Читать книгу Die Saga vom Esbjörn Svensson Trio - Hans-Olov Öberg - Страница 7
kapitel 2
mr. & mrs. handkerchief
ОглавлениеDer Weg aus der Garage zu den ersten Gigs ist für die meisten nicht allzu weit. Und mit einigem Talent, mit Disziplin und Tatkraft bringen es einige – oft nach wiederholtem Wechsel der Bandmitglieder – zu regelmäßigen Engagements. Um die nächste Ebene, nämlich die des professionellen Musikers, zu erreichen, braucht es dagegen fünf bis zehn Jahre harter Arbeit, noch mehr Talent und noch mehr Disziplin und ein absolutes Durchhaltevermögen. Auch das Glück, die richtigen Mitstreiter zu haben und vielleicht ein brauchbares Management zu finden, gehört dazu. 1995 hatte e. s. t. all dies: Musiker von hohem internationalem Rang, einen professionellen Agenten und ein wachsendes Interesse selbst bei eingefleischten Jazzfans und Trendsettern. War die Band am Ziel ihrer Reise? Nein, im Gegenteil, der ganz harte Job lag erst noch vor ihnen.
Das Jahr 1995 begann mit einigen Auftritten an der Hochschule Mälardalen und im umtriebigen Jazzhotel Castle an der Riddargatan in Stockholm, außerdem mit drei Abenden mit der Sängerin Louise Hoffsten und dem Gitarristen Göran Klinghagen im Village in Västerås. Im März begann die Tournee, aus der das zweite Album der Band hervorgehen sollte.
Die e. s. t. Live 1995-Tour wurde auch zum Ausgangpunkt der endgültigen Zusammenarbeit mit dem »vierten Mitglied« (eine Auszeichnung, mit der sich viele gerne schmücken würden) der Band, dem Tontechniker Åke Linton. »Ohne ihn hätte diese Tournee nie zu einem Album geführt«, sind Magnus Öström und Dan Berglund überzeugt.
In gewisser Weise war Åke der ideale Mann für das Trio: feinfühlig und humorvoll, mit ausgeprägtem Selbstvertrauen und einem niemals nachlassenden Anspruch in Bezug auf die Soundqualität. Seine Professionalität hatte er sich als mehr oder minder fest angestellter Tontechniker unter anderem bei Rikskonserter, aber auch als Studiotechniker seit den frühen 1980er-Jahren angeeignet.
Die Tournee führte durch fünf Städte Mittelschwedens, Mölndal, Jönköping, Nyköping, Västerås und Uppsala. Nach und nach kamen so die Tracks für das zweite Album zusammen, dieses Mal bei Prophone Records. Der Kontakt mit Prophone hatte sich über Lina Nyberg ergeben, mit der sowohl Esbjörn als auch Dan unabhängig von ihren Trioaktivitäten zusammenarbeiteten.
Im März 1995 fanden sich Esbjörn und der Cousin seines Vaters, Gunnar, anlässlich eines Konzerts für zwei Klaviere unter dem Projektnamen e. s. t. + Gunnar Svensson 3 im Bryggargården in Västerås zusammen. Der Auftritt machte Lust auf mehr und Pläne für ein gemeinsames Konzert in der Kristianborgs-Aula in Västerås begannen Form anzunehmen.
Das Projekt konnte leider nicht verwirklicht werden, denn Anfang August musste Gunnar ins Krankenhaus, wo er am 18. des Monats verstarb.
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Am 10. Oktober erschien in Schweden das Album Mr. & Mrs. Handkerchief (außerhalb Schwedens erschien die Live-Kollektion des Trios unter dem Titel e. s. t. LIVE ’95; A. d. Ü.) mit einem sehr eigenwilligen Sound. Hatte man noch das Debüt-Album im Ohr, so war Mr. & Mrs. Handkerchief eine echte Überraschung. Esbjörn hatte zu jener Zeit begonnen sich für den »antiquierten« Sound alter Studiobänder zu interessieren und wollte, dass Åke Linton versuchte, ein ähnliches Klangbild zu kreieren. Ein wenig war hier auch der Wunsch im Spiel, den Sound an den der Beastie Boys anzunähern: kurz gesagt, ein leicht reduzierter Frequenzumfang und eine unüberhörbare, wenn nicht sogar dominante Verzerrung. Dies ist einer der Gründe dafür, dass ein Titel des Albums über einen Marshall-Gitarrenverstärker abgemischt wurde. So entsteht der Eindruck, als ob man die Aufnahme aus einem alten Kassettenradio hören würde.
Der Titel des ersten Tracks, »Say Hello To Mr. D (to Mr. S)«, ist eine Hommage. Das Stück hatte während der Aufnahmen einen anderen Titel, wurde aber, als Gunnar mitten in der Planung für das Duokonzert verstarb, geändert. Der Titel bedeutet schlicht und einfach: »Grüße an Miles Davis, Gunnar«. Die Komposition erinnert entfernt an »When Everyone Has Gone« – den ersten Track des Debüt-Albums –, verliert sich dann aber in einer langen Pianoimprovisation mit Obertönen, die auf dem ersten Album nicht einmal ansatzweise so deutlich erkennbar werden: Reminiszenzen an Esbjörns klassische Vorbilder. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass der die einleitende Kadenz spielende 31-Jährige schon mit drei Jahren eine Vorliebe für Chopin und Strawinsky hatte. Nach einer minutenlangen, reinen Pianoimprovisation – durchaus keine Seltenheit bei Konzerten und schon gar nicht bei einem Best-of-Live-Album – wird das Thema eingeführt, wiederum auf eine für Esbjörns ganzes Schaffen typische Weise: melodische Linien, die sich gemeinsam ihren Weg durch das Dur und Moll der Grundmelodie suchen. Prägend für das ganze, fast zehn Minuten lange Stück sind die verhaltene Energie und ein weitgespannter Klangraum, in dem sich die drei von Flügel, Bass und Schlagzeugsolo improvisierten Melodielandschaften entfalten.
Der zweite Track ist eine Huldigung an Esbjörns erstgeborenen Sohn Ruben, auf den sich auch der Titel »The Rube Thing« bezieht. Eine ausgesprochen erfindungsreiche Melodie – Bass und Piano stellenweise unisono – wird hier zum Ausgangspunkt für eine halsbrecherische Parforcejagd aller Mitglieder des Trios in Höchstform.
Stück Nummer drei, »Happy Heads And Crazy Feds« (so betitelt, »weil es sich so nett aussprechen ließ«), hat einen völlig anderen Sound. Man glaubt, einen Kassettenrekorder aus den 1970er-Jahren oder, wenn man es ketzerisch ausdrücken will, aus der Steinzeit der Dynamik zu hören.
Mit Titel vier kehrt das Trio zur ruhigen Folk-Tonalität zurück. »The Day After (Leaving)« bezieht sich auf das Gefühl von Mann und Frau, die sich eine Auszeit in ihrer Beziehung nehmen. Die Komposition erinnert an Thelonius Monks »Round Midnight«. Ohne das Piano seiner entscheidenden Rolle zu berauben, ist das Stück ein eindrucksvoller Beleg für Dan Berglunds solistische Talente.
Track fünf, »Like Wash It Or Something«, ist eine Anspielung auf die damaligen MTV-Anti-Idole, Beavis & Butthead, die den Ausdruck bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit benutzten. Dem Stück gelingt es, innerhalb von knapp neun Minuten ganz unterschiedliche Landschaften des Jazz zum Leben zu erwecken. Ein fröhliches Thema wird in einem suggestiven Pedalton aufgelöst, der das Signal zu einem intensiven Pianosolo gibt, dem in klassischer e. s. t.-Manier ein Basssolo mit äußerst zurückgenommener Schlagzeugbegleitung folgt, während Esbjörn die Saiten des Flügels zupft und das Ganze sich zu einem gemeinsamen Ausflug in ein minutenlanges Riff verdichtet, das direkt aus dem Hardrockrepertoire stammen könnte. Die letzten Minuten dieses Stücks sind zweifellos ein Schlüssel zum Verständnis der enormen Beliebtheit der Band beim Publikum!
Der sechste Titel, »Breadbasket« (so genannt in Anspielung auf Cannonball Adderleys Radioprogramm zur Bekämpfung der Armut, Breadbasket), führt den Hörer wieder zurück zu den Verankerungen des Trios im Gospel mit funkigen Untertönen. Wieder fällt Dan Berglund eine herausragende Solistenrolle zu und auch Magnus Öström erhält Gelegenheit, sein Können zu zeigen.
Track sieben, »What Did You Buy Today« (der Titel ist politisch genau so ironisch gemeint, wie er klingt), beginnt mit einem humoristischen Thema, das aus einem Zeichentrickfilm für Kinder stammen oder auch der Hintergrundmusik für den Auftritt eines Zirkusclowns entlehnt sein könnte. Das Tempo ist halsbrecherisch und man kann sich die Nummer als den perfekten Abschluss des dritten Satzes eines intimen Konzerts vorstellen, wo das Publikum in einem Moment altmodischer Harmonie (das Piano im Slangbass und das Schlagzeug mit Splash im Backbeat) noch einmal in Stimmung gebracht und die Lust auf eine Zugabe geweckt werden soll.
Der achte Titel, »Hymn Of The River Brown« (eine Liebeserklärung Esbjörns, der einen Titel des Albums seiner Frau widmen wollte und damit auf ihre braunen Augen anspielt), zeigt das Trio in seiner vertrauten Klangwelt, atemlos, lyrisch.
Track neun, »Same As Before« (der Titel ist die erste Anspielung der Band auf Keith Jarretts »Somewhere Before«), ist eine entspannte Swingmelodie mit verspielten, für e. s. t.-Verhältnisse allerdings ungewöhnlich schwer verfolgbaren Harmoniewechseln. Ein einfaches Stück, das aber dennoch genügend Raum für gemeinsames Improvisieren lässt.
Titel zehn – er hat dem Album in der ursprünglichen Version den Namen gegeben (der Titel stellt überdies eine Huldigung an Herbie Hancock dar) – ist ein schnelles Stück auf modaler Basis mit traditionellen Strukturen: Thema, Pianosolo, Basssolo, erneutes Pianosolo, gefolgt von einem Zusammenspiel zwischen Magnus Öström und den beiden anderen Triomitgliedern, Thema und Schluss.
Insgesamt kommt das zweite Album des Trios sperriger als das Debüt-Album daher. All die meisterhaften Details und Techniken, die die Band im Laufe der Zeit ganz nach vorn bringen sollten, finden sich hier zwar ebenso wie auf dem Album When Everyone Has Gone. Gleichwohl erscheint das Nachfolgealbum in Bezug auf Spiel und Repertoire insgesamt weniger eindeutig. Die Abfolge der Songformen und Stilarten, aber auch das musikalische Niveau wechseln unvermittelter als auf irgendeinem anderen Album der Gruppe. 2001 wurde das Album von ACT erneut auf den Markt gebracht – nun mit durchgehend geglättetem Sound und einem »normalem« Klangbild im Track sieben (nicht aber im dritten Titel, der den scheppernden Transistorradiosound behalten sollte). Abschluss und Bonus ist der Live-Mitschnitt des zukünftigen Superhits der Band, »Dodge The Dodo«, vom Festival in Montreux.
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Wo stand das Trio jetzt? Es war in mehrfacher Hinsicht bereit für den Höhenflug. Das erste Album war gut angekommen, das zweite erregte einige öffentliche Aufmerksamkeit, nachdem Anders Hvidfeldt 27. September in einer geradezu enthusiastischen Vorabinformation geschrieben hatte: »Eine Rockband auf Tournee? Nein, ›nur‹ das Esbjörn Svensson Trio. Mit das Lebendigste, was man zur Zeit im Jazz zu hören bekommen kann.« Die Headline im Jazzteil lautete: »In diesem Herbst swingt das Esbjörn Jazztrio am besten.«
Wie kam es, dass eine Abendzeitung plötzlich dem aktuellen schwedischen Jazz ihre Aufmerksamkeit schenkte? Zwei Gründe sind dafür verantwortlich: Zum Einen konnte der Journalist Hvidfeldt eine zweiwöchentliche Jazzkolumne platzieren, zum Anderen nahm die Begeisterung für den Jazz international zu. Am amerikanischen Jazzhimmel gingen die Namen gleich mehrerer junger Künstler auf: die Tenorsaxophonisten Joshua Redman und James Carter veröffentlichten 1993 und 1994 ihre hochgelobten Debütalben, um die gleiche Zeit machte der junge Trompeter Nicholas Payton auf sich aufmerksam und in der Folge dieses günstigen Klimas wuchsen noch verschiedene andere Musiker heran. Der Pianist Brad Mehldau, der später mit Esbjörn verglichen wurde, trat mehrere Jahre mit der selben Band wie Joshua Redman auf.
In Schweden machten sich außer den Musikern von e. s. t. Peter Asplund, Rebecka Törnqvist, Per »Texas« Johansson oder Lina Nyberg einen Namen.
Sven Boija vom Orkesterjournalen charakterisierte Mr. & Mrs. Handkerchief so: »Ein Trioalbum aus einem Guss, auf dem die Musiker bei perfektem Zusammenspiel große Freiheit genießen.« E. s. t. begeisterte sein Publikum. Ein Konzert in der Musikhochschule in Örebro wurde eine Woche nach dem Erscheinen des Albums als »magisches Erlebnis« gefeiert und das TV4-Nachtprogramm N! sendete ein Interview mit dem Trios. Eine Woche später konnte man in der Örebroer Tageszeitung Nerikes Allehanda eine Rezension zu Mr. & Mrs. Handkerchief mit dem Fazit lesen: »Jazz über alle Grenzen … frisch und unerhört gut, faktisch eine der besseren Scheiben, die der neue junge Jazz in Schweden in diesem Jahr hervorgebracht hat.«
Doch das Trio gab sich beileibe nicht zufrieden. Die Erfolge wirkten eher als Ansporn. Åke Linton erinnert sich an mehrere Gelegenheiten, bei denen Esbjörn seine Einstellung und die des Trios so beschrieb: »Ich will ’raus und spielen, meinen Platz einnehmen. Ich denke nicht daran, auf jemanden zu warten, der uns etwas abnimmt, und zu verbiestern, wenn das nicht geschieht. Wir müssen selber für den Erfolg arbeiten.«
Diese Haltung lag zwar nicht ganz auf der Linie der Traditionalisten (»wenn wir so weiter machen, landen wir schließlich bei improvisierten Partyfunk«, brach es irgendwann aus einem älteren Jazzer heraus), war aber bei Musikern der jungen Generation nicht so ungewöhnlich. Ein ganz entscheidender Aspekt, in dem sich das Trio deutlich von vielen anderen Jazzmusikern des Landes abhob, bestand darin, Engagements nicht nur selbst zu beschaffen, sondern sie auch in jeder Hinsicht zu bewältigen. Und in Lasse Nilsson Wihk hatten sie einen treuen und unermüdlichen Verbündeten, der ebenso kreativ wie die Bandmitglieder war, wenn es galt, Gigs zu organisieren.
Alles in allem waren jedoch die Methoden des Trios am Beginn der Karriere nocht recht planlos und in gewisser Weise sogar ausgesprochen amateurhaft. Es wurden einfach alle Angebote, die mindestens ein Set ausschließlich für das Trio garantierten, angenommen. Auf diese Weise landete man plötzlich in der Tour von Egil Johanssen oder war mit dem neuen Stern am Himmel, der Jazzsängerin Viktoria Tolstoy, unterwegs.
Magnus Öström sah es so: »Alles war auf dem Weg nach irgendwohin. Es spielte eigentlich keine Rolle wohin, solange wir miteinander harmonierten, weitere Fortschritte machten und Spaß hatten.«