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2. Geisterbeschwörung
ОглавлениеNoch vor dem Sonnenaufgang verließen Tarkas und Amonpa den Stützpunkt durch den Ausgang an der Landseite. Er befand sich im Abbruch einer Felswand und war in einer Art und Weise verborgen, wie einst der Tunnel im Palast Trywfyns oder der Eingang in dem Bienenstockfelsen, durch den der König der Ogmari Meneas und seine Freunde das erste Mal in die unterirdische Welt Ogmatuums geführt hatte. Allerdings hatten die Priester den Eingang noch zusätzlich abgesichert.
Als sie sich dem Tor näherten, konnten sie schon sehen, was vor ihm, draußen, geschah. Das war nichts Besonderes. Und wie zu erwarten war, geschah dort nichts. Die beiden konnten das Tor ohne Schwierigkeiten durchschreiten, als gingen sie durch einen leichten Vorhang, aber ohne ihr Amulett wären sie nicht wieder hineingekommen.
Das Tor war so beschaffen, dass niemand, der es zufällig fand, was eigentlich schon ein Ding der Unmöglichkeit war, denn es unterschied sich in nichts von der umgebenden Felswand, von außen eindringen konnte. Es besaß von außen eine steinartige Festigkeit, obwohl es ein rein energetisches Gebilde war. Und nur die Amulette der Priester gaben eine Strahlung ab, die diese Festigkeit für eine kurze Zeit aufhob.
Aber die Gegend war derartig einsam, dass die Priester eine Entdeckung auch ohne diese Schutzmaßnahme kaum zu fürchten brauchten. Außerdem wurde die Sicht auf das Tor durch eine Baumgruppe verhindert, sodass auch ein Verlassen des Tunnels nicht beobachtet werden konnte, wenn nicht gerade jemand unmittelbar vor dem Tor stand, und das wiederum konnten die Priester von innen sehen.
Tarkas und Amonpa gingen zu Fuß. Jetzt, da ihre Pläne feststanden, gab es keinen Grund zur Eile. Schon wegen der weiten Entfernungen würde Meneas´ Gruppe noch einpaar Monate unterwegs sein. Und da sie nicht mehr aufgehalten, sondern nur noch im Auge behalten werden sollte, konnten sie ihr in Ruhe folgen, oder besser, ihre Späher hinter ihnen herschicken.
Für ihre Wanderung nach Kongsdal hatten sie sich unauffälligere Kleidung angelegt. Zwar trugen sie ihre Priesterausstattung bei sich, neben einigem Proviant, aber sie hätte sich von der gängigen Art der Bekleidung in Girgen und Tetker deutlich abgehoben und selbst jemand, der nicht mit der Erscheinung der Priester vertraut war, wäre auf sie wegen ihres Aufzuges aufmerksam geworden. Es war aber nicht ihre Absicht aufzufallen.
Dass sich Priester des Ordens von Enkhór-mûl, die außerhalb ihrer geheimen Ordenssitze Aufgaben nachgingen, in der jeweiligen Landestracht kleideten, war nicht ungewöhnlich, aus den erwähnten Gründen sogar üblich. Außerdem lebten längst nicht alle von ihnen ständig in einem der geheimen Stützpunkte. Obwohl es eine im Verborgenen handelnde Gesellschaft war, führten die meisten ihrer Mitglieder auch ein öffentliches Dasein, hatten Familie, Verwandte und Freunde. Sie gingen allen möglichen Berufen nach, vom Fellgerber bis zum Heiler und auch manch ein Adliger war unter ihnen. Aber sie hatten sich ebenso verschworen, nichts von ihrem Doppelleben preiszugeben. Daher war es unmöglich, die Priester in ihrem bürgerlichen Leben zu erkennen. Und wie jeder geheime Bund hatte natürlich auch der Orden von Enkhór-mûl seine Mittel zu verhindern, dass sich ungewollte Kunde über ihn in der Welt verbreitete, auch wenn diese Mittel nicht immer vollkommen waren.
Die Tatsache, dass der größte Teil seiner Mitglieder ein ganz normales Leben führten, hatte ihren Grund nicht nur darin, dass der Orden sie kaum alle in seinen Räumlichkeiten unterbringen konnte, sondern mehr noch in der Notwendigkeit, die Lage in der Außenwelt auszukundschaften. Die meisten der Priester hatten ihre Aufgaben nicht in finsteren Höhlen oder an abgeschiedenen Orten, was auch vorkam, und Tarkas und Amonpa hatten sich aufgemacht, an einen solchen Ort zu gelangen, sondern sie waren die Augen und Ohren des Ordens und lieferten in erster Linie Nachrichten. Davon lebte er. Was die Ordensführung damit anstellte, war vielen in den unteren Rängen selbst nicht bekannt. Aber so kam es, dass sowohl Meneas als auch Tjerulf bereits Priestern des Ordens von Enkhór-mûl begegnet waren, ohne sie zu erkennen. Und zuweilen war es auch umgekehrt der Fall.
Dass Tarkas und Amonpa zu Fuß reisten, war ebenfalls nicht ungewöhnlich. Der Orden von Enkhór-mûl besaß keine eigenen Pferde, weshalb die Priester sie sich bei anderen Gelegenheiten ausleihen mussten, wie auch Fuhrwerke. Auch wenn die Aufgabe der beiden von größter Wichtigkeit war, war sie nicht so dringend, dass sie auf solche Hilfsmittel zurückgreifen mussten. Beide waren keine leidenschaftlichen Reiter und ein Gespann war zu unbeweglich, denn sie mussten in eine ziemlich unwegsame Gegend.
Tarkas und Amonpa gehörten zu den wenigen, die ihr öffentliches Dasein aufgegeben hatten und nur noch für den Orden lebten, seit sie in den Inneren Kreis aufgestiegen waren. Aber sie erinnerten sich doch noch gut an die Zeiten davor, in denen sie als Händler unter den Namen Gitwig und Chonor durch die Länder gezogen waren. Und das erste Mal seit langer Zeit fühlten sie sich wieder frei, als sie den Küstenstützpunkt verließen.
Kongsdal war keine Stadt, sondern ein Landstrich. Und er war der Bevölkerung nicht einmal unter diesem Namen bekannt. Diese Bezeichnung existierte nur innerhalb des Ordens. Kongsdal war eine Gegend von rauer, unwirklicher Schönheit in der Nähe der Dreiländergrenze von Girgen, Gilgalen und Tetker südwestlich des Schwarzen Moores im Land Gilgalen.
Dort lebten nur wenige Menschen und das waren meisten Jäger und Fallensteller. Unter ihnen und allen, denen die Gegend bekannt war, wurde sie Buurnshölle genannt, was dann weniger einladend klang als Kongsdal, aber der Grund für diese Bezeichnung wurde schnell ersichtlich. Es handelte sich um ein Heide- und Moorgebiet mit einigen finsteren Wäldchen und es wurde erzählt, dass die Bäume an diesen Stellen sich nur deshalb so eng zusammendrängten, damit sie abseits davon nicht vertrocknen oder absaufen mussten. Und dass diese Gefahr tatsächlich bestand, bewiesen die gelegentlichen Baumleichen in der Landschaft.
Dieser Landstrich taugte also nicht als Ackerland, wie der Name bereits vermuten ließ, war aber ein gutes Jagdgebiet, denn Kongsdal war die Heimat des Angkinels. Angkinel waren Raubkatzen, die dort in großer Anzahl vorkamen und deren Felle auf den Märkten der Ortschaften außerhalb der Buurnshölle ganz ordentliche Preise erzielten, so ordentlich, dass manch ein Bauer zum Jäger geworden war.
Aber Buurnshölle beherbergte auch einen Ort, der allein schon den finsteren Namen rechtfertigte. In einem der Tannenhaine führten die Priester des Ordens von Enkhór-mûl von Zeit zu Zeit Geisterbeschwörungen durch. Sie nutzten nicht nur die technische Hinterlassenschaft einer untergegangenen Kultur, sondern bedienten sich auch magischer Künste, von denen manche Außenstehenden das Grauen gelehrt hätten. Ihre Ergebnisse waren auch Meneas und Tjerulf bereits begegnet. Von dort waren die Schwarzen Reiter, die sie schon mehrmals angegriffen hatten, losgeschickt worden. Diese Wesen, von den Priestern als Tum´rei bezeichnet, waren nichts anderes als Geister in Menschengestalt und ihre Pferde Geister in Pferdegestalt.
Die Beschwörung von Geistern barg aber auch für die Priester einige Wagnisse, an die sie vorerst aber noch nicht denken wollten.
Sie hatten einen weiten Weg vor sich, der etwa eine Woche in Anspruch nehmen würde. Dann hatten sie jedoch erst die Grenze nach Kongsdal erreicht. Von dort mussten sie sich noch gut zehn Meilen durch unwegsames Gelände bewegen und noch dazu auf die gut getarnten Fallen der Jäger achten. Dafür brauchten sie noch einmal einen Tag. Das ließ sich allerdings nicht ändern, denn bisher hatte noch keiner der Priester einen anderen, leichter zugänglichen Ort ausfindig machen können, an dem die Tum´rei beschworen werden konnten, denn sie waren eine ganz besondere Art von Geistern.
Es gab bestand jedoch kein Grund zur Eile, denn wenn alles so verlief, wie es sich Tarkas und Amonpa vorstellten, dann konnten die Tum´rei in zwei Wochen die Nähe zu den Reitern erreicht haben. Und zu diesem Zeitpunkt würden sie noch ein ganzes Stück von den Eisbergen entfernt sein. Außerdem, waren die beiden Priester überzeugt, musste dann allmählich die Aufmerksamkeit der Reiter begonnen haben nachzulassen. Eigentlich war ihr Plan bis dahin gar nicht schlecht, fanden sie.
„Weißt du, was mir an unserer Wanderung am meisten gefällt?“, fragte Amonpa, wartete eine Antwort von Tarkas aber nicht ab. „Dass wir keine Sorgen haben müssen, verfolgt zu werden.“
Tarkas lachte.
„Du meinst, weil uns für gewöhnlich die Rolle der Verfolger zufällt.“
„Genau so.“
„Ja, da hast du Recht. Mit dieser Gewissheit lässt es sich viel unbefangener reisen.“
Bis nach Kongsdal würde sie ihr Weg die meiste Zeit durch einsames Gebiet führen. Es gab einige Orte, aber keine Stadt. Das kümmerte sie aber nicht, da sie nicht die Absicht hatten, in einem Gasthaus zu übernachten. Dank ihrer Amulette benötigten sie nur kurze Unterbrechungen und nur wenig Nahrung. Die Amulette weckten in ihnen Kräfte, die anderen nicht zur Verfügung standen. Nur wenn es regnete, schneite oder fror, waren sie auch diesen Unbilden ausgesetzt, aber davor schützte sie ihre Kleidung.
Am ersten Abend nach ihrem Aufbruch erreichten sie die Gil-Brücke nördlich von Seestadt. Dort begegneten sie anderen Reisenden, denn sie war die einzige Überquerung über den Fluss auf viele Meilen. Ohne mit jemandem ins Gespräch zu kommen, lenkten sie ihren Weg in die Feldmark, Richtung Südosten. Dort gab es viele Wege und Straßen und auch, wenn sie kaum Siedlungen berühren würden, konnten sie bis nach Kongsdal die ganze Zeit auf befestigten Wegen wandern. Erst jenseits der Grenze nach Gilgalen wurde das Gelände unwegsam. Aber sie gingen nicht das erste Mal dorthin und kannten die Schleichwege zum Tjodhain, wie sie die Stätte der Geisterbeschwörung nannten.
Bald waren sie die einzigen Menschen auf der Straße. Die Dämmerung war weit fortgeschritten und wer konnte, hatte sich eine Unterkunft gesucht oder war wieder zu Hause, und das schienen alle außer Tarkas und Amonpa zu sein. Die beiden marschierten noch bis spät in die Nacht und das wurde ihnen erleichtert durch das Licht der Monde Folgar und Duglar, die beide am Himmel standen, der eine als Vollmond, der andere als Sichel.
„Ich hoffe darauf, dass sie sich im Tjodhain auch wieder zeigen“, meinte Tarkas.
„Das ist aber nicht notwendig.“
„Sicher nicht, aber es vertieft die nächtliche Stimmung.“
„Wenn du meinst.“
Nach wenigen Stunden Rast brachen sie noch vor Sonnenaufgang wieder auf. So ruhig, wie ihre Reise begonnen hatte, setzte sie sich die nächsten Tage fort. Über weite Strecken waren sie allein auf den Straßen und Wegen. Nur selten begegneten ihnen andere Reisende. Das änderte sich vorübergehend in der Nähe der wenigen Ortschaften entlang ihres Weges. Der Südosten Girgens war nur dünn besiedelt und Städte gab es dort nicht.
Die einzige Abwechslung brachte ihnen die Veränderung der Landschaft und das Wetter. Da sie immer weiter nach Süden kamen, näherten sie sich auch dem Äquator, wenn sie ihn auch nicht erreichen würden. Damit wurde es wärmer, aber dafür nahmen die Niederschläge zu. Sie wurden zwar kürzer, als es an der Küste der Fall war, waren aber umso heftiger. Und auch die Vegetation änderte sich.
Bald stießen sie auf die ersten malvenartigen Gewächse mit ihren üppig gedeihenden roten Blüten. Sie waren bezeichnend für diese Gegend und nur wenig später säumten sie Teile ihres Weges wie Alleen. Zu diesen Blüten zog es die herrlichsten Schmetterlinge.
Tarkas und Amonpa wussten die Schönheit ihrer Umgebung durchaus zu schätzen und erfreuten sich auch an dem Heer der bunten und äußerst geräuschvollen Vögel. Besonders in den Nächten, wenn die Tagtiere sich zur Ruhe zurückgezogen hatten und die Nachttiere ihre unheimlichen Laute ausstießen, fühlten sie sich an die Zeiten erinnert, in denen sie noch mit ihren Handelskarawanen durch die Länder zogen. Auch durch die Gegenden, die sie jetzt durchwanderten, waren sie damals gekommen. Ihre Aufgaben im Orden von Enkhór-mûl ließen ihnen aber kaum noch die Zeit, solche Augenblicke zu genießen.
Drei Tage später erreichten sie die Grenze nach Kongsdal. Wer sich in der Gegend nicht auskannte, dem fiel nur auf, dass der Feldweg, auf dem er sich befand, an einem Querweg endete. Dieser Querweg bildete die Grenze. Er verlief dort, wo Tarkas und Amonpa auf ihn stießen, fast in Nordsüdrichtung und die Fahrspuren, die sich deutlich auf ihm abzeichneten, bewiesen, dass er oft von Fuhrwerken benutzt wurde. Bei den Einheimischen hieß er »Buurnshöllenerdamm« und führte um das ganze Gebiet herum. Es gab nur zwei Wege, die durch die Buurnshölle hindurchführten, aber beide lagen weit entfernt von der Kreuzung, auf der die beiden Priester jetzt standen.
Vor ihnen breitete sich eine weite Heidefläche aus, die hier und dort von niedrigen Büschen unterbrochen wurde. Zu ihrer linken Seite sahen sie eine helle Sandfläche, auf der sich keine Pflanzen ansiedeln wollten, und rechts lag ein kleiner See, an dem eine ziemlich heruntergekommene Hütte stand. Von Zeit zu Zeit hielten sich Jäger darin auf. Es war jedoch niemand zu sehen und so konnte es gut sein, dass sie in diesen Tagen leerstand. Die ersten Tannenhaine waren in weiter Ferne und auch nur undeutlich als dunkle Schatten zu erkennen, denn der Tag war trübe und die Wolken hingen tief.
Tarkas atmete tief durch und wischte sich den warmen Regen aus dem Gesicht. Amonpa blickte ihn fragend an.
„Spürst du wieder die Furcht?“, fragte er.
Tarkas nickte.
„Ja. Ich hatte gehofft, dass ich dieses Mal mit weniger Bangen nach Kongsdal hineingehen würde. Die ganze Zeit war ich gelassen, doch jetzt, mit diesem Anblick vor Augen, kommt das Unbehagen zurück.“
„Nur Mut, wir werden es schaffen. Es ist nicht das erste Mal.“
„Vielleicht wäre ich dann unbefangener.“
„Außerdem sind wir zu zweit.“
„Ja. Gehen wir.“
Sie gingen geradeaus weiter und suchten sich querfeldein ihren Weg durch das Heidegestrüpp.
Auf einem Baum, nicht weit von ihnen entfernt, saß ein Eichhörnchen und nagte an einer Haselnuss. Mit einem fast intelligenten Gesichtsausdruck blickte es hinter den beiden Wanderern her. Kaum waren sie hinter der nächsten Biegung verschwunden, ließ es die Nuss fallen, sprang herab und folgte ihnen.
Tarkas hatte guten Grund, ihrem Vorhaben mit einem gewissen Unbehagen entgegenzublicken. Eine Geisterbeschwörung war keine ungefährliche Sache und er hatte dabei schlimme Erfahrungen machen müssen.
Es war zu Beginn seiner Mitgliedschaft im Inneren Kreis des Ordens von Enkhór-mûl. Nur dort wurden Handlungen dieser Art durchgeführt und nur ein Priester, der übersinnliche Fähigkeiten besaß, hatte eine Aussicht darauf, in diesem Kreis aufgenommen zu werden. Bis dahin musste er schon lange Mitglied im Orden sein und die Hierarchie weit erklommen haben.
Eine gelegentliche Aufgabe der Priester des Inneren Kreises war die Aufnahme der Verbindung mit der Geisterwelt Elverans. Dort tummelten sich nicht nur die Geister von Menschen, sondern auch allerlei gutartige und bösartige Dämonen und körperlose, nichtelveranische Wesen, die nur wenig oder gar nichts mit dem Planeten zu tun hatten. Nur die Eingeweihten wussten, wie viel Leben jenseits ihres irdischen Daseins herrschte.
Aber die Herstellung einer Verbindung mit dieser jenseitigen Welt war stets ein Wagnis und der Ausgang ungewiss. Die Kunst der Priester war zu erkennen, dass sie auch das oder die richtigen Wesen erreichten und keine, die ihnen Ärger bereiteten oder sich fortan nicht mehr von ihnen trennen wollten und ihnen so das Leben schwer machten.
Natürlich gehörten derartige Geschäfte nicht zu den ständigen Aufgaben eines Priesters des Ordens von Enkhór-mûl. Sie waren sogar eher selten und nur bei bestimmten Anlässen notwendig, aber jedes Mitglied des Inneren Kreises musste sie beherrschen und was noch bedeutsamer war, jeder dieser Priester musste um die Schutzmaßnahmen wissen, die notwendig waren, um sich vor unerwünschter Besessenheit zu schützen. Unerwünscht deshalb, weil es Umstände gab, unter denen ein Priester vorübergehend seinen Körper einem Geist, und zwar dem richtigen, zur Verfügung stellen musste. Dieser Fall war noch seltener, aber dann unvermeidlich. Auch Tjerulf hatte in solchen Dingen einige Erfahrungen gemacht, gute wie schlechte, daher sein Eingeständnis, manche Geister zu fürchten.
Im Verlauf all ihrer Geisterbeschwörungen war es den Priestern jedoch niemals gelungen, mit dem Geistwesen Elveran in Verbindung zu treten, und so hatten sie noch nicht einmal eine Ahnung davon, dass es ihn überhaupt gab. Umgekehrt war es schon der Fall, doch Elveran hielt den Orden für zu bedeutungslos, als dass er dazu bereit gewesen wäre, sich ihm zu offenbaren.
Bei einer solchen Gelegenheit jedenfalls gelangte ein »unbefugter« Dämon in den Körper von Tarkas. Es geschah aus Leichtsinn, Unachtsamkeit und, zu wenig Erfahrung. Er selbst hatte sich dabei einem Selbstversuch unterzogen, ohne einen Priester in seiner Nähe zu haben, der ihm helfen konnte.
Es dauerte einpaar Tage, bis es überhaupt auffiel, dass Tarkas nicht Tarkas war, denn der Dämon stellte sich allzu geschickt an. Erst als er begann, Unfug zu treiben, wurden die anderen Priester aufmerksam und Alben Sur verhinderte schließlich das Schlimmste. Während dieser Zeit ging Tarkas Geist buchstäblich durch die Hölle, denn er wusste nicht nur, was der Dämon im Schilde führte, ohne dem entgegenwirken zu können, er wurde auch selbst Opfer seiner Gemeinheiten. Und die Austreibung des Dämons setzte den seelischen Schmerzen die Krone auf, denn im Gegensatz zu Freno, der sich in einer wohltuenden Bewusstlosigkeit befand, erlebte Tarkas den Ablauf bei wachen Sinnen. Die Erinnerungen daran verursachten bei ihm immer noch mehr als ein bloßes Schaudern.
Wider Erwarten wurde Tarkas für seinen Leichtsinn und Ungehorsam nicht aus dem Orden entlassen, wie er befürchtet hatte, im Gegenteil. Sein Fall wurde zu einem mahnenden Beispiel dafür, was geschehen konnte, wenn bei einer Geisterbeschwörung die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen wurden. Und er bestätigte die erste Regel, solch ein Vorhaben niemals allein durchzuführen.
Das war lange her und Tarkas hatte seit dem schon wieder an einigen Geisterbeschwörungen teilgenommen, ohne dass etwas Bedrohliches geschehen war. Seine Angst davor hatte sich in ein auch jetzt noch deutliches Unbehagen gewandelt, und das würde er sein irdisches Leben lang nicht mehr verlieren, stand für ihn zu befürchten.
Der Grund für ihre Entscheidung zu einer erneuten Geisterbeschwörung lag darin, dass die Tum´rei die unauffälligsten Helfer des Ordens waren. Weder die Baumläufer noch die Formori hatten die Eigenschaft, sich so unbemerkt in der elveranischen Welt zu bewegen. Und sie waren langsamer als die Geister. Außerdem besaßen beide Gattungen ein gewisses Eigenleben. Sie waren irdische Wesen und schwerer zu beeinflussen und zu lenken. Tum´rei dagegen, einmal in die irdische Welt gerufen, waren an die Befehle ihrer Herren gebunden und würden nach der Erledigung ihres Auftrages wieder in die jenseitige Welt zurückkehren. Sie waren schnell und genügsam.
Die Roboter, von denen nicht mehr viele existierten, sollten erst ganz zum Schluss zum Einsatz kommen, wenn es galt, der Gruppe um Meneas die Fragmente zu entreißen.
„Verflucht!“, rief Amonpa, aber da lag er schon in der Pfütze.
Laut prustend warf er seinen Kopf aus dem Wasser und versuchte, Luft zu holen.
Wenn der Anlass nicht so ernst gewesen wäre, hätte Tarkas laut aufgelacht, aber im letzten Augenblick hatte er noch die Schlinge aus dünnem Seil gesehen, die sich zischelnd um einen Fuß Amonpas zusammengezogen hatte. Er war in eine der Angkinel-Fallen getreten, von denen es eine ganze Menge in Kongsdal gab, gestrauchelt und haltlos in das Wasserloch gestürzt. Das alles wäre immer noch lustig gewesen, wenn die Schlingen nicht die unangenehme Eigenschaft besessen hätten, sich schmerzhaft um die Gliedmaßen ihrer Opfer zusammenzuziehen.
Tarkas ergriff Amonpas Hand und zog ihn ins Trockene. Anschließend durchtrennte er den Strick der Falle mit seinem Kristallmesser. Es war schärfer als der beste Stahl, vertrug nur keine Schläge. Dann konnte es zerspringen.
„Hast du Schmerzen?“, fragte er Amonpa.
Der spuckte angewidert einige halbvermoderte Grashalme aus und wischte sich durch sein Gesicht.
„Danke“, meinte er. „Nein, Schmerzen nicht, meine Stiefel haben mich geschützt. Aber der Druck war schon zu spüren. Wenn mir einer dieser verfluchten Fallensteller über den Weg läuft, dann breche ich ihm eigenhändig das Genick.“
Tarkas schmunzelte. Aber er hoffte, dass sich in der nächsten Zeit kein Fallensteller sehen ließ, denn Amonpa übertrieb nicht in seinem Zorn.
Mit einem festen Griff half er seinem Ordensbruder wieder auf die Beine. Amonpa lief einpaar Mal vorsichtig im Kreis und stellte fest, dass die Schlinge keine Wirkung hinterlassen hatte. Er klopfte sich den Dreck von der Kleidung, dann gingen sie weiter.
Dieser kleine Unfall hatte sich kurz vor ihrem Ziel ereignet. Sie konnten den Tjodhain schon sehen, es waren nur noch wenige hundert Schritte. Sie waren schon vorher achtsam gewesen, aber jetzt suchten sie den Boden noch genauer nach Schlingen ab. Das war in dem hohen Gestrüpp nicht einfach. Andererseits konnten sie kaum so eng aufgestellt sein, dass man auf Schritt und Tritt Gefahr lief, von einer eingefangen zu werden. Und den Rand des Wäldchens erreichten sie auch tatsächlich ohne weiteren Zwischenfall.
„Lass uns rasten, bevor wir hineingehen“, meinte Amonpa.
„Das ist ein guter Vorschlag“, fand Tarkas.
Es war später Nachmittag und sie hatten noch einige Stunden Zeit, bevor sie mit der Zeremonie beginnen konnten. Geisterbeschwörungen konnten nur in der Dunkelheit der Nacht stattfinden, weil dann die magischen Kräfte derjenigen, die diese Kunst anwendeten, besonders stark waren. Da störte es auch nicht, wenn die Monde am Himmel standen. Um Geister zu rufen, durften die Kräfte der Beschwörer nicht durch die des Lebens in der Umgebung geschwächt werden, und das war tagsüber der Fall, wenn Tiere in der Nähe und die Pflanzen aus ihrer nächtlichen Ruhe erwacht waren. Selbst das Tageslicht unterschied sich von dem der Nacht in seiner vitalen Ausstrahlung. Daher verließ das Leben die irdischen Körper auch häufiger in der Nacht, besonders in den frühen Morgenstunden, wenn die Mächte des Tages am schwächsten waren.
Tarkas und Amonpa sprachen wenig. Beide bereiteten sich auf ihre Aufgabe vor. Tarkas versicherte, dass sein Unbehagen, das ihn nach wie vor erfüllte und sich spürbar verstärkte, ihn nicht beeinträchtigen würde. Davon war Amonpa überzeugt, denn wenn es erst einmal begonnen hatte, würde Tarkas von allen weltlichen Ablenkungen und Bedenken befreit sein.
Sie hatten sich entschlossen, vier Tum´rei herbeizurufen. Zwei sollten eine menschenähnliche Gestalt erhalten und die beiden anderen die von Pferden. Ihre Kleidung und die beiden Schwerter hatten die Priester in ihrem Gepäck, neben den Dingen, die sie für die Geisterbeschwörung benötigten. Wie lange alles dauern würde, konnte man niemals vorhersagen. Das hing davon ab, von wie weit her die Tum´rei kommen mussten, denn sie trieben sich nicht ständig in der Nähe des Tjodhaines herum. Deshalb wollten sie so bald wie möglich beginnen und das war genau eine Stunde nach dem Untergang von Nephys.
Nachdem sie ihre Ausrüstung überprüft hatten, streckten sie ihre Beine aus und legten sich mit verschränkten Armen unter ihren Köpfen ins Gras. Die Zeremonie würde sie viel Kraft kosten, da war es notwendig, dass sie einigermaßen ausgeruht ans Werk gingen.
„Es ist so weit“, sagte Tarkas und rüttelte Amonpa an der Schulter.
„Hm? Ach so, ja. Ich muss eingenickt sein.“
Ein wenig verschlafen blickte er sich um. Der Regen hatte schon am Nachmittag aufgehört und jetzt entdeckte er sogar Wolkenlücken am Himmel. Dann bestand eine berechtigte Hoffnung darauf, dass die Nacht trocken bleiben würde. Das war nicht unbedingt erforderlich, machte ihnen ihr Vorhaben aber angenehmer.
Doch zuvor mussten sie sich noch versichern, dass sie wirklich allein waren. Die letzten Sonnenstrahlen am Horizont verblassten und die Dämmerung setzte langsam ein.
„Wir treffen uns auf der anderen Seite wieder“, sagte Amonpa und versteckte seine Tasche mit einem Teil seiner Ausrüstung unter einem dichten Strauch. Tarkas tat das gleiche. Dann begannen sie ihre Umrundung des Tjodhaines.
Kaum waren die beiden in entgegengesetzter Richtung auseinandergegangen, sprang das Eichhorn auf das Versteck zu und schnüffelte an den Taschen. Es berührte nichts, aber starrte kurz wie abwesend in den Wald. Dann blickte es sich um und verschwand zwischen den Bäumen des Tjodhaines.
Der Tjodhain war nicht sehr groß und in einer halben Stunde zu umrunden. Noch war es hell genug, um feststellen zu können, ob sich jemand in der Nähe aufhielt. Und mit seinem Hinweis »auf der anderen Seite« hatte Amonpa nichts anderes als die andere Seite des Wäldchens gemeint.
Beide hofften, nicht noch einmal Opfer einer Fangschlinge zu werden. Und sie hatten Glück. Unversehrt erreichten sie ihren Treffpunkt hinter dem Wäldchen und gingen wieder zurück. Sie hatten keine Hinweise auf andere Menschen in der Nähe entdeckt.
Es gab nur einen schmalen Pfad in den Hain hinein, und der lag auf der Seite, wo sie geruht hatten.
Gewöhnliche Menschen haben kein oder nur ein unterentwickeltes Gespür für die Anwesenheit körperloser Wesen. Aber die beiden Priester waren nicht nur übersinnlich begabt, sondern auch in diesen Dingen geschult und achteten auf die kleinsten Veränderungen in der spirituellen Ausstrahlung eines Ortes, besonders, wenn dort eine Geisterbeschwörung stattfinden sollte. Und jetzt spürten sie deutlich die Anwesenheit von Geistern.
Schon auf ihrer Wanderung, wie auch an vielen anderen Orten vorher, war ihnen zuweilen der eine oder andere Geist aufgefallen, aber da ihnen keiner gefolgt war und sie von ihnen nicht beachtet wurden, hatten auch sie keine Notwendigkeit gesehen, sich um diese Geister zu kümmern.
Die beiden Priester konnten im Tjodhain keine Gegenwart von Tum´rei feststellen. Das wunderte sie nicht. Tum´rei gehörten nicht zu den häufigsten Geistwesen und eines ihrer besonderen Merkmale war ihre Rastlosigkeit. Sie hielten sich nur selten längere Zeit in einer bestimmten Umgebung auf.
„Was siehst du?“, fragte Amonpa, als sie am Rand der kleinen Lichtung standen.
Wer hätte nicht milde gelächelt bei dieser Frage? Aber Tarkas wusste es besser.
„Zwei Menschenseelen, dort drüben und ein - hm, das ist schlecht. Ein Bolgnoir, ein schwarzer Dämon. Geradewegs über der Feuerstelle. Er beobachtet uns.“
Amonpa nickte.
„Ja, ich sehe sie auch. Der Bolg erschwert unser Vorhaben, macht es aber nicht unmöglich. Lass uns beginnen.“
In der Mitte der Lichtung befand sich die erwähnte Feuerstätte. Sie diente aber nicht dazu, Wärme und Helligkeit zu spenden, sondern bestimmte Kräuter zu verschwelen, deren Rauch die nahe Umgebung spirituell anregen und Geister anlocken sollte, und dabei möglichst die richtigen. Schließlich diente der Rauch auch dazu, die beiden Priester in einen besonderen geistigen Zustand zu versetzen.
Sie mussten darauf achten, zuerst in Verbindung mit starken Hilfsgeistern zu treten, die störende Wesen fernhielten oder, wie in diesem Fall den Bolg, wie sie ihn kurz nannten, vertrieben, falls sie es selbst nicht vermochten, um anschließend die Geister heranzuführen, deren Hilfe sie erbeten wollten, denn erzwingen ließ sie sich nicht. Bolge jedoch konnten sehr hartnäckig sein. Beide, Amonpa und Tarkas, wussten, dass es auch aus anderen Gründen immer wieder zu Überraschungen kam.
Noch während sie ihre Vorbereitungen trafen, das Gemisch der Kräuter in Brand zu setzen, erscholl über ihnen der Ruf eines Käuzchens. Tarkas zuckte zusammen. Amonpa lächelte.
„Eine Eule“, stellte er fest.
„Ja, und erschreckend laut.“
Natürlich hatte Tarkas keine Angst vor Käuzchen, das hielt ihn aber nicht davon ab, bei manchen Überraschungen eine gewisse Schreckhaftigkeit an den Tag, oder besser, an die Nacht zu legen.
Tief atmeten sie den Rauch ein und bald spürten sie die berauschende Wirkung der Kräuter. Die beiden Priester knieten vor der Feuerstätte und fielen in eine zunehmende irdische Entrücktheit, um sie herum nur die tiefe Dunkelheit des Waldes und zwischen ihnen das trübe Glimmen der Kräuter in einer Steinschale. Die Monde waren noch nicht aufgegangen und das Licht der Sterne zwischen den größer werdenden Wolkenlücken reichte kaum bis zum Waldboden. Mit rauschendem Flügelschlag machte sich die Eule davon, vertrieben von dem Qualm.
Die beiden Priester stimmten ein eintöniges Summen und Brummen an und wiegten ihre Oberkörper langsam vor und zurück. Diese Prozedur konnte lange dauern und diente der Sammlung ihrer seelischen Kräfte. Sie stellten sich dabei die verschiedenen Geister vor, die sie rufen wollten, und entzogen sich gleichzeitig den störenden Einflüssen ihrer Umgebung. Amonpa und Tarkas gerieten immer tiefer in einen Zustand, in dem sie die weltlichen Dinge um sich herum von ihrer eigenen Wahrnehmung ausschlossen.
Als sie die Augen öffneten, hatten sich die Erscheinung und ihr Empfinden der Umgebung geändert. Alle irdischen Dinge, die vorher in die Dunkelheit eingetaucht waren, besaßen jetzt einen milden Glanz. Und alles, was Wärme ausstrahlte, schimmerte rötlich. Ihre Hände, ihre Gesichter, die Glut umso heller, hatten eine rötliche Färbung angenommen und schienen bedeckt von schimmerndem Staub. Die Stämme um sie herum, die Zweige der Baumwipfel, der dunkle Waldboden, bedeckt von vertrockneten Tannennadeln, auf allem lag dieser mystische Reif. Auf einem nahen Baum erkannten sie einen rötlichen Fleck, der sich als ein Eichhörnchen herausstellte, das sich dort oben für die Nacht zusammengerollt hatte. Es gab keinen Grund, sich über das Tier Gedanken zu machen, und ihre Aufmerksamkeit wurde auf andere Dinge gelenkt.
Eine spürbare Spannung erfüllte den Ort. Vorher war sie ihnen kaum aufgefallen, doch jetzt, unter der Wirkung des betäubenden Rauches, überlagerte sie alle anderen Eindrücke. Obwohl sie nur die mehr oder weniger deutlichen Schemen der drei Geister sehen konnten, spürten sie, dass weitere in der Nähe und darauf aus waren, sich ihnen zu zeigen. Die beiden Priester konnten nicht sagen, welche es schließlich wirklich tun würden, denn die Erscheinung der einen verhinderte oft die Erscheinung der anderen. Es herrschte kein Wettstreit zwischen ihnen, aber sie umschwebten unsichtbar die Lichtung, bereit, jeden Augenblick ihr Vorhaben umzusetzen. Es war jedoch nicht die Zeit für die Priester, darauf zu achten.
Was sich zuerst nur als Schatten äußerte, zeigte sich jetzt umso deutlicher. Einen oder eineinhalb Meter über der Räucherstätte schwebte nach wie vor der Bolg. Tarkas sah in seine dunklen Augen, die ihn ungerührt anstarrten. Sie waren das einzige erkennbare Merkmal seines kahlen, ballrunden Kopfes. Sein Unterleib wurde von einem gelblichen Schleier verhüllt, aber der Oberkörper, der Kopf und seine Arme waren deutlich zu erkennen. Langsam senkte er sich zu ihm herab und streckte seine Arme nach ihm aus.
„Bolgnoir, Geist der Finsternis, wende dich ab von diesem Ort und von seinen Besuchern. Hier wirst du nicht finden, was du ersehnst. Freundliche Kräfte sind auf dem Weg hierher“, sagte Amonpa mit ruhiger, eindringlicher Stimme.
Der Bolg hielt inne und drehte sich langsam zu ihm um. Der vorher unsichtbare Mund des Geistwesens bewegte sich, aber es kamen keine verständlichen Worte aus ihm, sondern ein Geräusch wie fernes Meeresrauschen.
„Bolgnoir, Geist der Finsternis, wende dich ab von diesem Ort und von seinen Besuchern. Hier wirst du nicht finden, was du ersehnst. Freundliche Kräfte sind auf dem Weg hierher“, wiederholte Tarkas.
Diese Worte waren ein Ritual, um Dämonen dieser Art zu verscheuchen. Er wandte sich erneut Tarkas zu. Amonpa streute andere Kräuter in die Glut und ein fremdartiges Aroma verbreitete sich über die Lichtung. Der Bolg antwortete mit erneutem Rauschen aus seinem Mund. Er wurde unruhiger. Der andersartige Rauch schien ihm nicht zu gefallen, oder waren es die Worte?
„Keine Opfer sind dir an diesem Ort vergönnt“, sagte Amonpa. „Wir sind stärker als du und deinesgleichen.“
„Keine Opfer sind dir an diesem Ort vergönnt“, wiederholte Tarkas. „Wir sind stärker als du und deinesgleichen.“
Amonpa legte noch einige Kräuter nach und jetzt bewegte sich der Bolg langsam in die Höhe. Seinem Gesicht war immer noch keine Regung anzusehen, aber es gab keinen Zweifel, dass er sich zurückzog. Mit seiner Erscheinung schwand auch das Rauschen. Sie hatten ihn verjagt.
Dieses Mal war es einfacher, als sie befürchteten. Sie hatten schon Dämonen dieser Art mit größerem Aufwand vertreiben müssen und es bei einigen nicht aus eigener Kraft geschafft. Bolge konnten gefährlich werden, wenn sie sich an einen Menschen hefteten. Bei gewöhnlichen Menschen bestand nur eine geringe Gefahr, aber die Gabe übersinnlicher Wahrnehmungskraft war auch stets ein Einfallstor für Besessenheit. Daher waren die Priester des Inneren Kreises des Ordens von Enkhór-mûl besonders gefährdet. Im Alltag trugen sie ihre Amulette, die sie vor Geistern schützte, aber für ihre Zeremonie hatten Amonpa und Tarkas sie abgelegt, um ungestört eine Verbindung zu den Tum´rei herstellen zu können. Der erste Schritt dahin war getan.
Auch die Seelen der beiden Menschen sollten nicht auf der Lichtung bleiben. Sie waren verwirrt. Amonpa und Tarkas spürten ihre Furcht. Der Grund dafür war aber nicht ihre eigene Anwesenheit, sondern die des Dämons. Sie befanden sich in einer Art Bann zu seiner Gegenwart. Sie waren allein und hatten sich an ihn gehalten, in der Hoffnung auf Führung, obwohl sie auch Angst vor ihm hatten. Jetzt waren sie frei, konnten aber mit ihrer Freiheit nichts anfangen, denn sie wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Amonpa und Tarkas entschieden, dass sie dort bleiben sollten, wo sie waren, allerdings unter der Bedingung, dass sie nichts taten und schwiegen. Die Priester wollten den abgeschiedenen Menschen helfen, sobald der Zeitpunkt dafür geeignet war, doch ihre Aufgabe war zunächst wichtiger.
Damit waren die ersten Vorbereitungen beendet und sie konnten mit der eigentlichen Geisterbeschwörung beginnen. Doch es kam etwas dazwischen, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Ein vollkommen unerwartetes Geistwesen tauchte in der Nähe der beiden Menschenseelen auf. Es war kein übler Dämon und genauso wenig verbreitete es eine bösartige Ausstrahlung. Tarkas und Amonpa blickten auf eine strahlende Gestalt, dessen menschenähnliches Gesicht, umrahmt von einer Aura aus Licht, Güte und Weisheit vermittelte. Es trug ein langes, lichternes Gewand.
Solche Wesen waren den beiden Priestern nicht fremd, denn sie hatten sie bereits bei dem Tod anderer Menschen kennengelernt. Manche nannten sie auch Engel. Es waren Boten aus dem Jenseits und holten die Seelen verstorbener Menschen ab.
Sie wechselten einige Worte, und das Lichtwesen bedankte sich dafür, dass sie den Bolgnoir aus der Nähe der Menschenseelen verbannt hatten. Tarkas und Amonpa erfuhren, warum es erst jetzt aufgetaucht war. Indem sie den Bolg verscheucht hatten, konnten sich die beiden Menschenseelen von ihm lösen und waren dadurch in einen Zustand geraten, die sie für göttliche Hilfe zugänglich machte. Somit war vorzeitig geschehen, was die beiden Priester erst später vorgehabt hatten. Das Geistwesen war gekommen, um die beiden Verstorbenen abzuholen und in ihre geistige Heimat zu führen. Ohne es zu wollen, hatten Tarkas und Amonpa den göttlichen Kräften in die Hände gespielt. Und denen schienen ihre eigentlich fragwürdigen Machenschaften gleichgültig zu sein.
Der Bote wandte sich den beiden Menschenseelen zu und nahm sie an die Hände. Gemeinsam verblassten sie und verließen den Erdkreis von Elveran.
„Mirandnir, Zehlar und Geist der Wachsamkeit, wir rufen dich“, sagte Amonpa mit lauter, ruhiger Stimme, während Tarkas einige Kräuter in die Glut legte und die Lichtung mit einem eintönigen Klang seiner Stimme in eine bestimmte Schwingung versetzte. Dabei wiegte er nach wie vor leicht mit seinem Oberkörper vor und zurück.
„Mirandnir, Zehlar und Geist der Wachsamkeit, wir rufen dich“, wiederholte Amonpa im gleichen Tonfall.
Diesen Anruf und das gleichmäßige Brummen setzten sie einige Zeit fort.
Ein herbeigewünschter Geist war nicht immer sofort zur Stelle. Manchmal musste er von weither gerufen werden und es war auch nicht sicher, ob er überhaupt kam. Die meisten Geister waren keine willenlosen Befehlsempfänger, sondern sehr selbständige Wesen, die sich durchaus entscheiden konnten, ob sie einem Ruf folgen wollten oder nicht und deshalb musste er auch als eine Bitte und weniger als ein Diktat vorgetragen werden. Schließlich hatten sie mehr zu tun, als darauf zu warten, dass ein irdisches Wesen sie zu sich bestellte. Es gehörte also viel Geduld dazu, einen Geist zu beschwören.
Mirandnir war ein sogenannter Schutzgeist und gehörte zur Gruppe der Zehlaren. Tarkas und Amonpa hatten auch schon mit anderen Zehlaren zu tun gehabt, zu ihnen zählten Tamalik und Gerindi, aber Mirandnir hatte sich als bereitwilligster und umgänglichster Schutzgeist erwiesen. Deshalb versuchten sie es als Erstes mit ihm.
Das Brummen von Tarkas und die damit verbundene Schwingung dienten als Barriere gegen unerwünschte Geister. Sie war so eingestimmt, dass sie Zehlaren nicht behinderte, sich zu einer astralen Erscheinung zu verdichten.
„Wer ruft da?“, fragte plötzlich eine helle Stimme, die sich unsichtbar über der Feuerstelle befand. „Was wollt ihr von mir?“
Tarkas und Amonpa blickten überrascht nach oben. Das war nicht der Geist, den sie erwarteten.
„Dich haben wir nicht gerufen“, stellte Amonpa fest. „Wer bist du?“
Einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen und während dieser Zeit wurde ein kleines Wesen sichtbar, das in Augenhöhe vor ihnen schwebte und sich langsam im Kreis drehte. Es war entfernt menschenähnlich und glich dem Aussehen eines Kindes kurz vor seiner Geburt. Die meisten Geister waren mehr oder weniger menschenähnlich. Eine der seltenen Ausnahmen bildeten die Tum´rei.
Dieser Geist hatte eine etwas verschrobene Kindergestalt und einen steinalten, hässlichen Kopf, von dem einige strähnige Haare herunterhingen. Seine Stimme war denkbar unpassend für seine Erscheinung.
„Ihr müsst mich kennen. Jeder kennt mich“, behauptete das Wesen in unüberhörbarer Selbstüberschätzung und seine Worte waren plötzlich tief und hohl. „Ich heiße Cromandres. Hier lebe ich. Es ist mein Reich. Was treibt ihr hier für seltsame Spiele?“
„Das ist kein Spiel und wir warten auf einen anderen Geist“, erklärte Amonpa. „Ziehe dich wieder zurück. Unser Gast muss gleich hier sein.“
Cromandres lachte.
„Niemand kommt, wenn ich es nicht will. Hier ist mein Reich und ich entscheide, was geschieht.“
Seine Stimme schwankte zwischen kindlich hell und tief wie ein Abgrund.
Die beiden Priester hatten schnell bemerkt, dass dieser Geist unangenehm war. Und es war Unsinn von ihm zu behaupten, dass sie sich in seinem Reich befanden. Bisher hatte er sich im Tjodhain noch nie gezeigt. Es war Tarkas und Amonpa auch gleichgültig, mit wem sie es zu tun hatten. Jetzt war nicht die Zeit, sich mit fremden Geistwesen herumzuschlagen. Sie hofften, dass Mirandnir schon unterwegs war, und mussten diesen Gnom möglichst schnell loswerden. Aber das Gleiche würden sie auch wollen, wenn Mirandnir nicht unterwegs war. Auf jeden Fall störte Cromandres.
„Wir beschwören dich, verlasse diesen Ort“, sagte Amonpa mit befehlender Stimme.
Cromandres rührte sich nicht von der Stelle. Amonpa holte eine Flasche mit einer Flüssigkeit hervor, in der eine hochverdünnte Substanz gelöst war. Cromandres beugte sich zu ihm nieder und beäugte, was der Priester tat. Der murmelte einige beschwörende Worte, doch er kam gerade noch dazu, die Flasche zu öffnen, es gelang ihm aber nicht mehr, den Geist mit der Flüssigkeit zu beträufeln, denn Cromandres erkannte Amonpas Absicht, wirbelte mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit um ihn herum und setzte sich in seinen Nacken. Mit Entsetzen sah Tarkas, wie sich der Geist in eine fahle Wolke verwandelte und sich über Amonpas Oberkörper stülpte. Nur der steinalte Kopf behielt seine Gestalt und ragte aus dem dünnen Nebel hervor, als hatte er sich auf Amonpas Haupt niedergelassen.
„Das war sehr böse“, sagte Cromandres mit weinerlicher Kinderstimme. „Vielleicht bleibe ich aber trotzdem bei euch. Ihr könntet mir nützen.“
Die Lage wurde ernst. Jetzt hatte sich genau das ereignet, was es eigentlich zu vermeiden galt, obwohl sie bisher alle Vorsichtsmaßnahmen beachtet hatten. Sie hatten einen dämonischen Geist angezogen und sie würden ihn bestimmt nur schwer wieder loswerden. Tarkas machte sich Sorgen um Amonpa. Er saß reglos mit der Flasche in der Hand vor den glimmenden und räuchernden Kräutern und sein Kopf war umhüllt von dem Nebelkörper des Dämons. Tarkas konnte nicht feststellen, wie es seinem Ordensbruder ging. Er überlegte verzweifelt, was er tun konnte. Dann entschied er sich gegen die letzte Möglichkeit, die er hatte. Sein Amulett wollte er noch nicht einsetzen. Das hätte jetzt wahrscheinlich auch Amonpa gefährdet, auf jeden Fall die Geisterbeschwörung aber beendet.
„Ist dir der Rauch angenehm?“, fragte er Cromandres und versuchte seiner Stimme einen schmeichelnden Klang zu geben.
„Hast du nichts Besseres zu bieten?“
Tarkas hoffte, die Stimme des Dämons richtig gedeutet zu haben. Wenn aus ihr Gier sprach, dann konnte er den Geist vielleicht packen, indem er versuchte, sie zu befriedigen.
„Oh doch“, meinte er kopfnickend. „Aber dazu muss ich an den Beutel mit den Kräutern heran und der liegt neben dem Knie von Amonpa.“
„Wer ist Amonpa?“
Tarkas zeigte auf seinen Ordensbruder.
Cromandres nickte.
„Dann mach schnell. Ich hoffe, es ist auch etwas Gutes darin.“
„Ich werde bestimmt etwas finden.“
Langsam, aber nicht zu vorsichtig, damit der Dämon nicht argwöhnte, dass er noch etwas anderes vorhatte, beugte Tarkas sich über die Räucherstelle, gefolgt von den aufmerksamen Augen des Dämons. Dann entwandt er Amonpa blitzschnell das bereits geöffnete Fläschchen mit dem Elixier, das Geister verscheuchte, und verspritzte einige Tropfen auf Cromandres Nebelkörper. Dort, wo sie mit ihm zusammentrafen, bildeten sich Löcher, als würde er von Säure aufgelöst. Cromandres stieß einen abscheulichen, überirdischen Schrei aus und ließ von Amonpa ab. Tarkas spritzte weiter Flüssigkeit auf den Dämon, traf ihn am Hals und am Kopf, und die Unsichtbarkeit begann, sich in seinen Körper zu fressen.
„Wir haben dich nicht gerufen und wir werden dich auch nicht rufen, also geh! Geh!“, rief Tarkas mit befehlender Stimme, während sich der Dämon immer weiter von Amonpa zurückzog. „Geh!!“
Ohne eine weitere Äußerung löste sich der Rest von Cromandres´ Geistkörper auf. Jetzt konnten sie sicher sein, dass er sich so schnell nicht wieder blicken lassen würde. Einen Geist kostete es einige Kraft, sichtbar zu erscheinen. Und durch die Benetzung mit der Flüssigkeit hatte Cromandres zusätzlich an Kraft verloren. Also würde er sich zunächst zurückziehen und seine Wunden lecken. Tarkas hoffte, dass seine Schwäche blieb, bis sie ihre Geisterbeschwörung vollendet hatten, denn vernichten konnten sie ihn nicht.
Amonpa regte sich und sah Tarkas an, als wäre er gerade aus einem Schlaf aufgewacht. Aber er hatte nicht vergessen, was vorher geschehen war.
„Ist er weg?“
Tarkas zeigte ihm die Flasche.
„Sehr gut. Ich danke dir. Er war lästig und ich hätte ihn nicht allzu lange mit mir herumtragen wollen, aber es wäre ihm noch lange nicht gelungen, meinen Willen zu beeinträchtigen. Machen wir weiter, wir sind noch nicht fertig.“
Amonpa reichte Tarkas den Stopfen der Flasche, damit er sie verschließen konnte. Dann begann er von neuem, Mirandnir zu rufen.
Wieder neue Kräuter in die Glut, wieder der einsilbige Gesang von Tarkas. Von solchen Ereignissen wie dem vorhergehenden durften sie sich bei ihrer magischen Handlung nicht beeinträchtigen lassen, wussten die beiden. So etwas konnte immer wieder geschehen und das Auftauchen von Cromandres war noch nicht einmal einer der gefürchtetsten Zwischenfälle, bei denen zuweilen sogar das Leben eines Priesters in Gefahr geriet.
Jetzt ging alles unerwartet schnell. Amonpa hatte die Beschwörungsformel gerade das zweite Mal wiederholt, als sich Mirandnir zeigte. Er war ein großer Geist. Nicht nur, was seine Macht betraf, sondern auch seine Gestalt. Fast zwei Meter hoch und von kräftiger Statue wurde er in dem Rauch der Kräuter sichtbar und schwebte etwa einen halben Meter über dem Boden. Er war gekleidet in eine vergleichbare Robe, wie sie auch die Priester des Ordens von Enkhór-mûl trugen. Aber über seiner Brust baumelte kein Amulett. Und er war auch kein Mitglied dieses Ordens.
„Ich grüße euch, Tarkas und Amonpa. Ihr habt mich gerufen.“
Tarkas und Amonpa standen auf.
„Und wir grüßen dich“, erwiderte Amonpa. „Und danken dir, das du bereit bist, uns zu erscheinen.“
„Ich war ganz in der Nähe, aber eine unsichtbare Kraft hat mich aufgehalten. Es kam mir vor wie ein Dämon. Er ließ mich nicht durch.“
„Kennst du einen Geist namens Cromandres?“
„Der? Das hätte ich wissen sollen. Er ist bekannt als Störenfried. Wo immer er auftaucht, macht er Ärger. Wie seid ihr ihn wieder losgeworden?“
Tarkas erzählte ihm die Geschichte, und obwohl sie für die Priester gar nicht sehr lustig war, zeigte Mirandnirs Gesicht einen Anflug von Heiterkeit.
„Das wird ihm hoffentlich eine Lehre sein“, sagte er. „Nun, was ist der Grund für euren Ruf.“
„Wir möchten dich um einen Gefallen bitte“, erklärte Tarkas.
„Lasst mich raten, ihr braucht wieder Tum´rei.“
Amonpa lächelte.
„Ja, so ist es.“
Mirandnir machte ein sorgenvolles Gesicht.
„Ist es wirklich unumgänglich, eure weltlichen Angelegenheiten immer wieder von Wesen aus der Geisterwelt verrichten zu lassen?“
Es war nicht das erste Mal, dass Mirandnir diese Frage stellte und zumindest Tarkas und Amonpa hatten sich auch schon diese Frage gestellt. Aber auch sie mussten Befehlen gehorchen, und wenn Alben Sur anordnete, die Hilfe von Geistern in Anspruch zu nehmen, dann mussten sie sich dem fügen.
„Manchmal sind sie bessere Verbündete als irdische Wesen“, meinte Amonpa. „Und ich versichere dir, dass sie auch dieses Mal nicht töten sollen. Sie sollen unsere Gegner nicht einmal angreifen. Wir bitten sie nur darum, sie zu beobachten.“
„Dann wäre es gut und segensreich für die Geister, wenn ihr eure Befehle eindeutiger gebt als die letzten Male. Was ihr von ihnen verlangt habt, hat ihnen nicht gutgetan und ihr wisst, sie können sich nicht dagegen wehren.“
Amonpa und Tarkas verstanden, was Mirandnir meinte. Auch Geistwesen haben ihre Schicksale, und Taten, im Guten wie im Bösen, unterliegen einem Lohn oder einer Buße. Da wiegt es schwer, wenn Lebewesen, irdische und überirdische, zu Handlungen veranlasst werden, die ihrem Naturell zuwiderlaufen. Das Gleiche gilt natürlich auch für diejenigen, die diese Handlungen befehlen. Andererseits gibt es Hierarchien hüben wie drüben und manche unverständlichen Entscheidungen dienen einem Zweck, dessen Sinn sich den Ausführenden nicht immer erschließt.
„Wir geben dir unser Wort, dass sie dieses Mal gegen keine Gesetze verstoßen werden“, versprach Amonpa.
„Ich werde euer Wort nicht vergessen. Wartet hier, bis ich wieder zurück bin. Wie viele werden benötigt?“
„Vier.“
Mirandnir verblasste und ließ die beiden Priester allein auf der Lichtung zurück.
Nun hieß es für sie, geduldig zu warten. Es konnte eine Weile dauern, bis er mit den vier Tum´rei zurückkehrte. Aber jetzt waren sie vor unerwünschten »Gästen« sicher. Mirandnir war nicht allein aufgetaucht, auch wenn seine Begleiter nicht sichtbar geworden waren. Aber Tarkas und Amonpa wussten, dass diese Geister sich noch in der Nähe befanden und über sie wachten. Die folgende Zeit verbrachten die beiden Priester wieder in geistiger Versenkung und hatten nur dafür zu sorgen, den Rauch der Kräuter auf der Lichtung nicht schwächer werden zu lassen.
Tarkas und Amonpa bemerkten kaum, wie das Licht im Tjodhain zunahm. Es war nicht das Sonnenlicht, das den neuen Tag ankündigte, sondern die aufgehenden Monde. Aber es strahlte für die beiden Priester nicht in dem fahlen Weiß, wie es gewöhnliche Elveraner sahen, sondern in einem gelblichen Rot. Ursache dafür war weniger die berauschende Wirkung der räuchernden Kräuter, als vielmehr die besondere Schwingung, die durch die Gegenwart der Geister verursacht wurde und durch den Klang von Tarkas Stimme. Die beiden befanden sich jedoch in einem Zustand, der sie diesen bemerkenswerten Umstand kaum wahrnehmen ließ.
Als das Licht seine größte Helligkeit erreichte, kam Mirandnir zurück. Seine Erscheinung verdichtete sich wieder im Rauch der Kräuter. In seiner Begleitung befanden sich vier Wesen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit irdischen Quallen hatten. Sie waren etwa so groß wie die Köpfe erwachsener Elveraner und schwebten auf der Höhe seiner Schultern. Es waren die Tum´rei. Sichtbare Sinnesorgane waren in ihrer grauen Substanz nicht zu erkennen, die wie dichter Rauch zu wallen schien, ohne dabei ihre Gestalt wesentlich zu verändern.
„Hier sind sie, wie ihr es wünscht“, sagte Mirandnir, dann blickte er die beiden Priester streng an. „Aber ich rate euch, euer Versprechen zu halten.“
„Das werden wir“, bestätigte Amonpa. „Wir gaben dir unser Wort und werden es halten.“
Die Tum´rei entfernten sich ein Stück von Mirandnir und blieben in etwa einem Meter Höhe in der Luft stehen. Tarkas und Amonpa trieben sie behutsam auseinander, zwei nach links und zwei nach rechts.
„Ihr beiden werdet die Gestalt von Pferden annehmen“, befahl Amonpa.
Und sofort begann sich, ihre Form zu verändern. Er öffnete seinen Geist, damit die Tum´rei aus seiner Erinnerung eine Vorstellung von Pferden bekamen. Amonpa brauchte keine Angst zu haben, dass sie mehr erfuhren, denn er ließ sie nur das Bild dieser Tiere sehen. Außerdem waren Tum´rei keine besonders intelligenten Geister und kaum fähig dazu, aus eigenem Antrieb den geistigen Inhalt anderer Wesen auszuspionieren. Tum´rei waren eine sehr einfache Art von Geistern aus den untersten Hierarchien und deshalb leicht zu überwachen. Andererseits musste ihnen alles gesagt werden, was sie tun sollten. Es war kaum möglich, sie vollkommen allein eine Aufgabe ausführen zu lassen.
Es dauerte nicht lange, und sie hatten die Körper von kleinen Pferden angenommen. Aber das betraf nur ihre Form und ihre Bewegungen. Sie fraßen nicht, sie verdauten nicht und sie blieben stumm. Auch einem, der von Pferden nichts verstand, wäre sofort aufgefallen, dass mit den Tieren etwas nicht stimmte. Die Augen, obwohl sie klar waren, blickten teilnahmslos und starr nach vorne. Aber sie sollten sich auch nicht in der Nähe von Menschen aufhalten, außer denen, zu deren Beobachtung sie in der irdischen Welt ausgeschickt werden würden. Diese Tiere waren blind, was ihre Sinnesorgane betraf. Und trotzdem konnten sie sich sicher in der irdischen Welt bewegen.
Dann ließen die Priester aus den anderen beiden Quallen die Reiter entstehen. Hier dienten sie selbst als Muster, obwohl die Reiter kleiner blieben und auch ihre unvollkommenen Gesichter zeigten die gleiche Teilnahmslosigkeit wie die Pferde. Diese Tum´rei waren nur zu einer bruchstückhaften, zischelnden Sprache fähig.
Tarkas holte die Kleidung aus ihren Taschen und die beiden Schwerter.
Mirandnir hatte alles schweigsam mitangesehen, als wachte er über seine vier Schützlinge und in einem gewissen Sinne war es tatsächlich so. Und jetzt erhob er Einspruch.
„Wozu brauchen sie Waffen, wenn sie nur beobachten sollen? Habt ihr euer Versprechen schon vergessen?“
„Sie könnten von Meneas oder anderen aus der Gruppe angegriffen werden“, erklärte Amonpa.
„Könnten die Menschen sie verletzen?“
„Das nicht, aber -.“
„Könnten sie Menschen verletzen?“
Amonpa zögerte.
„Also gut. Tarkas, steck die Waffen wieder ein.“
In Mirandnirs Gesicht war nicht zu erkennen, ob er zufrieden war oder nicht. Schweigsam und reglos beobachtete er, wie die beiden Priester die Tum´rei einkleideten und ihnen ihre Befehle gaben.
Sie erteilten ihren Auftrag nicht mit Worten. Das wäre umständlich und langwierig gewesen. In geistigen Bildern übermittelten sie, was sie über Meneas´ Gruppe wissen mussten, wie die Mitglieder aussahen und auf welcher Route sie unterwegs waren. Sie gaben den Tum´rei eine Woche Zeit, die Fährte der Reiter aufzunehmen. Wenn sie dann noch keine Spur von ihnen entdeckt hatten, mussten sie, wie im gegenteiligen Fall, mit dem Orden von Enkhór-mûl Verbindung aufnehmen. Auch wie ihnen das gelang, erklärte ihnen Amonpa. Dann hatte die Reitergruppe unerwartet eine andere Richtung eingeschlagen.
Ob die vier Geister sie verstanden hatten, konnten sie nur vermuten, aber in der Vergangenheit war es immer so gewesen. Ganz zum Schluss gebot Amonpa ihnen, dass sie um keinen Preis Menschen töten oder verletzen durften. Diesen Befehl war er Mirandnir schuldig. Die Geisterreiter blieben noch bis zum Sonnenaufgang auf der Lichtung und während dieser Zeit verdichteten sich ihre Körper.
Nachdem alles beendet war, noch vor dem Beginn der Morgendämmerung, verblasste Mirandnir und kehrte wortlos in seine Welt zurück. Tarkas und Amonpa legten sich auf die Erde und schliefen sofort ein.
Als die Sonne aufging, war der Rauch verflogen. Es dauerte einige Zeit, bis die Priester erwachten. Wie immer nach einer Geisterbeschwörung litten sie noch einige Zeit unter dem Kräfteverlust und der Nachwirkung des berauschenden Rauches. Beide hatten sie Kopfschmerzen und fühlten sich ein wenig flau. Aber dagegen halfen ihnen eine Medizin und ein ordentliches Frühstück.
Vorher schickten sie ihre Geisterspäher los. Die halbe Nacht hatten sie reglos am Rand der Lichtung gewartet. Aber jetzt kam Bewegung in sie. Tarkas und Amonpa hatten ihnen alles mitgeteilt, was sie wissen mussten. Selbst jetzt, in augenscheinlicher Abwesenheit Mirandnirs, konnten sie ihre Befehle an die Tum´rei nicht mehr ändern, ohne dass ihr Schutzgeist davon erfuhr. Und dann würde er dem Spuk, und nichts anderes hatten die Priester herbeigeführt, umgehend ein Ende bereiten.
Mit dem Wissen der Priester und ihren Befehlen machten sich die Tum´rei auf den Weg, Meneas´ Gruppe so lange zu verfolgen, bis deren Reise beendet war.