Читать книгу Chuck - Hans Müller-Jüngst - Страница 4

Doris

Оглавление

Es gab im Kollegium kaum jemanden, mit dem er ernsthaft Gespräche über Schüler führen konnte, wenn man einmal von Frau Schulte absah. Frau Schulte unterrichtete Französisch und Kunst und war schon etwas älter, sie war alleinstehend. Sie war in ihrem Lehrerdasein so gereift, dass sie Chuck wertvolle pädagogische Tipps geben konnte. Chuck merkte in Gesprächen mit ihr, dass sie die Schüler nahm, wie sie waren, unfertig und unreif, das machte jedes Gespräch mit ihr zu einem Gewinn für ihn. Frau Schulte wurde auch von den Schülern akzeptiert, weil sie merkten, dass sie sie ernst nahm und bereit war, sich auf sie einzulassen. Frau Schulte galt im Kollegium wegen ihrer Schülernähe als Sonderling, sie hob sich von den anderen Kollegen ab, so viel war Chuck klar, er spürte aber in Gesprächen mit ihr eine wohltuende Wärme, die ihm signalisierte, dass sie es ernst mit dem meinte, was sie sagte, und dass das im Sinn der Schüler war. Chuck freute sich immer, wenn Frau Schulte und er eine gemeinsame Freistunde hatten und sie sich über die Schüler unterhalten konnten, das ging natürlich nur, wenn nicht einer von ihnen Vertretungsunterricht geben musste. Oftmals war es so, dass Chuck nach der Schule noch Einzelgespräche mit Schülern führte, wenn andere Kollegen längst nach Hause gingen. Wenn sie ihn mit einem Schüler vor dem Lehrerzimmer stehen sahen, schauten sie ihn abschätzig an. Chuck fuhr anschließend mit der Straßenbahn nach Hause, das dauerte zwanzig Minuten, es saßen regelmäßig Schüler mit in der Bahn, die sich aber nicht von ihm wegsetzten oder über ihn tuschelten, sondern zu ihm kamen und sich mit ihm unterhielten, bis er aussteigen musste und ihnen Lebewohl sagte.

Manche Schüler winkten ihm noch durch die Scheiben der Straßenbahn zu. Zu Hause bereitete sich Chuck dann meistens einen Obstteller aus Äpfeln, Birnen, Bananen und Weintrauben, er aß Obst besonders gerne, es war leicht und erfrischte. Er hatte es sich vollkommen abgewöhnt, die schweren Fleischmahlzeiten zu sich zu nehmen, sie waren fett und füllten einen ab, sodass man müde wurde und sich hinlegen musste. Chuck ging viermal pro Woche ins Fitnessstudio, schon allein deshalb konnte er nicht so opulent zu Mittag essen, er hatte aber auch überhaupt kein Bedürfnis danach. Früher, als er noch mit Britta zusammen war, da wurde immer gekocht und reichlich gegessen, sie legten sich nach dem Essen immer beide hin und schliefen, manchmal zwei Stunden lang, anschließend standen sie gerädert wieder auf und vertrödelten den Tag, machten Unterrichtsvorbereitungen oder korrigierten Klassenarbeiten. Im Grunde verlief jeder Tag gleich und das nahm der Beziehung die Spannung. Chuck glaubte, dass viele Beziehungen so auseinanderliefen oder künstlich am Leben gehalten wurden, er war froh, dass Britta und er sich damals entschlossen hatten, sich scheiden zu lassen. Chuck ging nachmittags ins Studio, wenn es noch nicht so voll war, die anderen Berufstätigen kamen im Regelfall erst nach 17.00 h, dann war Chuck längst fertig.

Er hielt sich immer eineinhalb Stunden dort auf, dann hatte er seine Übungen absolviert, es waren immer die gleichen Übungen, was ihn aber nie langweilte. Er wusste, dass sie ihn anstrengten und er machte sie einfach, inzwischen aber mit einer großen Leichtigkeit. Hinterher fühlte Chuck sich befreit und erleichtert, oft verließ er das Studio und pfiff ein Lied, er fühlte sich danach pudelwohl und hätte die Welt umarmen können. Meistens fuhr er mit dem Rad zum Studio, er hatte nicht weit, er musste nur um drei Blocks fahren und war da. Sein Rad stand im Keller, er musste es jedes Mal hochholen, was ihm aber nichts mehr ausmachte. Chuck unterrichtete auch gern in der Oberstufe, wo man mit den Schülern schon ernsthafte Gespräche führen konnte, und wo man fast ausgereifte Persönlichkeiten vor sich hatte. Wenn er vor einem Oberstufenkurs stand, fehlte ihm die Spannung der Situation, man konnte die Oberstufenschüler nur auf das Abitur vorbereiten und ihnen beibringen, wie sie den Weg dorthin am ökonomischsten bewältigten, man konnte aber kaum noch einen pädagogischen Einfluss nehmen, und das war für Chuck in der Schule das Salz in der Suppe. Dennoch fühlte er sich in Oberstufenkursen sehr wohl, die Kurse hatten oft eine überschaubare Größe, anders als die Klassen in der Mittelstufe, die dreißig und mehr Schüler zählten, es herrschte in den Kursen meistens eine wohltuende Stille, in der sich gut arbeiten ließ.

Auch gab es in der Oberstufe sehr hübsch anzusehende Schülerinnen, aber da hielt Chuck sich zurück, im Gegensatz zu manchen jungen Kollegen, die mit den Schülerinnen anbändelten, nicht sehr offensichtlich, sondern heimlich, zum Beispiel auf Kursfahrten. Chuck war ein sehr umgänglicher Mensch, er wurde gern auf Feten gesehen und auch immer eingeladen, wenn es etwas zu feiern gab, er wurde gemocht. Er wusste, sich mit Leuten zu unterhalten, er hasste es, Belanglosigkeiten auszutauschen, er war immer daran interessiert, bestimmte Themen zu vertiefen, ohne an dem Fetenabend Diskussionsrunden zu veranstalten, aber man konnte sich auch auf kleiner Flamme über Dinge unterhalten, die interessierten. Besonders mit Frauen gelang ihm immer ein gutes Gespräch, wahrscheinlich, weil sie es gewohnt waren, von Männern angebaggert zu werden, die dabei ziemlich dummes Zeug von sich gaben, gleichzeitig waren sie offen für gute Themen und verstanden es, Dinge mit viel Wärme zu betrachten. Natürlich war Chuck nicht blind dem weiblichen Geschlecht gegenüber, er wusste aber, sich zurückzuhalten, und wenn er sich unterhielt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das rechneten ihm seine weiblichen Gesprächspartner hoch an, waren sie es doch gewohnt, blöde angequatscht zu werden, da tat es richtig gut, sich ganz normal mit jemandem unterhalten zu können.

Chuck gab in politischen Gesprächen gern seine Überzeugungen preis und fand so bei vielen Gehör, aber auch Gesprächsgegner, er war nämlich in seinem tiefsten Inneren Sozialist. Oft warf man ihm vor, er wäre ein Modesozialist, der seine sozialistischen Thesen nur von sich gab, um sich wichtig zu machen und einem modischen Trend zu folgen, in Wahrheit führte er doch den Lebensstil eines dekadenten Hedonisten, der nichts ausließe, was ihm Vergnügen bereitete. Chuck trafen solche Anwürfe sehr, und er hatte immer große Mühe, dagegen zu halten, in einem Punkte hatten seine Gegner ja Recht, er war auf einer Party und vergnügte sich dort in Saus und Braus. Er fand aber, dass das seinen sozialistischen Grundüberzeugungen nicht widersprechen musste, wenn er sich auf Partys vergnügte und dort aß und trank. Chuck stammte aus einem sozialdemokratischen Elternhaus und hatte sich während seiner Schulzeit mit marxistischen Theorien auseinandergesetzt, er fand sie, auch in der neuesten Zeit, noch in Abwandlungen zutreffend, er lehnte allerdings die pseudosozialistischen Relikte aus der DDR-Zeit ab, die waren ihm zu doktrinär und zu diktatorisch. Das entgegnete er auch allen, die ihm sagten, dass er doch Mitglied bei den SED-Überbleibseln werden sollte, da könnte er doch seine Parolen gut an den Mann bringen.

Dabei gab Chuck gar keine Parolen von sich, er bemängelte nur das permanente Auseinanderdriften von Arm und Reich und eine Politik, die eindeutig auf Seiten der Unternehmer angesiedelt war. Chuck war früher immer auf den UZ-Festen, wo sich die ganz linke Szene getroffen und gefeiert hatte, es wurde dort unheimlich viel gesoffen und getanzt, es traten internationale Künstler aus sozialistischen Ländern auf, es roch in allen Ecken nach Gegrilltem und nach exotischen Gewürzen, und es gab Diskussionsecken, in denen die aktuelle politische Lage erörtert wurde. Es gab unter den Gleichgesinnten natürlich kaum Kontroversen, und so feierte man immer in großer Eintracht. Wenn man noch konnte, schleppte man sich nach Hause, ansonsten legte man seinen Schlafsack hin und schlief seinen Rausch aus. Manchmal kuschelte man sich an eine nette Festteilnehmerin, zu mehr kam es aber nie, man hätte, besoffen wie man war, auch nicht mehr geschafft. Früher begab man sich zu allen möglichen linken Großereignissen, Chuck hatte natürlich auch an den Großdemonstrationen gegen den Schnellen Brüter in Kalkar und gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Bonn teilgenommen. Es war unglaublich, wie viele Menschen dort jeweils mobilisiert worden waren, nach Bonn waren 300000 Menschen gefahren, es hatten dort viele Prominente geredet. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, inmitten von 300000 Demonstranten auf dem Gelände der Friedrich-Wilhelm-Universität in Bonn zu stehen und den Reden zuzuhören. Chuck war damals noch Schüler, er trug eine Jacke mit Anti-Atomkraft-Abzeichen und lange Haare, seine blonde Mähne war kaum zu bändigen, die Mädchen mochten seine langen Haare sehr.

Damals erhielt er den Namen Chuck, sein richtiger Name war Dieter Morsbach, niemand wusste so recht, wie es zu der Namensgebung gekommen war, er sah nicht aus wie Chuck Norris, dessen militantes Auftreten in seine billigen Filmen ohnehin von allen abgelehnt wurde, jedenfalls von denjenigen, die zu Chucks Bekanntenkreis zählten. In seiner Sturm- und Drangzeit hatte Chuck auch Britta kennengelernt, sie war seine Kommilitonin an der Uni und sah gut aus, sie war schlank und hatte lange dunkle Haare, er hatte sich gleich in sie verliebt. Er zog mit Britta zusammen in eine Wohngemeinschaft, wo sie jeder ein Zimmer hatten und sich liebten. Chuck mochte Brittas festen Busen sehr. Auch Britta war politisch sehr engagiert und nahm an allen linken Großereignissen teil, sie fuhr regelmäßig mit Chuck dorthin. Sie waren beide auch in der Friedensbewegung aktiv und stellten sich an jedem Samstagmorgen mit einem Stand in die Stadt, wo sie mit den Passanten über den Frieden diskutierten. Richtig erst genommen wurden sie nur von wenigen, vielfach sprachen sie mit ehemaligen Kriegsteilnehmern, die sich besonders berufen fühlten, sich über den Frieden auzulassen. Chuck und Britta absolvierten danach auch gemeinsam die Referendarzeit und heirateten. Sie kamen anschließend an die gleiche Schule und entwickelten sich von da an auseinander, als ihr Leben eingerastet war, und es nicht Neues mehr gab.

Die Trennung von Britta begriff Chuck als einen Startschuss in ein neues Leben, er fühlte sich befreit von den ihn umklammernden Mächten des Alltags, von den routinierten Abläufen in Brittas und seinem Leben, die alles Impulsive im Keim erstickten, er sah sich in der Endphase seiner Ehe vor einem noch fünfundzwanzig Jahre ablaufenden Lebensvollzug und erschrak zutiefst. Wo war seine Jugend geblieben? Wo war all der Elan, mit dem Britta und er ihr Leben gestalten wollten? Britta schien sich eher mit den sie umgebenden eingefahrenen Umständen arrangieren zu können, sie machte keinen unzufriedenen Eindruck. Für Chuck bedeutete die Tretmühle, in die er geraten war, den Anfang vom Ende, wenn sich nicht grundlegend etwas änderte, er fühlte sich wie tot. In der Schule stand ein Lehrerausflug an, der Lehrerrat, dem Chuck nicht angehörte, hatte die große Impressionismusausstellung in Bielefeld ins Auge gefasst, „Der Deutsche Impressionismus“ wurde gezeigt und alle waren damit einverstanden, dreißig Euro zu zahlen und nach Bielefeld zu fahren. Es wurden zwei Busse gechartert, mit denen man an einem Mittwochmorgen von der Schule losfuhr. Chuck hatte sich neben Frau Schulte gesetzt, sie freute sich, sich mit ihrem jungen Kollegen während der zweistündigen Fahrt austauschen zu können, so ein Lehrerausflug bot doch die Gelegenheit, über Themen zu sprechen, die nichts mit der Schule zu tun hatten.

Im gleichen Bus, in dem Frau Schulte und Chuck saßen, saßen auch Britta und Peter Kromer, drei Reihen vor Chuck, er konnte sehen, wie sich Britta an Kromers Schulter anlehnte und empfand nichts dabei. Frau Schulte ertappte ihn dabei, wie er seinen Blick für kurze Zeit auf die beiden richtete und fragte ihn direkt:

„Empfinden Sie keine Eifersucht?“ Chuck erschrak über Frau Schultes Direktheit, und sie entschuldigte sich sofort bei ihm, er beschwichtigte die Situation aber gleich wieder und sagte:

„Das Thema Ehe mit Britta ist für mich erledigt! Eifersucht empfinde ich überhaupt keine, im Gegenteil, ich freue mich für Britta, dass sie offensichtlich eine neue Beziehung angefangen hat.“ Dann erzählte Frau Schulte von sich, dass sie auch schon einmal verheiratet gewesen wäre, dass aus dieser Ehe sogar ein Kind stammte, inzwischen ein erwachsener Mann, der in den Vereinigten Staaten lebte und dort sehr erfolgreich in der Comuterbranche tätig wäre.

„Ich sehe ihn, wenn er ab und zu einmal nach Europa kommt, dann treffen wir uns in der Stadt, in der er gerade auf einem Kongress oder einer Messe ist“, sagte sie, „das letzte Mal bin ich nach London geflogen, um ihn zu sehen.“ Sie freuten sich dann immer beide, sich wiederzutreffen und wären traurig, wenn ihr Wiedersehen vorbei wäre. In den Staaten wäre sie noch nie gewesen, sie flöge vielleicht in den nächsten Sommerferien zu ihrem Sohn, auch um ihre beiden Enkelkinder und ihre Schwiegertochter einmal kennen zu lernen. Zu ihrem ehemaligen Mann hätte sie gar keinen Kontakt mehr, er wäre nach Süddeutschland gezogen und hätte dort wieder geheiratet.

„Ich habe damals die Trennung von ihm als eine ebensolche Befreiung empfunden, wie Sie ihre Trennung von Britta“, fuhr Frau Schulte fort. Dann bot sie Chuck das Du an und sagte, dass er sie Doris nennen sollte, Chuck entgegnete, dass er Dieter hieße, sie aber Chuck zu ihm sage sollte, weil er diesen Namen schon seit zwanzig Jahren führte. Dann küssten sie sich beide auf die Wange, Doris war deutlich älter als Chuck, er schätzte sie um die sechzig Jahre alt, traute sich aber nicht, Doris nach ihrem Alter zu fragen. Doris war von ihrem Fach her natürlich sehr an der Ausstellung interessiert, die sie in Bielefeld ansteuerten und erklärte sich bereit, Chuck durch die Säle zu führen und ihm ein paar erklärende Tipps zu geben, sie nähme es ihm aber nicht übel, wenn er sich der Führung anschlösse, die fast alle mitmachten. Aber Chuck nahm Doris Angebot an, ihn durch die Ausstellung zu führen, wer, wenn nicht Doris, sollte denn die Kompetenz haben, eine sachkundige Führung zu unternehmen? Sie war Oberstudienrätin für Kunst, allein das zeichnete sie als Expertin aus, und darauf wollte Chuck sich einlassen.

Er fand Doris natürlich auch sehr sympathisch, wenngleich eine Beziehung zu ihr wegen des Altersunterschiedes ausschied. Doris und Chuck sonderten sich gleich, nachdem sie die Kunsthalle in Bielefeld erreicht hatten, von den anderen ab, sie vernahmen noch, wann und wo man sich wieder treffen wollte und verschwanden dann in der Kunsthalle, wo sie sich zuerst in das Museumscafe setzten und einen Cappuccino tranken. Sie sahen von dort, das gesamte Kollegium an sich vorbeirauschen, wie die Lemminge hetzten alle der Museumsführerin hinterher, die sie in den hintersten Ausstellungssaal lotste. Da sie von einer Säule verdeckt saßen, konnten sie von den Kollegen nicht gesehen werden, was ihnen beiden auch ganz recht war, denn das hätte sonst nur zu Tuscheleien geführt. Doris begann einen einleitenden Kurzvortrag zum Deutschen Impressionismus, sie schickte die Bemerkung voraus, dass sie sich keinesweges exponieren wollte und Chuck ihr unbedingt sagen müsste, wenn sie zu dick auftrüge. Aber Doris verstand es, mit sanfter Stimme und einfachen Worten überzeugend Dinge zum Deutschen Impressionismus zu vermitteln, sie stellte das große impressionistische Dreigestirn Lovis Corinth, Max Liebermann und Max Slevogt vor.

„Ich bin immer bestrebt“, sagte Doris, „auch die Schüler an den Impressionismus zu bringen, wobei ich aber sehe, wie weit entfernt sie inzwischen davon wären, sich auf die intensive Betrachtung eines Bildes einzulassen.“ Sie erzählte, dass sie in der Oberstufe grundsätzlich vor der Frage stünde, wie sie eine Verbindung zwischen der Welt der Schüler und der des Künstlers herstellen könnte. Chuck beobachtete Doris während ihres Vortrages genau, er sah ihre edlen weichen Gesichtszüge und ihre fast geschlossenen Augen. Doris sah schön aus, sicher, aber man sah auch, dass sie keine dreißig mehr war, man konnte aber nicht sagen, dass sie alt aussah. Ihr Gesicht wurde von einigen wenigen Falten durchzogen, die es aber nicht verunstalteten, sondern ihm etwas Reifes und Überlegenes gaben. Doris bemerkte mit einem Mal, wie Chuck sie beobachtete und fragte:

„Langweilte ich Dich?“, was Chuck aber weit von sich wies:

„Wie kommst Du nur darauf?“, wollte er von ihr wissen, „ich höre Dir sehr interessiert zu.“ Doris musste lächeln, was sie noch schöner aussehen ließ, sie musste früher fantastisch ausgesehen haben, dachte Chuck, sie tranken ihren Cappuccino und gingen in die Ausstellung, immer darauf achtend, nicht den anderen in die Quere zu laufen. Sie blieben eine Zeit lang bei Max Liebermann stehen und Doris sagte, dass die deutschen Impressionisten keineswegs nur ihre französischen Kollegen imitiert hätten, sie hätten vielmehr einen eigenen Weg beschritten, es wäre ihnen aber allen gemein, dass sie den Augenblick des Lichts festhalten wollten. Sie sagte:

„Ihre Motive blieben in dem sie in dem kurzen Moment fixierenden Licht immer einzigartig und sind oftmals nur mit ein paar Pinselstrichen hingehuscht worden.“ Doris war völlig in die ausgestellten Bilder vertieft, fast war sie eins mit ihnen, sie ließ ihre Augen nicht von ihnen. Chuck dachte, was Doris doch für eine gute Kunstlehrerin sein müsste, wenn sie sich so mit den Kunstwerken identifizierte, er selbst spürte die Kraft, die von ihr ausging, während sie von den Werken erzählte und die Künstler in den Himmel hob. Sie liefen dann zur verabredeten Zeit wieder zu den Bussen und wurden vom Kollegium gemustert, was aber weder Doris noch Chuck etwas ausmachte. Die Vorsitzende des Lehrerrates sagte darauf, dass sie mit den Bussen langsam wieder zurückführen und unterwegs an einem Restaurant Halt machten, sie hätten dort reserviert, jeder könnte a la carte essen. Die Fahrt zum Restaurant dauerte ungefähr eine Dreiviertelstunde, in der Doris und Chuck wieder zusammensaßen und in der Chuck Doris für die kompetente Führung durch die Ausstellung dankte. Chuck erzählte danach von sich, dass er viermal in der Woche ins Fitnessstudio ginge, nicht um Muskelaufbau zu betreiben und wie ein Bodybuilder auszusehen, sondern nur, um seine Kondition aufrechtzuerhalten.

„Mens sana in corpore sano“, er glaubte an den uralten Spruch, sagte Chuck. Doris entgegnete, dass die meisten viel zu wenig für ihren Körper täten, sie eingeschlossen, es bliebe bei ihr bei Worten und guten Vorsätzen, „vielleicht kannst Du mich einmal mitnehmen in Dein Fitnessstudion“, und Chuck war begeistert von der Idee. Kurze Zeit später erreichten sie das Restaurant, es war ein Ausflugslokal, in dem mitten in der Woche nichts los war, Doris und Chuck hatten mächtigen Hunger bekommen und gingen die Speisekarte durch. Chuck sagte:

„Ich esse im Regelfall mittags nur wenig, ich begnüge mich mit Obst und will dieses Mal eine Ausnahme machen.“ Doris und er suchten sich von der Speisekarte Wild aus, Chuck schlug vor, sich für Hirschgulasch mit Spätzle zu entscheiden, Doris war einverstanden und sie nahmen Hirschgulasch. Sie sprachen vor und während des Essens dann doch über die Schule und einzelne Schüler, die sie beide unterrichteten. Chuck sagte:

„Ich liebe den Unterricht in der Mittelstufe so, weil ich da die Möglichkeit sehe, erzieherisch auf die Schüler einzuwirken.“ Doris entgegnete:

„Mit dieser Haltung bist Du im Kollegium sicher allein auf weiter Flur, die meisten Kollegen hassen den Unterricht in der Mittelstufe, weil die Schüler sich und den Lehrern das Leben durch unbotmäßiges Verhalten schwer machen. Ich verstehe Dich aber, auch ich sehe mich manchmal in der Rolle einer Person, die den Mittelstufenschülern etwas vorlebt, von dem ich glaube, dass es nachahmenswert für sie ist, ich finde es sehr schwer, die Balance dabei zu halten und mich nicht lächerlich zu machen.“ Das Hirschgulasch schmeckte gut, Doris und Chuck aßen langsam und mit Genuss, sie waren beide nie jemand gewesen, der sein Essen verschlang. Sie saßen an einem großen runden Tisch mit weiteren sechs Kollegen, mit denen sie sich aber kaum unterhielten, weil die fast nur Belanglosigkeiten miteinander austauschten.

Nach eineinhalb Stunden wurde die Mittagspause beendet, und man fuhr wieder zur Schule zurück, wo Chuck sich von Doris bis zum nächsten Tag verabschiedete, sie wollten am Nachmittag ins Fitnessstudio. Chuck fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, setzte sich in seinem Wohn-/Arbeitszimmer in einen Sessel und dachte über Doris und den Lehrerausflug nach. Doris war zwar schon etwas älter, aber immer noch sehr attraktiv, sie schied aber als Partnerin für Chuck aus. Chuck fand, dass sie viel Wärme ausstrahlte, weshalb es sehr angenehm war, sich in ihrer Gesellschaft aufzuhalten und mir ihr zu reden. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie im Unterricht war, sie konnte auf die Schüler eingehen und ihnen zu verstehen geben, dass sie für sie da war. Chuck ging an dem Tag erst spät ins Bett, schaltete den Fernseher an und sah sich einen „Tatort“ an, den er vor Jahren schon einmal gesehen hatte, es ärgerte ihn, dass ihm als Fernsehzuschauer permanent Wiederholungen alter Sendungen vorgesetzt wurden.

Er lag im Bett noch eine Zeit lang wach, stierte zur Decke hoch und dachte nach, bevor er einschlief und am nächsten Morgen wieder um 6.30 h aufstand. Er brauchte morgens immer zwanzig Minuten im Badezimmer, in denen er sich die Zähne putzte, duschte, sich rasierte, seine Haut mit Niveacreme einschmierte und seine Haare in Ordnung brachte. Gelegentlich stellte er dann noch das Bügeleisen an, um ein Hemd zu bügeln. Das Bügeln hatte er sich während seiner Studienzeit beigebracht, als es niemanden gab, der ihm seine Wäsche gebügelt hatte. Er fand es schon immer sehr schwer, ein Hemd knitterfrei zu bügeln, heute gab es Freiarmbügelbretter, die einem das Hemdenbügeln etwas erleichterten, ansonsten aber war der technische Fortschritt an der Tätigkeit des Bügelns vorbeigegangen. Chuck hasste das Bügeln, liebte auf der anderen Seite aber frisch gebügelte Hemden, also musste er ran und die Sachen glätten. Er parfümierte sich nicht, wie das viele Männer inzwischen taten, er benutzte auch kein Deo, es gab unter den hunderten von Deos solche, die so penetrant rochen, dass einem fast der Atem wegblieb. Manchmal benutzte er nach dem Sport einen Deo-Stick, der aber völlig geruchsneutral war. Das Einzige, was an ihm nach der Badezimmeraktion roch, war die Niveacreme, er war aber auch nicht der Typ, der viel Körpergeruch entwickelte, wie das manche taten. Chuck hasste es, wenn sich manche Zeitgenossen gehen ließen und ihre Umgebung mit ihrem Körpergeruch belästigten, er ertappte sich gelegentlich dabei, wie er drauf und dran war, solchen Leuten das Duschen nahezulegen, bislang hatte er sich aber noch nicht dazu verstiegen.

In der Schule trug er immer festes Schuhwerk, nie hatte er seine Trekkingsandalen im Unterricht an, er fand, dass sich die Kollegen vergaßen, wenn sie in Schlappen, Trekkingsandalen oder im Sommer sogar in kurzen Hosen in die Schule kamen, da war er ganz eigen. In der Straßenbahn umgab ihn der Duft der vielen Rasierwasser, Deos und Herrenparfüms, der ihn einnebelte und nach Luft schnappen ließ, er war immer froh, die Straßenbahn an der Schule verlassen zu können und frische Luft einatmen zu dürfen. Auch im Lehrerzimmer atmete er immer den Duft verschiedenster Parfums von Frauen und Männern ein, er sah immer zu, dass er schnell zu den Klassen hochlief. An jenem Morgen traf er Doris, wie sie auf dem Weg zum Kunstsaal war und grüßte sie, sie lächelte freundlich und grüßte zurück, sie wünschten sich beide einen schönen Tag und gingen ihrer Wege, Chuck erinnerte Doris noch an das Fitnessstudio am Nachmittag. Beide hatten sie an dem Tag sechs Stunden Unterricht hintereinander und waren dann dementsprechend geschafft. In den letzten beiden Stunden hatte Chuck einen Mathekurs in der Jahrgangsstufe 12, in dem er entspannen konnte, Doris aber hatte durchgängig die Mittelstufe und war die ganze Zeit dem Lärm ausgesetzt, den die Schüler verbreiteten. Sie trafen sich nach der Schule und fuhren zu Chucks Wohnung, Doris hatte ihre Sportsachen dabei und würde sich im Fitnessstudio umziehen.

Chuck machte für Doris und sich einen Espresso, Doris schaute sich in der Zeit in Chucks kleiner Wohnung um und bescheinigte ihm einen guten Geschmack bei der Einrichtung. Chuck bedankte sich für das Kompliment und setzte sich mit Doris auf seine Couch, er hatte Cantuccini geholt und sie auf den kleinen Couchtisch gelegt. Nach einer halben Stunde forderte Chuck Doris auf, mit ihm zum Fitnessstudio zu laufen, das würde zwar etwas länger als normal dauern, er hätte aber nur ein Fahrrad und die Straßenbahn fuhr nicht am Studio vorbei. Doris hatte, genauso wenig wie Chuck, ein Auto, sie erledigte ihre Einkäufe und sonstigen Termine in der Stadt mit der Straßenbahn, sie und Chuck ersparten sich so eine Menge Kosten und Parkplatzärger. An der Studiorezeption stellte Chuck Doris vor und sagte:

„Doris möchte gerne ein Probetraining absolvieren.“

„Das geht in Ordnung“, bescheinigte man ihm, „viel Spaß beim Training.!“, rief man ihnen hinterher. Chuck lief mit Doris, nachdem sie sich umgezogen hatte, zum Rücken-Bereich hoch, er wollte mit ihr etwas für den Rücken tun und es für den Tag dabei bewenden lassen. Er legte sich mit dem Rücken auf eine Crunch-Bank und machte Situps, die Doris nachmachen sollte und wo sie nach zehn Wiederholungen passen musste, weil ihre Buchmuskeln schmerzten. Chuck sagte

„Das ist völlig normal, Du musst nach und nach Bauchmuskeln ausbilden, bis Du ohne Probleme fünfzig Situps hintereinander machen kannst.“ Doris versprach, täglich zu Hause zu üben, „ich werde mich auf meinen Wohnzimmerteppich legen und dort meine Situps machen, jeden Tag ein paar mehr, bis ich bei fünfzig Situps angekommen bin.“ Anschließend ging Chuck doch noch mit Doris in den Geräteraum und setzte sich an den Lattzieher, er machte die Übung zunächst vor und bat Doris dann, sie nachzumachen. Er legte ihr für den Anfang zwanzig Kilogramm auf, die sie ganz gut bewältigen konnte, er sagte ihr:

„Du musst immer bestrebt sein, gerade zu sitzen und die Stange des Lattziehers hinter ihrem Kopf bis zu ihrem Nacken herunterzuziehen.“ Doris schaffte 3x10 Wiederholungen und stand dann erschöpft auf, sie nahm ihr Handtuch und wischte sich den Schweiß aus ihrem Gesicht, Chuck wollte aber noch eine Übung mit ihr machen und es danach für den Tag genug sein lassen. Er ging mit ihr zum Beinstrecker, machte zunächst vor, worauf es dabei ankam und bat Doris dann, sich an das Gerät zu setzen und 3x10 Wiederholungen mit zwanzig Kilogramm zu machen. Beim dritten Satz begann Doris, über Schmerzen in den Oberschenkeln zu klagen und rieb sich, als sie fertig war, mit den Händen ihre Muskeln. Auch das wäre eine Übung, die sie immer wieder trainieren müsste, sagte Chuck.

„Die Oberschenkel werden im Alltag kaum beansprucht, außer, man fährt Fahrrad und das regelmäßig über längere Strecken.“ Doris war völlig erledigt und Chuck sagte ihr, das sie für den Tag aufhören wollten, es gäbe, wie sie gesehen hätte, noch eine Fülle weiterer Geräte, an denen sie sich beim nächsten Mal versuchen wollten. Doris sollte sich umziehen und vor der Rezeption mit ihm einen Cappuccino trinken, er würde sie einladen. Als sie an dem kleinen Tischchen saßen, klagte Doris über Muskelschmerzen:

„Sicher werde ich am nächsten Tag mit Muskelkater aufwachen, aber das ist eben der Preis, den ich nun für meine jahrelange körperliche Untätigkeit zahlen muss.“ Chuck versprach ihr, dass es die Probleme nur in der Anfangsphase ihre Trainings gäbe:

„Sobald sich nur ein bisschen ein Muskelaufbau vollzogen hat, sind die Muskelschmerzen wie verflogen, und es gibt auch keinen Muskelkater mehr.“ Wichtig wäre für sie, es am Anfang nicht zu übertreiben und sich nicht zu überfordern, ein Fehler, den viele Anfänger machten. Sie müsste sich ganz allmählich an die körperlichen Anstrengungen gewöhnen und peu a peu die Leistungsanforderungen steigern, wenn sie denn überhaupt beim Training bleiben wollte. Doris überlegte kurz und sagte:

„Ich werde das Training zunächst einmal pro Woche aufrechterhalten, um es danach möglicherweise zu intensivieren.“ Chuck fand es sehr gut, dass sie so viel Stärke aufbrachte und sich nicht aufgab, er bestärkte sie in ihrer Absicht, weiterzutrainieren. Er gratulierte ihr zu ihrem ersten erfolgreichen Trainingstag und machte ihr klar:

„Auch wenn Du über eine Menge Muskelschmerzen klagst, musst Du weitermachen, ich habe Dir ja schon gesagt, was mein Leitmotto ist, „mens sana in corpore sano“, ein abgedroschener Spruch, der aber in meinen Augen unbedingt Bestand hat.“ Chuck unterstrich seine Auffassung, dass ein gesunder Körper den Geist beflügelte, ihn zu Regungen befähigte, von denen man vorher nie etwas geahnt hätte, und umgekehrt sich der Geist dadurch in ungeahnte Höhen aufschwingen könnte.

„Ich weiß, dass ich in Deinen Augen nur so daherrede, Du musst den Wirkmechanismus erst am eigen Leibe verspüren, um nachvollziehen zu können, wovon ich spreche“, sagte Chuck und vertiefte seine Äußerungen nicht weiter. Doris und er verließen das Fitnessstudio danach wieder, und er brachte sie zur Straßenbahnhaltestelle vor seiner Haustür, wo er sich von ihr verabschiedete, sie winkte ihm am Fenster der Straßenbahn noch zu. Chuck würde in der nächsten Woche am gleichen Tag wieder mit Doris ins Studio gehen, immer, wenn er sie bis dahin in der Schule träfe, würde er sie an ihr Training zu Hause erinnern. Als er sie am nächsten Tag in der Schule sah, ging sie leicht eiernd und gebückt.

„Ich habe überall Muskelkater“, sagte Doris, „ich weiß gar nicht, wie ich mich bewegen soll.“ Chuck tröstete sie und sagte:

„Der Muskelkater verschwindet mit zunehmendem Trainingsfortschritt, Du darfst Dich nur nicht aufgeben.“ Er selbst besuchte am Nachmittag wieder das Fitnessstudio und sagte an der Rezeption, dass seine Partnerin vom Vortag gerne einmal pro Woche trainieren käme, er wollte ihr das Training schenken, sie sollten ihm ein Angebot machen.

Chuck

Подняться наверх