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1.2 Forschungsgegenstände

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Die Finanzgeographie ist heute ein differenziertes Forschungsgebiet im weiten Feld der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Ihre Forschungsgegenstände treten auf allen räumlichen Maßstabsebenen auf. Sie reichen von der Analyse der kleinräumigen Ballung von Finanzdienstleistern in städtischen Bankenvierteln über die Erfassung und Bewertung von Regionalwährungen und internationalen Transferleistungen bis zur Evaluation des globalen Finanzsystems. Das Zusammenwirken und der unterschiedliche Einfluss von Entwicklungen und Strukturen auf verschiedenen Maßstabsebenen interessieren dabei besonders. Entsprechend sind die räumlichen Einheiten selbst im Sinne eines Ausschnitts der Erdoberfläche meist weniger Objekt der Untersuchung. Vielmehr stellen in der Regel die einzelnen bereits benannten Akteure/Akteursgruppen eines Finanzsystems (Haushalte, Unternehmen, Organisationen, Staaten) und besonders die Beziehungen zwischen ihnen – also z.B. die Zusammenarbeit unterschiedlicher Finanzdienstleister bei syndizierten Finanzierungen oder die Regulierung von Finanzinstituten durch Regierungen und internationale Organisationen – den Ausgangspunkt der Betrachtung dar.

Regionale Disparitäten

Im Einzelnen können die folgenden Forschungsgegenstände bzw. Fragenkomplexe zusammengefasst werden: Erstens untersucht die Finanzgeographie das Verhältnis zwischen der Zirkulation und Akkumulation von Kapital und räumlich differenzierten Entwicklungsprozessen. In unterschiedlichen Kontexten wird hier aufgeklärt, ob und wie Finanzströme und -dienstleistungen zu einem Ausgleich regionaler Disparitäten beitragen oder inwiefern sie räumlich und gesellschaftlich fragmentierende Entwicklungen verstärken. Dabei befasst sich die Forschung ebenso mit den ungleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in und zwischen Staatengemeinschaften wie mit den Wohlstandsunterschieden zwischen wirtschaftsstarken und -schwachen Regionen innerhalb eines Landes, in denen z.B. periphere oder ländliche Standorte von der Schließung von Bankfilialen betroffen sind. Auf der Mikroebene thematisiert sie u.a. die zunehmende Benachteiligung bestimmter Gruppen beim Zugang zu Finanzdienstleistungen und den Zusammenhang dieser finanziellen Exklusion mit ethnischer Segregation in städtischen Teilräumen.

Finanzmärkte und -institutionen

Zweitens beschäftigt sich die Finanzgeographie mit den Organisationen und Institutionen des Finanzsektors in ihrer Einbindung in Finanzsysteme von unterschiedlichem Charakter und unterschiedlichen Reichweiten. Zu den Organisationen zählen zuvorderst die Anbieter von Finanzdienstleistungen (z.B. Banken, Versicherungen, Risikokapitalgeber) und ihre Produkte wie Kredite, Beteiligungs- und Mikrofinanzierungen oder Verbriefungen. Wichtige Institutionen des Finanzsektors sind die Finanzmärkte, d.h. Geldmarkt, Kapitalmarkt und Devisenmarkt, sowie die Regeln und Normen, mit denen staatliche Institutionen und internationale Organisationen die Tätigkeiten von Finanzinstituten und ihren Kunden lenken (möchten). Finanzgeographische Forschungen fragen innerhalb dieses Themenkomplexes u.a. danach, wie sich Finanzmärkte durch technische Neuerungen wandeln und international vernetzen oder wie sich nationale Finanzsysteme unter dem Druck globaler Entwicklungen und der sog. Finanzialisierung (vgl. Kap. 3) verändern.

Finanzzentren

Einen dritten zentralen Forschungsgegenstand bilden Finanzzentren, also Agglomerationen einer großen Zahl und meist auch Vielfalt von Finanzinstituten. Die von hier ausgehenden Kundenbeziehungen können ganze Kontinente umspannen. Allen voran haben London und New York eine herausgenommene Bedeutung als Entscheidungszentren über weltweite Kapitalströme. Andere Finanzzentren wie Sao Paulo oder Stockholm erfüllen eher die Funktion eines regionalen Anbieters von Finanzdienstleistungen. Zwischen und innerhalb der verschiedenen Finanzzentren besteht ein vielschichtiges Verhältnis von Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen. Die Finanzgeographie ergründet hier u.a., wie sich diese Verhältnisse angesichts des Aufstiegs neuer international bedeutsamer Finanzzentren (v.a. in China) oder unter dem Einfluss von sog. Offshore-Zentren verändern. Daneben sucht sie nach Erklärungen für die hohe Konzentration von Finanzunternehmen in Finanzzentren und erforscht Wissenstransfer- und Innovationsprozesse sowie die soziokulturellen Bezüge, in denen Finanzdienstleister hier interagieren.

Unternehmensfinanzierung und regionale Entwicklung

Ein weiteres Forschungsfeld ist die Analyse der Beziehung zwischen Kapitalströmen und der Entwicklung einzelner Wirtschaftszweige an einem Standort und damit der regionalen Wirtschaftsstruktur und Branchenlandschaft. Im Erkenntnisinteresse stehen hier Fragen der Unternehmensfinanzierung in ihrem Zusammenhang mit regionalen Faktoren, oder allgemeiner gefasst: das Verhältnis zwischen Finanz- und Produktionssystem in seinen räumlichen Bezügen. Beide Systeme sind durch verschiedene Finanzbeziehungen (z.B. Kreditfinanzierung durch die Hausbank, Beteiligung eines Business Angels) verknüpft, daneben durch den Austausch von Informationen und Wissen sowie unterschiedliche Kontroll- und Machtbeziehungen. Indem sie solchen Verbindungen nachspürt, deckt die Finanzgeographie z.B. auf, wie wissensintensive Finanzdienstleister zur Entwicklung von Technologiefeldern beitragen und so Branchen und regionale Wirtschaftsstrukturen verändern können. Die Vorzüge und Nachteile, die geographische und andere Formen der Nähe in den vielfältigen Beziehungen zwischen Kapitalgebern und -nehmern haben, liefern dabei einen wichtigen Erklärungsbeitrag.

(Noch) jüngere Fachinhalte

Diese vier Themenkomplexe wurden ähnlich bereits in Ron Martins (1999) früher Systematisierung identifiziert und daraufhin wiederholt aufgegriffen (z.B. POLLARD 2003; vgl. auch HANDKE und SCHAMP 2011). Der Großteil der seitdem entstandenen Arbeiten lässt sich diesem fachlichen Kern bis heute gut zuordnen. Natürlich hat sich das Forschungsprogramm der Finanzgeographie auch weiterentwickelt und ausdifferenziert, besonders im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, die der Subdisziplin zweifellos zu erhöhter Aufmerksamkeit verholfen hat. Naheliegend nimmt die kritische Auseinandersetzung mit Finanzkrisen und Spekulationsblasen gegenwärtig einen zentralen Platz im Fachdiskurs ein. Im Vordergrund stehen hier die Erforschung von Ursachen, regionalen Ursprüngen und Auswirkungen von Krisen, Fragen der Regulierung bzw. Finanzsektorreform sowie die Verschiebung von Risiken und Risikomanagement weltweit. Daneben haben alternative Formen der Organisation sozioökonomischer Beziehungen wie regionale Tauschgeldprojekte und Zeitbörsen viel Beachtung erfahren. Die Diskussion möglicher Gegenkonzeptionen zu den normativen Vorstellungen kapitalistischer Machart, wie sie allgemeiner auch in den Diskursen um solidarische und alternative Ökonomien geführt wird, ist damit ebenfalls zentraler Gegenstand.

Die bezeichneten, zum Teil miteinander verbundenen Forschungsfelder sind einem dynamischen Wandel unterworfen. Entsprechend entwickelt sich das Themenspektrum der Finanzgeographie stetig fort. Als wichtige weitere Fachinhalte für die künftige Arbeit lassen sich gegenwärtig anführen:

• Technologische Neuerungen im Finanzwesen wie z.B. mobile banking und ihre Risiken und Potentiale für die regionale Entwicklung,

• Finanzierungsstrukturen, -flüsse und -strategien in unternehmens- und grenzübergreifenden Produktionsnetzwerken,

• Entstehung, Entwicklung und Zusammenwirken von Währungsräumen (etwa Geltungsbereich des US-Dollars),

• Einstellungen, Werte, Ethik und Verhalten der Individuen im Finanzwesen in verschiedenen Kontexten,

• Finanzialisierung und Vermarktlichung der Umwelt (z.B. durch ‚nachhaltige‘ oder ‚grüne‘ Finanzprodukte) und sozialökologische Transformation des Kapitalismus.

Wie deutlich wird, ist das Programm der Finanzgeographie kein (ab)geschlossenes. Im Gegenteil: Für Teile der genannten Inhalte liegen bis dato nur wenige Studien vor, andere sind bislang nur in Form von Forschungsskizzen oder -aufrufen formuliert. Dies gibt und lässt entsprechend Raum für die weitere Arbeit.

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