Читать книгу Sturm auf Essen - Hans Marchwitza - Страница 6

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Sie hatten demonstriert. Die Stadt war voll von roten Fahnen und Arbeiterzügen. Es schien wieder ein Novembertag zu sein. Hoffnung – Hoffnung!

„Wacht auf, Verdammte dieser Erde ...!“

Franz sang, schrie; er brannte, berauscht von dem Schrei der vielen. Aber sie hatten nicht die Geier und Wölfe aus ihren Höhlen und Schlupfwinkeln geholt; die Tausende gingen friedlich nach Hause.

In Berlin wurden die Spartakusleute gehetzt. Die Söldner hatten freie Hand, jeden, der eine rote Kokarde trug, festzunehmen und totzuschlagen.

Der Schrei der mächtigen Demonstration hatte sich wieder in die alltägliche, eintönige Jammermelodie verwandelt: „Brot! – Brot! – Kartoffeln! – Fett! – Wärmere Lumpen!“ –

Die Wehrleute fühlen überall Feindseligkeit. Die heimlichen Feinde nagen an dem Vertrauen der Menge. Überall, auf der Zeche, auf der Straße und in den Schenken verlangen die Kumpels Abtreten des Arbeiter- und Soldatenrats und fluchen auf die „Faulenzer“, womit sie die Soldatenwehr meinen. Herr Loew kommt mit höher erhobener Stirn. „Meine Herren, die Einwohner beschweren sich, daß sich unsere Wachleute zu wenig um ihre Ställe bekümmern. Es sind wieder Kaninchen gestohlen worden ...!“

Die lange verachtete Grube zieht Franz mit einemmal wieder an. Die schwarze Hölle, in der er sich jetzt wohler zu fühlen glaubte, als in dem ausgeglühten Schlackenhaufen. Auch Kramm und Raup meinen: „Es ist vielleicht besser. Wir müssen wieder unten anfangen!“

Aber nein, es wäre ein beschämender, ein demütigender Abschied und keineswegs richtig, daß auch sie jetzt wegrannten. Er mußte bleiben.

Er geht mit dem Gewehr auf der Straße. Schulte hatte über das Verschwinden der Gewehre aus dem Verwaltungsgebäude noch kein Wort verlauten lassen. Aber die heimliche Hetze unter der Belegschaft wirkte lähmend. Die Blicke der von der Schicht heimkehrenden Bergleute waren finsterer. „Na“, schrie manchmal einer, „wollt ihr nicht bald die Flinte ablegen und die Kohlenhacke in die Hand nehmen! Es wär’ bald an der Zeit. Der Faulenzer haben wir wohl genug mitzufüttern!“

Es war gegen Ende Januar. Die Wahl zu der Nationalversammlung hatte stattgefunden.

Im Saal der Hoffroneschen Wirtschaft saßen die Männer der Stoppenberger Arbeiter- und Soldatenwehr. Sie waren mit ihren Gewehren gekommen.

Die Ursache dieser Versammlung bei Hoffrone war ein Vorschlag der Bürgermeistereivertretung, die Soldatenwehr mit einer angemessenen Entschädigung zu einer freiwilligen Auflösung zu bewegen. Man wollte den Familienvätern und den aus ihrer gewohnten Berufsarbeit ausgespannten Bergleuten die Gelegenheit geben, „sorgenlos“ an ihre alte Arbeit zurückkehren zu können.

Es war ein sehr klug eingeleitetes Manöver und von den Parteien der Rechten, auch von der Sozialdemokratischen Fraktion, unterstützter Beschluß, der den Wehrleuten mit überzeugenden Begründungen dargelegt wurde. Die Bürgermeisterei könne auf die Dauer keine solchen Ausgaben tragen, der Säckel sei leer, und bei den obwaltenden Verhältnissen bestehe fast keine Aussicht, an eine Anleihe oder sonstige Hilfe auch nur zu denken. Dagegen würde mit der Einstellung einer normalen Polizei, natürlich in weit geringerer Zahl, die Stadtverwaltung sich vielleicht zu einem gewissen Zuschuß entschließen ... und so weiter und so fort.

Zu Anfang der Versammlung hatte unter den Männern der Wehr eine fast drückende Stille geherrscht. Den Worten des Bürgermeisters folgte noch immer die Stille. Man hatte ihn wieder vorgeschickt, weil man hoffte, daß er „väterlich“ und als Respektsperson vielleicht etwas mehr erreichen würde, und weil er schon öfters solche peinlichen Beschlüsse ohne große Stürme durchzusetzen verstanden hatte.

Der alte Mann bat, sich den Vorschlag in aller Ruhe und Vernunft zu überlegen.

Der zweite Redner, Steiger Schulte, sprach. Ein solcher Entschluß würde auch die Zustimmung der verängstigten Frauen finden, sagte er vermittelnd. Und auch die Einwohner würden eine solche Entscheidung und Änderung der untragbaren Zustände begrüßen ...

Die Stille wich einem Murren. „Die Weiber ... natürlich, man versorgt sie ja stündlich mit allen infamen Gerüchten“, erhoben sich protestierende Stimmen im Saal. „Selbstredend heulen die Weiber einem die Ohren voll, man soll das Gewehr hinschmeißen und eine vernünftige Arbeit aufnehmen, aber wer kriegt dann die Gewehre in die Hände? Unsere Leute nicht!“

Den Einwohnern wurden täglich blutige Spartakistengeschichten erzählt. Natürlich wünschte deshalb mancher die Soldatenwehr zum Teufel. Das spürte und wußte man selber, aber einer solchen neuen Polizei, wie die sich diese Herren dachten, freiwillig zu weichen, dafür hatte man im November nicht sein Leben eingesetzt.

„Genossen!“ sprach der Parteisekretär Schigalski, der Redner der Sozialdemokratischen Fraktion, und man merkte dem dicken Mann mit dem faltigen, mürrischen Gesicht die Wut gegen „den murrenden Unverstand“ an. „Laßt uns doch vernünftig denken. Wir können doch nicht ewig mit den Gewehren auf der Straße rumziehen. Alles hat seinen Anfang und sein Ende, und auch dieser Zustand muß einmal ein Ende haben. Wir können doch nicht immer von Revolution träumen, während dem übrigen Volk eine Last nach der anderen aufgebürdet wird. Wir müssen es einsehn, daß wir nicht auch noch eine solche Last werden.“

Da schrie Kramm: „Hör mit deinen salbungsvollen Reden auf! Ihr habt unseren Kampf in Berlin erwürgt und wollt jetzt auch uns hier erwürgen. Geh hin, wo du hergekommen bist.“

Ein Tumult erhob sich: „Hör mit deinen guten Ratschlägen auf! Du hast den wenigsten Grund, dich über den heutigen Zustand aufzuregen. Ihr habt die Revolution dem General Lüttwitz und Noske-Söldnern überlassen und wollt auch uns anderen das Grab schaufeln.“

„Wahnsinnig seid ihr!“ schrie Schigalski außer sich. Er starrte noch eine Minute in den Tumult und ging mit empörtem Gesicht auf seinen Platz zurück. „Mit diesen Wahnsinnigen kann doch kein Mensch reden.“

Der Bürgermeister schien zusammengeschrumpft. Er saß mit geneigtem Kopf. Steiger Schulte lächelte.

Der Bürgermeister bimmelte mit der Schelle. Im Saal tobte das Für und Wider. Die Schwankenden und schon immer hin und her Erwägenden, ältere Leute zumeist, empörten sich gegen den Lärm der Widersetzlichen. „Nu laßt sie doch reden. Einiges ist schon daran wahr, das Volk schaut uns schon lange mit schiefen Blicken an. Und auch die Weiber sehen vielleicht besser als unsereiner ... Laßt sie doch oben ausreden.“

Der Bürgermeister bimmelte mit der Schelle. Niemand hörte darauf. Unten in der Menge tobte die lange verhaltene Wut. Mehrere der aufgeregten Männer gingen nacheinander auf die kleine Bühne, um zu vermitteln, um irgendeinen anderen Vorschlag zu machen. Niemand hörte auf sie, niemand auf die zeternd bimmelnde Schelle. Sie stolperten verwirrt und betäubt wieder herunter.

„Jetzt fehlt tatsächlich eine handfeste Polizei“, sagte Steiger Schulte voller Verachtung zu Schigalski. Er hatte den Vorschlägen der Bürgermeistereisitzung eingebracht, er hatte ihn von der Direktion erhalten, die auf einer beschleunigten Entwaffnung bestand. Schigalski nickte in dem gleichen Zorn. Es hieß, von neuem beraten, bei den willfährigen Parteien anzuregen, den Beschluß einfach gegen den Willen der Wehrleute durchzuführen. Aua der Mitte des mit Tabakrauch vollgequalmten Saales kam mit schwerem Schritt Zermack in seinem abgewetzten Kanonieranzug.

„Der Zermack!“

„Still, der Zermack will sprechen!“ schrien mehrere in den Lärm. Und es wurde dieses Mal plötzlich wieder still.

„Der Jupp Zermack ...“

Der Bürgermeister bimmelte dieses Mal nicht mit der Schelle. Er drehte den weißen Kopf mit dem müden Gesicht, das so alt und überlebt wirkte wie seine Zeit. Er sagte zu dem böse darein starrenden Schulte: „Der Plan ist gescheitert. Wenn der Zermack dagegenredet, dann können wir uns jede weitere Mühe sparen.“

Zermack bestieg die Bühne. Er sah erst eine Weile auf die Vertreter der Bürgermeisterei-Versammlung und warf einen Blick des Unmuts auf den schweigsam und mit gesenktem Kopf dabeisitzenden Miller. Er sagte zu dem noch empörten Schigalski: „Du hörst die Meinung der Kumpels und kannst sie deiner Partei mitteilen. Ihr verursacht den Zwiespalt.“ Und er sah Schulte an, der, um seinen Haß zu verbergen, die Augen einen Moment niederschlug.

„Wir wissen, Genosse Schulte, wo Sie diesen Vorschlag herhaben. Aber sagen Sie den guten Herren, die auf die Entwaffnung drängen, wir gehen nicht auf solche Vorschläge ein. Wir haben die Gewehre nicht von den Herrschaften geschenkt bekommen.“ Darauf drehte er sich nach den Kumpels um, die atemlos still dasaßen, und sagte: „Die Herren wittern wieder Morgenluft. Wir haben zwar eine Republik, und man spricht von Demokratie, aber Hindenburg sitzt wieder oben, und Krupp ist auch schön dageblieben. Auch Herr Stinnes ist geblieben.“ Er drehte sich zu Schigalski um: „Eure Beauftragten-Regierung duldet es, daß die Schinder alle bleiben. Aber wir sind mit ihnen noch nicht fertig – deshalb behalten wir die Gewehre. Wir behalten sie, und wenn man uns mit noch schöneren Reden kommt.“ Er sagte zu den Wehrleuten: „Wir gehen.“

Die meisten Wehrleute erhoben sich, ergriffen ihre Gewehre und gingen aus dem Saal. – „Gott sei Dank!“

„Die können sich ihren Beschluß an den Hut stecken!“

„Der Zermack hat wieder die Situation gerettet!“

„Auf den Miller ist kein Verlaß, der schwankt auch immer hin und her!“

Miller hatte sich in der Versammlung nicht gemeldet. Der Grund seines Schweigens war sein Zugeständnis, das er halb und halb den anderen Bürgermeisterei-Vertretern – unter der Bedingung der Auszahlung einer angemessenen Abfindung – gegeben hatte. Ein Teil der USPD-Fraktion war geneigt, der Auflösung zuzustimmen, und Miller, der in letzter Zeit mit sich merklich verfahren und durch den Wahlsieg der bürgerlichen Parteien anscheinend entmutigt war, neigte immer wieder zu Verhandlungen auch mit Schigalski.

Am nächsten Tag kam Miller auf die Wache. Er war mit dem Ausgang der Versammlung und mit Zermacks Aufforderung, die Gewehre zu behalten, unzufrieden. „Was macht ihr für unsinnige Geschichten!“ warf er Zermack streng vor. „Gestern hatten die Leute noch die gute Chance, mit der angebotenen Entschädigung abzugehen, jetzt werden sie wohl ohne Geld gehen müssen, oder es kostet uns wieder neue Reden und Kämpfe, daß man das Geld auszahlt. Ich wollte euch nur“, sagte er verdrossen, „auf euern unsinnigen Widerstand aufmerksam machen, denn es ist eine oben fest beschlossene Tatsache, daß ein Teil der Leute gehen muß. Das wollte ich euch nur sagen und euch ermahnen, euern Widerstand aufzugeben!“

„Zum Teufel“, schrie Kramm, der dieser Unterhaltung beigewohnt hatte, „die sind jetzt alle irrsinnig geworden.“

Auch die anderen Kulis saßen verstimmt und ratlos da. „Das ist das Ende!“

Der Arbeiter und Soldatenrat hatte wieder eine lange Sitzung abgehalten. Nach langwierigem Widerstreit war, gegen Zermacks und Raups Stimmen, der Beschluß gefaßt worden, die Hälfte der Wehr an ihre alte Arbeit zu schicken. Unter diesen Entlassenen waren auch Franz Kreusat, Kramm und Christian Wolny. Raup und Kahlstein erklärten mißmutig, sie gingen auch.

Es war wie ein Trauertag, als sie das letzte Mal die Wache verließen.

„Aus!“ sagte sogar Kramm.

„Es ist noch nichts aus!“ beruhigte Raup. „Ich denke, wir müssen uns tatsächlich einmal wieder in der Grube umsehn!“ sagte er. „Die Kumpels brauchen Hilfe, oder sie verfallen ganz der Hetze.“ Sie schwiegen. Ein Trauertag.

Franz Kreusat begab sich nach der Zeche, um sich für die Arbeit zu melden. Er traf Zermack, der im Betriebsrat war. „Nun laßt jetzt nicht gleich alle die Köpfe hängen“, sagte Zermack, „wir haben mit der Wehr noch nichts aufgegeben. Laßt euch nicht niederdrücken, wir werden der Gesellschaft schon wieder unseren Willen zeigen. Geh, hol dir deine Lampe und sorge unten vor, daß die Feindseligkeiten nicht die Kumpels anfressen. Diese Schultes nagen hier wie die Ratten.“

Franz Kreusat fuhr nach fast vier Jahren wieder in die Grube. Hier unten hatte er sechzehnjährig als Pferdetreiber angefangen, Gedingeschlepper war er, als er in den Krieg ging. Jetzt fuhr er als Lehrhauer in die ihm fremdgewordene Nachtwelt ein. Würde er sich wieder hineinleben in diese Kohlenfinsternis, oder warf er schon nach der ersten Schicht wieder die Hacke hin?

„He, da kommt er!“ begrüßte ihn einer spöttisch.

„Komm nur mit runter!“ rief ein anderer. „Hier wirst du mal wieder zurechtgesotten! Wir müssen wieder gehörig Staub machen.“

Edy Koschewa und Bruno Freising kamen: „Mensch, gut, daß du wieder da bist! Hier muß vieles eingerenkt werden,“

Sie waren jetzt wieder viel freundlicher.

Er hörte noch mehr solcher Willkommensgrüße. Nein, es war nichts zu Ende. Hier begann seine neue Arbeit.

Als sie im Förderkorb hockten, erzählte ihm Christian Wolny: „Ich hab’ noch ein Gewehr mitgenommen!“ und fragte: „Du hast wohl deins abgegeben?“

Franz nickte.

„Dummkopf!“ schalt Christian. „Man hätte es brauchen können! Mensch! Mensch!“

Eine halbe Stunde später knieten beide in den niedrigen Rutschenfeldern.

Franz Kreusats erste Hackenschläge waren ungeschickt und unsicher. Nach wenigen Minuten strömte an ihm der Schweiß herunter. Er erschrak vor dem Knallen der Kohlenlagen und dem Donner der Sprengschüsse. Aber nach und nach gewöhnte er sich wieder an den kleinen Lichtschein und an die Qualmwolken, an den Schweiß und die Schreie, die aus dem Dunkel des langen Feldes zu ihm drangen. Er schlug und schaufelte sicherer: er war wieder Bergmann, Kohlenhauer.

Über ihm arbeitete der Heinrich Gutschnick, ein immer düsterer, schweigsamer Mensch. Gutschnick hatte draußen seinen Hauptmann erschossen, „einen Schinder“, wie er Franz während der kurzen Pausen in seiner Wortkargheit erzählte. „Einen Hund, der sich hervortun wollte und die Kumpels immerzu in das Totenfeld hinausjagte, wo schon die halbe Kompanie faulte.“ Das Kriegsgericht hatte Gutschnick zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Es reichte nicht zum Todesurteil, weil nicht genügend Beweise für eine „vorsätzliche Tat“ Vorlagen. Aber er hatte es bewußt getan. Das war neunzehnhundertsechzehn geschehen, aber man hatte ihn vergessen und erst zwei Monate nach der Revolution entlassen; deshalb haßte Gutschnick alles, was jetzt wieder oben saß. Wie gesagt, sie kamen nur selten miteinander ins Gespräch, die meiste Zeit brütete Gutschnick dumpf und in einem stillen Haß für sich. Gelegentlich hörte Franz ihn in seinem Ort allein reden: „Man hätte sie alle totschlagen oder binden und dahin verfrachten sollen, wo ich gesessen habe, dann wären wir sie jetzt los“ – und er schlug heftiger in die Kohle: „Schinder, verfluchte!“

Gutschnick war in der USPD, er war aber noch voller Argwohn, „ob da drin auch die richtigen Geister bestimmten“.

Er beobachtete trotz seiner Verschlossenheit alles mit Argusaugen und sah manches, was anderen entging; er sah auch den dauernden Zwiespalt unter den Unabhängigen. „Ich seh’ doch“, sagte er, „ich hab’ meine Augen. Der Miller scheint noch nicht zu wissen, wo er hinsteuern will. Er hört zuviel auf den wankelmütigen Teichmann, den sie auch lieber ganz woanders hätten hinsetzen sollen, aber nicht als Sekretär einer solchen Partei. Diese Leute leben ja nur halb mit der Revolution. Wenn man sich der Schinder nicht mit Gewalt entledigt, dann werden sie uns allen wieder rücksichtslos das Joch umhängen! Wir müssen uns in der eigenen Partei einigen, dann können wir von den anderen eine Einigkeit erwarten! Wenn sich die Unabhängigen verzetteln, dann haben die neuen Schinder oben ihre Freude dran. Ich bin hineingegangen“, meinte er, „weil ich mir sage, daß man hier helfen müsse, damit sich nicht auch darunter das Geröll mischt. Und ich hab’ auch noch eine Rechnung mit den Schindern zu begleichen.“

Während der Pause lag er in der Förderstrecke auf einigen Hölzern und starrte nachdenklich und mit düsterem Blick nach der Decke. „Weißt du“, begann er dann nach längerem Grübeln, „ich frag’ mich manchmal: Was ist doch der Mensch für ein merkwürdiges Geschöpf. Da trägt einer dasselbe Gesicht wie du und ich und ist doch nichts wie eine Bestie. Alle werden doch nicht gleich als Canaille geboren, sondern als Menschen; da macht das bessere Bett oder das abgelumpte oder seidene Hemd der Mutter nichts aus. Sie müssen sich alle gleich quälen; das Kleine kommt wie jeder andere Mensch nackt und dumm, es schreit wie alle nach Fraß und unterscheidet noch gar nicht, ob es ein Herr Krupp oder ein armer Teufel ist, ob es später von anderen gepeinigt werden soll oder selbst peinigen wird. Aber dann kommt die Zweiteilung, eben der Herr Krupp und der Lump und Schlepper Kreusat, der Herr Hauptmann von und zu oder der Muschkot Gutschnick. Dem einen fallt alles zu, dem anderen nichts, der eine frißt gut und kommandiert, der andere hungert und schleppt und muß für den Herrn Krupp und Von und Zu verrecken, weil es eben eine solche Ordnung ist. Und hat sich daran etwas geändert? Nein! Siehst du, wir hatten eine Revolution, aber ich mußte trotzdem noch monatelang in der Zelle sitzen. Ja, so ist es. Und jeder will ein Mensch sein – wirklich merkwürdig!“

So philosophierte der schwerfällige Mensch jede Schicht; aber Franz hörte ihm gerne zu, denn Gutschnick war ein gerader, wahrhafter Mensch, der sich mit keiner oberflächlichen Redensart zufrieden gab, und der immer, wenn es ihm noch so viel Qualen machte, tief auf den Grund des verdammten Lebens zu dringen versuchte und alles untersuchen und erkennen wollte.

Die anderen Hauer waren weniger mitteilsam oder Gutschnick zu leichtfertig und geschwätzig.

Aber in den letzten Tagen gingen die Wogen der Erregung im Schacht wieder hoch. Die Debatten drehten sich um die Sechsstundenschicht, die den Bergleuten versprochen worden war.

„Es gibt wieder neue Stürme!“ hoffte Christian glücklich. Er hoffte immer. „Die reaktionäre Gesellschaft hat zwar bei den Wahlen gesiegt, weil ihr alle, auch unsere Sozialdemokraten, die Schafe zugetrieben haben, aber wir haben die stärkeren Fäuste und den Mut, um unser lieben zu kämpfen“, redete er eifrig. „Das Geröll sondert sich jetzt ab, das unter uns geschwemmt wurde und uns gelähmt und behindert hatte. Unsere guten Kumpels stehen fest. Wir haben Hoffnung, Fränzchen!“

Es ist Februar.

Der Schacht ruht. Die Bergleute streiken. Sie verlangen die versprochene Sechsstundenschicht. Die Verbandsführer verhandeln mit der Regierung, mit den gebliebenen Zechenbesitzern.

Sie verhandeln wieder.

In den Versammlungen tobt man und schreit: „Verrat! Man verhandelt und verkauft uns mit Haut und Haar!“

Verbandsbücher werden zerrissen, die Union der Kopf- und Handarbeiter wird gegründet.

Auch Franz und Christian wurden von dem neuen Sturmwind mitgerissen; sie traten der Union bei und schrien jedem radikalen Redner Beifall. Sie stellten sich freiwillig als Streikposten hin oder jagten mit den Flug blättern der Union in die Häuser.

Franz wunderte sich nur – bei Miller verstand er es –, daß auch Raup plötzlich gegen diesen neuen Wechsel war. „Warum machst du nicht mit?“ fragte er Fritz Raup enttäuscht. „Du warst doch sonst immer gegen die Politik der Verbandsführer und hast auf die Verräter geschimpft, und jetzt hältst du dich zurück ...“

„Das verstehst du nicht“, antwortete Raup. „Es ist doch purer Unsinn, der jetzt angestellt wird. Wir können uns doch nicht völlig zerreißen. Die Gründung dieser neuen Gewerkschaft ist ein Unglück.“

„Ach, du Unglücksprophet!“ wehrte sich Franz gegen diese Redensarten, die er in diesen Tagen öfters hörte. „Was wollt ihr denn noch mit euerm alten, vermoderten Verband, wir kommen ja gar nicht mehr von der Stelle!“

Fritz Raup antwortete: „Es ist Unsinn! Es ist ein Unglück! Mit zersplitterten Kräften kommen wir erst recht keinen Schritt vorwärts.“

Raup hatte Franz mit seinen Einwänden wieder verwirrt. Er überlegte, ob er sich nicht verrannt habe; er schwankte, Raup wisse doch gewiß etwas mehr als er. Raup war seit zwanzig Jahren Verbändler, er was Unabhängiger, er war nie für Kompromisse gewesen, nie für Verständigung, wo Verständigung nicht angebracht war; und hier wurde wieder gehandelt, verhandelt mit der abtrünnigen Regierung, mit Krupp, mit Stinnes, mit den gebliebenen Schindern und Mördern. Franz begriff nicht, warum der Kumpel dieses Mal nicht mitmachte.

Er stieß, während er wieder Flugblätter der Union verteilte, mit Miller zusammen. Im ersten Moment schlug Franz vor Millers Blick die Augen nieder.

„Du entwickelst dich schön!“ sagte Miller vorwurfsvoll. „Früher konnte man dich kaum zu etwas bewegen, und jetzt geht es dir nicht eilig genug.“ Franz sah ihn an. Voller Groll stand Miller da, voller Verachtung. „Wirrköpfe“, sagte er. „Und von diesem neuen Haufen Elend erhofft ihr etwas? Jetzt geht die Spaltung immer weiter, und wir können die letzte Hoffnung begraben!“

„Ich glaube, noch nicht!“ verteidigte sich Franz und fand es sinnlos. „Ich versteh nicht, warum ihr so dagegen seid, fast alle anderen sind dafür.“

„Weil sie verrückt geredet wurden!“ entgegnete Miller streng. „Weil sie alle nicht mehr nachdenken.“

Er ließ Franz in seiner Verwirrung stehen und ging.

Franz wußte nicht, ob er die Flugblätter weiter verteilen sollte, und stand längere Zeit ohne Entschluß vor dem Haus.

Mit dem Streik schienen aber Miller und Raup einverstanden zu sein, denn in den Versammlungen sprachen sie wie alle Redner für die Einführung der Sechsstundenschicht, und das gab Franz wieder Mut. Er sagte sich: „Ich bin schon auf dem richtigen Wege!“

Miller und Fritz Raup blieben weiterhin bei ihrer Ablehnung der Union. Auch Zermack ging in diesen Tagen düsterer umher. Er sagte öfters: „Ich weiß nicht, ob man mit der Zersplitterung nicht voreilig gehandelt hat.“ Weil er aber befürchtete, daß die plötzlich wieder radikal gewordene Menge zu sehr sich selbst und neuen Feinden überlassen blieb, darum hatte auch er seinen Übertritt vollzogen. Man hatte ihn gleich in der nächsten Versammlung zum Obmann der neuen Union gewählt, und diese Wahl beruhigte auch Fritz Raup wieder etwas.

Der Streik hatte sich in Eile auf alle Schächte ausgedehnt. Die Agitatoren der Union sprachen überall an den Straßenecken, in den Kneipen, und in jeder Versammlung: Man sei die alten Hindernisse losgeworden, der Kampf der Arbeiterklasse sei in ein neues Stadium getreten! Und es schien in der Tat eine Wendung eingetreten zu sein. Die Müdigkeit war von den meisten gefallen, auch die Augen der älteren Leute sahen hoffnungsvoller darein, und in die Union strömten immerfort neue Mitglieder. Aber gerade diesen eiligen Anmeldungen mißtrauten Miller und Raup. „Es ist nicht alles von Wert, was in eure Union hineinrennt!“ ernüchterte Raup Franz wieder, wenn er sich auf diesen Mitgliederzuwachs berufen wollte. „So ist jetzt allem feindlichen Volk Tür und Tor geöffnet“, zürnte er, „das wird noch der Tummelplatz aller gelben Geister, und man wird noch einmal froh sein, wenn uns diese Geschichte nicht ganz über den Kopf wächst, daß wir Älteren den jahrzehntelang erprobten Verband nicht beiseite geworfen haben.“

Die Regierung hatte den Sozialdemokraten Karl Severing als Verhandlungskommissar ins Ruhrgebiet geschickt. Und um die Ruhe und Ordnung zu sichern, rückten Aufgebote der Reichswehr in die Städte.

Auch in Essen sah man in den nächsten Tagen über’’ all die Söldner mit dem Stahlhelm stehen. Es waren gutgefütterte junge Bauernburschen und Abenteurer aus dem Baltikum und vom Grenzschutz.

Franz Kreusat ging mit Christian umher, und sie sahen sich die Soldaten an. Die waren sich ihrer Sache nicht sicher und standen unruhig und immer mit der Hand am Karabiner oder an der Handgranate. „Man müßte ihnen die Dinger wegnehmen“, sagte Christian jedesmal in einer stillen Wut. „Das müßte man tun“, sagten andere und standen weiter da, ohne den Wunsch auszuführen. „Man müßte ihnen die Dinger tatsächlich abnehmen.“

„Verflucht, keiner wagt es!“

„Niemand hat den Mut!“

Sie zogen wieder nach Hause, unzufrieden, weil keiner den Mut aufbrachte, sich den Söldnern zu nähern und ihnen die Gewehre abzunehmen. Jeder schien dasselbe zu denken: Stürzt man sich über einen her und nimmt man ihm die Knarre ab, dann knallen gleich die anderen Knarren. Und wenn Franz Kreusat aufrichtig sein wollte, trotz allem Haß und dem Wunsch, sich auf den nächsten der Söldner zu stürzen und ihn zu entwaffnen, er konnte nicht eine Minute lang die heimliche, eisige Angst loswerden, die ihn beim Anblick der drohend vorgehaltenen Gewehrläufe lähmte – ein kleiner Zug mit dem Finger und es war aus mit allen Träumen. Nein, er brachte den Sprung nicht fertig.

Auch Christian wagte diesen Sprung nicht.

Sie knirschten und fluchten, alle knirschten und wüteten, aber nicht einer griff zu, nicht eine Hand regte sich. Verflucht! Verflucht! Und früher waren sie auf einen Pfiff in den Tod gerannt – auf einen Wink.

Sie demonstrierten. Massen, Hunderttausende. Die Söldner standen, bleich und mit merkbarer Angst, aber sie standen. Und die Werk- und Bergleute zogen vorbei, sie schrien und brüllten: „Mörder! Bluthunde!“ Sie schrien und zogen vorbei. Die Söldner sahen grau aus vor Angst, sie hielten den Finger am Abzug. – Die Masse schrie: „Mörder!“ – und zog vorbei. Tausende, Zehntausende schrien vor Wut und Haß, und zogen doch nur wieder vorbei.

Franz Kreusat ging jedesmal mit neuen Hoffnungen, mit tausend, mit Zehntausenden Hoffnungen mit – und ging geschlagen zurück. Auch Christian sprach kein Wort mehr, wenn sie wieder nach Hause zogen.

Eines Tages flog eine Handgranate. Keiner hatte nach dem Söldner gegriffen, keiner hatte etwas unternommen, sie hatten rund um den Söldner gestanden und hatten ihn angesehen. Jemand hatte dann gefragt: „Warum stehst du hier? Wär’s nicht besser, du gingst nach Hause? Hierher kommst du, wo wir alle nichts zu fressen haben, wo sich die Menschen schinden! – Warum gehst du nicht zu Krupp oder Stinnes, und warum hältst du nicht diesen deine Knarre auf die Brust?“ Und da warf der Söldner in Todesangst die Handgranate. Blut und Gehirn klebten an der Wand des Hauses. Der Söldner lief, er hatte das Gewehr weggeworfen. – „Laßt mich, ich wollt’ es nicht! Man hat mich hergeschickt ...“ Er heulte und rief: „Ich wollt’ es nicht …“ Er hatte ein Gesicht wie jeder Mensch, wie die Grubenschlepper; man hatte ihn nicht gegriffen, nicht zerrissen, er lief wie wahnsinnig davon. „Ich weiß nicht, man hat mich hergeschickgt!“ – – –

Keiner griff ihn und schlug ihn tot.

Den ganzen Tag zogen Tausende an dem Haus vorbei, an dem das Blut schreckte. „Man muß jetzt ein Ende machen!“ knirschten alle, die vorbeigingen.

Die Söldner waren mit einemmal aus den Straßen verschwunden. Die Regierung hatte sie zurückziehen lassen, besorgt, die Menge könnte die Geduld verlieren. Auch in anderen Städten waren Handgranaten geworfen worden, es hatte Tote gegeben, und die Regierung ließ die Reichswehr wieder abziehen.

In diesen Tagen war sich Franz Kreusat über eins klar geworden: Du darfst keine Angst haben, wenn solche Söldner wieder einen Lauf gegen deine Brust richten. Du darfst vor der Handgranate keine Angst haben. Du bist früher auf einen Pfiff in den Tod gerannt, auf den Wink eines kleinen Schinders, und wußtest nicht, weshalb du rennst. In diesem Falle hättest du dir selbst, allen anderen einen Wink geben müssen. Einer hätte dem anderen den Wink geben müssen. Einer – wie Lenin! –

Die Schächte fördern wieder. Die Bergleute fahren nur sechs Stunden an. Ein Sieg; aber die Steiger versuchen jetzt in den sechs Stunden das Soll herauszuhetzen, das die Kumpels bisher in der längeren Schichtzeit herausgeholt hatten.

Kalles abgehetztes Gesicht – es war der Reviersteiger – tauchte jetzt noch öfters zwischen den Hölzern auf. „Nun habt ihr die Sechsstundenschicht, das heißt aber nicht, daß wir jetzt die Schippe gänzlich auf die Seite legen. Die Wirtschaft braucht Kohle. Auch die Alliierten wollen Kohle, oder sie rücken ein. Wir können uns jetzt nicht einfach hinlegen, fördert also Kohle ...“ Und wieder hören die Kumpels ihn jeden Tag und über all: „Die Wirtschaft geht zugrunde. Schafft Kohle – Kohle muß kommen ... Kohle!“

Das Gefängnis „Leben“ scheint dunkler, enger zu werden als vor dem November. Franz Kreusat geht mit Therese öfters nach dem Hoffrone-Saal, um zu tanzen. Eine Nacht tobt er durch, dann folgt wieder ein Tag, den er verflucht, denn dieser Tag ist wie alle anderen Tage: Schlepparbeit, Groll der Kumpels, närrische Debatten von Niederlage, bis er aufbrüllt: „Klagt doch nicht, Schwächlinge, verflucht! Wer hat euch denn dieses neue Joch aufgelegt? Habt ihr nicht selber dabei geholfen?“

Der Himmel bleibt grau. Die Werksirenen heulen wie hungrige Tiger. Die Schachtklöppel dröhnen in seinem Schlaf. Die Rutsche rappelt noch während er liegt in seinen Knochen.

Schlotternd und zähneklappernd kriechen die Kumpels aus den triefenden Schachtkörben. Das „dicke Hemd“ fehlt, durch die Hosenlöcher bleckt die welke Haut. Sie schreien, um zu schreien, um sich selber wieder zu hören. Alle sind taub von dem Bohrhämmerkrach und dem Rutschengerappel. Es soll Kartoffeln geben. Jeder redet von den Kartoffeln.

„Ha, Kartoffeln! Das gibt wieder mal Pfannekuchen! Dann wird sich noch ein Schweinchen dazugelegt, das gibt einen Schmaus!“

„Vielleicht läuft dir ‘ne Katze in den Weg, die sich in das gewünschte Ferkel verwandelt!“

„Ein leckerer Dachhase ist auch nicht zu verachten. Unsre Alten hatten sie oftmals als Schweinebraten genossen und haben ein Dutzend Athleten wie uns in die Welt gesetzt!“

„Ho, was unsre Alten konnten, das können wir auch!“

Sie prahlten und schrien, als wäre jeder ein wohlausgefüttertes Zuchttier: der krumme Kosek, der immer betrunkene Labisch und der langnasige Metze, den der Wind aus den Fetzen bläst. Labisch ist vom Grenzschutz zurück. Er geht jeden Lohntag nach Hoffrönes Kneipe und spielt Siebzehn und Vier, bis er sein Geld völlig verspielt hat. Er redet jetzt, daß er sich zu der neuen „grünen“ Polizei melden wolle; es ist die neue Polizeigarde, die zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung aufgestellt werden soll.

Metze und Kosek sind Mitglieder des Kyffhäuserbundes, der den alten gelben Werkverein abgelöst hatte.

Die beiden reden von „Täubchen“, die sie auf Reisen schicken, von Kaninchenbraten, die sie nur in ihren Wünschen auskosten. Ihre Adamsäpfel hopsen wie Teufelszeiger an ihren dürren Hälsen.

„So ein Kaninchenbraten ... ha!“

„Elin saftiges Lendenstück ... ha!“

„Daß einem das Fett am Maule herunterströmt ... ha!

„Lieber ein Rindsstück ... ho!“

„Einen fetten Schweinekopp ... hoho!“

„Mir würde ein fettes Stück Hinterteil genügen ... ha!“

„Dann aber, Alte, hastenichgesehn ... ho!“

„Wenn ihr doch einmal mit dem sündhaften Reden aufhören wolltet!“ klagt der Sabbatist Janke.

„Paß auf deine Alte auf, du heiliger Apostel, sie holt sich heimlich den Steiger herein. Siehst ja vor lauter Bibel nicht, daß sich dein Weibchen mit anderen paart!“

„Hohohoho!“ heult die Kaue.

„Es gibt Kartoffeln ...“

„Kartoffeln gibt es ...“

„Kartoffeln ...“

„Die Herren Betriebsräte haben sich endlich angestrengt!“

„Es wird Zeit, sonst wächst ihnen der Arsch an dem Verhandlungstisch fest ...“

„Es gibt Kartöffelchen!“

„Kartöffelchen!“

Der Betriebsobmann Heise, den sie schon dreimal abgesetzt und wieder gewählt haben, verhandelt nur noch die ganzen Tage und halbe Nächte mit der Direktion wegen Kartoffeln, um die nach Fraß Brüllenden zu besänftigen. Man schindet ihn, als hätte er das Elend verursacht und nicht die Herren Geldsäcke. Man macht ihm das Leben so sauer wie nur möglich. Franz hat manchmal das Bedürfnis, mit den Fäusten dazwischenzuhauen: „So laßt ihm doch etwas Atem, Narren verfluchte, seht ihr denn nicht, daß ihr ihn zuschanden hetzt!“

„Ich geh’ hier weg“, sagte ein Junge neben ihm mit dem vergrämten Gesicht eines alten Menschen, „ich melde mich zur Fremdenlegion. Das hier ist doch kein Leben mehr.“

„Gewiß, Junge, es ist gegenseitiger Mord.“

Der Junge ist Heises Sohn, ein Sohn, der den Vater haßt, weil er für alle den lächerlichen Hanswurst spielt.

„Spei den Idioten doch in die Fresse“, schreit er den grauen Mann an, der auf der Bank steht und stammelt, daß die Kartoffeln noch nicht herangeschafft werden können, weil es an Transportmöglichkeiten fehle, während die wilde Gesellschaft ihn voller Wut anheult: „Ihr seid alle aus demselben Holz geschnitzt!“ – „Ihr taugt alle keinen Schuß Pulver!“ – „Auch dir ist der Arsch an den Sessel festgewachsen!“

Der Junge sagt mit Bitterkeit: „Ich seh mir dieses Theater nicht mehr lange an. Ich melde mich, ganz gleich wo, und wenn es mein Krepieren ist.“

Es ist ein bleiches Knabengesicht; es erinnert Franz an viele gleichen Gesichter aus seiner Kindheit. „Wenn es heut noch möglich wäre, auf See zu kommen“, sagt der Junge, „als blinder Passagier meinetwegen, ich würde ohne Zögern ziehen!“

Franz sagt: „So habe auch ich geträumt. Es hat keinen Zweck! Alles Fallen, Wolfsgruben. Wir müssen hier kämpfen!“

„Hier kämpfen. Kämpf doch“, sagt der Junge böse, „du siehst doch, was sie treiben. Ich hab’ mir wirklich alles anders gedacht. Jetzt fressen sie sich wieder.“

Franz schwieg.

„Es kann sich wieder über Nacht ändern, wart’, Junge!“ tröstete er ihn und auch sich. Ja, er hoffte, daß über Nacht etwas anderes kommen müßte, kommen würde!

Das war seine heimlich fortlebende Hoffnung. Sie stieg auch in Christian Wolnys Träumen wie ein Schiff mit vollen, roten Segeln aus dem Dunkel der Hoffnungslosigkeit. Sie winkte aus dem goldroten Morgen, aus den grell auflohenden Bränden des Werkes, die wie flammende Fahnen den rauchdunklen Himmel erleuchteten. Sie regte sich in ihm, wenn er die haßerfüllten Mienen der Schlepper nachdenklicher, ernsthafter, menschlicher bemerkte, wenn einer murmelte: „Hoffentlich kommt ein Tag, wo der Mensch wieder den anderen Menschen versteht“; wenn ein zweiter den gehetzten Heise reuig anrief: „Albert, hetz dich nicht so ...“, ein dritter ihn beim Arm faßte: „Genosse Albert ...“; wenn der Knabe Heise ruhiger und mit verträumtem Blick neben ihm ging: „Franz, glaubst du, daß die Menschen sich noch einmal rühren? Weißt du, ich lief damals immer vorn bei der Fahne. Ich mußte alles sehen und hören. Wenn es noch mal losgeht, dann heul’ ich vor Freude!“

Seine hingeworfenen Worte: „Wenn es noch mal losgeht“, beschäftigten Franz den ganzen Weg. Seine Kraft wuchs: „Nein, es kann noch nicht alles zu Ende sein!“

Sie schlagen Berge von Kohle; sie steigen jeden Tag in den Rachen der Hölle; alle wissen, daß es ihr Tod ist, wenn sie unter dem brechenden Gestein schuften. Was macht es ihnen leichter, ihre Todesangst zu überwinden, was gibt ihnen die Kraft, den Gang in die Achthundertmeter-Tiefe immer wieder zu wagen? Weil sie wissen, daß der andere in der Nähe ist und ohne Zögern zu Hilfe eilt, wenn einem Gefahr droht. Kleinsucht, Groll, Zwiespalt sind wie weggeweht. – Der Kumpel ist in Not! und jeder wird Mensch, Kumpel, Genosse und steht dem Unglücklichen bei.

„Es wird wieder anders“, suchte sich Franz zu beruhigen, er hatte ja schon mehrere Male ihre furchtbare Kraft erlebt, beim Sturm auf die Kasernen, bei Dutzenden von Demonstrationen. Nur klüger, überlegener mußten sie handeln, nicht zwiespältig, nicht der eine hott, der an dere hü; zusammen und mit den gleichen Gedanken.

Sturm auf Essen

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