Читать книгу Sturm auf Essen - Hans Marchwitza - Страница 5
ОглавлениеFranz Kreusat ging seit einer Woche mit einer roten Armbinde und einem Gewehr auf der Straße. Er war gleich wieder ernüchtert worden und schwankte, ob er nicht einen falschen Schritt getan hätte.
Im Arbeiter- und Soldatenrat bekämpften sich die Parteien in erbitterter Feindschaft, und auch die Wehr drohte, durch diese Gegensätze gespalten, allmählich auseinanderzurennen. Raup und Kahlstein hielten die Kumpels mit Mühe beisammen und versuchten die Lücken wieder zu stopfen. So eine Lücke mußte Franz Kreusat jetzt ausfüllen. Er fühlte sich in diesem Zwiespalt selber wie auseinandergerissen, denn außer seiner Abneigung gegen die Kasernen und die Schinder wußte er von den politischen Dingen, die sich abspielten, soviel wie gar nichts. Zum Glück war der Hermann Kahlstein da, und seine Festigkeit blieb unerschüttert. Auch die anderen Kulis, es waren ihrer noch ein halbes Dutzend, waren gute Burschen, und sie schienen zu wissen, worum es ging. Es sei vernünftig, daß er komme, sagten sie. „Die Jungen müssen die Karre wieder flottmachen. Die Alten fressen sich auf!“
Schließlich traf er noch eine Anzahl anderer Bekannter, den Renteleit, den er vom Schacht her kannte, und den Wirrwa; beide wohnten in der neuen Zechenkolonie auf dem Salkenberg. Auch auf den großen schwarzen Zermack stieß er einmal im Arbeiter- und Soldatenrat; Zermack war vor dem Kriege sein Rutschenältester gewesen. Zermack und Raup gehörten der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei an, der sich noch verschiedene der anderen jüngeren Wehrleute angeschlossen hatten. Sie hielten enger zusammen, und sie beherrschten auch den Ton in den sehr widerspruchsvollen, ja oft stürmischen Versammlungen.
Franz Kreusat ging öfters mit dem jungen Christian Wolny oder mit dem schweigsamen Kramm Patrouille. Christian Wolny war in seinem Alter. Sein rundes, gutes Gesicht und seine hellen Knabenaugen hatten Franz Kreusat gleich gewonnen. Vielleicht wurden sie darum so schnell Freunde, weil in beiden noch viele verborgene Wünsche und Hoffnungen träumten. Und doch waren sie im Charakter ganz verschieden; Franz Kreusat schwankte immerfort und fühlte sich an manchen Tagen düster wie eine Grubennacht; er schleppte an seinen schweren Erinnerungen wie an Bergen.
Christian dagegen war immer leicht und unternehmend und nannte Franz „Grübler“ und „Griesgram“, wenn dieser alles schwärzer sah. „Mensch, schau doch nicht so verdrossen darein“, stieß er ihn aus seinem Grübeln, „wir werden bald neue Stürme erleben. Mensch, ich lass’ die Hoffnung nie fahren. Erst muß sich der Schlamm legen, verstehst du, damit man das Gute von dem Unrat unterscheiden kann.“
Kramm war grober, und er neigte weniger zu Phantastereien und Träumen. Auch ihm war nie ein Stück Brot geschenkt worden. Seine Hände waren groß und schwer vom Kohleschaufeln, und sein Gesicht trug, obwohl er noch keine dreißig Jahre zählte, schon die blauen Narben der „ewigen Bergleute“. Deshalb seine Liebe für Spartakus, deshalb seine Wut, wenn die Dummköpfe auf der Wache von dem verrückten Stübel, den man merkwürdigerweise zum Wachhabenden gemacht hatte, alarmiert, mit den Maschinengewehren und Handgranaten hinaushetzten. Stübel, der sich immer – wenigstens auf der Wache – sehr radikal aufführte, hatte es verstanden, sich dieses Postens während der Verwirrung zu bemächtigen, anscheinend mit Unterstützung der „Mäßigen“ im Arbeiter- und Soldatenrat.
Die meisten der anderen Wachleute waren gleichgültige und abgestumpfte Schlepper; auch einige kleine Geschäftsleute, durch Stübel angezogen, waren darunter. Sie drehten sich heut nach dieser und morgen nach jener Parteirichtung, wie die Ereignisse gerade für die eine oder andere günstiger erschienen. Heute verdammten sie Noske als Kaisersozialisten und am nächsten Tage die Unabhängigen als schlapp und wankelmütig, und nächstens die Spartakisten, weil diese keine Ruhe gäben. Diese Sozialisten wirkten wie vielbeinige Insekten, die sich nach allen Seiten zugleich zu bewegen versuchten. Dieser Zustand verwirrte Franz Kreusat, und wenn er nicht an den Unabhängigen einen stärkeren Halt gefunden hätte, dann hätte er das Gewehr schon am ersten Tag wieder abgegeben.
Auch die alten „Mehrheitler“ zogen ihn nicht sonderlich an, obwohl Franz Kreusat durch sein Buch ebenfalls Mehrheitssozialist geworden war. Es waren ihrer wohl an die zehn; einige waren vom Schacht und die anderen aus den umliegenden Werken. Franz Kreusat schien es, als lebten diese Genossen nur ihren vergangenen Erfahrungen, und er hatte den Eindruck, als wären sie auf dem halben Wege, rückwärts schauend, stehengeblieben. Nur sobald es ihnen einer der Jüngeren vorhielt, dann fuhren sie wild auf: „Und ihr Grünschnäbel? Ihr rast mit eurem Wahnsinnstreiben in den offenen Abgrund! Es läßt sich nichts im Handumdrehen ändern. Auch die Politik verlangt Geduld und ruhigere Überlegung!“
Diese „Geduld und ruhigere Überlegung“ empfanden die Jungen wie einen unbequemen Strick, an dem man sie immer zurückhielt, wenn sie sich eiliger vorwärtsbewegen wollten.
Zwischen Raup und Tauten tobte jeden Tag der Streit. Tauten, ein rundlicher, älterer Mann mit einem Spitzbart, war Mitglied der Mehrheitssozialdemokratischen Partei und Ortsvorsitzender des Alten Bergarbeiterverbandes.
„Ihr seid Sklaven eurer Geduld“, warf Raup Tauten vor. „Noske läßt in Berlin die Arbeiter abschlachten, ihr predigt aber noch weiter Geduld und ruhige Überlegung! Ihr überlegt euch noch zu Tode, und uns mit!“
„Noske!“ knurrte der spitzbärtige Tauten. „Die Notwendigkeit zwingt ihn manchmal zu scheinbar ungerechten Maßnahmen. Übt Geduld und Vernunft, es läßt sich nichts übers Knie brechen.“
Kramm antwortete: „Noske beordert die alten Schlächter mit dem Schutz der Republik ... Das ist der Tod der Revolution.“
„Es stimmt nicht! Noske und Scheidemann geben das Heft nicht aus der Hand!“ erwiderte Tauten brummig. „Treibt nicht zu solchen Auseinandersetzungen wie in Berlin, dann brauchen die neuen Opfer nicht zu sein ... Jedes, auch ein neues Staatsgefüge braucht seine Ordnung, und eure Unzufriedenheit stört diese Ordnung immerfort.“
„Ach, was hat das noch für einen Sinn, mit dir zu streiten!“ erregte sich Kramm. „Ihr habt euch nun einmal mit eurem Noske festgerannt und kommt aus der falschen Bahn nicht mehr raus.“
Tauten beharrte auf seinem Standpunkt: „Noske und Scheidemann sind Sozialisten und Genossen, sie werden schon wissen, was notwendig ist.“
„Euer Paktieren mit den Reaktionären ist unser Untergang! Siehst du denn das nicht!“ schrie Raup.
„Ja, es ist tatsächlich der Untergang“, erwiderte ihm Tauten vorwurfsvoll, „weil ihr niemals vernünftig denkt. Unsereiner hat seine Erfahrung ...“
Franz ging mit Kramm durch die einsame nächtliche Straße.
Frauen mit Säcken bebürdet huschten an ihnen scheu vorbei; sie kehrten von ihren weiten Hamsterfahrten zurück und keuchten abgehetzt. Sie sahen die Wehrleute als ihre Feinde an, weil eine Patrouille einigen die Säckchen mit den Kartoffeln abgenommen hatte. Stübel hatte es angeordnet, bei Nacht jedermann anzuhalten; das Diebeswesen nähme überhand.
Franz Kreusat glaubte, die gemurmelten Flüche der verängstigten Frauen zu hören: „Tagediebe! Canaillen!“
Ja, man hielt sie für Tagediebe. Die Mutter berichtete ihm jeden Tag, was die Leute sich über sie erzählten. Wozu die jungen Faulenzer noch mit dem Gewehr auf der Straße herumtrotten, frage man; alle vernünftigen Mannsleute seien wieder an ihre normale Arbeit zurückgekehrt, nur die letzten spinnen noch weiter von Revolution. Auch sie sollten sich endlich bequemen und in die Grube gehen und nicht Wächter spielen, wo nichts zu bewachen sei.
Franz schrie sie an: „Laß mich mit diesem Geschwätz in Ruh!“ Er nahm sein Gewehr und lief wieder wütend fort.
Frau Kreusat zitterte vor Erschrecken. „Der rast sich jetzt wirklich verrückt!“ klagte sie.
„Laß ihn gewähren!“ schrie plötzlich auch der Alte in Zorn. „Er ist kein Kind. Was willst du immer von ihm? Er muß doch selbst wissen, was er macht!“
Sie schwieg und tupfte mit der Schürze ihre Augen ab.
Mehrere Male wandelte Franz wieder das Verlangen an, das Gewehr abzugeben und lieber seine Arbeit im Schacht wiederaufzunehmen; aber Christian Wolny wurde böse: „Jetzt, wo wir jede einzelne Hand brauchen, willst du das Gewehr hinschmeißen? In Berlin fließt Arbeiterblut, unsere Genossen stehen dort ganz allein! Die Meute ist hinter ihnen her. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg müssen sich vor den Mördern verborgen halten. Geh also, wenn du kein Gewissen hast!“
Franz Kreusat blieb.
„Mensch, Franz“, sagte an manchen Tagen Christian, „weißt du, ich möcht’ für mein Leben gern jetzt in Rußland sein. Dort haben sie einen Kerenski zum Teufel gejagt, und die Herren Generale müssen rennen. Mensch, ich versteh’ nicht“, trauerte er, „daß es bei uns nicht vorwärtsgehen will, verdammt. Ich sag’ dir, hier fehlt ein Lenin! Die russischen Arbeiter haben ihren Lenin, verstehst du, das ist es!“
Lenin! Franz Kreusat hörte jetzt öfters diesen Namen ... Lenin! Er wußte nicht, wer es sei, aber dieser Mann mußte eine Art Zauberer und Wundertäter sein. Christian erzählte, daß die russischen Arbeiter und Bauern zu diesem Lenin wie zu einem neuen Heiland aufschauen, aber zu einem Heiland, der ihnen predigt: „Genossen, gebt die Gewehre nicht aus den Händen! Traut keinem Schuft von General oder den sanften Burschuas, sondern kämpft, bis die konterrevolutionäre Brut sich in die Mäuselöcher verkriecht; und auch da werden wir sie noch rausholen und heraustreiben. Glaubt nicht den salbungsvollen Worten der Heuchler, denn sie sind gefährlicher als Gift. Werdet nicht weich, wenn die weichen Hände der Burschuas eure plumpen Soldaten und Bauernhände streicheln, denn sie sind gefährliche Bestienkrallen, die euer Tod sind, wenn sie sich um eure Kehle legen. Traut keinem Zarenknecht, keinem, der euch sagt: ,Die Armut hat sich immer unterzuordnen’. Arbeiter und Bauern, haltet eure Gewehre, kämpft, hetzt die Mörder aus dem letzten Winkel Rußlands, und dann seid ihr von dieser Geißel für immer erlöst. Eure Befreiung kann nur durch euch selber kommen ...“
„Das ist Lenin, ja!“ erzählte Christian. „Die rassischen Bauern und Arbeiter hätten sich lieber zerreißen und kreuzigen lassen, ehe sie auf ihren Lenin verzichtet oder ihn gar den Mördern preisgegeben hätten. Nur unsere Masse läßt sich verwirren und gibt Karl und Rosa den Canaillen preis“, trauert Christian. „Sechs Wochen nach der Revolution müssen sie sich vor der Soldateska versteckt halten, verstehst du? Und wir trotten hier wie Idioten in den Straßen, und in Berlin warten die Genossen vergebens auf Hilfe ...“
Fritz Raup sagte an einem Nachmittag zu Franz: „Komm mit, wir haben heute eine Sitzung des Arbeiter und Soldatenrats, werden dich da vielleicht brauchen.“ Franz Kreusat nahm sein Gewehr und ging mit. Er wohnte einer solchen Sitzung zum erstenmal bei. Die Redner der beiden Arbeiterparteien waren die Parteisekretäre Schigalski und Teichmann. Schigalski, ein mittelgroßer, dicklicher Mann mit immer mürrischem, schon faltigem Gesicht, verteidigte in seiner Rede die „Zentralen Beschlüsse und Entscheidungen“, um die es in dieser Sitzung ging, und bekämpfte jeden selbständigen Vorschlag der „Linken“, die er offensichtlich haßte und als dauernde Unruhestifter behandelte.
Teichmann, ein großer, zur Fülle neigender Mann mit einem weichen, rosigen Gesicht, pflegte jedesmal mit der Redensart zu beginnen: „Wir von der Linken müssen dagegen opponieren ...“ Aber nach einer langen Rede, in der er noch mehrere Male seine Opposition gegen die „Zentralen Beschlüsse“ zum Ausdruck brachte, wandte er sich an die schweigenden Unabhängigen mit dem versöhnlichen Ratschlag: „Ich denke, ich habe auch in eurem Sinne gesprochen, Genossen. Aber damit die Genossen von der Rechten nicht denken, daß wir eine eigene Geschichte betreiben wollen, bin ich dafür, daß wir die oben gefaßten Beschlüsse – ich betone: mit Vorbehalt – anerkennen!“
Der größere Teil der Unabhängigen nickte zu Teichmanns Vorschlag, und nur eine Minderheit, das waren Zermack, Fritz Raup und einige Genossen von den Zollvereinschächten, wandten sich gegen die Zustimmung. Miller, der Vorsitzende des Soldatenrats, der mit angestrengt arbeitendem Gesicht dasaß, schien noch unentschieden zu sein.
Zermack meldete sich zu Wort. Er war groß, hager und von jener Ruhe, bei der man nie erraten konnte, ob sie nicht in der nächsten Minute zu einem gefürchteten Sturm umschlug. „Wer sind denn die Leute, die diese zentralen Anordnungen treffen?“ fragte er, und in seinen stark überbuschten Augen war all seine Abneigung gegen die „gedrechselten Reden“ zu sehen. „Der Zentrale Arbeiter- und Soldatenrat ist ein Sammelsurium von gefügigen Dummköpfen und eingeschlichenen Saboteuren, Offizieren und Feldwebeln“, sagte er, „die von den reaktionären Stäben in die rückkehrenden Regimenter eingeschmuggelt wurden. Das ist der Inhalt des Zentralen Arbeiter- und Soldatenrats. Jawohl! Und Noske bedient sich jetzt seiner gegen die Revolution. Was sind das denn für revolutionäre Beschlüsse, sich selber preiszugeben“, fragte der große Mann grollend, „wie der Beschluß auf der letzten Vollkonferenz in Berlin, in der man der Reaktion wieder das Recht läßt, ihre Vertreter in die Nationalversammlung zu schicken?“
Schigalski unterbrach ihn empört: „Fang doch nicht wieder mit den alten Geschichten an! Wir können unmöglich hier die Moskauer Zustände einführen. Dagegen wehrt sich das ganze Volk.“
„Ihr fragt ja das Volk nicht mehr nach seiner Meinung“, antwortete ihm Zermack, „ihr hört nur noch auf die Meinung eines Stinnes und Krupp und schaut närrisch nach euerm Hindenburg, der euch die Generale Gröner und Lüttwitz als Berater und Beschützer der Republik bereitstellt, aber die Meinung der Arbeiter bedeutet euch allen nichts. Der Zentrale Arbeiter- und Soldatenrat ist nicht mehr unsere maßgebliche Instanz“, fuhr der Häuer fort, „er hat sich durch seine Abhängigkeit und Preisgabe der Revolution selbst gerichtet. Und ich rede im Interesse der Arbeiterklasse, wenn wir diesen reaktionären Arbeiter- und Soldatenrat und seine Beschlüsse und Anordnungen ablehnen. Wir verlangen eine radikale Säuberung der Arbeiter- und Soldatenräte und Wiederherstellung der im November erkämpften Rechte. Nicht die Reaktionäre und Banditen sollen uns Wahlen und Gesetze vorschreiben, sondern wir selber werden vorschreiben, was den Arbeitern hilft.“
Teichmann wandte ein: „Ich muß dir in einigen Dingen widersprechen, Genosse Zermack. Es stimmt, daß sich manche unfähige und unsaubere Elemente in die Arbeiter- und Soldatenräte eingeschmuggelt haben, aber um so mehr ist es unsere Aufgabe, jetzt nicht auf eine weitere Zersplitterung hinzuarbeiten. Laß es dir versichert sein, daß sich unsere Unabhängige Partei über alle Maßnahmen, die oben getroffen werden, die Kontrolle vorbehält, und wir sind nicht so rasch zu verdrängen oder durch einige Wirrköpfe zu täuschen, das weißt du ...“
„Ihr werdet nicht nur getäuscht, ihr täuscht euch längst selber und reimt auf den Abweg wie alle, die sich zu Fürsprechern dieser Blutordnung gemacht haben“, warf Fritz Raup ein.
„Ihr habt euch einfach in eure Wahnwitzideen verrannt und kommt davon nicht mehr los“, knurrte Schigalski. „Wir müssen zu einem Ende kommen“, sagte er aufgeregt und sah Miller an, der den Vorsitz führte. „Die Abstimmung soll zeigen, ob man für eine verständige Politik oder für ein weiteres Unglück ist. Wer sich eigensinnig von der Mehrheit entfernt, der soll dann nicht klagen, wenn die Mehrheit ihre Ordnung nach ihrem Ermessen sichern wird. Ich verlange die Abstimmung“, wandte er sich noch einmal an Miller.
Teichmann nickte zustimmend.
Miller blickte verdrossen die kleine Schar der Opposition an. Er ließ abstimmen.
Die überwiegende Mehrheit war, wie schon immer in der letzten Zeit, für die Anerkennung der „Zentralen Beschlüsse“.
Auch Teichmann hatte für die Beschlüsse seine Hand erhoben und fragte Miller: „Warum enthältst du dich der Stimme?“
Miller, der weder dafür noch dagegen gestimmt hatte, antwortete: „Ich kann nicht so eilig für das eine sein, ohne das andere gründlich zu überlegen.“
Schigalski ging zufrieden weg. Er hatte wieder gesiegt und lief eilig in die Stadt in sein Büro, wo ihn eine neue Sitzung erwartete.
Teichmann rechtfertigte vor Zermack und Fritz Raup seine Stellungnahme: „Genossen, ihr müßt verstehen, daß unsere Partei es nicht leicht hat, sich gegen alle Anfeindungen jederzeit zu behaupten, und wir müssen auch mal zuweilen ja sagen, wo unser Herz dagegen ist. Wir wollen auch bei den bevorstehenden Wahlen nicht hintenan bleiben, was geschehen kann, wenn wir uns zu sehr von der Masse absondern ... versteht es!“
Zermack sagte: „Ich bin gegen alles Komödienspiel. Die Masse geht mit uns, wenn wir nicht auch noch den Betrug mit ihr treiben. Diese Zentralen Beschlüsse und die Rechte, die ihr unseren Feinden einräumt, sind der Tod unserer Revolution ...“
Sie verließen das Rathaus, Miller blieb verdrossen.
„Warum hast du uns diesmal nicht unterstützt?“ fragte ihn Zermack mit einem Vorwurf.
„Warum?“ erwiderte Miller unwillig, „weil ich die Zerrissenheit sehe und sie nicht auch noch fördern will. Es ist unser Unglück, daß wir als Sozialisten immer weiter auseinanderstreben ...“
„Es ist nicht unsere Schuld“, warf Zermack ergrimmt ein. „Die Schuld tragen Noske und Scheidemann, die mit den Mördern zusammensitzen und unsere Mühe verhöhnen. Und unsere Unabhängigen wissen sich auch nicht zu entscheiden, wozu sie gehören, und machen diese verderbliche Politik mit. Wenn wir hier unten nachgeben, dann haben wir uns selbst das Grab geschaufelt ...“
Millers Gesicht wurde düsterer. Er schwieg.
Franz Kreusat war, von all dem Gehörten noch ganz verwirrt, wieder nach der Wache gegangen. Er fühlte sich selber wie auseinandergerissen.
In den „Zentralen Beschlüssen“ war auch die Absicht der Konterrevolutionäre zu erkennen, die Entwaffnung der Soldatenwehren fortzusetzen und den Arbeitern nach und nach alle Waffen abzunehmen. Die Rote Matrosendivision, die im November in Berlin zur Unterstützung der Beauftragten-Regierung zusammengestellt worden war, sollte auf Hindenburgs Ratschlag durch die III. Gardeschützendivision abgelöst und ersetzt werden. Noske war damit einverstanden.
Die Berliner Arbeiter und die Matrosen hatten sich gegen diese Entwaffnung erhoben, und der Kampf gegen die III. Gardeschützendivision und gegen die konterrevolutionären Bürgerwehren tobte schon seit mehreren Wochen.
Franz Kreusat, der anfangs glaubte, mit dem Beitritt in die Wehr sich nur der erdrückenden Einsamkeit zu entziehen und als Freund Kahlstein einen Gefallen zu erweisen, strudelte plötzlich mitten in diesem Strom von neuen Aufregungen und Gegensätzlichkeiten und Meinungskämpfen, und weil er noch völlig ohne eigene Meinung dazwischen schwamm, geriet er jeden Tag mit sich in immer neue Widersprüche. Jetzt waren ihm Zermack und Fritz ein starker Halt, wie sie es vielen waren, die dieselben Widersprüche mit sich durchzukämpfen hatten.
Fritz Raup merkte Franz den Zwiespalt an. „Du darfst nicht gleich wieder allen Mut verlieren“, sagte er ihm, als sie in einer Nacht gemeinsam einen Wachegang machten. „Die Revolution ist kein loses Spiel, das unsre Klassenfeinde und die Noske-Genossen aus ihr machen wollen. Es gehört ein klarer und fester Wille dazu“, erklärte er ihm, während sie langsam die Straße hinaufgingen. „Hör nicht auf Schigalskis Reden, aber hör mit ebensolchem Mißtrauen Teichmann zu. Der hat sich nur äußerlich von der Sozialdemokratischen Partei gelöst, aber innerlich hängt er noch mit allen Stricken daran. Auch die Teichmanns sind mit dem trägen Gang und dem Verrat einverstanden, auch wenn sie ihre Opposition hundertmal betonen in ihren Reden. Wenn sie gute Genossen wären, dann würden sie Karl Liebknechts Warnungen beachten, der wieder von allen Hunden gehetzt wird. Lerne aus den Geschehnissen, Junge“, sagte der Hauer, „wir müssen immerfort lernen. Wir müssen uns, wenn sie uns zum Verderben werden wollen, von solchen Genossen wie Teichmann trennen, denn sie sind mit ihren öligen und schlüpfrigen Zungen ebenso gefährlich wie Schigalski mit seiner Sturheit und Bequemlichkeit. Aber es ist nicht mehr Bequemlichkeit oder Sturheit bei Schigalski“, fügte er nachdenklich hinzu, „es ist offener Abfall, offener Verrat an sich selber und an uns allen…“
„Warum duldet ihr eigentlich solche Leute in der Wehr, wie Stübel?“ fragte Franz, der sich an den zweideutigen Mann erinnerte. „Wenn ich meine eigene Meinung sagen soll, dann muß ich gestehen, daß dieser Mann es nicht aufrichtig mit unserer Sache meint.“
„Ja, das ist auch so ein Wolf, der rasch ein Schafsfell angezogen hat“, nickte Fritz Raup. „Aber diese kleinen Spekulanten werden von Schigalski und Teichmann gehalten. Heute gehen sie mit einer großen roten Tuchkokarde umher und können nicht schnell genug alle großen Gauner umbringen, aber morgen bieten sie sich wieder diesen großen Gaunern bereitwillig gegen uns an, und man wird ihre Dienste gern annehmen, denn sie sind noch hündischer ergehen als vorher. Du siehst“, sagte der Häuer, „daß wir mit tausend Widerwärtigkeiten zu kämpfen haben. Wir dürfen unsern Mut nicht verlieren. Um so teurer soll uns deshalb das begonnene Werk sein“, sagte er, „du siehst: es fallt uns nichts als Geschenk in den Schoß, jeder Tag, jede Stunde kosten Sorgen und Opfer und Kämpfe gegen alle Niedertracht ...“
Fritz Raup schwieg eine Weile im Nachdenken.
Die Nacht war von einer lauernden Stille, und Franz glaubte, das laute Schlagen seines Herzens zu hören. Er begriff immer mehr, daß er mit dem Gewehr eine neue, schwere Pflicht übernommen hatte. Doch er nahm diese Pflicht lieber auf sich, als jene sinnlose Pflicht, die ihn nach Flandern und Verdun geführt und seine Jugendträume vernichtet hatte.
Stübel hatte eines Tages sein Amt als Wachthabender abgegeben. Er trat aus der Wehr aus. Weil sein Geschäft ihn brauche, hatte er erklärt. An seiner Stelle teilte jetzt Herr Loew, der dagebliebene Wachtmeister der alten Blauen Polizei, den Wachdienst ein. Herr Loew hatte eine Anzahl auf der Wache umherliegender Gewehre wegholen lassen, niemand wußte zu welchem Zweck. Loew sagte, es sei eine Anordnung von oben. Niemand konnte auch dieses „Oben“ kontrollieren.
Kramm riet den Kulis, die noch umherhängenden Gewehre und das Maschinengewehr beiseite zu schaffen, bevor man auch diese weghole.
Franz, den sie ins Vertrauen zogen, zögerte; er wollte sich nicht in irgendeine gefährliche Geschichte verwickelt wissen; aber Kramm wurde wütend: „Willst du, daß sie uns eines Tages mit diesen Knarren den Rest geben?“
Franz half, noch widerstrebend, das Dutzend Gewehre während der Nacht wegzuschleppen.
Kramm und Christian Wolny hatten sie in Verwahrung genommen. Bei den beiden waren die Dinger sicher.
Herr Loew kam jeden Morgen mit dem gleichen undurchdringlichen Dienstgesicht. Er redete sie alle immer mit „Meine Herren“ an und hielt sich strikt mit einer eigenen Meinung aus den Debatten fern; doch wer ein gutes Gefühl hatte, der spürte, daß Herr Loew die „Roten“ wie die Pest haßte und sie in alle Höllen wünschte.
Herr Loew begann eines Morgens mit einem „Meine Herren, ich muß es tun; es ist mir anbefohlen worden“ die Nummern der anderen Gewehre zu notieren! Am Nachmittag wurde von Loew und einigen anderen Männern nochmals eine Anzahl der noch herumstehenden Gewehre abgeholt.
„Siehst es?“ machte Kramm Franz aufmerksam. „Die Knarren, die wir weggeschafft haben, wären jetzt auch verloren gewesen, denn ich glaube beileibe nicht, daß die anderen in gute Hände gekommen sind! Es ist unsere Entwaffnung und Vorbereitung noch anderer Überraschungen.“
Kramm fragte Herrn Loew, wer das mit dem Notieren und dem Wegholen der „überflüssigen“ Gewehre angeordnet hätte.
Herr Loew sagte: „Ich habe den Auftrag vom Arbeiter und Soldatenrat.“
Als sich Kramm bei Fritz Raup und Zermack erkundigte, wer Loew diesen merkwürdigen Auftrag gegeben habe, die Waffen wegschaffen zu lassen, antworteten beide, sie wüßten von einem solchen Auftrag nichts.
„Das ist mindestens wieder der Schigalski gewesen“, brummte Zermack verdrossen. „Unser guter Genosse Miller läßt sich auch von den Reaktionären und Reformisten plattreden. Der Teufel hole diese ganze Gesellschaft“, grollte der große, grobe Mann, „sie geben keine Ruhe und hören nicht eher mit ihrem Gestöhne und Pendeln auf, bis die ganze Geschichte wieder verfahren ist!“
Sie begaben sich zu Miller – er war ein noch junger, mittelgroßer Mann mit einem immer mürrischen, strengen Gesicht, das einschüchternd wirkte, wenn es sich einem der vielen Fragenden zuwandte.
Miller antwortete, als Zermack nach den Auftraggebern fragte, fahrig: „Was wollt ihr denn hier mit dem vielen nutzlosen Kram anfangen? Wir haben die Gewehre an den Zentralrat abgeliefert, der wird sie besser verwenden können als wir in unserem Nest!“
„Du läßt dich immer mehr von der reaktionären Bande einwickeln“, warf Zermack dem Obmann erzürnt vor. „Du solltest besser achtgeben, daß sie uns nicht wieder in den Sack stecken.“
Miller antwortete ungehalten: „Ich will nicht immer mit den anderen um jedes Ding tagelang rumstreiten. Ihr könntet auch einen Teil der Verantwortung übernehmen und nicht immer erst ankommen, wenn etwas schon beschlossen ist!“
Miller war Unabhängiger, aber er war immer mit sich im Widerspruch.
Die Wehrleute um Kramm wollten wissen, wo die weggeholten Gewehre geblieben waren. Sie verlangten, daß sie zurückgeholt werden sollten.
Die Arbeiter- und Soldatenwehr hält eine Versammlung ab. Die Arbeiter- und Soldatenräte reden vor den Belegschaften gegeneinander. Kein einigender Beschluß kommt zustande. Die einen verlangen die Gewehre und Hilfe für Berlin. Tauten fordert Vernunft. Sie kämpfen bis zur Erschöpfung, einer gegen den anderen, und reden von Spaltung, verfluchen die unglückselige Zerrissenheit.
Tauten grollt: „Übt doch um Gottes willen Vernunft. Was wollt ihr denn mit den vielen Gewehren? Was wollt ihr in Berlin? Greift doch nicht wieder den Geschehnissen vor …“
Der Betriebsratsobmann Heise redet erstickt: „Einigen wir uns doch endlich, lassen wir den sinnlosen Kampf untereinander ruhen. Überlassen wir es doch der Regierung, wieder Ordnung zu schaffen…“
„Du hast sie ja! Deine verfluchte Ordnung!“ schrie Kramm. „Was willst du denn noch? Die Genossen verrecken doch täglich in dieser Ordnung!“
Miller spricht heiser vor Anstrengung: „Unser Untergang wird durch die Zwietracht besiegelt. Ihr redet von Ordnung, und wir können uns hier unter uns wenigen nicht einig werden, was wir tun wollen.“
„Bestien müssen an die Kette gelegt werden“, schrie Kramm. „Eine Ordnung, wie sie in unserem Sinne steht, kann nur durch uns selber geschaffen werden.“
Miller sieht übernächtigt aus, fast grau in dem noch jungen Gesicht; er ist kaum älter als Kramm. Wenn Miller spricht, wird es im Saal etwas ruhiger – man hört ihm zu. Geht er wieder, ist man unzufrieden; auch er zeigt niemals einen klaren Weg. Und tritt ein anderer auf, gehen die Wogen von neuem hoch.
Eine fahle, qualmende, dichtgepackte Menge horcht finster und voller Argwohn zu. Sie schreit im Protest auf: „Absägen und zum Teufel jagen und bessere an die Stelle der Faulenzer setzen!“ – „Fressen sollen uns die Herrschaften besorgen und nicht in Trägheit verfaulen wie die frühere faule Gesellschaft.“
„Die frühere Gesellschaft – die frühere Gesellschaft ist ja noch da; das ist das Unglück!“
„Ruhe, die Sozialisierung marschiert…“
Heulendes Gelächter.
„Auch Miller marschiert jetzt mit Schigalski und Tauten. Die Sozialisierung marschiert. Sie marschiert sieh tot, wie wir uns totmarschiert haben ...“
Die Versammlung löst sich auf wie ein großer Schwarm grauer, abgehetzter Vögel.
Die nächste Versammlung ist nicht besser. Sie endet nicht anders. Der Wutschrei nach Fraß übertönt das Geknatter der Todessalven in Berlin.
Auch Raup und Zermack rennen von einer Konferenz zur anderen, wie Miller. Zermack ist ein ruhiger, gelassener Mensch, und sein Wort hat Gewicht, wenn er in die widerspruchsvollen Debatten hineinruft: „Schlagt euch nicht gegenseitig die Zähne ein, bewahrt sie euch lieber für die Büttel. Auch du“, sagt er zu Tauten, „wirst ihre Klauen spüren, wenn du nicht bald zu Verstand kommst.“
Tauten schaut ihn nur wütend an.
„Belehre mich nicht, ich weiß, was ich zu tun habe. Ihr könnt mir nur dankbar sein, daß ich nicht allen Wahnsinn billige und für eine normale Politik eintrete. Ihr sollt euch auch besser mit Miller verständigen, der langsam wieder zur Besinnung kommt. So wie bisher können wir nicht weiterfahren“, knurrte der alte Verbändler, Zermacks Drängen mißbilligend.
Zermack lachte wütend: „Ihr habt euch wahrhaftig alle verschworen; alles, was wir unter blutigen Mühen gewonnen haben, wieder willenlos den Reaktionären zu überlassen ...“
Er ging mißmutig.
In einer solchen Versammlung hatte Franz Kreusat Edy Koschewa getroffen, der mit Bruno Freising gekommen war. Die beiden arbeiteten wieder in der Grube. Der Krieg hatte, obwohl sich alle drei mühten, das frühere Verhältnis wieder aufleben zu lassen, doch eine unsichtbare Mauer zwischen sie gestellt. Edy Koschewa und Bruno Freising waren schon früher phlegmatische Naturen und gingen lieber irgendwo zum Tanz oder in eine Kneipe, um dort ganze Nachmittage am Kartentisch zu sitzen. Franz, der schon immer ein ernster Mensch war, spürte die Entfremdung jetzt um so mehr, da die beiden Freunde wenig Interesse an den erschütternden Ereignissen zeigten. Sie gingen nach der Versammlung in die Schenke, saßen dort, nur wenig miteinander redend, beisammen. Es wollte und wollte nichts mehr von dem alten guten Verhältnis ihrer Jugend zwischen ihnen aufkommen.
„Was treibt ihr so in eurer freien Zeit?“ fragte er sie, „man sieht euch nirgends mehr. Ihr schlaft wohl den ganzen Tag nach der Schicht. Wär’ das nicht besser, ihr regtet euch auch mal etwas für unsere gemeinsame Sache?“
Der dunkeläugige Bruno Freising gähnte und brummte: „Mensch, laß mich in Ruh. Man kann ja nirgends mehr raus. Ein Anzug fehlt, verflucht, man kann sich in diesen Fetzen nicht auch sonntags sehen lassen.“
„Und ich will heiraten“, sagte der blonde, schmächtige Edy, „aber man weiß nicht, wie man das machen soll. Vielleicht muß man in den Kanonierstiefeln und in dieser Feldjoppe zum Standesamt gehen. Man hat auch nicht einmal einen eigenen Strohsack, auf den man sich langstrecken kann. Und den Alten noch einen neuen oder noch mehrere Fresser aufzuladen und den kleinen Raum noch enger zu machen, das werden sie nicht wollen. Ach!“ schrie er, „die ganze Gesellschaft soll mir zum Teufel gehen.“
Bruno Freising lachte böse: „Man schuftet und schuftet und kommt keinen Schritt vorwärts. Das ist jetzt das Leben nach dem Krieg. Mensch, wie schön war es doch damals, als wir noch so ohne Sorgen an der Ecke rumstanden, du weißt es, Fränzchen; Mensch, war das ‘ne Zeit. Jetzt hat man ‘nen Bart, bist ‘n Alter und hast noch nicht mal eine ganze Hose. Verflucht, das ganze Leben ist fürwahr einen Dreck wert!“ sagte er wutlachend und trank sein Bier.
Franz trank sein Bier aus und ging mit ihnen nach Hause. Unterwegs schwiegen sie eine Zeitlang. Bruno Freising sagte, während Franz verdrießlich grübelte: „Und du, du willst wohl gar nicht mehr an die Hacke? Das Rumstrolchen auf der Straße gefällt dir wohl gut. Aber du merkst wohl nicht, daß auch die Kumpels euch schon alle schief anschauen. Ich würde das Ding abgeben und wieder in die Grube kriechen, dort bist du am besten vor allen diesen Wolfsblicken geborgen!“
Sie standen wieder einen Augenblick an ihrer Ecke, wie früher. Und doch nicht wie früher. Edy stieß Franz gegen die Brust, lachte gezwungen: „Na Fränzchen, was grübelst du? Mensch, gottverdammt“, fluchte er, „da steht man hier, und alles ist einem so fremd geworden. Dieser verfluchte Krieg, Mensch, dieses Elend.“ Er schauerte: „Kalt wird’s. Kommt, wir gehen nach Hause. Das Leben ist, verflucht, nicht mehr schön!“
Die beiden gingen. Franz war an der Ecke stehengeblieben, als wollte er da noch etwas von der Erinnerung an früher festhalten. Er wurde die Bitterkeit nicht los, daß ihre Kindheit verloren blieb, daß sie, wie vieles Schöne, in der schrecklichen Kriegszeit zerbrochen und versunken war. Er schüttelte den Kopf. Er ermannte sich nach längerem Grübeln und ging nach oben.
Sie dürfen sich nicht verlieren, grübelte er, während er die Treppe hinaufstieg. Sie müssen mit, und wenn ich sie mit Gewalt mitschleppen müßte. Auch ich habe gezögert, aber der Hermann hat mich auf diesen neuen Weg gestoßen. Wir müssen alle mit, oder dieses neue Elend frißt uns auf! Er verbrachte diesen Nachmittag unter neuen Zweifeln und in einem heftigen Zwiespalt. Die Jugend, ihre Jugend war hin. Verdorben und erdrosselt durch die Kriegsjahre.
Ein Verlangen erfaßte ihn, diese Alpdrücke loszuwerden. Irgendwo hinauszustürmen, sich irgendwo auf die Erde hinzuwerfen und hineinzukrallen, zu schreien: „Und ich lasse mich nicht erdrücken. Ich bin nicht mehr der Hund, der Schlepper, ich wehre mich!“
Es war Abend, und er ging allein seine Straße entlang. Er ging wieder den Salkenberg hinauf und weiter bis nach Frillendorf und weiter, weiter, bis er die letzten Häuser verließ. Er sah rechts vor sich den Flammenschein des gewaltigen Krupp-Werkes, und wo er hinblickte, sah er die Brände der Kokereien und hörte die Signale von den Schächten. Er begegnete kleineren Scharen von Bergleuten und sah wieder die lange Karawane dieser ewigen Schlepper. Und noch einmal wallte es in ihm hoch: „Und ich bin doch auf dem richtigen Weg. Ich bleibe hier. Es ist Heimat. Unsere verfluchte, elende Heimat. Unser Kohlenpott, unser jammervoller. Und doch kann ich und werde ich hier nicht weichen. Man hängt dran wie festgebunden. Was ist das nur, das einen hier so festhält? Hat man denn noch Hoffnungen? Hoffnungen, ja, immer Hoffnungen, daß sich einmal alles ändert! Auch hier ändert.“
Er stand im freien Land und sah herum. Sein Ruhrland, seine ihm erst jetzt bewußtgewordene große Liebe. Nein, ich lass’ euch nicht, ihr müßt mit, Edy und Bruno. Ihr müßt!
Er ging zurück und sann nach.
Er war wieder in Stoppenberg und ging seine Straße hinauf. An der Hoffrone-Wirtschaft blieb er stehen. Er hörte drinnen Musik. Tanzmusik. Er zögerte einen Augenblick, dann begab er sich hinein.
In dem halbdunklen, kleinen Saal drehten sich einige Dutzend Paare Mädel und Jungen, alle dem wilden leidenschaftlichen Tanz hingegeben, eng umschlungen, umklammert: Schlepper und Lehrhäuer aus seiner Grube und die Brückenschlepperinnen; auch jene, die den Eltern erst abends heimlich entschlüpfen konnten. Auf der kleinen Bühne saßen zwei Bandoneonspieler und ein kleiner, schwarzlockiger Mann, der die Trommel schlug. Die Tanzenden sangen zu der Musik: „Auf der Reeperbahn – nachts um halb eins ...“
Taumel, Taumel. Langsam wurde auch Franz Kreusat von dieser merkwürdigen Stimmung ergriffen. Er stand noch immer an der Tür und sah dem Wirbel dieser Freude zu und konnte sich nicht davon trennen.
So standen noch andere Jungen und Mädel und schauten zu; andere saßen an den unbedeckten Tischen umarmt und ergaben sich hier der Liebe, die ihnen draußen verwehrt wurde. So fand er sie bei seinen Nachtgängen oft im Dunkel der Hausflure und in den Toreinfahrten und in den dunklen Winkeln der Straße. Liebe, Liebe suchen alle diese Jungen. Freude, Taumel, austoben nach dem langen Schrecken, nach der verfluchten Verzweiflung und Einsamkeit und der Angst auf den blutigen Schlachtfeldern. Freude, Freude, Taumel! Es packte auch ihn. Er sah sich um. Da stand ein starkes Mädel einige Schritte vor ihm und wartete wohl auf den Tänzer. Er ging auf das Mädel zu. „Komm!“ Er nahm sie bei der Hand, und auch er tanzte. Franz Kreusat tanzte, bis der Schweiß auf der Stirn sickerte. Tanzen, tanzen! Als er das Mädel zu einem Tisch führte – er hielt sie noch bei der Hand –, sah er sie an und fragte: „Wie heißt du?“
Das Mädel sagte lächelnd, rot von dem Tanz und mit einem Blick in sein Gesicht: „Therese!“
Er tanzte mit Therese bis zum Morgen.
Als sie auseinander gingen, fragte er sie: „Sehen wir uns wieder?“
Therese sagte: „Wenn du willst, meinetwegen!“
So begann seine Liebe zu Therese Tauten.
Franz schloß sich enger an Christian Wolny an. In dem jungen Kuli glaubte er etwas von der verlorenen Jugend wiedergefunden zu haben.
Christian redete ihm auch gleich wieder alle Sorgen über Edy Koschewa und Bruno Freising aus. „Die werden wir uns noch holen!“ beruhigte er ihn. „Wir werden sie uns bei Gelegenheit vornehmen. Und der Teufel holt sie, wenn sie jetzt schon Greise spielen wollen. Nein, mein Lieber, die werden schon mitgenommen, verlaß dich darauf!“
Auch Christian Wolny ging gern tanzen. Er war eben der Christian, und er ließ keine Freude aus.
„Was, die Therese hast du dir angeschafft?“ staunte er eines Abends, als Franz Kreusat ihm sein Mädel vorstellte. „Der Alte wird sich wundern. Mit dem wirst du noch deine Last kriegen! Und sie scheint auch Haare auf den Zähnen zu haben. Nimm dich in acht, mein Lieber!“
Therese hatte Haare auf den Zähnen, und nicht nur dies, sie war Tautens Tochter. Sie war eigensinnig, und sie lief ganz in des Vaters Spuren. Sie hatte nach den wenigen Tagen ihrer Bekanntschaft Franz gerngewonnen, aber sie begann auch sofort mit ihm über sein Mitrennen bei der Soldatenwehr zu streiten. Es schien, als wollte auch Tauten ihn auf eine andere Bahn zurückführen, und schon die nächsten Abende begannen mit Auseinandersetzungen. Franz wich diesen Debatten nach Möglichkeit aus, denn er wollte wenigstens die Abendstunden ruhig verbringen. Er wollte sein Mädel und nicht den Tauten um sich herum haben.
Wenn sie tanzten, war auch Therese ganz Hingabe und friedlich. Sie war ein hübsches, starkes Mädel, war eitel und schien ihm beim Tanz ganz zugetan.
Eines Abends war Franz. Kreusat nach der Salkenberg-Kolonie zu Christian Wolny bestellt worden. Er traf dort außer Renteleit auch Hermann Kahlstein und Kramm und noch ein Dutzend anderer Genossen an.
Christian unterhielt mit Renteleit die Beziehungen zu den Zechenkumpels, die sich der neuen Ordnung noch nicht unterworfen hatten. Sie hatten festgestellt, daß die von Loew fortgeschafften Gewehre heimlich der Zechenverwaltung zugeführt worden waren. Steiger Schulte – ein Mehrheitssozialist seit November – wollte eine eigene Zechenwache aufstellen und, wie man in Erfahrung gebracht hatte, den Arbeiter und Soldatenrat und auch die Revolutionäre Wehr mit Gewalt absetzen.
Kramm erklärte den Versammelten kurz: „Wir müssen die Gewehre wieder holen, ehe es zum Blutvergießen unter den Kumpels kommt. Schulte ist kein Sozialist, er hat sich nur in den Arbeiter- und Soldatenrat hineingeschmuggelt, wie so viele andere dieser Spitzbuben unter unsere Wehr, um diese zu zersetzen. Also müssen wir schnell handeln; wenn ihr einverstanden seid, schon heute!“
Renteleit, der bärenstark war, sagte in seiner knappen, schwerfälligen Art: „Gut, wenn ihr wollt, hol’ ich sie allein!“
Die anderen verrieten Bedenken. „Und wenn es schiefgeht?“ wandte der etwas scheue Wirrwa ein. „Dann sitzen wir alle drin. Oder es kommt ganz gewiß zu Schießereien!“
„Es kommt zu nichts!“ beruhigte Kramm, „nachts schlafen die Herrschaften alle. Sie fühlen sich, scheint’s, vor uns sicher. Und der Pförtner wird schon das Maul halten. Kurz und gut, wir gehen heute los!“
Franz Kreusat, der keinen Einwand zu machen wagte, ging unter einem Herzdruck nach Hause. „Verdammt, verdammt! Jetzt wird es Ernst!“
Aber bald hatte er sich wieder gesammelt und sagte sich: „Wenn die anderen mitmachen, dann muß ich auch mit, selbstverständlich!“ Ja, etwas wie Freude ergriff ihn, da es jetzt Ernst wurde. Der Novembertag fiel ihm wieder ein, an dem sie unter den wehenden roten Fahnen marschiert, nein, geeilt waren nach der Kaserne und nach dem Zuchthaus, um die Gefangenen zu befreien.
Unterwegs fiel ihm ein, daß der nächste Abend der Weihnachtsabend sei; eine Weile beschäftigten ihn die Erinnerungen an seine Knabenzeit, wie er sich an diesem Tag an Kuchen und Nüssen satt stopfte. Dafür sparte die Mutter monatelang, um die Feiertage schön zu machen. Ein Bäumchen müßte man diesmal wieder haben, dachte er. Dann besann er sich aber auf die Leere, auf den Hunger, der hinter jeder Tür heulte; er wußte, daß auch seine Mutter diesmal kaum die Kartoffeln beschaffen konnte. Geheul und Zähneknirschen wird es morgen geben, dachte er. Ein Baum ...? Er sah flammende Krater auf brechen. Soldaten, dreckig und kaum noch Menschen, wühlten sich in Todesangst in die bebende Erde – tiefer, tiefer, Mensch ... und der verfluchte Himmel spie Granaten und Gas und schleuderte zerrissene Muschkotenglieder im blutigen Hagel herunter. Weihnachten – Verdun. Und es gab keinen Herrgott mehr, der diesen verfluchten Himmel beschwichtigte, der diese Hölle Himmel in Frieden verwandelte ... Ein Bäumchen ... brennende Kerzen ... Geschenke, frohe, lachende Kinder, das gibt es nicht mehr. Nicht mehr. Doch, alles kommt, es kommt! Wir müssen die Gewehre wegschaffen. Es kann nicht zu Ende sein. Es geht weiter ... Weiter ...!
Er stand an seiner alten Ecke.
Raup hatte ihm schon einige Male gesagt, er solle sein Büchlein mitbringen, damit er es umschreiben lassen kann. Das Buch lag, nur mit einer Marke, in der Kommode, wo er es am ersten Tage hineingeworfen hatte. Er hatte sich die ganze Zeit nicht darum gekümmert, jetzt sagte er sich: Ich muß es morgen mitnehmen.
In der Nacht gingen sie mit einem Dutzend Genossen nach der Zeche. Renteleit schob den Pförtner, der sie aufhalten wollte, beiseite und ging ins Verwaltungsgebäude, wo sie in einem Raum die zwanzig Gewehre fanden. Er reichte die Gewehre und die Munition den anderen: „Wenn sich einer herwagt und Lärm macht, dann haltet ihm eine Knarre vor die Nase; es kann höchstens ein Feind oder ein Dummkopf sein!“ sagte er.
Der Pförtner stand scheu und verwirrt in seiner Bude, während die Kumpels die Gewehre abschleppten. „Aber Leute, ich darf das doch nicht zulassen. Ihr bringt mich ja um mein Brot, Leute. Wenn das der Kranzmann erfährt, bin ich ein verlorener Mann!“
„Das bist du schon immer gewesen!“ antwortete Renteleit knurrend, „du warst stets ihr stummer Knecht!“
Als Franz auf dem Nachhauseweg an Herrn Kleinemanns Wohnung vorbeikam, schimmerten durch die Ritzen der Fensterläden die Lichter eines Weihnachtsbaumes. Es interessierte ihn aber diesmal wenig, er war noch immer mit der Sorge beschäftigt, es müsse nach ihrem Streich jeden Augenblick die Sirene brüllen oder sich sonstwas regen. Es regte sich aber nichts; und auch die ganze Nacht über nicht, die er schlaflos verbrachte.
An diesem Abend hatte Therese vergeblich auf ihn gewartet.
Herr Kleinemann hatte für den Weihnachtsabend einen Baum beschafft. Es kostete Geld, aber ein Weihnachtsabend ohne ein Bäumchen war kein Weihnachtsabend. Sie hatten auch in der schlimmen Zeit im Kriegsgefangenenlager als Wachmannschaft jedesmal einen Baum gehabt und auch Kerzen unter der Hand besorgt. Der nötige Trunk wurde ebenfalls herangeschafft und ein Stück Kuchen. Weihnachten müssen nach Weihnachten aussehen.
Der freche Bengel hatte es zwar nicht verdient, daß man sich darum abschund, aber an so einem Tag vergißt man es und hält Frieden. Herr Kleinemann hatte eine Fahrt zu den befreundeten Bauern gemacht, und er brachte wieder einige Kisten mit Eiern und auch Speck mit. Ein Teil der Sachen ging in die Beamtenkolonie, weil man auch die anderen Tage leben wollte. Ohne Geld gab es keine Ware. Ein Teil blieb im Haus – ein Weihnachtsabend muß nach Weihnachtsabend aussehen.
Damit das Licht nicht nach außen drang, machte Herr Kleinemann die Fensterläden zu. Er wollte nicht den Neid der Hungrigen erregen – Neid ist ein schreckliches Übel. „Die Läden sind zu, also können wir jetzt essen“, sagte er zu der apathisch umhergehenden Frau. Ihr Gesicht allein konnte ihm die gute Stimmung verderben. Doch wollte er sich am heutigen Tage nicht ärgern, also übersah Herr Kleinemann die böse Miene seiner Frau. Oft schien ihr apathisches Gesicht boshaft zu lachen, und er glaubte zu wissen, was sie sich dabei dachte: Beschwindle dich nur selber weiter, dachte sie bestimmt, das dicke Ende kommt doch nach! Ja, das dachte sie. Nun, mochte sie lachen und denken, was sie wollte. „Wenn es nicht auf normalem Wege geht, sich wieder aufzukratzen, dann geht es eben auf anderem Wege“, sagte er sich. „Jeder, der sich retten will, der schaut heut nicht auf Anständigkeit, er schaut, wie er sich wieder aus dem Dreck herausbuddeln kann. Ich tue nichts anderes, als was jeder kluge Geschäftsmann tut.“
„Bring das Essen, Mutter!“ Mutter! sagte er an diesem Abend sogar, was er seit mehreren Jahren nicht mehr gesagt hatte, seit sie dieses Gesicht angenommen hatte, das ihn jedesmal, wenn er es ansah, aufregen konnte.
Sie kam mit dem Essen. Herr Kleinemann prüfte ihre Miene. Sie haßte ihn, das spürte er; warum sie ihn haßte, das wußte er sich nicht zu sagen, aber der Blick, mit dem sie die Teller hinstellte, ließ es ihn fühlen – das Weib verachtete ihn.
„Kommt der Bengel nicht?“ fragte er, nur noch mit halber Freude.
„Der ist schon da!“ meldete sich der Sohn und kam aus der guten Stube hervor. Herr Kleinemann blickte ihn mißmutig an; gegen seinen Willen packte ihn wieder die Wut. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Auch der Bengel hatte dieses heimtückische Lachen an sich.
„Nun, hast dich wieder mal schön durchgewunden?“ bemerkte der Sohn, als er das gute Futter betrachtet hatte. Kein Dank; Frechheit, das war alles.
Herr Kleinemann hatte früher immer vorher beten lassen, heute ließ er es sein. Er spürte Galle im Mund, und mit dieser Stimmung machte er sich über das Essen.
Der Baum wurde nach dem Essen angezündet. Früher hatte ihm so ein brennender Baum Freude gemacht, heute blieb alles nüchtern. In jedem Winkel der Stube schien ein Gespenst zu atmen. „Das sind nun Weihnachten“, sagte der Krämer bitter. „Da jagt man und schafft man das Zeug unter Gefahren ran, und dann hört man kein Wort einer Anerkennung oder eines Dankes. Wahrhaftig, man sollte einfach den leeren Laden anstarren!“
Mutter und Sohn sahen sich an. Herr Kleinemann glaubte wieder den gehaßten Blick aufgefangen zu haben, mit dem sich die beiden immer Verständigten. Er stand auf und zog den Rock an. „Ich will noch auf einen Sprung zu Werners. Hier bleibt ja alles kalt und nüchtern.“
Er ging.
Dia Kirchenglocken läuteten. Herr Kleinemann fühlte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er wischte sie nicht ab. Er wünschte sich jetzt, andere würden es sehen, daß er noch ein anständiger Mensch war. Nur anständige Menschen haben solche Gefühle, wenn die Weihnachtsglocken läuten.
Er erinnerte sich, daß er an solchen Tagen im Lager manchmal vergaß, daß die Kriegsgefangenen Feinde waren, und er hatte dem und jenem an der Tür lungernden und bettelnden Kerl eine Scheibe Brot oder einen Zigarrenstummel hinausgereicht. Ein anständiger Deutscher tat so was nicht, aber es war Weihnacht, und man drückte schon ein Auge zu.
Herr Kleinemann fühlte seine Rührung weichen. Er sah zwei Männer mit Gewehren auf der Straße daherkommen.
Sie steigen noch immer umher, dachte er ingrimmig. Man hatte dem Soldatenrat zugetragen, daß er die Beamtenhäuser mit Schwarzware versorge, und einige dieser Wächter der Revolution hatten in seinem Laden umhergesucht. Als sie an ihm vorbeikamen, grüßte er zwar höflich: „Na, kein Weihnachtsabend heut? Nicht daheim?“ Aber als sie hinter ihm waren, spuckte er das aufgesammelte Gift aus: „Erschießen soll man euch alle!“
Bei Werner war Licht, und Herr Kleinemann ging hinein.
Als der Krämer die Schenke betrat, hörte er im oberen Zimmer eine Frau singen ... „Ave Maria – Jungfrau mild ...“ Eine schöne Stimme war es, die jemand auf einem Klavier begleitete. – Ave Maria ...
„Das ist von Schubert“, sagte die graue Frau Werner. „Meine Tochter singt!“
„Schubert ...“, nickte Herr Kleinemann, der wieder die Rührung hinunterschluckte. Er wußte nicht, wer dieser Schubert war, aber er nickte. Einen Schubert hatte es auch im Lager gegeben; es war ein Metzger gewesen, dem war aber so was nicht zuzutrauen. Herr Kleinemann nickte. Er hatte einen Blick in das dicke Gesicht des jungen Werner geworfen. Er wußte, daß ihn dieser Kerl für ein dummes Schwein hielt, und darum war ihm auch dieses Gesicht unangenehm.
Herr Kleinemann trank seinen Schnaps aus und bestellte noch einen frischen. Die Tochter der Wirtin sang wieder. Herr Kleinemann schielte nach dem dicken Willi. Seine Galle wollte an diesem Abend nicht weichen. Er trank den Schnaps und sagte: „Ich geh’, ich hab’ daheim ein Bäumchen, und die Frau wartet mit dem Jungen.“ Er ging. „Der dicke Kerl grinst. Ich werde euch noch allen beweisen, wer Kleinemann ist“, murmelte er in einer furchtbaren Wut gegen das eingebildete Pack.
Da kamen wieder die beiden von der Soldatenwehr. Er wandte sich diesmal ab. Man sollte sie alle erschießen, auch den grinsenden Kerl da drin. Er ging eilig, die Glocken schlugen wieder an und begannen laut zu läuten. Herr Kleinemann drohte zurück: „Ich zeig’ euch noch einmal allen, wer Kleinemann ist ... Allen!“
Tanten war in den letzten Tagen zugänglicher geworden. Es schien, als fühle er sich in irgendeiner Schuld. „Ich weiß nicht“, hörte man ihn zuweilen brummen, „man findet sich bald nicht mehr ein und aus.“
An einem Morgen – es war der 15. Januar – stieß Franz Kreusat auf der Wache auf ein beklemmendes Schweigen. Die Kulis saßen wie versteint. Kramm schien geheult zu haben.
Franz fragte erschrocken: „Was ist denn los mit euch!“
„Die Noske-Offiziere haben Karl und Rosa erschlagen“, erzählte ihm Christian Wolny unter Tränen. „Mensch, Mensch!“ heulte auch er. „Verflucht, und wir sitzen hier und lassen uns von jedem Spekulanten leithammeln!“
Tauten schwieg.
Herr Loew kam, er war nur wieder dienstlich, er sagte nichts, aber Franz sah in das volle, graue Mönchsgesicht und wußte, daß der Wachtmeister sich heimlich freute. Und es freuten sich viele seiner Art. „Der Tod der beiden in Berlin läßt sie hoffen, daß bald ein anderer Wind weht, daß der Novemberschrecken für sie zu Ende ist, daß wir bald nicht mehr zu fürchten sind!“ lachte Kramm bitter. „Aber sie täuschen sich!“ sagte er mit einem Haßblick auf Loew.
Herr Loew behielt sein gemessenes Dienstgesicht. Er sagte, als hätte er Kramms Blick gemerkt: „Ich mische mich in keine Politik, ich führe nur meine Pflicht aus.“ Er fügte hinzu: „Übrigens sollen nächstens die Berichte über Ihre Wachgänge ins Wachbuch eingetragen werden.“
Franz kramte zu Hause das lange begrabene Büchlein aus der Kommode hervor und begab sich zu Fritz Raup. Er legte es ihm auf den Tisch.
„Hier hast es. Schreibe mich um.“