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1.3.1 Ursprünge der Finanzgeographie und internationale Entwicklungen

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Übergeordnete Entwicklungen

Allgemein ist die verstärkte Auseinandersetzung der geographischen Forschung mit Geld und Finanzierungsfragen im Zusammenhang mit übergeordneten Entwicklungen im Fach sowie den Sozialwissenschaften insgesamt zu sehen. So lässt sich die erste Phase eines breiteren Interesses in den Kontext einer umfassenderen Hinwendung der Geographie zur Politischen Ökonomie und einem Interesse am Marxismus einordnen (LEYSHON 2000, S. 434). Diese progressive, weniger modellhafte Arbeitsrichtung – auch als strukturalistisch, wohlfahrtsorientiert oder engagiert bezeichnet – gibt ihre Objektivität und Wertneutralität bewusst zugunsten moralischer Werturteile auf, um die Lebensverhältnisse in benachteiligten Räumen zu verbessern. Etwas später im Zeichen des cultural turn entstandene Arbeiten lassen demgegenüber vor allem Einflüsse der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften erkennen. Hier ist insbesondere der Sozialkonstruktivismus wesentlich, der die soziale Wirklichkeit als Ergebnis von kontingenten und kontextspezifischen Wirklichkeitskonstruktionen ansieht und danach strebt, diese zu enthüllen.

Impulsgeber David Harvey

Als ein wichtiger Ausgangspunkt im Entwicklungspfad der Finanzgeographie wird gemeinhin das Werk des Humangeographen und Sozialtheoretikers David Harvey (geb. 1935) angeführt, einem der führenden Verfechter neomarxistischer Ideen in der Geographie. Seit seinen frühen Arbeiten, darunter Social Justice and the City (1973) und The Limits to Capital (1982), ist der Name Harvey eng mit der Analyse sozialer Gerechtigkeit und der Natur des kapitalistischen Systems verknüpft. Für Harvey stehen der Kapitalismus und der ihm inhärente „Durst nach unendlicher Kapitalakkumulation“ (HARVEY 2005, S. 102) vor der zentralen Herausforderung, die Zirkulation des Kapitals stetig aufrechterhalten und dafür die entsprechende soziale und physische Infrastruktur schaffen zu müssen. Damit erkennt er in der Herstellung neuer Geographien und räumlicher Beziehungen ohne Rücksicht auf ökologische, menschliche oder geopolitische Konsequenzen eine entscheidende Voraussetzung für den Erhalt und die Reproduktion des Kapitalismus.

1970er- und 1980er-Jahre

Harveys Weiterentwicklungen der marxistischen Theorie wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren in einer Reihe von Studien aufgegriffen. Darunter finden sich Untersuchungen zum innerstädtischen Wohnungsmarkt, die etwa den Beitrag der selektiven Praktiken von Banken bei der Immobilienfinanzierung zur Entstehung von innerstädtischen Ghettos in US-amerikanischen Städten aufzeigen, daneben grundsätzlichere Diskussionen über die zunehmende internationale Vernetzung und Liberalisierung des Finanzsystems sowie dessen weltweiten Einfluss. Das Interesse an einem an Marx geschulten Verständnis der Kritik der Politischen Ökonomie flaute dann allerdings zunächst wieder ab. Im deutschsprachigen Raum wurde Harvey in dieser Zeit nur von wenigen Geographen und Stadtforschern wahrgenommen und hatte so keinen größeren fachwissenschaftlichen Einfluss (BELINA 2011). Im Zuge der Auseinandersetzung mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise erfahren Harveys Geopolitik und Raumökonomie des Kapitalismus und seine jüngere Arbeiten zu Postmoderne, Imperialismus und Neoliberalismus wiederum breitere Aufmerksamkeit. Heute wird Harvey weit über die Geographie hinaus diskutiert und vielfach als einer der wichtigsten zeitdiagnostischen Theoretiker des globalen Kapitalismus gesehen.

Konstruktivistische Perspektive

Die progressiv ausgerichteten Annäherungen der Geographie an die Welt des Geldes und der Finanzdienstleistungen wurden in den 1990er-Jahren von einer stärker sozialwissenschaftlich beeinflussten, an der Grundperspektive des Konstruktivismus orientierten Arbeitsrichtung überlagert. Diese Perspektive nimmt Abstand von einer absoluten, unveränderbaren Wahrheit und sieht die soziale Wirklichkeit stattdessen als etwas an, das ständig durch das Handeln von Menschen, ihr Wissen und ihre Interpretationen der Wirklichkeit hergestellt und reproduziert wird. Ihr Anliegen ist also nachzuspüren, wie Individuen und Gruppen soziale Phänomene wie etwa eine Regionalwährung, eine Spekulationsblase auf dem Rohstoffmarkt oder das spezifische soziale Milieu eines Finanzzentrums erzeugen und sich diese Erscheinungen dann objektivieren und institutionalisieren.

Sozial- und kulturtheoretische

Maßgebliche Impulse für diese Arbeitsrichtung stammen vom britischen Humangeographen Nigel Thrift (geb. 1949). Er entwirft auf Grundlage von

Einflüsse in den 1990er-Jahren

Untersuchungen über den Finanzplatz London Anfang der 1990er eine Konzeption von Finanzzentren, die deren Bedeutung nicht mehr nur auf ökonomische Motive und äußere Einflüsse zurückführt. Vielmehr stellt er kulturelle Aspekte und die speziellen Verhaltensweisen von Finanzdienstleistern heraus, d.h. die Nutzung bestimmter Treffpunkte, die Teilnahme in bestimmten Netzwerken, die Aneignung einer bestimmten Berufssprache etc. (THRIFT 1994, 1996). Für die Finanzdienstleister resultieren aus diesen (kontext-)spezifischen sozialen Praktiken Vorteile im Zugang zu und der Interpretation von Informationen als Rohstoff von Entscheidungen im Finanzsektor. Thrift erkennt im Finanzzentrum somit nicht nur eine Sammel- und Verteilstelle internationaler Kapitalströme, sondern sieht es als Bündel von dynamischen sozialen Beziehungen, als ein besonderes soziokulturelles Milieu, das vor allem durch die Handlungen, Interpretationen und Narrative der Akteure im Finanzsektor selbst produziert und aufrechterhalten wird. Auf der gleichen erkenntnistheoretischen Basis entstehen in den 1990er-Jahren eine Zahl weiterer einflussreicher Arbeiten, so etwa über die Konstruktion des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse (LEYSHON und TICKELL 1994), lokale Tauschringe (z.B. LEE 1996) und Offshore-Finanzzentren (HUDSON 1998). Auch die ersten geographischen Untersuchungen verschiedener Finanzinstitutionen in Genderperspektive (MCDOWELL 1994; JONES 1998) lassen sich hier anführen.

Nuller-Jahre

Beide Arbeitsrichtungen, die progressiv-politökonomische und die sozialtheoretisch-konstruktivistische, sind Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der finanzgeographischen Forschung im letzten Jahrzehnt. In dieser Zeit haben sich die Forschungsperspektiven kontinuierlich verfeinert, ähnlich wie sich das Spektrum der Forschungsgegenstände – nicht zuletzt angesichts aktueller Zeitgeschehnisse wie der Verstaatlichung von Banken im Zuge der Finanzkrise (zuvor in weiten Teilen der westlichen Welt ja unvorstellbar) – weiter ausdehnte. Für die angelsächsische Literatur gibt Sarah Hall (2011, 2012, 2013) in ihrem Progress report einen prägnanten Überblick über diese Entwicklungen. Folgende Trends lassen sich mit ihr festhalten (vgl. HALL 2011, S. 234f.):

Internationale Trends

• eine nochmals stärkere Verschneidung mit den Nachbarwissenschaften, und zwar vor allem Soziologie, Anthropologie und Politikwissenschaften, nur nachrangig Wirtschaftswissenschaften;

• die zunehmende Fokussierung der Ebene der Haushalte und damit Betrachtung der alltäglichen Lebenswelten des einzelnen Individuums;

• das gesteigerte Interesse an geographischen Bezugspunkten außerhalb des angloamerikanischen Raums wie besonders den emerging markets in Asien und Zentral- und Osteuropa.

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