Читать книгу Das Erbe der Ax´lán - Hans Nordländer - Страница 5
3. Eine ereignislose Etappe
Оглавление„Ah! Was für ein Leben!“, rief Erest begeistert und tauchte mit dem Kopf unter Wasser.
Mit weit ausholenden Schwimmbewegungen zog er eine kurze Bahn durch den See. Hinter sich hörte er das Platschen von Valea, Freno und Anuim. Es war eine willkommene Abkühlung nach der Hitze des Tages.
Sie hatten an einem See ihr Nachtlager aufgeschlagen, und da der Abend sehr mild war, nutzten sie die Zeit vor dem Abendessen mit einem erfrischenden Bad. Die anderen beschränkten sich darauf, sich am Ufer zu waschen.
Durhad entzündete ein Feuer, auf dem sie die Enten, die sie kurz vorher im Dickicht am Ufer erlegt hatten, braten wollten. Solvyn half ihm dabei, die Vögel auszunehmen und zu rupfen.
„Es wäre schön, wenn jeder Tag auf dieser Reise so enden könnte“, meinte Solvyn, „obwohl ich dann dafür wäre, dass jeder einmal an die Reihe kommt, das Essen zuzubereiten.“
Durhad schmunzelte.
„Ich fürchte, in einer Woche würde keiner mehr gebratene Tiere essen wollen.“
„Man könnte sich ja auch einmal etwas anderes einfallen lassen. Ich habe hier eine Menge Kräuter gesehen.“
Anderthalb Wochen war es nun her, dass sie den Waldbauernhof verlassen hatten. Seither hatten sie ohne Zwischenfälle ihren Weg nach Norden fortsetzen können. An jenem Morgen, als sie aufgebrochen waren, hatte sich jeder von ihnen an einen seltsamen Traum erinnert, und sie fanden es seltsam, dass sie offensichtlich alle das Gleiche geträumt hatten.
Der Überfall durch den Eisenmenschen, den Tjerulf als Roboter bezeichnet hatte, war ihnen immer noch frisch im Gedächtnis. Sie hatten daraufhin drei Tage in der Scheune des Waldbauern Malorn Obdach gefunden, um die Verletzungen von Solvyn und Erest auszukurieren. Diese Zeit war einigen lang geworden, weil sie zur Untätigkeit verurteilt waren, aber sie hatten keine andere Wahl, als die Genesung der Verletzten abzuwarten. Bis dahin waren die Ereignisse so klar, wie sie unter diesen Umständen sein konnten.
In der letzten Nacht vor ihrem Aufbruch waren plötzlich seltsame Lichter vor der Scheune erschienen und die Beschwerden von Erest und Solvyn am nächsten Morgen fast verschwunden. Das, was von ihren Verletzungen noch übriggeblieben war, verursachte ihnen keine Beschwerden mehr. Nur noch leichte Blutergüsse kennzeichneten die Stellen, die ihnen solche Qualen bereitet hatten. Es grenzte an ein Wunder, aber Tjerulf war überzeugt, hatte er gesagt, dass die Medizin, die ihnen von Meneas verabreicht worden waren, an jenem Ort besonders gut wirkte.
Sie vermuteten, dass zwischen dem Auftauchen der merkwürdigen Lichter und dem wunderbaren Verheilen der Verletzungen bis zum nächsten Morgen irgendetwas vorgefallen war, woran sie sich nicht mehr erinnerten. Nur verschwommene Bruchstücke waren ihnen erhalten geblieben, die keinen rechten Sinn ergaben. Und Tjerulf wusste anscheinend auch nicht weiter.
Schließlich verblasste dieser seltsame Traum, den sie alle teilten. Wenn die Eindrücke auch nicht völlig verschwanden, so konnte bald keiner von ihnen mehr sagen, worum es darin überhaupt ging. Nur Tjerulf und Durhad wussten, dass es überhaupt kein Traum war, sondern ein tatsächliches Ereignis. Nur die beiden kannten die Hintergründe, und so musste es noch einige Zeit bleiben.
Tjerulf war beeindruckt davon, was sowohl die medizinische als auch die psychologische Behandlung der Oson bewirkt hatte. Als sie in der CRYPTOI aufgenommen wurden, hatte er kaum geglaubt, wie gründlich besonders Erest alle verräterischen Erinnerungen genommen werden konnten. Sogar seinen Hinweis auf die Kräuter von Meneas hatten sie ihm abgenommen, nachdem Erests gebrochener Fuß und seine Brandwunde auf der Brust und auch Solvyns Rippenprellung fast spurlos beseitigt worden waren. Die Erinnerung daran, wie sie geheilt worden waren, war vollkommen ausgelöscht. Tjerulf hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, aber es gab keine. Auch von ihren Begegnungen und Gesprächen im Raumschiff war nichts in ihrem Gedächtnis zurückgeblieben. Nur der Traum hatte kurz nachgewirkt, dann war auch diese Erinnerung verschwunden. Es war unglaublich.
Die Waffen und technischen Geräte, die Héth-Béckûs und Neneema ihm mitgegeben hatten, waren klein und handlich und er hatte sie unauffällig in seinem und Durhads Gepäck verstaut. Bis dahin gab es noch keinen Anlass dazu, sie Meneas und seinen Freunden zu zeigen. Und wenn es so weit war, würde es ihm ein Leichtes sein, sie als seine eigene Ausrüstung vorzustellen.
So weit war alles gut verlaufen. Aber nun war Tjerulf wieder in der unbefriedigenden Lage, das Wissen um die wahre Herkunft und die Bestimmung der Oson in ihren elveranischen Körpern nur mit Durhad zu teilen. Und wie Erest in der kurzen Zeit seiner geistigen Erweckung, musste er in der folgenden Zeit genau überlegen, was er seinen Freunden wie erklärte, damit sie ihn verstanden. Andererseits war der alte Zustand jetzt wieder hergestellt, mit dem Unterschied, dass er eine Fülle von Wissen über die Oson erhalten hatte, die viele Fragen, die ihn seit langem beschäftigten, beantwortete.
Nur die beiden wussten noch, welch ein unglaublicher Aufwand für den Einsatz von Meneas, Erest, Valea, Solvyn, Freno und Anuim auf Elveran betrieben worden war und immer noch wurde, um unter anderem hauptsächlich einen Kristall zu finden. Und ob dieser Aufwand seinem eigenen Anliegen dienlich war, das musste sich erst noch herausstellen.
Nach dem Überfall durch den Roboter waren sie, wenig überraschend, in der folgenden Zeit umso argwöhnischer gegenüber allen, die ihnen begegneten. Da er in menschlicher Verkleidung aufgetreten war, konnte in jedem Elveraner, der sich in ihrer Nähe ungewöhnlich neugierig oder verdächtig verhielt, auch so ein Maschinenwesen stecken. Da sie noch in Erinnerung hatten, dass sich der Robotermensch merkwürdig steif bewegte, achteten sie besonders auf den Gang anderer Menschen.
Dieser Zustand musste auf Dauer unerträglich werden, denn auf ihrer weiteren Reise würden sie unweigerlich mit Einwohnern der Gegenden, durch die sie kamen, zu tun haben und auch ihre Hilfe benötigen. Ständiges Misstrauen musste da eine verheerende Wirkung haben. Deshalb entschloss sich Tjerulf nach zwei Tagen, Meneas und seinen Freunden das erste Gerät vorzustellen, das ihnen die Oson mitgegeben hatten.
Da Tjerulf den Roboter als das erkannt hatte, was er war, nämlich ein Maschinenwesen aus den Beständen der Ax´lán, glaubte ihm jeder, dass er, nachdem er ihnen schon früher erzählt hatte, dass er und seine Freunde einige Stützpunkte dieses ausgestorbenen Volkes entdeckt hatten, im Besitz einer Vorrichtung war, die einen Roboter erkennen konnte. Er brauchte sich noch nicht einmal besonders anzustrengen, ihnen zu erklären, warum er es bei sich hatte. Denn schon vor ihrem Aufbruch von Wingert-Haus hatten sie darüber gesprochen, dass ihre Suche nach den Kristallfragmenten eine Suche nach einer Hinterlassenschaft der Ax´lán war. Also war unter Umständen auch mit der Begegnung mit Robotern zu rechnen. Doch hatte Tjerulf diese Möglichkeit bis dahin für so unwahrscheinlich eingeschätzt, dass er sie für nicht erwähnenswert gehalten hatte. Dieses Erkennungsgerät wollte er seinen Freunden erst vorstellen, wenn es die Lage erforderte.
Es kam für ihn nicht überraschend, als sich Erest und Solvyn, die erstaunt feststellte, nichts davon zu wissen, darüber beklagten, dass dieses Ding ihnen auch schon bei diesem Überfall einige Quälereien erspart hätte, aber Tjerulf erklärte ihnen überzeugend, dass er mit diesen Maschinen erst in der Nähe der Verstecke der Fragmente gerechnet hatte und da er nicht wusste, wie lange die Speicher die Kraft liefern würden, um das Gerät in Betrieb zu halten, hatte er es noch schonen wollen. Das sahen sie schließlich ein. Und sein Versprechen, es von nun an eingeschaltet zu lassen, stellte sie schließlich zufrieden.
Natürlich konnte er sein Wort bedenkenlos geben, denn Héth-Béckûs hatte ihm versichert, dass die Batterien einige Monate durchhalten würden und falls das nicht reichte, mussten sie ihnen eben ein neues Gerät zukommen lassen.
Tjerulf überließ den Detektor, wie er das Gerät nannte, Erest. Als das am härtesten betroffene Opfer des Überfalls stand es ihm zu, meinte er, aber eigentlich hatte er nur keine Lust, sich damit unnötig zu belasten. Tjerulf war sicher, dass Erest auch eher auf Warnzeichen achtgeben würde als er selbst.
Der Detektor war kaum größer als eine Walnuss und konnte an einer Kette um den Hals getragen werden. Falls sich im Umkreis von einigen hundert Metern ein betriebsbereiter Roboter aufhielt, würde das Gerät einen Warnton und ein Leuchtzeichen erzeugen.
Damit waren sie alle beruhigt und ritten von da an weniger angespannt weiter. Und seither hatte das Gerät geschwiegen. Überhaupt wunderten sie sich, dass sich der Orden von Enkhór-mûl nicht mehr geregt hatte, seit sie von dem Waldbauern aufgebrochen waren. Die einzige Erklärung, die sie dafür hatten, war, dass er tatsächlich ihre Fährte verloren hatte und sie hofften, dass es noch lange so blieb. Trotzdem gab es keinen Grund, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.
Eckersbruch hatten sie durchquert, ohne anzuhalten. Sie befanden sich auf der Straße in Richtung Drossen. Auf ihrem Weg lagen einige Ortschaften, denn sie kamen in ein Gebiet, dass dichter besiedelt war und dort gab es nicht mehr nur Bauern, sondern auch immer häufiger Ansiedlungen mit Handwerkern und kleinen Manufakturen, deren Güter von örtlichen Händlern verkauft oder in mehr oder weniger großen Handelskarawanen zu den Märkten in den Städten gebracht wurden, von denen ihnen einige begegneten.
Bis sie Drossen erreichten, brauchten sie nicht mehr unter freiem Himmel zu übernachten, denn jetzt gab es auch für größere Reisegruppen ausreichend Unterkunft. Auf einem ungewöhnlich ereignislosen, geradezu erholsamen Ritt kamen sie durch die kleinen Städte Reitbach und Floßhausen. Diese Städte lagen in einer Entfernung zueinander, dass sie leicht in einem Tagesritt erreicht werden konnten.
In Reitbach übernachteten sie in der »Fuhrmannschänke«. Es war ein durchaus passender Name für eine Herberge an einer Handelsstraße. Außer ihnen befanden sich dort zahlreiche Händler und sogar einpaar Ogmari, die ebenfalls als Händler unterwegs waren, und nach Drossen wollten. Ihre Heimatstadt war Elgen Damoth.
Von ihnen erfuhren sie, dass sich der neue Edoral gut eingeführt hatte. Seitdem Meneas und seine Freunde Ogmatuum verlassen hatten, war es in dem Land ruhig geblieben. Silberheim war wieder neu aufgebaut und die Schäden durch das Erdbeben fast vollständig beseitigt worden. Das Gebiet um den »Eisernen Wächter« hatte Glanlaird für unbestimmte Zeit zum verbotenen Land erklärt. Tjerulf wusste, dass Trywfyn noch auf dem Totenbett seinen Nachfolger vor dieser Gefahr gewarnt hatte.
Tjerulf fragte die Ogmari, ob sie Drachen gesehen oder zumindest von Sichtungen gehört hatten, allerdings stellte er die Frage so unauffällig, dass sie keiner der Menschen an den Nachbartischen verstehen konnte. Einige von Tjerulfs Begleitern befürchteten, dass die Ogmari darüber lachen würden, aber sie blieben ernst. Mittlerweile hatte sich der Fund der beiden Kadaver in den Drachenbergen herumgesprochen. Aber sie konnten weder weitere Sichtungen bestätigen noch hatten sie erfahren, wer sie getötet haben sollte. Aber auch sonst erfuhren Tjerulf und Meneas nicht viel Neues von ihnen.
Die folgende Nacht blieben die Reiter in Floßhausen. Diese Stadt war kleiner als Reitbach und lag an einem Nebenarm der Droswern. Der Ort hatte zwei Gasthäuser, aber nur im »Tannenschläger« war noch genug Platz für die acht Reiter. Es war auch das bessere Gasthaus in der Stadt. Von Floßhausen war es nicht mehr weit bis nach Drossen. Tjerulf und Meneas entschlossen sich dafür, auf der Straße weiterzureiten. Seit nur noch wenig Fährverkehr auf dem Fluss stattfand, war die Straße auf der anderen Seite des Ufers vernachlässigt worden und mancherorts bis auf den Zustand eines Feldweges heruntergekommen. Möglicherweise war er sicherer, denn falls die Priester ihre Fährte schon wieder aufgenommen hatten, was noch nicht der Fall zu sein schien, rechneten sie vielleicht nicht damit, dass sie schon in Floßhausen das Ufer wechselten. Andererseits war bei dem dichten Verkehr auf der diesseitigen Straße ein Überfall unwahrscheinlicher. Sie würden etwas länger brauchen, aber es bis zum Abend leicht schaffen.
Das Wetter war spürbar wärmer geworden. Sie befanden sich in der Nähe des Äquators und in der Mittagssonne wurde das Reiten fast schon zur Qual, deswegen suchten sie sich am späten Vormittag ein kühles Plätzchen für eine längere Rast.
Nicht weit entfernt, bedeckt von einer Weide, befand sich ein Hügel, von dem sich Durhad und Freno umschauten. Viel sehen konnten sie allerdings nicht, denn fast in allen Richtungen wuchs Buschwerk und Wald. Als Aussichtspunkt war er also denkbar ungeeignet und sie entdeckten auch nichts Verdächtiges.
Wenige Stunden später erreichten sie die Stadtmauern von Drossen und waren nass bis auf die Knochen. Auf den letzten beiden Meilen hatte sie ein kleines Unwetter heimgesucht, und da es nirgends eine Möglichkeit gab, sich unterzustellen, mussten sie wohl oder übel weiterreiten. Immerhin war der Regen warm gewesen und sie froren nicht. Trotzdem war es unangenehm.
Drossen war die größte Stadt im Land Tetker und der Regierungssitz des Königs. Entsprechend gründlich war die Überprüfung am Stadttor. Natürlich erregten die Gerätschaften der Gruppe einiges Interesse der Wachen, schließlich hatten sie so etwas noch nie gesehen, konnten aber auch nichts damit anfangen. Das war ein heikler Augenblick, denn es bestand die Gefahr, dass die Wachen diese Dinge einzogen. Aber mit ein wenig Trinkgeld für eine zuvorkommende Behandlung konnten sie die Bedenken der Wachen zerstreuen. Außerdem waren Tjerulf und Meneas keine Händler und brachten der Stadt keine Steuern. Daher ließen die Wachen sie ziemlich schnell durch, um sich der bereits wartenden Handelskarawane zuzuwenden.
Wie viele Einwohner Drossen beherbergte, wussten sie nicht, aber die Stadt war nicht klein, und nicht sehr sauber. Da die Stadt am Flussufer lag, besaß sie einen Hafen, von dem aus Handelsschiffe über das offene Meer nach Norden bis nach Seestadt und weiter an der Küste Päridons entlang bis nach Landsende im Nordosten des Kontinentes fuhren und die Hafenstädte von Gilgalen, Skim und Beschen anliefen. Landsende war der letzte Hafen auf ihrer Route. Weiter im Süden schloss sich die Seemark an und kein Seefahrer mochte dicht an der Küste vorbeisegeln. So war es seit Urzeiten und keiner konnte noch sagen, warum es so war, aber jeder Kapitän hielt sich daran. Und weit aufs Meer fuhren die wenigsten.
Von der Droswern-Mündung nach Süden fuhren weniger Schiffe. Dort gab es keine großen Hafenstädte und durch den Sund von Ogmatuum kamen sie in die Wilde See, die ihren Namen nicht umsonst trug. Der Handel in den Ländern Australis und Tartuum verlief über die Straßen und Flüsse. Nur wenige Waren verließen diese Länder auf dem Seeweg.
So war Drossen eine bedeutende Handelsstadt und entsprechend gemischt war die Bevölkerung. Als Meneas und die anderen langsam durch die dicht bevölkerten Straßen ritten, sahen sie neben den hellhäutigen Tetkerern, Girgen, Gilgalen, Skimmern und Beschen, und nur ein geübter Beobachter konnte die geringfügigen Unterschiede zwischen diesen Völkern erkennen, auch blauhäutige Azuraner mit ihrem kupferfarbenen Haar; blassbraune, schwarzhaarige Australier und großgewachsene, blasse Tar-Menschen, auch als Taren aus dem Land Tartuum im Südosten Päridons bekannt, deren männliche Angehörige allesamt mit schütterem Haar gesegnet waren.
Einpaar Ogmari erkämpften sich ihren Weg durch die Menge. Ihr Land lag nicht weit entfernt von der Hauptstadt Tetkers. Für sie war es wegen ihrer Größe am schwierigsten durchzukommen. Und dort, wo viele Menschen waren, verzichteten sie darauf, sich in ihrer berühmten Art und Weise zu bewegen. Für sie wäre es sicher einfacher und weniger anstrengend gewesen, aber die Unruhe wäre jedes Mal groß gewesen, wenn einer von ihnen aus dem Erdboden oder aus einer Mauer heraus auftauchte. Außerdem konnte er von einem Fuhrwerk oder Pferd verletzt werden, wenn es mitten auf der Straße geschah.
So weit sie sehen konnten, war Durhad der einzige Morain in der Stadt.
Es gab zwei Gründe dafür, dass Meneas und Tjerulf nach Drossen gekommen waren. Zum einen wollten sie einige Dinge ihrer Ausrüstung ergänzen, zum anderen lebte ein Bekannter von Tjerulf in der Stadt und er wollte ihn besuchen. Allerdings hatten sie nicht die Absicht, länger als eine Nacht dort zu bleiben. Und der Besuch von Tjerulfs Freund, er nannte sich Marianus, hatte nichts mit dem Zweck ihrer Reise zu tun.
Marianus war, wie konnte es anders sein, ein Händler und er verkaufte Waren der verschiedensten Art, die er aus allen Ländern Päridons bekam. Das hatte den Vorteil, dass die Gruppe, abgesehen von Proviant, alles andere von ihm bekommen konnte, und die Freundschaft zu Tjerulf ermöglichte einen durchaus annehmbaren Preis.
Marianus besaß ein ansehnliches Haus am Hafen. Aus allen Zimmern in der Vorderseite des Hauses bot sich ein umfassender Blick auf die Schiffe, die dort auf Reede lagen, hinausfuhren oder hereinkamen. Es herrschte ein unübersehbarer Betrieb. Einige Schiffe wurden entladen, andere beladen und Pferdegespanne fuhren hin und her.
„Der Hafen hat sich gut entwickelt, seit ich das letzte Mal hier war“, fand Tjerulf.
„Das hat er“, sagte Marianus. „Schau dort, der Zweimaster am Kai, die »KUMDALA«. Ich habe sie vor kurzem gekauft. Morgen läuft sie aus nach Seestadt und segelt dann weiter nach Brackhaden in Skim.“
Tjerulf nickte anerkennend.
„Also bist du unter die Schiffseigner gegangen.“
„Ich habe es lange überlegt und mich schließlich dazu entschieden. Ein eigenes Schiff macht unabhängiger.“
„Ist es voll beladen?“, wollte Anuim wissen.
Marianus nickte.
„Ja, bis auf den letzten Lagerraum. Warum fragt Ihr?“
„Na ja, ich hatte mir gedacht, dass uns das Schiff bis nach Seestadt mitnehmen könnte. Das ginge bestimmt schneller als auf dem Landweg.“
„Ohne mich“, erklärte Erest umgehend. „Ich werde seekrank.“
„Selbst wenn das nicht der Fall wäre, ich fürchte, das ginge jetzt nicht mehr. Die Ware ist bestellt, leider. Ich hätte euch anderenfalls gern mitgenommen.“
„Werden Pferde auch seekrank?“, fragte Solvyn.
Es kam eine allgemeine heitere Ratlosigkeit auf. Keiner wusste eine Antwort, aber Freno meinte, falls es so war, dann mussten die Tiere bestimmt größere Qualen erleiden als Menschen, denn schließlich konnten sie nicht kotzen, wie jeder wusste.
Diese Bemerkung fand nicht jeder spaßig.
Sie blieben über Nacht bei ihrem Gastgeber. Das Haus war groß genug und es gab einige Stallungen auf dem Grundstück. Da Marianus ihnen alles bieten konnte, was sie brauchten, mussten sie nicht in die Stadt gehen, um einzukaufen, und für den Proviant schickte er zwei Boten los.
Drossen war keine besonders schöne Stadt und deshalb waren sie alle froh, dass sie, anstatt sich durch die engen Straßen zu quälen, ihre Beine hochlegen und sich ausruhen konnten. Außerdem besaß Marianus einen gut beheizten Raum, in dem sie ihre nasse Kleidung bis zum kommenden Morgen trocknen lassen konnten.
Tjerulf und Meneas erzählten nur wenig über den Grund ihrer Reise. Und Marianus gab sich mit dem Wenigen zufrieden, obwohl er sich durchaus fragte, was es mit den vielen Reitern auf sich hatte. Andererseits kannte er Tjerulfs Vorliebe für Altertümer und offensichtlich hatte er jemanden gefunden, der seine Leidenschaft teilte. Der Norden Gilgalens war bekannt dafür, dass er in dieser Hinsicht noch einiges bieten konnte. Marianus selbst hatte mit solchen, wenig einträglichen Geschäften nichts im Sinn. Wenn er seine Besucher auch großzügig bewirtete, so wusste Tjerulf doch, dass er bei anderen Gelegenheiten ein wahrer Pfennigfuchser sein konnte.
Für lange Zeit sollte dieses die letzte Nacht in einem Wohnhaus sein. Die nächste Etappe würde sie in die nur dünn besiedelten Gebiete Westgirgens führen. Die Region Gilgalens, in denen die Eisberge lagen, war unbewohnt. Also würden sie von nun an viele Tage in ihren Zelten übernachten müssen. Aber dieser Gedanke war ihnen weniger unangenehm als der einer weiteren Nacht in Drossen.
Als sie beim Frühstück saßen, begann es erneut zu regnen, und der Himmel sah nicht so aus, als wollte es bald wieder aufhören. Da würden sie keine lange Freude an ihren inzwischen getrockneten Sachen haben.
Marianus bot ihnen an, solange seine Gäste zu sein, bis sich das Wetter besserte, aber Meneas und seine Freunde und dieses Mal ohne Ausnahme, zogen es vor aufzubrechen. Nicht, dass sie sich bei ihrem Gastgeber nicht wohl fühlten, das Gegenteil war der Fall, aber sie zogen es vor, der Enge der Stadt zu entfliehen. Der Regen war warm und wenn sich das Wetter in diesem Teil Tetkers nicht deutlich von dem in anderen Gegenden, die sie kannten, unterschied, dann musste er um die Mittagszeit aufhören. Sie konnten sich zwar nicht immer auf diese Regel verlassen, aber doch oft genug, um zuversichtlich sein zu können, dass die Aussichten darauf nicht schlecht standen.
Trotzdem, ein wenig mehr Zeit als sonst ließen sie sich doch. Am späten Vormittag schließlich ritten sie durch das nördliche Stadttor. Dieses Mal ließen die Wachen sie durch, ohne sie zu überprüfen.
„Ich atme auf“, sagte Anuim.
Freno grinste.
„War es so unerträglich?“
„Eigentlich nicht, und ich beobachte mit Befremden, dass ich mich seit einiger Zeit in Städten zunehmend unbehaglich fühle.“
„In dieser Stadt, aber mir ging es nicht anders, und dabei hätten wir uns bei den Ogmari noch beklommener fühlen müssen.“
„Erzbünden und Elgen Damoth waren fremd und bewundernswert“, erklärte Valea. „Vielleicht lag es daran.“
„Vielleicht.“
Sie hatten, ohne dass es ihnen klar war, eine bis dahin sehr seltene Erfahrung gemacht. In jenen Tagen erging es vielen Einwohnern von Drossen wie ihnen, ohne dass sie eine Erklärung dafür gehabt hätten. Es hatte nichts mit dem Orden von Enkhór-mûl zu tun und auch nicht mit dem trüben Wetter, sondern war eine eng begrenzte Erscheinung in der Erdkruste Elverans, die einmal hier, einmal dort auftrat. Und da sie meistens in unbewohntem oder dünnbesiedeltem Gebiet stattfand und selten länger als einige Tage dauerte, nahmen die Menschen diesen Zustand als vorübergehendes Unwohlsein wahr.
Was genau geschah, hätte niemand sagen können, aber es wurde verursacht durch das Wesen Elveran und seinem Helfer Gründel, die Trywfyn in Drans Hallen kennengelernt hatte. Und es hing mit Vorbereitungen zusammen, die die Zukunft des Planeten betrafen. Allerdings war es eine Entwicklung, die weit über die Tage von Meneas und seinen Freunden hinausgehen sollte. Aber auch Elveran und Gründel konnten die Ereignisse nicht voraussehen, die sich zu diesem Zeitpunkt nur vage ankündigten.
Was das Befinden der Oson in ihren elveranischen Körpern betraf, so begann sich bei ihnen unbewusst eine Entfremdung zu ihrem Gastplaneten mit seinen einfachen Lebensbedingungen einzustellen, die in dem Maße, wie ihre Mission fortschritt, zunahm, oft aber durch ihre unmittelbaren Erlebnisse überlagert wurde.
„Na, was habe ich gesagt“, meinte Erest. „Um die Mittagszeit herum hört es auf zu regnen.“
„Und keiner von uns hat daran gezweifelt“, sagte Solvyn.
Es hatte nicht nur aufgehört zu regen. Die Wolkendecke wurde lichter und bald darauf war die fahle Scheibe von Nephys zu erkennen. Sie mussten nicht mehr lange warten, bis die ersten Sonnenstrahlen den Erdboden erreichten. Und aus der warmen Luft wurde eine stechende Hitze. Am frühen Nachmittag zogen die ersten Nebelfetzen über das Land.
„Uff, das ist jetzt aber auch nicht nötig“, stöhnte Erest und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „So wird meine Kleidung ja gleich wieder nass.“
„Hart ist das Leben eines Wandersmannes, `mal hat er´s leicht, mal geht´s ihm anders“, reimte Freno wenig kunstvoll.
„Lasst uns bloß schnell aus der Sonne herausgehen, ehe es noch schlimmer wird“, meinte Erest.
Die anderen lachten. Aber die Hitze nahm nicht nur zu, jetzt erwachten auch die Mücken. Da blieb ihnen nichts anderes übrig, als noch schneller zu reiten.
Nach zwei Tagen erreichten sie die Grenze zwischen Tetker und Girgen. Nach langer Zeit betraten Valea und Solvyn wieder ihr Heimatland. Während Solvyn keine Erinnerung mehr an ihre Kindheit hatte, erwachten in Valea wieder die Bilder des Bürgerkrieges, der sie vor vielen Jahren aus dem Land getrieben hatte. Solvyn wusste davon nichts mehr, weil ihr Verstand sich weigerte, die verschütteten Erinnerungen wieder hervorzurufen. Außerdem war sie gerade noch rechtzeitig von ihrem Verwandten, dem Fürsten Yrinard, nach Australis geholt worden, bevor sie Schlimmeres erleiden konnte. Aber schon der Umstand, dass sie ihrem Elternhaus und ihrem Leben entrissen wurde, hatte tiefe Wunden gerissen, deren Vorhandensein sie glücklicherweise nicht mehr spürte.
Später kam sie zu Tjerulf, der ein Vertrauter des Feudalherrn über das Fürstentum Leyhaf-Nod war. Dass sie ihn Onkel nannte, hatte nichts mit ihrem tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnis zu tun, sondern eher damit, dass sie ihn als väterlichen Freund betrachtete und ihm vertraute. Da ihre Familie, soweit sie wussten, in den Wirren des Bürgerkrieges umgekommen war, konnte Solvyn später nicht mehr zurück nach Girgen und so war sie bei Tjerulf geblieben.
Dass Tjerulf Jahre später mit Meneas zusammentreffen und so die Oson Gnee mit dem Oson Taligh und dem Rest ihrer Gruppe zusammenführen würde, war eine der unvorhersehbaren Entwicklungen bei ihrem Auftrag. Aber solange sie ihre Erinnerung nicht zurückerhielten, wusste sie nichts von ihrer Zugehörigkeit. Für ihre Aufgabe war das aber nicht von Bedeutung.
Das Wetter war sehr warm und sie wandten sich einer kleinen Baumgruppe zu, um ihre Mittagsrast zu halten. Sie befanden sich in einem sehr flachen Teil Girgens und Tetkers, und die Landschaft bestand überwiegend aus Steppe. Nur hier und dort zogen einpaar wilde Tiere durch das Land. Es gab weit und breit keine Menschen. Und wieder einmal konnte nur jemand die Grenze erkennen, der sich dort auskannte und wusste, auf welche Landmarken er achten musste. Tjerulf, Durhad, Anuim und Freno konnten das.
„Eine ziemlich einsame Gegend“, fand Erest. „Wie weit ist es bis zum nächsten Ort?“
„Heute werden wir es nicht mehr schaffen“, antwortete Tjerulf. „Das Land hier im Süden Girgens ist nicht sehr fruchtbar. Erst Morgen werden wir wieder auf Dörfer treffen.“
„Du warst schon einmal hier?“
„Mehrmals.“
„Gibt es noch andere Straßen zu den Eisbergen, oder müssen wir durch Seestadt?“
„Es gibt noch eine Straße, eigentlich ist es eher ein Weg, und er wurde zumindest früher nicht oft benutzt. Ich glaube kaum, dass sich das geändert hat. Er zweigt etwa eine Tagesreise vor Seestadt nach Nordosten ab und verbindet diese Straße mit der zwischen Seestadt und Endelin in Gilgalen. Wir könnten ihn einschlagen. Warum?“
„Wozu sollen wir dann nach Seestadt reiten? Wir sind gut ausgestattet und es erscheint mir ein Umweg, wenn ich die Karten richtig gelesen habe.“
„Dann wirst du nicht wissen, dass es nur dort eine Brücke über den Fluss Gil gibt.“
„Aber in dieser Jahreszeit führt er wenig Wasser“, sagte Anuim, der die Umgehungsstraße schon benutzt hatte. „Ich habe ihn schon in früherer Zeit im Herbst durchquert. Ich kenne eine Furt, die auch von den Bauern benutzt wird.“
„Wenn das so ist, sehe ich keine Schwierigkeit. Und was ist mit euch?“
Damit meinte Tjerulf alle anderen.
Am Ende kam heraus, dass keiner von ihnen eine Notwendigkeit sah, nach Seestadt zu reiten. Sie hatte zwar einen besseren Ruf als Drossen, aber vielleicht spielte bei ihrer Entscheidung noch die merkwürdige Stimmung, die sie dort empfunden hatten, eine Rolle. Wie auch immer, es gab tatsächlich keinen Grund für einen Abstecher in die Hafenstadt, und es war ein Umweg. Also beschlossen sie, sie zu umgehen.
Am Abend dieses Tages erreichten sie einen kleinen See, an dem sie ihr Lager aufschlugen.
„Die Enten sind gebraten!“, rief Solvyn den anderen zu.
Sie hatten sich unter einigen Bäumen verteilt und dösten in der Abendsonne. Kurz darauf versammelten sie sich am Lagerfeuer.
„Allein deswegen hat sich die Unterbrechung an diesem Ort gelohnt“, sagte Erest kauend. „Unter diesen Umständen fühle ich mich in der Wildnis richtig wohl.“
Valea lachte.
„Wenn wir so weitermachen, werden wir noch zu Stadtmuffeln.“
„Nicht, wenn es um Everbrück geht“, meinte Meneas. „Diese Stadt ist lebenswert.“
„Aber es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis wir wieder dorthin zurückkehren“, meinte sie.
„Das steht zu befürchten. Aber falls unsere Reise weiterhin so verläuft wie in den letzten Tagen, ist daran nichts auszusetzen.“
„Du glaubst aber nicht daran, höre ich aus deinen Worten“, sagte Tjerulf.
„Du etwa? An jedem Tag ohne Zwischenfall werde ich misstrauischer. Ich weiß, ich weiß, ich sollte es nicht beschreien. Trotzdem kann ich mich dieses Gefühles nicht erwehren.“
„Wenn wir schon ungebetenen Besuch bekommen, dann hoffe ich, dass es die Sinaraner sind“, fand Valea. „Sie haben sich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht. Man könnte meinen, sie interessieren sich gar nicht mehr für uns.“
Bei dem Namen Sinaraner fiel Tjerulf auf, dass er selbst immer öfter vergaß, in wessen Auftrag Meneas und seine Freunde unterwegs waren. Tatsächlich war das Verhalten der Auftraggeber merkwürdig, denn das letzte Mal, als sie sich sehen ließen, war nach dem Angriff der Walgeister in Ogmatuum. Und das war lange her. Eigentlich war ihr Auftauchen überfällig. Aber dass sie es noch nicht wieder getan hatten, verhieß nichts Gutes. Dann hatten sie ihre Schwierigkeiten, von denen Tjerulf zwischenzeitig erfahren hatte, noch nicht bewältigt.
Sicher, sie benötigten die Hilfe der Sinaraner nicht, zumindest nicht in dieser Zeit, aber ein wenig Anteilnahme hätte die Begeisterung für ihren Auftrag vielleicht vergrößert.
„Das lässt sich nun einmal nicht ändern“, meinte Meneas. „Aber ich bin sicher, sie werden schon wieder auftauchen.“
Die Nacht versprach sehr mild zu werden und sie verzichteten darauf, ihre Zelte aufzustellen. In ihre Decken gehüllt und am Lagerfeuer war es gut auszuhalten. Und nach Regen sah der sternenklare Himmel nicht aus.
Nach langer Zeit entschlossen sie sich wieder dazu, Wachen aufzustellen, denn Meneas war es gelungen, die anderen mit seiner Befürchtung vor einer erneuten Übeltat der Priester anzustecken.
In dieser Nacht fiel es ihnen leicht, einige Zeit wach zu bleiben. Für gewöhnlich schlief kaum einer von ihnen durch und Duglars Vollmondscheibe versetzte die Gegend in ein wunderbares Licht, das sie ungewöhnlich weit sehen ließ. Da spielte es keine Rolle, dass Folgar in dieser Nacht gar nicht erst aufging.
Der nächste Tag begann, wie der vergangene geendet hatte. Als die Sonne Nephys das flache Land mit ihren hellen Strahlen übergoss, hatten die Reisenden eine verdächtig ruhige Nacht hinter sich. Während sie in den Wäldern immer wieder die Geräusche der Nachttiere um sich herum hörten, war es dort in der flachen Steppe buchstäblich mucksmäuschenstill gewesen und erst am frühen Morgen stiegen einpaar Vögel aus dem Uferdickicht auf, um mit ihrem Gesang die Sonne zu begrüßen. Nicht einmal das raschelnde Geräusch einer umherkriechenden Schlange hatten die Wachen gehört.
Die meiste Zeit hatte Duglar am Himmel gestanden und eine gute Sicht über das flache Land ermöglicht, es gab einige Bäume am Ufer des Sees, aber in dem Bereich, den sie übersehen konnten, hatten sie niemanden entdecken können. Es schien eine mehr als einsame Gegend zu sein. Und besonders Durhad hatte die Einsamkeit genossen.
Nach dem Frühstück, sie hatten sich noch die kärglichen Überreste der gebratenen Enten geteilt, folgten sie weiterhin der Straße nach Seestadt. Das blieb an diesem Tag auch ihr Weg. Im Laufe der Stunden veränderte sich die Landschaft. Was sie von ihrem letzten Lagerplatz als unregelmäßiges, graues Band am nördlichen Horizont gesehen hatten, waren flache Hügel, die von niedrigem Buschwerk bewachsen waren. Sie bildeten die nördliche Grenze der Steppe. Von nun an wurde die Landschaft wieder lebhafter.
Sie waren nicht allein auf der Straße. Nur wenige Stunden nach ihrem Aufbruch kam ihnen das erste Gespann entgegen. Es war mit Handelsgütern beladen und fuhr in Richtung Süden. Sie grüßten den Kutscher und setzten ihren Weg fort. Später begegneten sie weiteren Reisenden und bald auch Bauern, deren Höfe in den Hügeln standen. Bis sie das erste Dorf erreichten, wurde es Nachmittag. Dort gab es kein Gasthaus und außerdem wäre es noch zu früh gewesen, ihre Reise für diesen Tag schon zu beenden. Sie erstanden bei einem Bauern einpaar Laibe Brot und ritten dann weiter.
In der folgenden Nacht schliefen sie in einer leerstehenden Scheune, die auf einem Hügel stand, inmitten einer ungenutzten Weide. Ringsherum bis auf die Seite, die an die Straße grenzte, wuchsen Sträucher und flache Bäume. Sie kamen dort ziemlich spät an.
Für gewöhnlich beendeten sie ihre Tagesetappen am frühen Abend, wenn es noch hell war. Der Grund dafür, dass sie an diesem Tag noch länger unterwegs waren, war das aufziehende Unwetter, das sich seit dem späten Nachmittag am westlichen Horizont ankündigte. Und es wurde zum Abend hin immer bedrohlicher. Bald mussten sie feststellen, dass ihre Zelte ihnen kaum einen ausreichenden Schutz bieten würden. So ritten sie weiter in der Hoffnung, dass sich ihnen irgendwo eine geeignete Unterkunft bot.
Als sie schließlich die Scheune fanden, wehte ihnen schon ein gehöriger Wind um die Ohren und in den umherfliegenden Staub mischten sich die ersten Regentropfen.
Wem immer das Land gehörte, sie konnten ihn nicht um Erlaubnis fragen, die Scheune benutzen zu dürfen, denn nirgends in der Nähe befand sich ein Bauernhof, zu dem sie gehören konnte. Und es war kaum anzunehmen, dass der Eigentümer bei diesem Wetter noch auftauchen würde.
Erest und Meneas mussten sich anstrengen, die Torflügel offen zu halten, bis die anderen mit den Pferden drinnen waren und mit einem mächtigen Knall flog das Tor zu, als sie es losließen. Sie waren nicht zu früh in der Scheune angekommen, denn kurz darauf brach das Unwetter richtig los. Das Gebälk ächzte und knarrte und der Wind heulte durch die Ritzen.
„Das haben wir gerade noch so geschafft“, stellte Erest fest, und er musste laut sprechen, damit die anderen ihn bei dem Lärm verstehen konnten.
„Ja, aber hoffentlich sitzen wir jetzt nicht in der Falle“, meinte Freno und blickte unruhig zum Dach hinauf.
„Die Scheune wird schon stehenbleiben“, sagte Valea zuversichtlich. „Es wird kaum das erste Unwetter sein, das über sie hinwegzieht.“
„Ich hoffe, es wird auch nicht das Letzte sein.“
Es war schon etwas dämmerig, als sie bei der Scheune ankamen, aber jetzt wurde es ungewöhnlich schnell dunkel. Sie glaubten fast zu spüren, wie die tiefhängenden Wolken über die Scheune hinwegfegten.
Um sie herum befand sich allerlei Zeug. In der einen Ecke lag ein Berg Heu, an der Wand hing und stand eine Menge Werkzeug und geradewegs in der Einfahrt stand ein Fuhrwerk, an dem sie sich vorbeidrängeln mussten, als sie eintraten. Es war eng und sie hatten kaum Platz, sich zu bewegen. Die Pferde blieben unter diesen Umständen erstaunlich ruhig, aber sie drängten sich sicher lieber in der trockenen Enge der Scheune zusammen, als dass sie im Freien dem Unwetter ungeschützt ausgesetzt waren.
Der Sturm tobte die halbe Nacht. Obwohl die Scheune ächzte und stöhnte, hielt sie ihm stand. Immer wieder blitzte es in den Lücken zwischen den Brettern der Wände auf, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner. Dieses Mal verzichteten sie auf Wachen, denn es war kaum anzunehmen, dass unter diesen Umständen irgendwer geneigt war, sie zu überfallen. Außerdem hielt das Unwetter sie vom Schlaf ab, denn es war das heftigste, das sie seit langem erlebten. Manch einer döste wohl ein, aber beim nächsten, beängstigenden Knacken der Balken, Aufbrausen des Windes oder heftigen Donnerschlag war er wieder wach. Erst in den frühen Morgenstunden flaute der Sturm ab und es regnete nur noch. Jetzt übermannte sie ein kurzer Schlaf.
Als es hell wurde, öffnete Durhad das Tor. Ein trübes Licht fiel herein und Nebelschwaden trieben langsam über die Weide. Einige wachten nur sehr unwillig auf. Aber immerhin, und auch wenn sie müde waren, sie und ihre Ausrüstung waren wenigstens trocken geblieben.
Bis zur Straße mussten sie durch den aufgeweichten Boden der Weide stapfen und dort, wo das grasende Vieh die Grasnarbe zertreten hatte, reichte ihnen der Matsch bis zu den Knöcheln und höher. Auf der gepflasterten Straße wurde es besser und erst dort konnten sie aufsteigen.
Das Unwetter hatte seine Spuren hinterlassen, und es waren deutliche Spuren. Eine Menge abgerissener Äste erschwerten ihr Vorankommen und hier und da mussten sie einem umgewehten Baum ausweichen. Vielerorts war die Straße von Schlamm bedeckt, den das versickernde Wasser hinterlassen hatte. Die Leute in der Gegend würden alle Hände voll zu tun haben, um die Straße wieder herzurichten.
„Kommen solche Unwetter hier oft vor?“, fragte Meneas und meinte damit Tjerulf.
„Ich habe noch von keinem Derartigen gehört, aber das heißt ja nichts.“
„Auf jeden Fall hatten wir viel Glück.“
„Das kannst du laut sagen.“
Die Schäden seitlich der Straße und die Behinderungen begleiteten sie noch eine ganze Zeit, während der sie keinem anderen Reisenden und keinem Anwohner begegneten. Nach einigen Stunden wurden die Folgen des Unwetters dann zusehends weniger und hörten schließlich ganz auf. Sehr bald kamen sie dann in ein Gebiet mit dichtem Wald und der Waldboden und die Straße waren trocken. Es war unübersehbar, dass das Unwetter nicht über diese Gegend hinweg gezogen war.
Einige Zeit nach der Mittagsrast begegneten ihnen zwei Wanderer. Die beiden ließen die Reiter durch, wechselten einen Gruß und blickten hinter ihnen her, bis sie hinter einer seichten Biegung verschwanden. Die beiden Männer konnten ihre Überraschung nur mit Mühe verbergen.
„Hast du eben das Gleiche gesehen wie ich?“, fragte der eine den anderen.
Der lachte lauthals los und hielt sein Amulett in der einen Hand.
„Wenn die ahnten, wen sie gerade überholt haben. Also war unsere Vermutung über ihre Route goldrichtig.“
Tarkas überlegte.
„Aber wo werden sie entlang reiten? Über Seestadt oder durch die Wildnis?“
„Du hast Recht, das ist schwer zu sagen“, meinte Amonpa. „Ich schätze, sie werden sich nach Seestadt wenden. Wenn sie erst einmal im Norden Gilgalens sind, wird es schwer werden, Ausrüstung und Proviant zu bekommen. Sie werden alles Notwendige in Seestadt kaufen.“
„Dort wird es für die Tum´rei schwierig, sie zu verfolgen.“
„Warum sollten sie es tun? Meneas wird sich nicht lange in der Stadt aufhalten, vielleicht nur einen Tag. Sie brauchen doch nur an der Straße nach Bergen an der See auf sie zu warten.“
„Du hast Recht. Sie können ihnen gar nicht entkommen. Also gut, ich werden die Tum´rei unterrichten.“
Das geschah auf geistigem Wege. Sie lenkten die Verfolger auf die Straße nach Seestadt. Ein Stück vor dem Osttor sollten sie warten, bis Meneas und seine Begleiter die Stadt erreichten und sie anschließend in weitem Bogen umgehen und im Norden auf die Reiter warten. Ab da sollten sie sich immer in Sichtweite, aber in unauffälliger Entfernung zu ihnen aufhalten.
Zufrieden setzten Tarkas und Amonpa ihren Weg nach Barkbergen fort.
„Hier ist die Abzweigung“, sagte Tjerulf. Sie war kaum zu übersehen und außerdem die einzige große Kreuzung zwischen Seestadt und der Landesgrenze. „Es bleibt dabei, wir gehen nicht nach Seestadt?“
Es blieb dabei. Sie folgten der abzweigenden Straße nach Nordosten.
Man sah ihr an, dass auf ihr nur wenig Verkehr herrschte und der kam wahrscheinlich überwiegend von den Anwohnern aus der näheren Umgebung. Im Gegensatz zur Hauptstraße war sie nicht befestigt und deutlich schmaler. Der Rand ging fließend in die Grasnarbe zu beiden Seiten über. Es gab Radspuren und auch Hufabdrücke, aber sie waren teilweise überwachsen. Das war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass diese Straße schon seit einigen Wochen nicht mehr benutzt worden war. Für die Pferde war diese Straße zweifellos angenehmer zu gehen als die mit Pflastersteinen befestigte Hauptstraße.
„Ich glaube, wenn es hier genauso geregnet hätte wie in der letzten Nacht, dann hätte ich den Weg über Seestadt gewählt“, meinte Meneas.
„Sicher“, erwiderte Tjerulf. „Wenn es hier so geregnet hätte, dann hätten wir überhaupt keine andere Möglichkeit gehabt. Dieser Weg wäre in den Senken in kleinen Seen verschwunden.“
„Das wäre bei der Hauptstraße wohl kaum anders gewesen“, war Valea sicher.
„Aber wir hätten immer noch festen Untergrund gehabt.“
Das war aber alles gleichgültig. Es hatte nicht geregnet und der Weg war gangbar, also verließen sie die Hauptstraße.
Die Kreuzung befand sich immer noch im Wald und einige Zeit, nachdem sie dort durchgekommen waren, erreichten zwei seltsame Reiter auf ungewöhnlichen Pferden den Ort. Ohne ihren Ritt zu unterbrechen, setzten sie ihn in Richtung Seestadt fort. Sie konnten die Straße benutzen, solange dort kein Verkehr stattfand.
Meneas und Tjerulf wussten nicht, dass sie schon wieder verfolgt wurden, obwohl sie und ihre Begleiter damit rechneten. Und sie wussten ebenso wenig, welcher Art ihre Verfolger waren. Aber immerhin hatten sie unwissend und ohne Absicht, die Tum´rei auf eine falsche Fährte geführt. Und die beiden Priester hatten dabei tatkräftig mitgeholfen. Jetzt dauerte es einpaar Tage länger, bis die Geister sie eingeholt hatten.
Die nächste Hauptstraße, es war die zwischen Seestadt und Endelin, der Hauptstadt Gilgalens, erreichten sie zwei Tage später. Damit war ihre Reise auf befestigten Straßen erst einmal zu Ende, denn bis zum Fluss Gil und weiter bis zur nördlichen Grenze Girgens ging es querfeldein, und das bedeutete, dass sie ein ziemlich unwegsames Gebiet durchqueren mussten. Ihr nächstes Ziel war der Fluss.
Auf dieser Straße gab es erstaunlich viel Verkehr. Als sie an der Kreuzung standen, mussten sie zwei Fuhrwerke durchlassen, dann einpaar Reiter, es waren girgische Krieger und noch zwei Fußgänger.
Der Anblick der Krieger rief in Valea, aber auch in Meneas und Erest ungute Gefühle wach. Sicher, die Umstände in dem Land hatten sich vor einpaar Jahren wieder beruhigt, und seitdem war es friedlich geblieben, aber trotzdem hatten sie immer noch wache Erinnerungen an den Bürgerkrieg. Jetzt waren die drei umso glücklicher, dass sie nicht nach Seestadt geritten waren, denn da hatte er am heftigsten getobt und zahlreiche Opfer gefordert.
Als schließlich noch ein Bauer mit einer kleinen Schwadron Gänse an ihnen vorbeigezogen war, ritten sie geradeaus in die Hügel hinein, die vor ihnen lagen.
Von jetzt an kamen sie langsamer voran. Der Norden Girgens und der Nordosten Gilgalens waren stark bewaldet. Je weiter sie kamen, desto seltener wurden die Straßen und die meisten waren kaum noch befestigt, sondern einfache Wirtschaftswege der Bauern. Dort oben wurde viel Holz geschlagen. Aber Tjerulf kannte sich recht gut in diesem Teil des Landes aus und jenseits des Gilflusses wussten Meneas und seine Freunde ebenfalls Bescheid. Daher war die Gefahr, dass sie ihren Weg verlieren würden, gering.
Auch das Klima änderte sich. Das hatte es bereits die letzten Tage getan, aber von nun an wurden die Unterschiede von Tag zu Tag deutlicher spürbar. Die Straße von Seestadt nach Endelin war eine bekannte Wetterscheide. Es wurde kühler und die Tage kürzer, je weiter sie nach Norden kamen. Aber sie brauchten nicht zu befürchten, dass das Wetter so unangenehm werden würde, wie es in Ogmatuum gewesen war.
Päridon war zwar nur ein verhältnismäßig kleiner Kontinent, aber er war groß genug, um entgegengesetzte Jahreszeiten aufzuweisen und im Süden war jetzt Winter.
„Au! Verflucht!“, schimpfte Freno, dem ein Ast ins Gesicht geschlagen war, den Erest unvorsichtig losgelassen hatte. Auf eine Entschuldigung wartete er jedoch vergeblich, denn Erest brachte seinen Ärger nicht mit sich selbst in Verbindung.
Sie ritten einen engen, steilen Pfad aus einem flachen Tal hinauf. Er war schon länger nicht mehr benutzt worden, denn der Untergrund war ausgewaschen und nur noch das schwere Geröll war in den Furchen liegen geblieben. Hier und da erschwerte abgestorbenes Holz das Vorankommen und zweimal hatten sie schon quer liegende Bäume beseitigen müssen. Aber mittlerweile kannten sie ihre Ausrüstung besser und sie vergaßen nicht mehr, dass sie Lichtschwerter dabei hatten. Mit ihnen war es ein Leichtes, ganze Baumstämme zu durchtrennen. Sie mussten sich nur vorsehen, dass sie keinen Waldbrand verursachten, denn dort, wo sie sich jetzt befanden, hatte es schon eine ganze Weile nicht mehr geregnet und das Unterholz war trocken. Aber es ragten so viele Zweige in den Weg hinein, dass es ihnen nur unter Mühen gelungen wäre, ihn freizuschlagen. Deshalb versuchten sie es gar nicht erst.
„Es ist gleich geschafft“, sagte Tjerulf. „Da oben kommt ein Querweg.“
„Wie weit ist es noch bis zum Fluss?“, fragte Solvyn.
„Bis morgen Mittag sind wir da. Soweit ich mich erinnere, ist das hier der beschwerlichste Abschnitt.“
„Deshalb habe ich nicht gefragt.“
Tjerulf lächelte.
„Ich weiß, aber ich dachte, ich sage es dir trotzdem.“
„Sehr freundlich.“
Sie folgten noch einigen Waldwegen. Manche waren besser und breiter, wenn sie von den Anwohner des Öfteren benutzt wurden und manche wiederum schlechter. Meneas fand es bewundernswert, mit welcher Sicherheit sich Tjerulf an die Strecke erinnerte. Doch Tjerulf hatte sich geirrt, denn sie mussten noch zwei schwierigere Stellen überwinden, als den ausgewaschenen Pfad. Eine war ein Pass, bei dem sie tatsächlich für einige Zeit den Pfad unter ihren Hufen verloren. Die andere lag in einem Tal.
Eine Art Wildpfad führte dort hinein. Der war schon eine gewisse Herausforderung für die Reiter und sie stellten bald fest, dass es besser war, die Pferde an den Zügeln zu führen. Durch dieses Tal floss ein nicht sehr breiter, aber umso tieferer und wilderer Bach. Es gab keine Brücke, und sie mussten selbst einpaar passende Bäume schlagen und darüber legen. Der fast zugewachsene Pfad auf der anderen Seite war kaum besser, als der hinter ihnen liegende, und führte sie zu einer kleinen Lichtung, umrahmt von hohen Tannen.
„Sei ehrlich, Tjerulf, das eben war doch kein Weg, den du irgendwann benutzt hast?“, fragte Meneas.
Tjerulf sah ihn fragend an.
„Nein?“
„Ich kann es kaum glauben.“
Tjerulf lachte.
„Also gut, du hast Recht. Nein, ich kannte ihn nicht. Schon vor einiger Zeit haben wir uns verlaufen, muss ich zugeben, aber ich glaube, wir sind jetzt wieder auf dem richtigen Weg.“
„Das hoffst du.“
„Zumindest die Richtung stimmt. Aber wenn wir es sind, werde ich sehr zufrieden mit mir sein.“ Er blickte zum Himmel. „Ich glaube, das werden wir aber erst morgen feststellen. Es ist schon spät. Ich finde, hier ist ein guter Platz zum Lagern.“
Sie waren damit einverstanden, denn der Tag war schon fortgeschritten, und bevor sie die Dunkelheit irgendwo im tiefsten Wald überfiel, waren sie auf der Lichtung sicher besser aufgehoben.
An diesem Abend stellten sie ihre Zelte auf. Schon in den letzten Nächten hatten sie feststellen müssen, dass es kühler wurde. Und jetzt befanden sie sich sogar in einer Höhenlage. Nach Regen sah es zwar nicht aus, aber der Tau am Morgen würde unangenehm werden.
Sie hatten die Lichtung nicht gründlich untersucht, sonst wären ihnen die Wühlspuren an dem entgegengesetzten Waldrand aufgefallen. So kam es, dass sie mitten in der Nacht durch ein vernehmliches Grunzen und Schnaufen aufwachten. Als Meneas erschrocken aus dem Zelt blickte, weil es hin- und hergerissen wurde, entdeckte er ein Wildschwein vor dem Eingang. Es machte sich gerade fleißig an den Abspannbändern zu schaffen.
Erst Meneas´ beherzte Versuche, es mit seinem Schwert fortzujagen, ließen das Tier auf ihn aufmerksam werden und es trollte sich unwillig davon. Dabei ließ es auch das Zelt von Valea und Solvyn nicht aus, die ebenfalls kurz darauf verwirrt und ärgerlich ihre Köpfe aus der schlaffen Plane hervorstreckten, aber da hatte das Wildschwein schon fast wieder die kleine Rotte erreicht, die am Waldrand nach Wurzeln wühlte. Und kurz darauf waren sie im Wald verschwunden. Die beiden Frauen mussten ihr Zelt erst wieder aufrichten, bevor sie weiterschlafen konnten. Immerhin waren Erest und Anuim ritterlich genug, ihnen zur Hand zu gehen.
„He, schläfst du?“, fragte Meneas Freno ein wenig ärgerlich, der gerade Wache hatte und neben dem Lagerfeuer stand, aufgeschreckt von den Geräuschen.
Was sollte er darauf antworten? Er war wohl kurz eingenickt und erst durch die Unruhe zwischen den Zelten aufgewacht.
Sie hörten Durhad lachen, der die ganze Geschichte aus einiger Entfernung beobachtet hatte. Es war wieder einmal eine mondhelle Nacht und er war einige Zeit durch den Wald gewandert. Als er zurückkehrte, war Meneas gerade dabei, das Wildschwein zu vertreiben.
„Geh schlafen“, sagte er zu Freno. „Ich löse dich ab und werde darüber wachen, dass wir nicht noch einmal von wilden Tieren überfallen werden.“
Eine gewisse Heiterkeit lag in seiner Stimme.
„Das ist mir recht.“
Am Morgen kam heraus, dass Tjerulf von dem »Schweinangriff« überhaupt nichts bemerkt hatte. Durhad war nicht im Zelt gewesen und er selbst war nicht aufgewacht. Aber er fand die Angelegenheit genauso amüsant wie der Morain.
„Wir sind hier übrigens gar nicht so verkehrt“, sagte Durhad beim Frühstück. „Nicht weit von hier verläuft ein Weg und zumindest in die richtige Richtung zur Gil. Ob er bis zu ihm heranreicht, weiß ich allerdings nicht.“
„Na, seht ihr“, meinte Tjerulf und lächelte zufrieden.
Zumindest was den Waldweg betraf, hatte Durhad Recht. Von der Lichtung führte ein kleiner Verbindungsweg zu ihm hinauf. Und von dort konnten sie auch wieder reiten.
Irgendwann am Vormittag hörten sie ein entferntes Rauschen. Es kam nicht plötzlich, sondern verstärkte sich allmählich. Durhad war der Erste, der es wahrnahm und die anderen darauf hinwies.
„Also, wenn der Fluss so ein Getöse macht, dass es bis hierher zu hören ist, erscheint er mir überhaupt nicht leicht überwindbar“, meinte Erest.
„Lass uns doch erst einmal dort sein“, schlug Valea vor. „Vielleicht ist es nur eine Stromschnelle.“
Eine andere Möglichkeit gab es auch nicht. Es war jetzt nicht mehr weit bis zum Fluss, da hätte es keinen Sinn mehr gehabt, sich einen vollkommen neuen Weg zu suchen. Dieser führte geradewegs zum Fluss und schwenkte vor ihm nach Westen ab. Auch wenn sie ihn nicht gehört hätten, dann hätten sie bald das silberne Band durch die Bäume hindurchschimmern sehen.
„Na schön, du hast Recht. Hier kommen wir nicht `rüber“, sagte Anuim zu Erest.
Sie hatten die Stelle erreicht, die den Lärm verursachte. Der Fluss Gil war dort gute fünfzig Schritte breit. Das allein wäre noch nicht sehr misslich gewesen, aber in seinem Bett lag einiges an Geröll und Treibholz. Beides war im Laufe aus den Bergen herabgespült worden und hatte sich an dieser Stelle gesammelt. Zwischen den Felsen zwängte sich das Wasser mit beachtlicher Geschwindigkeit hindurch. Also war an eine Überquerung an dieser Stelle nicht zu denken.
„Reiten wir flussabwärts“, schlug Meneas vor. „Vielleicht haben wir dort bessere Aussichten.
Anuim blickte prüfend in beide Richtungen des Flusses.
„Das ist auch richtig“, meinte er. „Wenn ich mich nicht täusche, befindet sich die Furt auf der Höhe des Gebirgskammes dort hinten. Es ist nicht mehr weit.“
„Wie bist du überhaupt in diese Gegend gekommen?“, wunderte sich Valea. „Das ist doch kein Handelsweg hier.“
Anuim lächelte.
„Gold.“
„Gold?“
„Ja, die Gil stand einmal in dem Ruf, Gold in ihrem Flussbett zu führen. Das reizte mich. Da bin ich ihr flussaufwärts von Seestadt bis in den Gilwald gefolgt. Es ist -“ er überlegte. „Ja, etwa acht Jahre her.“
„Und hast du etwas gefunden?“
„Kein Gold, wenn du das meinst. Und auch nichts anderes, mit dem sich hätte handeln lassen. Aber abenteuerlich war es.“
Valea lachte.
„Aber bestimmt weniger abenteuerlich als unsere Reise.“
„Na ja, das schon. Aber abenteuerlich genug, um mir in Erinnerung zu bleiben. Musstest du dich schon einmal vor Bären und Wölfen in Sicherheit bringen?“
„Nein. Bist du immer nur geflohen?“, wunderte sie sich.
„Was hätte ich denn tun sollen? Sie waren entweder stärker als ich oder in der Überzahl.“
„Und du glaubst, nach all der Zeit gibt es die Furt noch?“, fragte Meneas zweifelnd, der wusste, wie schnell sich ein Flusslauf verändern konnte.
„Ach ja, ich glaube schon. Und wenn nicht die, die ich meine, dann wird es bestimmt eine andere geben. Schließlich müssen die Leute hier ja auch über den Fluss.“
„Wo wohnen die denn?“, fragte Solvyn. „Ich habe schon lange keine Häuser mehr gesehen.“
„Weiter flussabwärts. Aber wir müssten bald auf die erste Siedlung treffen. Und vielleicht gibt es sogar schon eine Brücke.“
„Wir werden sehen“, meinte Meneas und plötzlich war er alles andere als zuversichtlich.
Aber Anuim behielt Recht, zumindest teilweise. Es gab zwar noch keine Brücke, aber hinter der nächsten Biegung lockerte sich die Landschaft auf, und tatsächlich entdeckten sie einpaar Dächer zwischen den Bäumen. Und kurze Zeit, nachdem ihnen ein Bauer begegnet war, der ihnen das Vorhandensein einer Furt bestätigte, kamen sie dort an. An dieser Stelle war der Fluss zwar doppelt so breit wie bei den Stromschnellen, aber kaum zwei Fuß tief. Und zahlreiche Hufabdrücke und Wagenspuren am flachen Ufer bewiesen ihnen, dass dort ziemlich reger Verkehr herrschen musste, auch wenn in diesem Augenblick kein anderer als die acht Reiter an der Furt stand.
„Seltsam“, meinte Durhad plötzlich. „Hier muss es sehr leichte Pferde geben.“
Zuerst wussten sie nicht, was er meinte, aber dann sahen sie es auch. Es war bemerkenswert, wie dem Morain unter all den Abdrücken in dem Sand ausgerechnet diese auffallen konnten, aber vielleicht lag es gerade daran, dass sie so unauffällig waren.
Die Hufspuren waren von kleinen Pferden, wie es aussah. Aber das war noch nichts Außergewöhnliches. Es gab verschiedene Pferderassen. Bemerkenswert war aber, dass diese Abdrücke bei weitem nicht so tief waren, wie die der anderen Pferde. Sie mussten sehr leicht gewesen sein und hatten den Fluss von ihrer Seite auf die andere durchquert.
„Kennst du solche Pferde?“, fragte Meneas.
Der Morain schüttelte den Kopf.
Durhad starrte noch kurze Zeit auf die Hufabdrücke, dann stieg er wieder auf sein Pferd. Er überlegte, ob er sie schon einmal gesehen hatte. Sie kamen ihm bekannt vor, aber er mochte sich auch irren. Selbst kleine Pferde mit Kindern darauf hinterließen für gewöhnlich tiefere Spuren in einem so weichen Untergrund.
Die Furt war flach und kein Hindernis. Auf dem anderen Ufer verlief ein Weg zunächst nach rechts, schwenkte aber bald nach Norden. Sie konnten erkennen, wie er im nächsten Wald eintauchte.
„Und nun?“, fragte Valea.
Meneas zeigte nach Norden.
„Dort hin, in den Wald. Erest, irre ich mich, oder kommen wir auf diesem Weg bis zur Hauptstraße zwischen Seestadt und Bergen an der See?“
„Da fragst du mich? Na ja, vielleicht. Die Richtung stimmt.“
Das war wenig hilfreich, änderte aber nichts an ihrer Absicht. Zumindest begann der Weg breit und gut ausgebaut. Es gab zwei Fahrspuren nebeneinander, also handelte es sich um eine unbefestigte Straße. Meneas hatte seinen Freund nicht ohne Grund gefragt, denn sie waren damals auch in dieser Gegend gewesen und hatten das Land über die Grenze nach Gilgalen verlassen. Aber das war lange her und die eine oder andere Erinnerung konnte da schon verblassen. Und Meneas richtete sich jetzt mehr nach seinem Gefühl, als nach seinem Wissen.
Sie kamen an einigen Bauernhöfen vorbei, die verstreut den Wegesrand säumten. Abzweigungen ließen darauf schließen, dass manche auch tiefer im Wald lagen.
Unterwegs fragten sie einen Bauern, ob ihre Vermutung richtig war.
„Es ist zwar ein weiter Weg“, meinte er, „aber er bringt euch geradewegs dorthin.“
Nach einer weiteren Nacht unter freiem Himmel gelangten sie schließlich an die Hauptstraße.
Die nächsten drei Tage kamen sie schnell voran und schon lange, bevor sie die Eisberge erreichten, begannen sie, über den Horizont hinauszuwachsen. Sie trugen ihren Namen nicht umsonst, das aber weniger, weil es dort oben eisig kalt war, im Sommer konnte es in den tieferen Lagen sogar recht warm werden, sondern weil die Gipfel der Berge zu jeder Jahreszeit mit Schnee und Eis bedeckt waren. Das einzige sichtbare Merkmal war die untere Schneegrenze, die einmal tiefer, das andere Mal höher lag. Jetzt, im Sommer wanderte sie allmählich in die Höhe, weil der untere Rand abschmolz.
Über den letzten Abschnitt ihres Weges zu den Eisbergen gibt es nur wenig zu berichten. Das Wetter war ihnen gewogen, nur wenige andere Reisende, die auf dem Weg von Bergen an der See, eine der beiden Hafenstädte im Norden Gilgalens, nach Seestadt unterwegs waren oder in umgekehrte Richtung reisten, begegneten ihnen, und der Orden von Enkhór-mûl ließ nichts von sich hören oder sehen, genauso wenig wie die Sinaraner.
Bei einer ihrer Mittagspausen, die sie auf einer freien Fläche im Windschatten eines Felsens einlegten, machte Durhad eine, zugegeben, wenig spektakuläre Sichtung, der sie daher auch keine Bedeutung beimaßen.
Von ihrem Lagerplatz konnten sie die Straße weit nach Süden überschauen. Ein einsames Fuhrwerk kam auf seinem Weg von Seestadt herauf. Durhad machte die anderen auf zwei sonderbare Reiter aufmerksam, die dem Gespann in großer Entfernung folgten. Zunächst konnte sie keiner außer dem Morain erkennen, weil sie noch weit weg waren, aber dann wurden sie deutlicher. Sie bewegten sich langsam in Richtung Norden und hielten sich offensichtlich immer in einem bestimmten Abstand zu dem Fuhrwerk.
Was an ihnen eigenartig war, fiel nicht sofort auf. Es waren die ungewöhnlich kleinen Pferde und eine Haltung der Reiter, die darauf schließen ließ, dass sie diese Art der Fortbewegung nicht allzu oft wählten. Anuim und Freno spöttelten ein wenig darüber, aber dann achteten sie nicht mehr auf die beiden. Vielleicht waren es tatsächlich Anfänger auf ihrem ersten längeren Ritt. Aber dann war es gewagt, sich eine so abgelegene Strecke zum Üben auszusuchen.
„Na ja, vielleicht trauen sie sich nur nicht unter den Augen anderer, reiten zu lernen“, meinte Erest. „Das kann ich verstehen.“
„Jetzt haben wir es bald geschafft“, stellte Meneas fest. „In drei oder vier Tagen sind wir bei dem Bergwerk, oder dem, was nach dem Erdbeben noch von ihm übrig ist.“
„Das nennst du bald“, meinte Solvyn.
„Sicher. Im Vergleich mit der Länge unserer bisherigen Reise ist es doch nur ein Katzensprung, oder?“
„Genau, aber dann fangen die Schwierigkeiten an“, stellte Freno fest.
„Das macht doch immer wieder den Reiz unserer Reisen aus, oder nicht?“, bemerkte Valea lächelnd.
„Sonst wären wir ja nicht hier.“
Für eine oder zwei Meilen ritten sie querfeldein in die Hügel des Vorlandes der Eisberge hinein und schlugen in der Nähe eines Baches ihr Nachtlager auf.
Als die beiden merkwürdigen Reiter die Abzweigung erreichten, hielten sie an und untersuchten den Pfad. Jetzt waren sie sicher, die Fährte der Reiter aufgenommen zu haben, die sie beobachten sollten. Sie folgten ihnen und warteten im Sichtschutz einiger Sträucher, bis die Gruppe ihren Ritt am nächsten Tag fortsetzte.