen unten am Strand. Ihre Wangen brannten, sie lief die alten grasbewachsenen Schlängelsteige hinunter, sie hob ihr langes Kleid, damit es schneller ginge; es ging so leicht in dieser Luft, es war, als seien drei Jahrzehnte nicht gewesen. Sie kam an einer runden Grotte vorbei, da hatte eines Abends, als sie nach Glühwürmchen suchte, Betty, die gute dicke Köchin, mit Heinrich gesessen, und Heinrich war ein stattlicher Mann gewesen, der Trost und Kummer aller dienstbaren Mädchen der ganzen Nachbarschaft. Sie mußte lachen, es war zu komisch gewesen, sie hatte gesehen, wie die beiden sich küßten, nie vordem hatte sie dergleichen gesehen und hatte es alsbald ihrem Bruder erzählt und ihn gebeten, es ihr zu zeigen. Aber ihr Bruder hatte gesagt, das müsse er leider anderen überlassen. Und nun war er tot.
Der Zaun, der den Garten gegen den offenen Strand abschloß, war an vielen Stellen niedergebrochen, sie lief durch eine Lücke in den knirschenden Sand, sie ließ sich niederfallen; das belanglose Rauschen tat es ihr an, sie hatte großartigere Brandungen erlebt, den Atlantik und die Karibische See, aber dieses war das alte Kinderrauschen und der alte gute Windfächer, der ihre Augen trocken tupfte. Sie zog die Schuhe aus, die Strümpfe. Es war kein Mensch weit und breit, sie streifte die leichten Kleider ab, lief mit erhobenen Armen in die schmalen Wellen, sie lief nicht weit, es war kühl, ungewohnt kühl, aber es war gut. Sie drehte sich in der Sonne um sich selber und flüsterte: Liebe, liebe Sonne, da bin ich wieder! Und sie setzte ganz heimlich hinzu: Hab ich mich nicht gut gehalten trotz der schrecklichen Fremde? Nicht so sehr? War ich damals schöner? Das macht das Heimweh, liebe Sonne!
Ein großer Dampfer kam von Hamburg herab, rotweiß die Schornsteine. Musik, Musik an Bord. Sie bewegte ihre Hände wie weiße Taubenflügel: Nein, ich fahr noch nicht wieder mit, noch nicht, nein, noch nicht gleich! Sie begann wieder zu weinen, so wie sie war, bis an die Knie im Wasser. Dann schämte sie sich, das Schiff war nahe genug, sie sah die Offiziere hoch auf der Brücke, man würde auch sie sehen können, Gläser waren sicherlich auf sie gerichtet, sie flüchtete zu ihren Kleidern zurück; dem Himmel Dank, daß wenigstens die Passagiere schon beim Abendessen saßen. Und dem Himmel Dank, daß sie sich rasch wieder angezogen hatte. Der Gärtner Heinrich stuchelte den Weg herab; sie wurde nachträglich rot. Aber der alte große Mädchenjäger, das war Heinrich ja nicht mehr.
„Ich wollt nur gnäi Frau, wenn gnäi Frau gedenken das Haus zu kaufen, gnäi Frau mit Rat und Tat zur Seite stehn, wollt ich man sagen!“ Das war alles, was Heinrich wollte.
„Ich will es mir überlegen, Heinrich!“ entgegnete sie. Sie wollte nicht sentimental sein; man baute heute schöner und praktischer, keine unechten Rokokoschlösser mehr, sondern versenkbare Glaswände. Aber da oben in den Sälen war ihre Jugend gewesen. Sie stiegen langsam die lichten, verwucherten Hänge empor, sie sah nicht viel rechts und links. Von der Höhe nur warf sie einen Blick nach Westen, wo die große Schiffahrtsstraße dem glühenden Tor der Ferne zuschwingt. Bald würden die Nachtigallen schlagen. Sie wollte nicht daran denken. Sie brach ein Andenken von ihrem Mandelbäumchen, die Blüten kollerten herab, sie lächelte schmerzlich, aber dennoch nahm sie das kahle Zweiglein mit: „Ich werde es meinen Töchtern zeigen“, sagte sie. Doch dann schüttelte sie den Kopf: „Nein, die werden es nicht begreifen; ich werde es meinem Bruder aufs Grab legen, er hat mir beim Pflanzen geholfen. Ja, Heinrich, meine Töchter wollen nicht nach Deutschland, die wollen in Neuyork studieren, in ein paar Jahren sind sie soweit, so geht die Zeit dahin. Ich muß ja zurück. Und dann da unten die gräßlichen Öltanks und Werften! Früher waren da Wiesen. Leben Sie wohl, Heinrich!“
Sie wagte nicht mehr, das Haus ihrer Kindheit anzusehen, stieg in ihren Wagen und fuhr davon. Heinrich spürte eine Neigung, das, was sie in seinen alten Fingern gelassen hatte, an die Lippen zu drücken, aber indem er seine Rührung hochschnaubte, hielt er auf halbem Wege inne, murmelte: „Es hat einen guten Geruch!“ und steckte den Geldschein ein mitsamt der ganzen hübschen Vergangenheit.