Читать книгу Das Muschelhorn - Hans Leip - Страница 5

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Sebalda hatte ihren Sohn Lambert genannt, weil Imel einmal davon gesprochen, seiner Mutter sei der Name Lambert lieber gewesen. Sie waren miteinander auf dem Wege nach Bremen, Imel und sie, beide gut zu Pferde, es hatte geregnet, die Straße war durchweicht, sie konnten nur langsam voran, und es hatte sie gefroren, da hatte er seinen Mantel noch über ihren gehängt, und es war ihm dabei die Geschichte vom barmherzigen Samariter eingefallen, als wunderte er sich selber über seine Freundlichkeit, und hatte es dann mit der Geschichte von Lazarus verwechselt, und da hatte sie lachen müssen, worauf er erbost sich nach gewohnter Art aufs Kinn geschlagen und allgemein über die Unwichtigkeit von Namen gewettert hatte, um danach eben zu erwähnen, er habe um ein Haar auch so ähnlich wie Lazarus geheißen.

Nur gut, daß Dirik nichts von der Herkunft des Namens wußte. Denn das war es, warum Dirik nach der Geburt des Kindes immer ducknackiger umherging, als habe er seinen Vater nun erst richtig betrogen und wolle das Gesicht in Reue und Scham mehr und mehr zu Boden senken. Alle Bittkerzen und Stiftungen nützten nichts, sein Gewissen wurde immer dunkler. Und erst, als sein Vater gestorben war, wagte er, den Blick ein wenig zu heben, betrachtete das Kind aber immer noch von der Seite, sagte ihm auch kaum ein Wort, weder zart noch hart, und blieb auch schweigsam und scheu gegen Sebalda, als sei manches nicht mit natürlichen Dingen zugegangen.

Sebalda ahnte längst, daß seine Bedrücktheit weniger wegen seines Vaters sei. Und eines Tages stichelte sie so lange in seine brütende Schweigsamkeit, bis er plötzlich losbrach, und wenn es sie auch fast das Leben kostete und er sie zum erstenmal mit roher Faust schlug, so wußte sie von nun an um seine lächerliche Sorge. Er glaubte nämlich, das Kind sei nicht von ihm. Der Junge sah ihm nicht ähnlich, er sah mehr aus wie Ate, der jüngste Bruder Diriks, von zarten Gliedern, schmal mit gewölbter Stirn. Nur die wasserhellen Augen und die Ohren, unten und oben abstehend und in der Mitte anliegend, waren die der allgemeinen Abdenas, seine Haare aber waren schwarz wie die Sebaldas. Sebalda redete nicht gegen Diriks Verbohrtheit an. Sie war sich keines Fehltritts bewußt, aber der Gedanke, daß vielleicht auf geheimnisvolle Weise Imel der Vater Lamberts sei statt Dirik, schien ihr merkwürdig tröstlich und beschwichtigte die Vorwürfe, die in mancher Nacht mit Imels erstarrtem Gesicht vor ihrem Lager standen.

Auf den grauen Dielenbrettern lagen verstreut die Perlen ihres Rosenkranzes. Einige waren von Diriks Stiefeln zertreten, andere sahen wie Blutstropfen aus. Die Schnur hatte nicht gehalten, als ihre Hände sich hineingekrampft hatten. Nur das kleine schwarze Kreuz war in ihren Fingern geblieben.

Dirik schluckte längst mehr an seiner Lächerlichkeit als an seiner Wut, indes er noch immer tobend auf dem krachenden Speicherboden umherrannte. Und mitten in einer heftigen Bewegung seiner Fäuste, die über der starr hingesunkenen kleinen Gestalt an unsichtbaren Verhängnissen schüttelten, stand ihm jäh das Bild der ungeheuren indischen Kröten vor Augen, als sei er selber so ein Tier voll Honigmilch und mit goldenen Haaren und als sei plötzlich alles sinnig und langsam, so brüllend und ungewohnt wendig er auch umhertrampelte, und er wunderte sich so, daß ihm der Atem unterm Buckel stehenblieb und er halb erstickt sich umdrehte, gewiß, sich selber in sanftmütiger, wenn auch scheußlicher Gestalt mitten unter der Dachluke auf Wiesen voll fremdriechenden gelbgrünen Krautes weiden zu sehen. Er starrte in die qualmende Glasigkeit des breiten Sonnenbalkens, der von den wurmstichigen Dielen aus in den offenen Himmel aufzuragen schien, als sei gerade hier der Stützgrund und die Verankerung für die ewige Unendlichkeit, die sich lächelnd wölbte über allen Dächern und Kammern und was die Menschen an Kisten für ihre armen Bedürfnisse und Verkriechungen gezimmert hatten. Und in einer Kante des schrägen leuchtenden Strebepfeilers, der von dem aufgewühlten Staub neblig funkelte, als sei er aus dem gleichen Stoffe wie die Milchstraße, hing wie ein rostiger unvollkommener Mond das Muschelhorn. Es hing dort so prangend und begehrlich, sich zu ründen und überschwenglich zu gleißen, daß Diriks gewürgter Zorn und Atem sich hilfesuchend daran klammerten, daß er ganz wie ein Ertrinkender oder zu Boden Schlagender mit den Händen danach griff als dem nächsten Halt und es herunterriß von dem mürbe gewordenen Stück Hanffaden, den Sebalda vor Jahren einen Stock tiefer aus irgendeiner der lagernden Rollen Schiffstau herausgeziept hatte und es daran aufgehängt, und der so wenig hielt wie die Korallenschnur.

Nun hielt er das Stück wieder zwischen den groben Fingern, das schon jahrelang gänzlich unbeachtete Stück Überfluß, das auf einmal wieder das Wappentier Imels war und gefüllt und umrankt von aberwitzigen Erinnerungen und doch so nackt und geschunden, verräuchert und ergraut aus den leeren Höhlen aufstierte und ein krasser Hohn war, sonst nichts, ein höhnisches Grinsen über alles, was den Abdenas großartig erschienen war: Schloß und Getürme und die glänzenden Pferde und die Herden der schwarzweißen Rinder und die Ebenen blanken Saftgrases bis weit hinter die Kimm und die Horden der Knechte und Gepanzer und Geglitzer und der hohe Lärm der eigenen Werften und der eigenen Flotte und die breite Gewißheit, prächtig zu sein und immer noch prächtiger zu werden. Er vergaß die Geducktheit oder wollte nichts mehr davon wissen, in der die Söhne Imels ihr Lebtag umhergegangen, ihm war plötzlich alles herrlich und aufgerichtet, was ihm oder seinen Brüdern, ja, selbst seinen Schwestern in der Fülle der Wohlhabenheit zugeschwommen, in den Machtbereichen des Vaters, des Obersten der Seelande, des Königs über allen Deichen, dem die Oldenburger und Bremer und Hansen und Brabanter schon erwartungsvoll die Gasse geöffnet, darin er zu gewissem Purpur und Hermelin hinzuschreiten im Begriffe gestanden. Und dieses gerupfte Meeresgeschöpf nun war das Füllhorn alles dessen gewesen und gähnte nun so totenleer Zu ihm auf, so wehleidig nun, anklagend nun, daß ein gewisser Held und der hochmögendste aller freien Friesländer es je aus den Händen verschenkt und damit sein Glück in den Wind geworfen habe, und er, Dirik, habe es nicht gehindert. Oho, was grinste ihn da an unsinnigen Vorwürfen an? Er den Vater hindern? Eher hindert ein Lamm einen rasenden Hengst, darauf eine Reiterin nicht Sporn noch Peitsche schont, ihn noch rasender zu machen, ohne Ahnung, daß die Wolfsgruben schon bereitet sind vor ihrem Wege.

Die Reiterin, die schwarze Hexe, der das Muschelhorn von der schmächtigen Hüfte steil abschwang in ihrer jagenden Gier, das war Sebalda.

Er sah sich nicht um nach dem dürftigen Haufen Leid, das daraus geworden war und nun in der Bodenecke lag und vielleicht ausgetilgt sein mußte für immer. Für immer, Sebalda, die kleine Sebalda, die für allen Übermut Büßende. Es wühlte ein Bienenschwarm in Diriks hölzernem Schädel und tanzte aus und ein, von dem Sonnenbalken in seinen Kopf und zurück und quer durch das Muschelhorn, daß es summte und seufzte. Oder seufzte es hinter ihm? Die kleine klägliche Hexe war noch bei sich und damit bei ihm. Und der kleine Junge war nicht da, der hatte Schule bei den würdigen Herren, die ihm auch Plage genug gewesen, denn alle hatten zartere Finger als er und glattere Zungen und wußten von den albernen Dingen mehr, von denen Sebalda wußte und er nicht, und von denen Ate gewußt hatte, sein jüngster Bruder, der Spintisierer und Schwächling, dem der Vater mehr gegönnt hatte als ihnen allen betreffs der Hochmütigkeiten, die mit schwarzen Zeichen Bindung und Unfriede und unnötige Mitteilungen unter Menschen bringen. Und Sebalda war es gewesen, die Ate mit Bevorzugung bedacht und ihn dadurch dem Vater empfohlen, und den Vater — siedend stieg die schändliche blinde Eifersucht noch einmal in Dirik hoch — mit Ate betrog, und ihn, mit dem Toten noch! Keiner hatte die weiche Art gehabt unter allen Abdenas, nur Ate und nun der Junge, und es mußte mit Hexerei zugegangen sein, und die Pfaffen mochten dabei geholfen haben.

Aber plötzlich war Diriks große Anwandlung verraucht und quirlte davon in die Unwiederbringlichkeit, wie Bodenstaub und Herdqualm zur Dachluke hinaus, jetzt konnte er Sebalda nicht mehr totschlagen, nun, da ihr todtrauriger Seufzer aus dem Winkel aufkroch und sich gleichsam um seine Füße schmeichelte, um seine klobigen Beine, die eben noch umhergetrampelt hatten wie ein aufgereiztes Gespann Jochvieh, das dennoch nicht ausbrechen kann aus seinem Dienst und Geschirr.

Er stand da und gaffte das Muschelhorn an, als sei es der Riegel an der Stalltür zur himmlischen Krippe, daran die Muttergottes saß, Vater Joseph neben sich, der das Kind liebend betrachtete und ein Zimmermann war wie er und ebenso sicher oder unsicher war wie ein gewisser heruntergekommener Abdena ob der Herkunft seines Sohnes. Das war es, was in Sebaldas erwachendem Seufzer ihm zuwehte, und er duckte sich, wie er sich zu Hause geduckt die Kindheit über und noch als Mann, wenn der Vater wie Gott selber über den Hof kam. Sebalda war es gewesen, die hatte diesen Allesgott verlockt, seinen Glanz zu offenbaren, wie Gott es doch nur selten tut, und es war kein göttlicher Glanz, wie rasch mußte sich das ergeben, ja ergeben an List und Gewalt, die vordem klein und verächtlich schon unter den Schemel seiner Füße gerückt schienen. Sebalda hatte Macht über Imel gewonnen, über Immanuel, denn so war seines Namens Ursprung, wie Propst Hisko bedeutungsvoll und erhobenen Fingers und mit verborgenem Vorwurf geäußert, als Dirik damals die Geleitschreiben gen Hamburg abgeholt, und daß der Name «Gott mit uns» heiße oder bei ihm womöglich «Gott sei bei uns». Nun aber hatte Sebalda Macht auch über ihn, der das Erbe dessen angetreten hatte, der damals lebendig begraben worden war und sich nicht hatte helfen können und es geschehen lassen mußte, was mit Sebalda geschehen war.

Doch stach in ihrem Seufzer hinterrücks nicht schon die alte Kratzbürstigkeit hervor, die schlimme Sicherheit ihrer selbst und die Verachtung seiner blöden Aufregung? Es war unüberhörbar, selbst für ein so schwerfälliges Gestühl, wie er selber sich allezeit vorkam neben dieser kleinen Seufzerglocke, die doch nicht an ihm hing, sondern weit außerhalb an tanzlustigen Sonnenfäden. Glockenbiest, knurrte er das Muschelhorn an und drehte seine Schwachheit jählings wieder grob zusammen, als könne ein gewaltsames Seil, dreifach dicker als die Ankertaue im Speicher unter diesen Dielenbrettern, das rechte sein, die kleine seufzende Muschelglocke zu halten. Und spürte, wie es nichts mehr half, seine rohe Faust hatte zerrissen und vernichtet, was vielleicht nie an Verbindung zwischen ihr und ihm gewesen. Wäre sie nur tot gewesen. Nun würde die blinde Gelegenheit nie mehr zurückkehren, das zerbrechliche Wesen jemals wieder mit den Händen zu berühren, nun würde diese Sebalda immer neben ihm hergehen wie auf einem andern Deich und ihn spöttisch von fern betrachten: Du hast es nicht zuwege gebracht. Du mußt mich leben lassen!

Es war zu schwer, was er in der Hand hielt; es drückte ihn in die Knie, was er zu sich heruntergerissen hatte. Verdrossen warf er das Muschelhorn zur Dachluke hinaus.

Es blitzte fliegend auf, da die Sonne es nun vollends traf, als sei es eine Sternschnuppe am lichten Tag oder gar die Taube des Heiligen Geistes, die unter dem Auge Gottes im Dome schwebte; es blitzte davon eine Spur Befreiung zu Dirik hin, so als habe er sich auf genehme Weise gerächt dadurch, daß etwas davongeflogen sei durch seine Kraft, ja, als sei es der unfaßbare, heimtückische Nebenbuhler selber, und er erschrak dennoch über solch sündhafte Verquickung seines kleinen eigenen Unglücks mit erhabenen Dingen. Er lauschte halslos, schwitzend, indes der Sonnenbalken sich brennend auf seinen flachsigen Scheitel und seinen Buckel stemmte, und er hörte betroffen das platschende Aufschlagen und ein verlorenes Abgurgeln vom Fleet heraufschallen. Und lachte gröblich auf, um sich selber gut zu heißen, seine hoffnungslose Art aus ungeschlachtem Knorrenholz, er, der in sich mehr von der Art seines jüngsten Bruders und von den zarten Händen seines Vaters trug, als er es je hätte wahr haben mögen — und doch wäre er glücklicher gewesen, hätte es ihm jemand gesagt.

Sebalda aber fand in diesem Lachen nur bestätigt, daß ihre Hochachtung sich wahrhaft nur einen unverzeihlichen Notbehelf ausgesucht habe, daß Dirik wirklich nichts gewesen sei als das fühllose Denkmal derer, die sie wahrhaft geliebt. Sie, die es hätte erspüren müssen mit dem gerühmten Vermögen des Weibes, das Verborgenste der Natur zu erwittern, sie versagte hier, da sie keine Neigung besaß, etwas zu finden, was sie nicht gesucht hatte. Imels gröblichster Abglanz war es gewesen, den sie um Dirik als einen nebligen Krönungsmantel gelegt. Der Mantel war zerflattert. Ein mühseliger, buckliger Rohling war nachgeblieben. Es reizte sie nicht, unter seine finnige Haut zu dringen. Eine Verbindung mit ihrem Kinde vermißte sie nicht. Mochte es auf geheimnisvolle Weise Imels oder Ates Kind sein, ihr war es von Herzen recht. Mochte auch das lächerliche Muschelhorn nun nicht mehr der Mond unter diesem morschen Dachhimmel sein. Dirik hatte nichts anderes mehr gewußt, sie zu verletzen, er hatte sicher geglaubt, ihr das Liebste zu nehmen, das sie besaß, und war es auch nur ein totes taubes unnützes Gehäuse, er hatte vielleicht geahnt, wie sehr ihre Seele darin gewohnt, und dennoch sollte und durfte er nicht recht behalten, zumal er nun die Tür zuschlug und von dannen knatterte, als sei es damit erledigt, einfach mürrisch wegzugehen und grobe Arbeit, Knechtearbeit zu tun wie bisher. Die Zerschlagene erhob sich ächzend, ihr Rücken schmerzte, ihr Mund blutete, wo seine widerliche Hand sie getroffen.

Sie sah schlimmer mitgenommen aus als an dem Tage, da sie einst zu Fuß sich durch die Lüneburger Heide geschleppt und oft drauf und dran gewesen war, das Muschelhorn, das ihr armes Bündel immer unerträglicher belastet, in die Ginsterbüsche zu werfen. Aber sie war in ihrer betrüblichen Verfassung keineswegs unglücklicher. In ihrem Innersten läutete ein schwingendes Frohlocken über Diriks unmenschlichen Ausbruch. Welche Gewalt mußte von ihr ausgehen, daß dieser stumpfe Kloß, als der er sich mehr und mehr ihr erzeigt hatte, zu solcher Raserei sich gepeitscht fühlte, und was auch an männlicher Eitelkeit bei ihm gekränkt sein mochte und an uralten Ehrbegriffen, im Grunde war es doch die Liebe zu ihr, die ihn von Sinnen gebracht; so läutete sie sich insgeheim Trost zu. Wie schmerzlich oder gar vernichtend Geliebtsein sich auswirken kann, nicht geliebt zu werden ist unerträglicher. Am unerträglichsten für solche, die Liebe und Verehrung so geschmeckt hatten wie Sebalda, und wenn sie auch vordem in ihrer liebenden Sehnsucht zu himmlischer Verzückung geneigt hatte, die der Gegenliebe entraten kann, da sie ganz und gar von sich selber ausgefüllt ist, die hohen Flammen waren längst unter die glimmende Asche gesunken und bedurften sehr des Blasebalges, um noch eine Ahnung ihrer selbst aufleuchten zu lassen.

In diesem liebenden schmerzlich süßen Aufflackern aber gedachte sie erst jetzt ihres Kindes. Und erst jetzt begann sie zu schreien und schrie laut den Namen und brach wimmernd zusammen, als sei es ihr Junge, den er zur Dachluke hinausgeschmettert habe und der nun im Fleet ertrank.

Der Junge kam aus der Schule und sah die Mutter kläglich in der Ecke weinen. Es war ihm peinlich, wie es jedermann peinlich ist, Eltern oder Götter oder was man höher gestellt hat als sich, außer Fassung zu sehen. Er schüttelte betreten den Kopf, entzog sich, als sie ihn streicheln wollte, und würgte rasch ein paar Bissen Brot hinunter. Sonderbarer als ihre verweinten Augen erschien ihm, daß den Tag kein Mittagessen gekocht war. Aber fragen mochte er lieber nicht. Er brachte es in Zusammenhang mit einer Prügelei, die er den Morgen im Klosterhof ohne viel Ruhm ausgefochten hatte. Es war nämlich einem der Jungen eingefallen, von Rabenfraß und Schinderbalg zu ökeln, einem der Ratsherrensöhne, dem das Ende von Lamberts Großvater durch eine Erwähnung am häuslichen Tisch bekannt geworden war. Es war gerade ein Jahr, daß Lambert auf Betreiben Sebaldas in die Domschule ging, und ihm schien es nicht ersprießlich, dort noch lange weiter hinzugehen. Er war nach Haus gekommen, das wollene Tuch in der Hand, das er sonst an der Ecke bei der Cremonbrücke schnell umzulegen pflegte, um das besorgte Gerede zu vermeiden, und er hatte es diesmal in weinerlichem Ärger über die Angelegenheit in der Schule vergessen. Seine Mutter bemerkte es aber heute nicht. Sie hatte ihr Schluchzen unterbrochen und starrte ihn sprachlos an, so ähnlich sah er dem toten Ate, wie er sich da schüchtern umblickte und fragend auf das Brot deutete, das noch vom Frühstück her, von ersten Fliegen übersummt, auf dem Schranke lag. Und wie er nun das Messer nahm und — sie hatte wohl verloren genickt — behutsam eine ungelenke Schnitte heruntersäbelte, die Lippen ein wenig aufbiegend, die feine Nase krausend, alles wie Ate, und die gewölbte Stirn und die runden gesenkten Augenlider, und sogar die Haare waren jetzt golden durch die Sonne und die rosige dünne Haut überall durchleuchtet, aber mehr wie von innen heraus, genau wie bei Ate, wenn sie ihm Unterricht gab und er so rasch begriff, was zu begreifen war. Sie wollte sagen, daß sie nun auch diesen hier, den kleinen Lambert, selber unterrichten wolle, wenigstens im Lesen und Schreiben, und sie brachte auch so etwas hervor, und der Junge, schon an einem trockenen Bissen kauend, abgewandten Gesichts vor sich hingrübelnd, voller Vorsatz, den andern Tag besser hinzuhauen in das dumme Gehänsel, horchte mißtrauisch auf, als habe sich sein Verdacht bestätigt, daß sie alles wisse und sich darum gräme. Darum tat er es mit einem abweisenden Laut aus vollem Munde ab und mit einer Handbewegung, als habe er in Dreck gefaßt und wolle es abschleudern, griff auch das Messer auf vom Schranke und warf es wieder hin und knurrte kauend: die haben ja Schuld! oder so ähnlich und rannte dann aus der Tür, wo sein Vater vor ein paar Stunden nicht viel anders davongegangen; nicht viel anders und doch, o du bitterer Engel, er, Lambert, dessen Haare nun außerhalb der Sonne wieder rabenschwarz waren, drehte sein weiches rosiges Kindergesicht noch einmal zu ihr zurück, die strahlenden hellen Augen, und lächelte und errötete. Und er wollte etwas sagen, das sein Davonlaufen rechtfertigen sollte und das Vorhaben seiner Mutter zum Rückzug zwingen mußte, die ihn auch noch zu quälen gedachte mit dem, was in der Schule aus Papieren und Pergamenten und Tonsuren aufstieg, bewaffnet mit Tafel und Kreide und Griffel und Wischtuch und Bakel, und fremd war und die Lustigkeit der Welt hinter Kreuzen, Schnörkeln und Gittern absperrte. Genug, wenn die langröckigen Predigermönche sich dazu hergaben und sich groß damit taten. Daß aber seine Mutter auch teil daran hatte und ihm hier und da half, die schwarzen Teufel zu malen und zu lesen, die man Buchstaben nennt, das war ihm bislang nicht verwunderlich erschienen. Aber aus dem ungläubigen Gebrumme seines Vaters hatte er entnommen, daß man den Zauber- und Hühnerkram nicht überschätzen dürfe, und er war ohne Ahnung, daß Dirik keinen Strich davon verstände. Jetzt aber fiel ihm geradezu bedrängend ein, daß seine Mutter von der anderen Sprache nichts verstand, dem Latein, das höheren, allerdings kaum verständlichen Dingen vorbehalten war, den langatmigen Feierlichkeiten in den Kirchen, der Pracht unter Glockengeläut und Gesang, dem Geheimnisvollen, das bunt und groß sich gab und vor Unerreichbarkeit sowohl bedrohlich als langweilig schien. Dennoch hielt ihn etwas, das bei Erwachsenen Takt heißt, in seinem unverdorbenen Gemüt zurück, einen Mangel anzudeuten, wo man Verehrung zu zeigen hat, abgesehen davon, daß er seine Mutter auf Knabenart wirklich verehrte. Er hatte ja auch taktvoll nicht zu erkennen gegeben, daß ihm ihre Traurigkeit aufgefallen sei, und darum stotterte er lächelnd, als sei es eigentlich ein Lob und kein Vorwurf: Du kannst ja kein Latein! Und damit drehte er sich flink um, und es war eine fast anmutige Bewegung, die er nur von ihr haben konnte, wie er nun die erste Stufe der Treppe gewann; dann aber polterte er in unbeholfenen, tapsenden Sprüngen hinab.

Sebalda vergaß, ihm wegen des Wolltuches nachzurufen, wie sie es bisher nie versäumt hatte; denn er sprach manchmal heiser, und sie fürchtete, daß er sich erkälte wie sie so oft auf Helgoland in seinem Alter und die Auszehrung bekomme, daran doch alle ihre Geschwister gestorben waren und in Friesland sogar eine von Diriks Schwestern.

Auf einmal sehnte sie sich nach den Weinbergen ihrer Kindheit zurück und hätte ihrem Jungen gern alles gezeigt, was dort ihre Freude gewesen war, und die römischen Bogen aus grauem glattem Marmor mit den bärtigen Figuren und den kurzröckigen Soldaten, und gedachte auch der helleren und schöneren Gesänge in den Kirchen und der sanfteren Winde und des leichteren Lebens und ließ es wieder wie so oft verwischen und zersprühen in dem wilden Ereignis ihrer Kindheit, da die Reiter kamen und auf den Vater einhieben und die Mutter in den Stall schleppten und den Brand vom Herd rissen und ins Bett der Eltern warfen. Und sie vergaß darüber ein wenig ihren jetzigen Kummer, doch dann — da sie in Gedanken das alles ihrem Jungen erzählte, wie sie es schon immer gewollt und wie sie es Ate einmal erzählt hatte — da fiel ihr Blick wieder auf den unaufgeräumten Schrank, und sie sah Lambert nebelhaft dort stehen und erkannte, daß er die Hände nicht von Ate habe und auch nicht von Imel, sondern Diriks Pranken in junger Ausgabe. Und sie sah auf das Messer neben dem grauen löcherigen trocknenden Brote und dachte, daß Dirik es einfacher hätte haben können, als nur der Faust zu trauen, und wunderte sich, daß sie noch am Leben sei. Und sie erhob sich und fühlte sich gänzlich erloschen; begann aber bleiern, als sei sie ohne Puls, gelenklos, fahl und schwer wie die hereinschwimmende Dämmerung, nach Gewohnheit aufzuräumen und sogar mit dem, was vorhanden war, für den Abend zu kochen, ab und an vor sich hinweinend und mehr denn je ihrer Armseligkeit gewiß.

Manchmal meinte sie die Stimme Lamberts vom Fleet heraufschallen zu hören, und die Stimme deuchte ihr gewandelt, herrschsüchtig und fremd, wie er anscheinend den Hemdmätzen der Nachbarn Befehle zu geben unternahm und die sich krähend wehrten und er ihnen Gewalt androhte und jählings eines der drallen Waschweiber dazwischen keifte und das böse Wort Schinderbalg auch hier auftauchte — Sebalda allerdings hörte es zum erstenmal und ihr war, als habe sie es lange erwartet. Und nun fürchtete sie sich, daß der Junge heraufstürzen werde und sie zur Rechenschaft ziehen und fragen, fragen nach mancherlei an gewesenen Grausamkeiten und ihren Ursachen, und sie war zu müde zu antworten, so müde, daß sie zitterte und auf die Bank sank und wünschte, daß Dirik sich weniger gemäßigt hätte und ihr alle Antworten erspart in alle Ewigkeit. Und nur noch die größere nachträgliche Angst, daß sie fast ohne Beichte und Vergebung und letzte Ölung zur Hölle gefahren wäre, hielt sie weiter in Atem.

Lambert kam erst in der Dämmerung herauf, eben bevor sein Vater vom Zimmerplatz heimkommen mußte — wenn er je wieder heimkam. Und es war ihm inzwischen entfallen, was er tatsächlich hatte fragen wollen, denn er hatte während des ablaufenden Wassers in der braunen, muddigen Sohle des Fleetes umhergefischt und kam nun stolz mit der Beute an in der Meinung, er habe ein schöneres Gegenstück zu der verstaubten Seemuschel gefunden, die er schon in der Wiege hatte über sich hängen sehen und deren Fehlen ihm den Mittag noch nicht aufgestoßen war.

Und nun in der Schwebung der schleiernden Dunkelheit erzählte Sebalda ihm von der Herkunft des Muschelhorns und von Imel, seinem Großvater, von dessen Reichtum und Macht, von dem Schloß und den fetten Höfen und von der ragenden Gestalt, von seiner Güte und Herrlichkeit und von seinem bitteren Ende.

Der Knabe hörte sonderbar verbissen zu, indes das Muschelhorn in seiner Mutter Schoß lag und durch das Bad und die Säuberung, die Lambert ihm mit dem Wamsärmel hatte angedeihen lassen, erfrischt war in den Farben, so daß es noch im Dunkeln von einem regenbogenhaften Schimmer erfüllt schien, darüber die Riesen jetzt dunkelrot hinliefen wie ein langer Faden rinnenden Blutes. Sebalda gruselte es, aber ihre Zunge war nun gelöst, der Bericht hatte sie weniger erschüttert als befreit, und nun wollte sie auch von Ate erzählen, aber ihr Junge hatte nun genug. Er war noch bei dem prächtigen Schloß an der Ems, bei den runden dicken Türmen und bei den vier kostspieligen Kanonen aus gegossener Bronze. Er muß ja wohl mächtig stark gewesen sein, Großvater, meinte er in Gedenken seiner eigenen Niederlage den Morgen.

Ungeheuer stark, keiner war so stark wie er, seufzte Sebalda und fuhr fort: Aber Ate war sanft, und das war hinwieder Ates Stärke.

Lambert jedoch wollte sichtlich von Ate, Onkel Ate, nicht das geringste hören. Er meinte vorwurfsvoll: Wenn er wirklich denn so stark war, warum hat er sie nicht alle zu Mus gehauen, die Wächter und die Ratsmänner und alle, und hätte ja auch man die Steine rausbrechen können aus dem Teufelsturm an den Raboisen, wenn er da schon nicht mehr sitzen wollte ...

Und er wandte sich unzufrieden ab und schnupperte nach dem Topf hin, darin die Abendsuppe dampfte.

Der Teufelsturm an den Raboisen, den Sebalda nicht genannt hatte, um kein allzu nahes und schmach volles Andenken für den Knaben zu schaffen, war ihm also schon bekannt, und er schürzte die Lippen und sagte verächtlich, schon lange, obschon es erst seit den höhnischen Bemerkungen seines Mitschülers Jakob Prigge und seit diesem Morgen war. Worauf Sebalda schwieg in der Entdeckung, die jeder Mutter immer etwas verspätet ans Herz greift, daß nämlich der sorgsam gepflegte Weg zu den Ohren ihres Kindes, den sie als ausschließlich zu ihrer Verfügung ansah, schon längst von den Spuren Unbefugter zertreten wurde.

Sie streichelte über das Muschelhorn, als sei es ein Ersatz dafür, daß sich der Junge ihrer Zärtlichkeit entzogen habe, die sie nicht wagte, zu wiederholen. Dann schrak sie zusammen, da die polternden Schritte Diriks auf der Treppe aufstiegen, und sie erhob sich jäh und katzenhaft und verbarg das Muschelhorn in ihrem Kleiderkasten, wohinein sie auch schon die roten Perlen des zerrissenen Rosenkranzes gesammelt hatte.

Es war danach, daß Lambert sich weigerte, weiterhin ein Wolltuch um den Hals zu tragen, hatte er es doch auch sonst schon und mitten im eisigsten Winter heruntergewürgt, sobald er außer Sicht war. Er entrann der Fürsorge seiner Mutter in dem Augenblick, da er sich geschworen hatte in seiner gekränkten Knabenehre, daß er stärker werden wolle als sein Großvater. Er trug in seinem elften Jahre also den roten Wollfummel als Schärpe wie ein Seeräuber und steckte ein selbstgeschnitztes Holzschwert hinein, das seine Mutter auch nicht gern hatte. Und er führte weiter das große Wort unter den Nachbarskindern, an denen übend, was ihm mit den gleichaltrigen und älteren Mitschülern vorschwebte, sie nämlich allesamt in seiner Gewalt zu haben.

Trotz seiner Zartheit vermochte er einige Knaben anzufeuern, und selbst die ewigen Streithammel und Besserwisser horten ihm manchmal zu, wenn er sich großartige Schlachtpläne ausdachte und für alles und jedes Namen und Bedeutung bereit hatte, so daß keiner der Mitspieler weniger als ein Hauptmann, Bürgermeister, König oder Admiral galt und kein Schragen weniger als ein Schloß und keine Bank, kein Bock, Schemel oder Faß weniger als eine Orloghulk, kanonengespickt und mit hundert Segeln. Mädchen waren bei solchen Unternehmungen nicht gern gesehen. Lambert, mit seiner zumeist belegten aufgeregten Stimme, konnte dann einen entsetzlich schrillen Schrei ausstoßen, so daß die gaffenden Flachszöpfe zusammenfuhren, und wenn das noch nichts half, beriet er mit ernster Miene, auf welche scheußliche Weise man sie martern und umbringen lassen könne, und übertraf darin die Fastenprediger in Ausmalung des Fegefeuers, bis die Mädchen wirklich bange wurden und von dannen stoben.

Nur wenn Jakob Prigge in die Nähe kam, versagte ihm die Kehle, und er stand scheu und ratlos da, und wenn dem einfiel, ihn aufs neue mit dem Seeräuber von Großpapa zu hänseln, dann wich er der Bolzerei so lange aus, wie es nur immer vereinbar war mit Kränkung und Ansehen und der Hetze der Umstehenden, und wenn er auch nicht die feinen Hände Imels oder Ates geerbt hatte, so war er doch darin Imel ähnlich, daß er zögerte, Hand anzulegen, bis es ihm dunkel vor den Augen wurde und er in jäher Wut auf den Stärkeren eintrommelte und wie von Sinnen war und schließlich mit Schaum vorm Munde zu Boden schlug, bevor der Gegner sich noch richtig gewehrt hatte.

Wohl kam er immer bald wieder zu sich und erhob sich plötzlich und federnder als jeder erwartet, indes der andere sich verblüfft wieder bereithielt und die Faust schon ansetzte. Aber Lambert wandte sich dann ab und hatte nichts als ein elendes Zusammenziehen der Schultern zu bieten, das wohl verächtlich sein sollte, und gewöhnlich kam auch schon einer der unterrichtenden Brüder herbei und mahnte zur Sanftmut. Dann pflegte Lambert ein wenig aufzuleuchten, und er nickte halb verdrossen, halb spöttisch, und jeder sah, daß er am liebsten laut geheult hätte vor Scham über sich selbst.

Er lernte leicht. Und der Schulraum schien ihm nicht mehr so sehr aus Gittern gebaut. Aber Jakob Prigge verdüsterte ihm die freier werdende Sicht, und wenn auch der Dompropst selber — der Nachfolger Middelmanns — zur Nachsicht aufrief, so war Jakob, der Ratssohn, dennoch seines Standpunktes und seiner billigen Siege zu froh und hatte auch eine Menge Anhang, der es schließlich aus lieber Gewohnheit weiter betrieb, Lambert mit immer demselben Schimpf hochzubringen, dumm und zerstörend sich bewußt, daß ein toter Großvater nicht zu ändern sei.

Somit trank Lambert kaum länger als zwei Jahre von den Vorquellen der Wissenschaft, die seine Mutter ihm durch persönliche Fürbitte — und da sie beim Domkapitel in guter Erinnerung stand — so kostenlos eröffnet hatte. Dann begann er den Unterricht zu schwänsen, bekam Hiebe und blieb ganz weg. Er trieb sich während der Schulzeit am Hafen und auf den Schiffen umher und vermochte zu Hause mehrere Wochen lang harmlos zu tun, als sei alles in Ordnung und er der Fleißigsten einer unter dem hohen Marienturme. Bis denn sein Vater ihn am Hafen schnappte auf einem Schiff, das frisch von der Werft gekommen war und an der Takelung den letzten Trimm erfahren sollte. Da saß der Bengel Lambert oben in der Saling des Großmastes und hielt einen der Bootsleute in der Arbeit auf, indem er ihm die Geschichte von seinem gewaltigen Großvater Imel Abdena erzählte und eine Menge dazu erfand, zum Beispiel, daß der Alte keineswegs selber im Teufelsturm gesessen, sondern einer seiner Knechte, der ihn befreit und sich dann mit seinem Barte für ihn dahin gesetzt; denn so treue Knechte habe sein Großvater viele gehabt. Und keiner habe den Umtausch gemerkt, selbst Ratsherr Prigge nicht. Und wo er jetzt sich aufhalte, Imel? Herzog Imel? Oder vielleicht schon König Imel? In Indien natürlich, woher sie das Muschelhorn hätten, und man könnte jeden Tag damit rechnen, daß Kaiser Imel unverhofft angesegelt käme und Rache nehmen würde bei gewissen Leuten. Er würde aber auch allerhand Gutes mitbringen, Rosinen und Messer und Stiefel und silberne Rüstungen, auch Pferde und echte Mohren und Papageien und Hammelbraten und eine Kerze für den Dom dick wie der Mast, aber länger.

Dirik pfiff sich den Märchenerzähler auf Deck herunter und verabreichte ihm eine Ohrfeige, die merkwürdig gelinde ausfiel. Denn Dirik hatte vor der Schule wohl insgeheim eine abergläubische Hochachtung, und wäre sein Sohn nur etwas mehr äußerlich der seine gewesen, so hätte der väterliche Stolz wohl verletzter sich gezeigt als jetzt. — Dir wäre wohl erst richtig, wenn das Kind einen Buckel hätte wie du! So hatte Sebalda geschrien, als er sie damals schlug. — Aber dieser dünne Flaps, der schon jetzt aussah wie ein hungriger Magister, sollte nicht eines Tages von oben auf den anders gearteten Erzeuger herabblicken. Und somit nahm er den Jungen von da ab mit zur Werft und erwarb das Einverständnis des Oldermannes entgegen der wohlwollenden Meinung der Domherren und entgegen Sebaldas Meinung, aber mit Zustimmung dessen, der eine höhere Laufbahn damit für immer ablehnte.

Und sonderbar, in der harten Arbeit auf Spantenplatz und Helling veränderte sich Lamberts Schmachtigkeit in kurzer Zeit. Er wuchs in die Breite und wurde sturnackig und schwerfüßig und seinem Vater ähnlich mit dem Unterschied, daß der einen Buckel, flachsige Borstenhaare und zudem einen Zimmermannsbart trug, der aus Hobelspänen hergestellt schien.

Es hätte nun Sebaldas Triumph sein können zu sagen: Siehst du allmählich ein, daß es nichts als dein Sohn ist? Aber Dirik merkte es selber, welch unnützen Lärm er vollführt hatte, und wurde nur noch verdrossener und schweigsamer deswegen. Sebalda hatte nichts mehr, daran sie sich begeisternd entzünden konnte. Sie hatte zwei klobige Bären zu füttern, die gerade soviel ins Haus brachten, um dort wohnen zu bleiben, wo man schon so lange gewohnt. Immerhin hatten die beiden eines Wintertages, als die Arbeit auf dem Brook wegen des Frostes und mangelnder Aufträge zu ruhen begann, Balken und Bretter zum Dachboden heraufgeschleppt und schweigend und gemessen den Raum mit schabenden knirschenden und krachenden Geräuschen erfüllt, so daß selbst Sebaldas Haare einen blonden Schimmer bekamen vom Staub des klingend trockenen Föhrenholzes und der Haferbrei nach Sägemehl schmeckte.

Sie zogen Wände und setzten Türen ein, wodurch drei getrennte Räume entstanden, das heimliche Gemach, das nach außen über das Fleet hing, ungerechnet, das hatte Dirik schon gleich nebst dem offenen Herd beim Einzug eingefügt, da der Speicherboden beim Bau Zum Wohnen nicht geplant gewesen.

Seitdem hatte Sebalda eine richtige Kammer für sich, und auch die Küche war für sich, und die beiden Männer hausten zusammen auf der andern Seite der Küche auch in einem abgeschlossenen Raum. Sebalda gedachte da ihres Rosenkranzes, kramte die Perlen hervor und zog sie auf eine neue Schnur, die sie, wie alles Bindgarn zum Hausgebrauch, eine Treppe tiefer aus dem unerschöpflichen Lager zupfte, und sie betete auch gleich in alter Andacht, die sie so lange vernachlässigt hatte, indem sie einen eigenen und minder schönen Rosenkranz gleichsam als eine heimliche Anklage gegen das höchste Gut und in lauer Gewohnheit gebraucht hatte. Nun wurde der alte unbenutzbar gemacht, da er einige seiner Holzperlen herleihen mußte für die Korallentropfen, die derzeit zuschanden gekommen waren. Sie wollte nicht mehr daran denken. Das Geräusch der Tischlerei hatte sie oft genug in diesen Tagen an die zerberstenden kleinen Kugeln erinnert, von denen Propst Middelmann gemeint hatte, auch in ihnen hätten einst tief in der See kleine Lebewesen gehaust.

Da die Männer Zeit genug hatten in den flauen Wochen und das Holz das Jahr wohlfeil war, verschalten sie auch noch die morschen Dachsparren, doch erst, nachdem sie sowohl in Sebaldas wie ihrer Kammer je eine richtige Gaupe in die Pfannen gestoßen und fachmännisch gerichtet und bekleidet, so daß es je wie ein kleiner Sonderverschlag war, sie auch die gehörigen Fensterrahmen selber zuschnitten, verzargten, mit eisernen Winkelbändern versteiften und mit Angeln und Riegel versahen.

Sebalda war wirklich drauf und dran, sich für die beiden Zauberer neu zu erwärmen, und nur, daß es die Tage, da noch kein Glas beschafft war, um die Kälte abzuhalten, heftig zu schneien und hereinzublasen begann und die plötzlich entstandene schöne Aussicht auf die Spitzdächer bis nach Sankt Jakobi hin wieder mit Latten zugestellt werden mußte, dämpfte ihre Begeisterung, und auch, daß Dirik sich nur mürrisch das Kinn kratzte und an ihr vorbeisah, als sie sachte davon anfing, daß man nun wohl auch an ein paar Vorhänge denken müßte. O ja, er hatte ihre Verwunderung und Freude über die endliche Ausgestaltung des scheußlichen Loches, das ihr und ihm und Lambert so lange hatte zur Wohnung dienen müssen, heimlich und zutiefst eingesogen. Mochte daraus werden, was wollte. Aber an Vorhänge hatte er nicht gedacht. Vorhänge waren schwer zu beschaffen; denn Geld hatte er keins außer dem bißchen, was für Essen und Trinken draufging und für die Bittkerzen zu Imels fraglichem Seelenheil. Sebalda trug — zu seiner innersten Beschämung — auch noch immer dieselben Gewänder, die sie sich von der stillen Einkunft aus der Schreibarbeit am Dom erworben hatte. Für sich selber und Lambert übrigens besorgte Dirik das derbe Arbeitszeug bei seiner Brüderschaft, die für ihre Mitglieder ein Lager hielt, wo es jedoch nichts Feineres gab. Die Beträge gingen vom Lohn ab. Für best hatte er selber nichts als das alte fadenscheinige Wams, das noch aus Friesland stammte. Lambert aber, da er herangewachsen war, mußte sogar in einem sauber gebürsteten Werktagskittel zur Kirche; denn der hatte vorerst überhaupt keine bare Münze ausgezahlt erhalten; im Gegenteil, solange er Lehrling und Putzlaputz war, mußte sein Vater noch für ihn beisteuern, und die Gebühr der Aufnahme mußte auch abgedient werden.

Nach diesem Winter jedoch stand der erste klingende Löhnungstag für Lambert in Aussicht. Und da gerade kam es heraus, daß all das gute Holz, welches er so treuherzig mit in die Wohnung verbaut hatte, ohne Berechtigung vom Lagerplatz abgefahren worden sei. Gewiß, Dirik hatte im Herbst wohl den Oldermann deswegen gefragt, der aber hatte keine Möglichkeit gesehen, von dem knappen Verdienst Diriks und eben vor dem an Arbeit mageren Winter die Kosten einzustreichen.

Der Lagerhalter aber, Angestellter der Brüderschaft, schob die Verfehlung allein auf Dirik, der ihm eines Abends eine schriftliche Anweisung vom Domkapitel vorgezeigt habe. Gelesen habe er sie nicht, er könne auch nur seine eigenen Ziffern und Krähenfüße lesen, aber er habe keinen Grund gesehen, Dirik zu mißtrauen, obwohl der Buckel ihn hätte vorsichtig stimmen sollen, der leichtlich das geheime Gemach irgendwelcher Gefährlichkeit sein kann, wie man wohl zu sagen pflegt. Er habe sich auf die Unterschrift verlassen. Dirik hatte aber einfältig einen Zettel hingehalten, den er zu Hause hatte umherliegen sehen und der nichts war als eine Aufforderung an Sebalda — noch von dem alten Propst her und ihr derzeit von einem der Domschüler überbracht — sich zu einer Abschrift einzufinden. Eine Entzifferung war zwar Dirik auch nicht gegeben, aber er wußte um den Inhalt, denn derzeit war Sebalda noch mitteilsam gewesen. Unverkennbar jedenfalls daran war das Sigili der Kurie, welches dem Namen unterfügt war und das niemandem unbekannt sein konnte, auch dem Lagerhalter nicht. Und der hatte im Frühling sodann die Rechnung für drei Klafter Bauholz verschiedener Stärken ins Stift geschickt und eine verwunderte Rückfrage erhalten.

Dirik stand ungeschlacht vor den Älterleuten, deren einige schon im Winter Verdacht gesponnen hatten, es aber bis zur Ostersitzung auf geschoben; denn es lief ja nicht weg. Der Sünder verteidigte sich nicht auf ihre kopfschüttelnden Vorwürfe, er sah verdrossen zu Boden, er, der immer noch Knecht war auf der Werft trotz der langen Jahre ausgezeichneter Erfüllung seiner Pflicht und trotz seiner unzweifelhaften Tüchtigkeit. Und das war wohl die Ursache, daß er sich sein bißchen Aufwand erschwindelt hatte, diese Aussichtslosigkeit in seinem Alter. Er war ein Opfer des Unglücks, dem sein Vater erlegen war. Sein Vater hatte hoch hinaus gewollt, ein Adler mit Taubenflügeln, dessen Sturz selbst mit dem Tode noch nicht beendet schien, so daß sein Sohn noch für ihn weiter hinab mußte in die unersättlichen unübersehbaren Abgründe der geheimnisvollen Unerbittlichkeit, die sich Schicksal nennt. Man hatte ihn, Dirik, nicht zum Meister, nicht einmal zum Altgesellen ernennen mögen; man war zwar nie prüde in Hamburg, wenn persönliche Werte gegen allgemeine Gesetze abzuwiegen waren, aber des Menschen sündenumlauertes Dasein, das noch wenig Leidenschaften, diese aber desto heftiger kannte, brauchte derzeit strenge Fügungen, um das Leben in der Gemeinschaft erträglich zu erhalten. Wohin sollte es hinaussprießen, wenn man Söhnen von Verbrechern oder von zumindest gefänglich und sogar ohne Reue und Absolution Verstorbenen zu Ämtern und Ehren verhelfen würde? Es mußte schon als Ausnahme und pure Barmherzigkeit gelten, wenn man solch Nachfahren eines zumindest unzweifelhaften Dauergastes des Fegefeuers das bloße Brot gönnte, und nur Diriks bislang tadellose Haltung und eine unausgesprochene Spur menschlichen Verständnisses bei den Behörden hatten seinen Aufenthalt in der Freien und Hansestadt erduldbar gemacht. Und siehe da, hier schien die Vorsicht wieder einmal zu Recht bestätigt. Nun hatte alle Nachsicht zu schweigen. Denn eine angeblich vorbedachte und auch schon angebotene Abarbeitung des unter betrügerischen Umständen entwendeten Holzes stand jetzt schon gar nicht mehr zu Erörterung, zumal nicht für den Anstifter selber. Betreffs des Sohnes wollte man annehmen, daß er nur in gutem Glauben und kindlichem Gehorsam zu unbewußter Mittäterschaft gediehen sei, und ihm denn, Lambert, solle füglich gestattet werden, den leidigen Anlaß durch Fleiß und Tadellosigkeit zu tilgen.

Dirik Abdena aber hatte die Stadt innerhalb zweier Sonnenuntergänge und bis zum Angelusläuten zu verlassen.

Nach Diriks Verschwinden schienen viele Jahre in völliger Ereignislosigkeit hinzugehen, so war es Sebalda nachträglich. Sie hatte wohl in flüchtiger Aufwallung hervorgestoßen, sie wolle ihr armes Bündel gleichfalls schnüren, und Dirik hatte sogar den Mund deswegen verzogen und zum erstenmal mehr von seiner verkapselten und verwundbaren Seele gezeigt, indem er aussah, als sei er ein Kind, das aus tiefem Schlaf geweckt wird und nicht weiß, ob es lachen oder weinen soll. Er hatte die Nacht wie sonst in der Kammer geschlafen, wo auch Lambert schlief, und den guten Geruch des frischen Holzes geatmet, der noch immer und bei steigender Sonne wohl noch lange die Wohnung füllte und sich mit dem des Farböls mischte, das er an den Fenstern und an den Außenwänden gegen das Eindringen der Nässe verwandt hatte und über dessen Herkunft glücklicherweise nichts bekannt geworden war. Er hatte es einfach bei den Malern gestohlen. Und sonderbar, er bereute es nicht, er freute sich noch diese letzte Nacht in seinem mageren Bette diebisch darüber, nicht so sehr der gelungenen Tat, sondern daß Lambert nicht auch noch dafür gerupft werde. Und nur dieser Umstand, daß Dirik selber wenig mehr als Mühe davon gehabt, mildert seine Verworfenheit, die denn im Himmel vielleicht als verborgene Anhänglichkeit an die, die er liebte, gewertet werden mag, wenn eben Liebe wirklich das ist, was so oft bloß nachgeredet wird, nämlich das Größte.

Den anderen Mittag, kaum daß er noch Sebaldas große Speckpfannkuchen nebst Sauerkraut in aufgeräumterer Art denn je gewürdigt hatte, wurde Dirik vom Fronvogt abgeholt, der ihn vors Tor zu geleiten hatte. Da blickte er sich noch einmal verkniffen schätzend und geradezu schmunzelnd in den Räumen um, lobte die Arbeit, schlug dem Sohne auf die Schulter, bedauerte, daß er nun vorerst um den brav verdienten Gesellenlohn geprellt werde, und empfahl ihm, dennoch bald die gewünschten Vorhänge für die Mutter zu beschaffen. Dirik war es gegönnt worden, daß er sein Handwerkszeug mit in die Fremde nehmen dürfe, so daß Sebalda sein Bündel zünftig schnüren konnte, indem sie die Habseligkeiten, die sie für nötig befand — obgleich er nur mit der Axt von dannen wollte — um den Axtstiel und das Richtscheit rollte und anordnete: sein verschlissenes Sonntagswams, in Eile noch einmal gesäubert und nachgesehen, ein paar leichtere Schuhe, ein Bettlaken, etwas Unterwäsche, ein paar Filzsocken, auch Brot und Käse und — heimlich — den Rosenkranz aus Korallen mit dem schwarzen Kreuz. Es sah aus wie eine Art Liktorenbündel, darüber sie zu gutem Halt das rote wollene Halstuch schlang, das noch von Lamberts Kinderzeit da war. An den Wulstenden verknotete sie es fest und dennoch unschwer lösbar mit einer derben Hanfschnur, von dem unerschöpflichen Speicherlager hergeliehen, und es wurde zugleich ein Tragriemen, der um die Schulter reichte. Auch die Wasserflasche, die seine tägliche Begleiterin zur Werft gewesen, fand Platz daran, von Lambert noch einmal mit der klaren Frische aus der Feldbrunnenleitung Ecke Cremon gefüllt. Zuguterletzt brachte noch ein Nachbar voll neugierigen Mitgefühls und gleichsam als Eintrittsgeld für die hart betroffene Stube einen derben Knotenstock, der einem seiner Vorfahren als Hirtenzeichen und Hundeschreck gedient hatte und unnütz im Winkel faulenzte.

Somit war Dirik fertig für die Wanderschaft, die keine Rückkehr haben durfte in diese Stadt. An der Schluchzenden vorbei mit einem kurzen Blick auf das trübe dahinsickemde Fleet murmelte er etwas von dem zu früh weggeworfenen Muschelhorn und ging, ohne ihr die Hand zu reichen, denn dann wäre ihm wohl allzuschwer geworden, so rasch wieder loszulassen, das sah man ihm an, wie er nun vor dem Fronknecht auf die Stiege trat und der Schädel ihm starr wie ein Pfropfen in die Schultern geschlagen schien, und er ins Dunkel tauchte und — schon meinend, es sähe keiner mehr — sich mit geballter Faust hart übers Gesicht wischte.

Sebalda entsann sich dieser Bewegung lange. Es hatte ausgesehen, als reiße er mit Gewalt alles zunichte, was ihm an Gewesenem allhier und je vor Augen gestanden hatte. Und sie bog sich daraus ihre Entschuldigung zurecht und gleich für Lambert mit, daß sie beide wie angewurzelt zurückgeblieben seien in der hübschen Wohnung, für die er nun ins Elend ging; sie warf sich innerst auf, daß er alles vorbedacht habe, um ja auf zwangsläufige Weise endlich von ihr wegzukommen, und stand nicht an, es ihm bitter übelzunehmen, daß die Leute aufs neue Stoff zu hämischen Bemerkungen hatten und sie sich kaum mehr auf die Straße wage. Sie war ihn los, Dirik, den buckligen Brummerjahn, der erst fröhlich wurde, als er ging, und die Nachbarweiber hatten manchen Tag noch über einen Ausspruch gelacht, den die schielige Dürten Brackebüdel tiefsinnig hinter ihm her gezetert hatte: Den hätten sie auch lieber geköpft oder gehenkt, wenn er man bloß einen Hals hätte! Und Sebalda hätte so gern schon das Recht der Witwen auf einen untadeligen Nachruf für den Abgeschiedenen beansprucht.

Der Fron mit zweien der Schinderknechte und zwei Stadtreitern brachte Dirik über die Cremonbrücke zum Grimm und durch die Gröningerstraße und über die Schweinebrücke. Brauerknechte, Küfer, Tuchfärber und was sich hier niedergelassen hatte und dazu das bunte Gewimmel der Speicherarbeiter verstopfte Fenster und Türen mit den neugierigen Gesichtern, hing gaffend an den Windentauen, staute sich auf den Beischlägen und Treppen, voller Vergnügtheit, im sauren Tagewerk ein Schlupfloch zu finden. Kein Bedauern hob sich hervor. Leben und Tod, Lust und Strafe standen nah, alltäglich und kraß nebeneinander, heute mir, morgen dir, es gab keine, Brücken dazwischen. Und die Budenweiber auf dem Fischmarkt warfen die silbrig rosa glänzenden frischen Stint handvoll wie ein kaltes Feuerwerk in die Luft, das Glück der Freiheit und des gewohnten Daseins freudig am Unglück eines andern messend.

Hinterm Schopenstehl an der Mauer der Domherren entlang wurde es stiller, und es war sogar ein wenig Mönchsgesang aus den verborgenen Gärten zu vernehmen. In der Steinstraße aber begann die Trommel zu ertönen, und hier auch wuchs die Schleppe an Janhagel und Gassenkötern, vorerst noch gebändigt im ewig fesselnden Anblick der amtlichen Gewalt. Der Stadthenker saß drohend würdig auf einem riesigen schwärzen Gaule. Die beiden schnauzbärtigen Stadtsoldaten, deren falbe Pferde auffällig kleiner waren als der Rappen, hielten sich, halb in Panzer, halb in Leder, den Spieß hoch aufgestellt, in gemessenem Abstand. Sie betonten sichtlich, daß ihnen als ehrbaren Soldaten jede Berührung fernstehe mit dem, der trotz aller Wichtigkeit ein ehrloses Gewerbe ausübte und zu dessen Begleitung sie beordert waren, da er es seinem Vertrag nach verlangen konnte, also geehrt oder — wenn man es genau nahm — beaufsichtigt zu werden, der Herr Vollzugsbeamte und Scharfrichter, der sich gekleidet hielt wie ein Fürst, damit er sein gelbliches wendisches Gesicht nicht verbessern konnte. Er blickte leutselig umher, als zähle er seine Schätze, die nach Köpfen gerechnet wurden, und jedermann wich seinen stechenden Augen aus, die sich ihrer Gefährlichkeit allzu bewußt waren. Auf Ärmeln und Schabracke führte er das weißrote dreitürmige verschlossene und abweisende Wappentor der Stadt und die Farbe, die er als Untergrund dafür bevorzugte, war ein giftiges Gelb, das derzeit im Ansehen der Frommen echt höllisch war und Streit und Verderben anzeigte, wie es zu seinem Amte paßte.

Eben vor dem schwarzen nickenden Roßhaupte stapfte Diriks Buckel dahin. und es sah aus, als hinge er an dem bunten Stabe, den der Fron geneigt in der Rechten hielt, wie an einer Angel. Vor ihm und wie er zu Fuß gingen die beiden Schinderbüttel, und der eine rührte die Trommel und tat sich was darauf Zugute, daß seine Schlägel aus den zarten Wadenbeinen einer jugendlichen Kindsmörderin gedrechselt seien. Der andere trug einen Spaten geschultert. Beide Henkersknechte hatten sich nach der neuesten burgundischen Mode, die tonangebend war bis nach Nischni Nowgorod hin, einen breiten Ledergürtel umgeschnürt, mit kleinen silbernen Schellen besetzt. Ihr Kittel aber und die eng anliegenden Hosenstrümpfe waren abgenutzt und von angespritztem Blute schwarzfleckig und übelriechend wie eine alte Fleischerschürze. Auch hatten sie die spitzen aufgebogenen Edelschuhe, mit denen sie bei besseren Gelegenheiten zu stolzieren pflegten, in der Rosenstraße gelassen, wo ihre krumme Kate bei der Abdeckerei stand. Sie trugen ihre ältesten Holzschuhe, vielfältig beschädigt im Umgang mit glühendem Eisen, Nagelbrettern und widerspenstigen Verurteilten.

Als sie gegenüber St. Jakobi am Konvent der Blauen Schwestern vorbeikamen, öffnete sich dort unter dem knöchernen Lärm das Fenster der Pförtnerstube, und eine der Beginen reichte einen Zinnbecher dünnen Weines an Dirik, wie es einer milden Stiftung nach zu geschehen pflegte um der guten Werke wegen, die den Himmel öffnen nach den Fingerzeigen derer, die den Himmel zu verwalten vorgaben. Denn hier entlang ging es zum Galgenberg für die gewöhnlichen Diebe, die man der blutigen Mehrarbeit und größeren Unkosten und der größeren Ehre des Schwertschlages auf dem Brooke nicht für würdig erachtete. Zum Brooke, das wäre vom Steckelhörn auch wohl ein allzu kurzer und gewohnter Weg gewesen. Dirik nahm und trank, und die, die ihn gekannt hatten, die aber unter dem nachgaffenden Straßenmüll standesgemäß nicht zu finden waren, hätten sich gewundert, mit welch täppischer Höflichkeit er dem Mütterchen den geleerten Becher zurückreichte, wie er sich so bucklig kratzfüßig verbeugte und vernehmlich seinen Dank und Wünsche für gute Gesundheit und ein gesegnetes Ende hervorbrachte, indes die Trommel die Weile sich ausruhte. Wie er dann in die Runde der Twietenflegel lächelte, denen sich wie üblich die nach Abwechslung lüsternen grünen Kühe oder Freudenmädchen aus der Straße Katrepel zugesellt hatten, und wie er sogar über diese seinen Blick schweifen ließ, weil ein paar mitfühlende Worte seine spitzen Ohren trafen und er dieser oder jener der übernächtigen, doch hier und da schon frisch geschminkten Larven zunickte, als habe er geheime Beziehungen zu ihnen gehabt; bis denn der Fron ihn barsch mit dem Stocke berührte und der Schinderbengel die reizenden Schlägel aufs neue ertanzen ließ und der Zug ging weiter. Dirik spürte das Getrappel der Hufe dicht auf den Fersen und das warme Schnaufen und Prusten der Nüstern und das knurksende Kauen am straff gezügelten Gebiß eben hinter seinen Ohren. Es lockte ihn fast, sich umzuwenden und die samtenen Roßmäuler zu streicheln, seiner Jugend gedenkend, da sie in den Emshöfen dergleichen vollauf in Stall und Maifeld gehabt.

So also ging der ungefüge bucklige Abdena gehorsam an seinem Wanderstock dahin, der Schindertrommel und dem dünnen Geklirr der Gürtelschellen nach, hinter den eitel wippenden weiß und roten Mäntelchen der Schergen her, hinter den Farben dieser Stadt, darin er die weiße Unbescholtenheit wie auch die rote Liebe verspielt hatte. Er wischte sich mit der freien Rechten den Bart und spürte die hineingeronnenen Weintropfen. Und die Gasse zog johlend hinter ihm. Er mußte an das Wort seines Onkels Papinga denken, wie der dem Muschelhorn mit dem Stürzbecher zugetrunken hatte an der Wende der glücklichen Zeit: So gesoffen wie geblasen. Jetzt meinte er den grämlichen Sinn zu erfassen, da man ihn hinausblies aus der bescheidenen Welt, die er sich mühselig zurechtgezimmert. Es war nichts Großes gewesen, was er an Leben und Lust in sich hineingetrunken hatte, darum war es auch nicht bedeutend, wie er nun abgeschoben wurde. Nicht einmal zu einer vernünftigen Hinrichtung hatte es gelangt, so daß eben die Trommel genügte, ihn hinwegzubegleiten, und die Pfeifer gespart blieben, auch der Rat und die Geistlichkeit nicht zur Anwesenheit benötigt wurden. Doch was wollte er klagen? War es seinem Vater, Imel nicht noch erbärmlicher gegangen? Und der hatte doch in vollen Zügen sein Unmaß hineingeschlemmt und doch wohl nicht genug, betrogener als er, der doch das Erbe hatte in Fülle antreten können, das beste Stück, die schwarze Hexe Sebalda und hatte einen Sohn mit ihr, der nun seinerseits erproben mußte, was es mit onkelhaften Trinksprüchen auf sich habe. Nein, Dirik wurde der Abschied nicht schwer. Die besten Jahre waren dahin. Seine Haare wurden dünner und grau und waren noch immer keine goldenen Dukaten. Auch seine Zähne machten ihm zu schaffen. Es hatte wenig geholfen, daß er der heiligen Apollonia, der in der Marter die Zähne ausgezogen worden, ein gelungenes Gebiß aus Wachs verehrt hatte. Als zahnlose Schildkröte aber von der altgewordenen Sebalda mit Brei und Mus gefüttert zu werden, das war keine verlockende Aussicht.

Was knödelten die übeln Drecksgören aus den Rattenkellern am Stinkwall? Wollten sie seinen Buckel verhöhnen? Sein Felleisen, seine Bürde, seiner Mutter oder der Kindsmagd kummervolles Versehen, aber keine Hundehütte und kein Hühnerkorb, wie sie hinter ihm herbliesen. Eher schon ein Wolfskäfig. Aber er hatte den Wolf gut verriegelt und bewacht, den Wolf Imel oder wie er heißen mochte. Nun trug er ihn rechtzeitig von dannen, denn die Riegel waren morsch geworden und der Wächter mürbe und ein gewisses Wolfslamm Lambert allzu gerade und keck gewachsen und vielleicht fähig, die Bestie herauszulassen.

So surrte es hin und her in Diriks verborgenem Immenstock, indes er Schritt für Schritt und Stein für Stein und Trommeltakt um Trommeltakt überwand und mit seinem bunten Gefolge zum Steintor gelangte, an das Loch in der dicken Stadtmauer. Hier war der Ausschlupf aus der Wolfsfalle; denn das und nichts anderes dünkte ihn nun diese gierig mühselige Stadt gewesen. Nun entwetzte er und nahm den Wolf wieder mit, den sie in seinem angewachsenen Käfig nicht vermutet hatten. Aber ließ er nicht seine Beute auch zurück? Sebalda und Lambert? Die schwarze Hexe würde sich schon durchhexen wie bisher. Und das Lamm Lambert mochte auf eigenen Grips hin mit der Lammsfalle fertig werden.

Als die Straßenköter mit in den dusteren Torbogen drängten, um ihren Buckelvers so richtig vom Gewölbe widerdröhnen zu lassen, kniff ihnen die Spießwache das Vergnügen ab. Nun ging es einsamer und stiller weiter, den ausgefahrenen Lübecker Weg durch die Krautgärten und ersten Kornfelder Sankt Georgs dahin. Nur die Trommel wirbelte unverdrossen, als hätten die schmächtigen Schlägel zu Lebzeiten nicht genug getanzt. Weither vom Spital blickten die Genesenden gleich lebenshungrig und nach anderer Tode lüstern über die Mauer, obschon es aussah, als seien ihre Köpfe längst vom Rumpfe getrennt und ausgeblutet.

Schließlich kam man über einen öden Anger, darauf nichts als Schachtelhalm und Mäuseklee wuchs, auf die kleine Galgenhöhe. Krähen strichen schnarrend in die nächsten Bäume. An dem Gerüst, das im Dreieck gebaut war und das Dirik eine schlechte Spantlage für den Schiffsbug der Ewigkeit deuchte, hing noch ein armes dunstendes Luder, schwarz im angehackten Gesicht, aber noch hell in den mächtigen Schultern, soweit man es unter dem Ringpanzer der Fliegen erkennen konnte. Das Sünderhemd wehte schleppenhaft herabgefetzt.

Unterm Galgen legten die Henkersknechte die niedlichen seidigen Mäntelchen, die lustigen Kappen und auch den teuren Gürtel ab, der nur zur Zierde diente und nicht etwa dazu, die Hose zu halten. Sie hängten den Putz mit sichtlicher Ordnungsliebe an der freien Galgenseite auf die Pflöcke, die vorgesehen sind, um die frischen Stricke von der Hand und zur Hand zu haben und nach Bedarf die Brenneisen, Zangen und dergleichen. Dann gingen sie daran, den Leichnam herabzuholen, denn er hing seine runde Woche schon, und eine Wiederkunft war nicht mehr zu befürchten. Der Fron indes blieb Dirik zugewandt und leierte die verstaubte Formel vom Pferd herunter von Urfehde und Nimmerwiederkehr, ließ ihn dann die Hand aufheben und den Schwur nachsprechen. Dirik murmelte die auslöschenden Worte und blickte auf die erstarrten, schmutzigen Füße des Gehenkten, die über der Schulter des Trommlers herabglitten, der unten anfaßte, während sein Mitknecht auf dem Balken ritt und den Strick gelöst hatte. Und es deuchte Dirik, als sei er es, der da nun steif und stumm zur Erde purzelte und von dem eine surrende blaue Wolke Schmeißfliegen abstob. Der Trommler, ein pauspäckiger, junger Mensch mit eingeschlagener Nase, der das schaurige Handwerk von seinem Vater geerbt hatte und sich, dem rohen Munde und den lauernd zuckenden Augen nach, auf keineswegs dumpfe Weise damit abfand — wie auch die seltsamen Trommelstöcke bewiesen, die nun so still gekreuzt auf dem abgestellten Kalbsfell lagen — der Trommelschinder also, zückte nunmehr das breite Hüftmesser, trat auf die Hand des Toten, rückte mit der Hacke den vertrockneten Daumen zurecht und löste das erste Glied mit geschicktem Schnitt aus dem Gelenk, hob es mit zwei Fingern auf und hielt es Dirik einladend hin.

Gerade begann der Angelus von den Türmen zu schwingen. Dirik stand auf seinen Stock gestützt, in sich versunken, als wolle er es überhören. Er schien nichts zu sehen als die nebligen Gefilde seiner Zukunft. Der Spatenschwinger traf klirrend auf Schädel und Rippen und kegelte sie, indes er ein Liedlein pfiff, mit leichter Drehung zur Seite, wo schon mehr davon sich antürmte. Der Fron schneuzte sich, zuckte leutselig bedauernd eine Achsel und meinte, Dirik könne im Weichbild der Stadt bleiben, wenn er nur Lust habe, in die Gilde Meister Hämmerleins einzutreten und als Schinderknecht anzufangen wie diese beiden. Er habe die Figur, als könne er es noch weit darin bringen. Wem die Axt vertraut sei wie ihm in der genauen Arbeit der Helling und ein Hanftau nicht fremd, dem könne das Gesellenstück zwischen Nacken und Gurgel, so gehauen als geschlungen, keine Schwierigkeit bedeuten und das bißchen Rädern, Schinden, Stäupen, Blenden, Zwicken, Brennen, Lippenspalten oder Zungen- und sonst was Abschneiden würde ihm dieser ausgepichte Tambour und Knöchelbrecher schon beibringen.

Dirik drehte den Kopf erwachend über den Buckel zur Seite. Es war ihm plötzlich nach einer raschen Auferstehung zumute. Über den Wiesen gen Norden blitzte der Spiegel der Alster. Ein Stieglitz sang und saß mit geblähter Kehle auf einem Zweig über dem, der die Grabkuhle aushob. In den Geruch der Verwesung fädelte sich ein Hauch blühenden Entzückens aus fernen Gebüschen. Dirik setzte die Füße in Bewegung, schwer und schlurfend, als solle er mit seinen Schuhen den dürren grauen Weg pflügen, auf daß auch der noch seinen Frühling und sein grünes Freudenkleid empfange.

Der Schinderknecht, der ihn mit dem schaurigen Glücksbringer zugleich hatte festlegen wollen, lachte knitterig über den prüden Dummkopf und warf das Daumenstück weit ausholend den Krähen zu in die Baumwipfel; denn er hatte dergleichen schon genug in der Tasche.

Dirik sah nicht mehr zurück.

Die sinkende Sonne warf seinen Schatten lang über das Gras, er reckte sich unwillkürlich, und es wollte ihn an dem Schattenriß bedünken, als strecke sich sein Schädel rank und frei auf schlankem Halse. Eine unbändige, nie gekannte Leichtigkeit kam über ihn, er schlug mit der flachen Hand auf das dicke pendelnde Bündel an seiner Hüfte, als ermuntere er ein Pferd, und seine ungefügten Beine schritten manchmal jung vorauf in die unbegrenzte Heimatlosigkeit.

Das Muschelhorn

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