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SONNTAG (2. ADVENT)
Оглавление“Da ist er.”
Knut Steele drehte sich zu seiner Frau um, die hinter ihm im großen Pulk der Reisenden in die Ankunftshalle gespült wurde.
“Das ist er, der lange Kerl dahinten.”
Er ließ den Griff des Trolleys los und zeigte auf einen hageren Mann in den Endvierzigern, der einen breitkrempigen Sonnenhut schwenkte.
‘Lange nicht gesehen, aber sofort wiedererkannt’, dachte Knut Steele und war richtig stolz auf sich.
Dann löste er den Bremsgriff und manövrierte die Gepäckstücke an den Schranken vorbei auf die Menge der Wartenden und den Sonnenhut zu.
“Mensch, Arndt, da sind...”
Der Satz blieb unvollendet, denn sein Gegenüber nahm ihn sich mit sehnigen Armen zur Brust. Er kam sich vor wie eine Zitrone, die ausgepresst wurde.
“Willkommen im sonnigen Südafrika.”
Eine Mischung aus Achselschweiß und Deo umzingelte ihn. Knut Steele konnte sich mit Mühe aus der kraftvollen Umarmung befreien, einmal kurz durchatmen und seine Frau vorstellen.
“Das ist Gertrud.”
Sie wurde nicht ganz so heftig abgedrückt, bekam dafür aber einige Busserl rechts und links auf die geröteten Wangen.
“Da seid ihr ja endlich”, brach es begeistert aus Arndt hervor, "toll, dass es so schnell geklappt hat.”
“Tja, kurz entschlossen ergibt einen Urlaub in Südafrika,” entgegnete Knut Steele erschöpft.
Er blickte sich verwirrt im Gewühl der Familienangehörigen, Empfangsdelegationen und Schilderträger um – The Grace/Rosebank -, stellte fest, dass er anderen im Wege stand und bugsierte den Gepäckkarren seitlich vor eine Art Reisebüro, wo er sich und seiner Frau eine Verschnaufpause gönnte.
“Wie war euer Flug?”
Gertrud Steeles Blutdruck hatte sich normalisiert, so dass sie sprechen konnte.
“Anstrengend, sehr anstrengend.”
“Kein Wunder, ihr seid Langstreckenflüge nicht gewohnt”, bemerkte Arndt, schob Knut Steele sanft beiseite und den Trolley in Richtung Ausgangstüren.
“Lasst uns mal zum Parkhaus gehen, hier ist viel zu viel los. Um diese Zeit kommen alle Nachtflieger from overseas. Da sind die hier sehr busy.”
Das Ehepaar folgte ihm willig durch die Glastüren nach draußen. Taxen und Kleinbusse standen an der Bordsteinkante und warteten auf Kundschaft. Von einem Schwall heißer Luft überrascht, wollte Gertrud die Jacke ausziehen, umklammerte aber hastig ihre Handtasche, denn sie wurde plötzlich von zwei Seiten angesprochen.
“Three persons? Three persons? Special price! Special price!”
Arndt wimmelte verstimmt die Horde schwarzer Taxifahrer ab, die ihre Vehikel zum Transport in die Stadt anboten, überquerte die Straße und rumpelte selbstsicher auf dem schmalen Gehsteig auf das Parkhaus zu, seine Gäste im Schlepptau.
“Die bauen hier noch fleißig. Wenn’s fertig ist, sieht das hier alles ganz anders aus”, bemerkte er, indem er sich umdrehte.
“Bisschen wärmer als in Deutschland, was?”
“Kann man wohl sagen”, hechelte Knut Steele, der mit Mühe dem Schritttempo seines Vorgängers folgen konnte.
“Bei uns sind es so um die Null Grad und hier schätzungsweise fünfundzwanzig, oder?”
“Das kommt hin, Knut, wir sind mitten im Sommer. Ihr habt hoffentlich Badesachen greifbar, dann könnt ihr gleich, wenn wir zu Hause sind, zur Erfrischung in unseren Pool jumpen.”
Das Ehepaar nickte lächelnd.
“Irene und unsere beiden Kinder lassen sich übrigens entschuldigen. Sie sind noch in der Kirche.”
Im Gebäude hievte Arndt den Wagen auf die Rolltreppe, stellt sich in die Schlange vor dem Parkautomaten und bezahlte seine Gebühr.
“So, das hätten wir. Dann lasst uns mal zum Wagen gehen.”
Wieder übernahm er das Gefährt.
“Ja, Economy ist nicht gerade bequem. Habt ihr wenigstens etwas schlafen können?”
“Ich hab’ kaum ein Auge zugemacht”, entgegnete Gertrud. “Bis morgens früh liefen noch irgendwelche Spielfilme und in meiner Reihe heulte dauernd ein Baby. Knut hat sich eine Augenklappe und Ohrstöpsel besorgt. Du hast doch etwas geschlafen, oder?”
“Na ja, auch nicht sehr viel. Wenn das Abendessen um elf und das Frühstück um halb sechs kommt, hält das doch keine Verdauung aus. Der Kampf mit den Blähungen hat meine volle Aufmerksamkeit beansprucht. Man bekommt einen platten Hintern und außerdem kann man sich nicht richtig ausstrecken.”
“Ich weiß auch nie, wohin mit meinen Beinen”, warf Arndt ein, “den nächsten Heimatflug werden wir upgraden.”
“Upgraden?”
“Wir fliegen dann Business. Mittlerweile haben wir so viele Punkte gesammelt, dass wir sie unbedingt abfliegen müssen. Die verfallen sonst.”
Knut Steele nickte anerkennend.
“Den Spitzenleuten an unserer Anstalt geht es allerdings noch besser.”
“So?”
“Die fliegen immer erste Klasse und lassen sich die Differenz zu Economy vom Vorstand bezahlen. So läuft das, wenn man`s mal bis ganz oben geschafft hat.”
“Klingt nicht schlecht. Könnt ihr jedes Jahr einen Heimatflug machen?”
“Können schon, aber bezahlt wird er nur alle zwei Jahre und das auch nicht komplett, denn demnächst wird auf Pauschalen umgestellt. Dann wird sowieso alles anders. Und du kannst dir sicher vorstellen, was das heißt.”
Das konnte er.
Auch sein Arbeitgeber stellte sich, was Dienstreisen anbelangt, immer knauseriger an.
Sie waren beim Auto angelangt. Vor den Eheleuten stand, frisch gewaschen und poliert, ein hoher, dunkelblauer Geländewagen. Ein sirenenartiges Aufheulen und ein gleichzeitiges grelles Blitzen der Rücklichter ließen sie plötzlich zusammenzucken.
“Der übliche Securitykram”, versuchte Arndt sie aufzuklären. Doch sie brauchten eine Weile, bis sie sich von dem Schreck erholt hatten und staunten nicht schlecht über den Luxus-Landrover, als Arndt schwungvoll die Heckklappe öffnete und das Gepäck verstaute.
“Bitte einsteigen.”
Er half ihnen auf die Rücksitze, wo sie sich in die Polster fallen ließen und ihre Jacken auszogen.
“Endlich wieder sitzen”, bemerkte Knut.
Ihr Fahrer hantierte einen Moment an Schlüsseln und Hebeln herum, bevor er den Wagen startete. Sanftes Rauschen der Klimaanlage umsäuselte sie, als Arndt sich in den Verkehr einfädelte und fast geräuschlos auf die Autobahn Richtung City fuhr.
“Seit wann haben wir uns nicht gesehen?”, nahm Arndt den Gesprächsfaden wieder auf, “das ist doch bestimmt schon über zehn Jahre her.”
”Zwölf Jahre genau”, kam vom Rücksitz die prompte Antwort.
“Da hatten wir das Klassentreffen. Zu der Zeit war aber noch keine Rede davon, dass du mal ins Ausland gehen willst.”
“Stimmt, Knut. Damals hatten auch familiäre Sachen den Vorrang, wie du weißt.”
“In deinen letzten Briefen hast du ja einiges geschrieben, was uns sehr neugierig auf Südafrika gemacht hat. Wie viel Jahre bist du jetzt schon hier?”
“Wir sind im vierten Jahr.”
“Wie lange kannst du denn noch bleiben?”
“Für uns ist in zwei Jahren Schluss. Länger als sechs Jahre machen nur Funktionsstellenleute.”
“Welche Leute?”
“Oberste Aktenabstauber, Computernetzwerkverwalter, Malariabeauftragte und solche Spezis. Aber du weißt ja, dass mich das nicht interessiert. Mit Organisieren und Rummachen hab ich schon genug am Hut. Nebenbei, du glaubst es kaum, muss ich auch noch unterrichten.”
“Hast du eigentlich noch Kontakt zu anderen aus unserer alten Klasse?”
“Nein, das ist irgendwie alles zerbröselt. Nur mit euch sind wir noch in touch.”
“Zum Glück, sonst wäre aus unserem Besuch nie was geworden.”
“Und dass ihr uns im letzten Brief quasi zu einem Besuch eingeladen habt, fanden wir natürlich besonders erfreulich”, schaltete sich Gertrud in das Gespräch ein.
“Dabei hatten wir noch Glück mit den Buchungen. Eine Woche später wäre kein Flug mehr im Angebot gewesen, sagte uns die Frau vom Reisebüro.”
“Anfang Dezember scheint halb Europa in den Süden aufzubrechen. Die große Fluchtbewegung vor Weihnachten hat eingesetzt. Nach Mallorca oder auf die Kanaren kriegt man längst keine Flüge mehr. Alle wollen ins Warme, vor allem die Rentner”, ergänzte ihr Gatte.
“Hätte ich ehrlich gesagt auch nicht gedacht, dass ihr euch so schnell entschließen würdet, zu kommen.” Arndt, der bislang immer auf der rechten Spur gefahren war, scherte ruckartig nach links ein, um einem hupenden Sportwagen Platz zu machen.
Interessiert beobachtete Knut Steele den Vorgang.
“War es eigentlich schwierig, sich auf den Linksverkehr einzustellen, Arndt?”
“Das geht schnell. Man greift bei den ersten Fahrten manchmal ins Leere, oder öffnet, wenn man Pech hat, die Fahrertür. Dann hat man es aber bald raus.” Er steuerte sein Gefährt wieder auf die rechte Spur.
“Wolltest du denn auch gleich mit, Gertrud?”, wandte sich Arndt an die Ehefrau.
Sie räusperte sich.
“Ich hab keine Sekunde gezögert. Wann ergibt sich für uns sonst die Gelegenheit, nach Afrika zu kommen. Ich wollte schon immer mal in diese Ecke.”
“Arbeitest du denn noch?”
“Ja, halbtags. Ich helfe in einer Boutique aus.”
“Was ist mit eurer Tochter? Wie heißt sie noch gleich?”
“Christina.”
“Richtig. Jetzt erinnere ich mich. Wie alt ist sie denn?”
“Sie ist 20 geworden.”
“Und was macht sie?”
“Studiert Sozialpädagogik.”
“Jedenfalls, eine Pauschalreise von Deutschland aus hätten wir nie gebucht”, mischte sich ihr Ehemann wieder ein und wechselte das Thema.
“Dein Angebot, mit uns ein bisschen rumzureisen, hat uns gleich zugesagt. Über die Finanzen müssen wir uns übrigens noch unterhalten.”
“Das sorten wir später out”, kam es vom Fahrersitz. “Erst müsst ihr euch mal akklimatisieren. Wir liegen hier immerhin fast 1800 Meter hoch, das ist was anderes, als bei euch im flachen Norddeutschland.”
“So hoch sind wir?”, fragte erschrocken Knut Steele.
“Stand doch alles im Reiseführer”, warf seine Frau entschuldigend ein. “Wir werden uns schon dran gewöhnen und in einigen Tagen liegen wir am Strand des Indischen Ozeans, dann sind wir wieder unten auf unserem Level.”
Arndt bog auf die N3 ab, zischte die Anhöhe von Bedfordview hinauf, überholte einen Pickup, auf dessen Ladefläche sich ca. dreiundzwanzig Schwarze zusammendrängten, und ordnete sich auf der rechten Spur Richtung M2 ein. Der Gast aus Deutschland schüttelte entsetzt seinen Kopf, von Arndt amüsiert im Rückspiegel beobachtet.
“Du musst hier mal im Berufsverkehr unterwegs sein, da fährt oder steht man Stoßstange an Stoßstange, wie man`s nimmt. Dann siehst du noch mehr von diesen offenen Lastern, die Arbeiter zu ihren Jobs fahren.”
“Von Anschnallen und solchen Sachen haben die hier wohl noch nichts gehört, was Arndt? Das ist doch lebensgefährlich, so auf einer Ladefläche zu hocken. Eine Vollbremsung und die liegen alle auf der Straße.” “Das ist Afrika, Knut. Appelliert wird immer wieder. Jedes Mal zur Urlaubszeit werden die gleichen Ratschläge gegeben und doch kommt es zu unglaublich vielen Verkehrsunfällen. Letztes Jahr waren es glaube ich über 600 Tote allein über die Weihnachtsfeiertage.”
“Hoffentlich passiert uns nichts, wenn wir mit dir losfahren, Arndt”, ließ sich Getrud besorgt vernehmen. “Keine Bange.”
Er kurvte an einem Laster vorbei, verschwand für einen Augenblick in dessen schwarzer Abgasfahne, bevor er wieder klare Sicht hatte.
“Heute am Sonntag ist nichts los auf den Straßen. Aber auch sonst kümmern sich die Joburger nicht großartig um Geschwindigkeitsbegrenzungen. Sie fahren flott, aber erstaunlich diszipliniert.
Trotzdem muss man aufpassen wie ein … Verdammt, hast du das gesehen? … typisch ... erst links überholen … und dann versucht er mich auszubremsen … blöder Burenbengel ...”
Schnell hatte Arndt sich wieder beruhigt.
“Gefährlich wird es erst, wenn die überladenen Taxis in Unfälle verwickelt sind. Dann gibt es gleich viele Tote und Verletzte. Sie arbeiten aber an einer neuen Gesetzgebung. Dann wird alles anders. Hier links sind die Abraumhalden der Goldminen.”
Arndt steuerte in einer weiten Schleife auf den Oberholzer-Motorway zu.
“Die konnten wir vom Flugzeug aus gut sehen”, kommentierte Gertrud von der Rückbank.
“Wird denn immer noch viel nach Gold gebuddelt?”
“Vielleicht nicht mehr so viel wie vor fünfzig Jahren, die Minen gehören aber auch heute noch zu den größten Arbeitgebern im Land. Daran hat sich nicht viel geändert.”
“Was wird denn mit den Halden gemacht?”, wollte Knut Steele wissen. “Wird alles renaturiert?”
“Einige werden bepflanzt, das kannst du gleich dahinten sehen. Es hat ziemlich lange gedauert, bis man herausgekriegt hat, welche Pflanzen sich dazu eignen. Bei den ersten Versuchen wurde alles wegblasen oder fortgeschwemmt. Der Sand ist sehr porös, da ist auch schon manches Kind beim Spielen verschüttet worden. Alle Halden sollen jetzt aber noch mal durchgesiebt werden, um das Restgold herauszufiltern. Heute hat man ja viel feinere Methoden, da bleibt noch mal einiges drin hängen, was früher eben auf der Halde landete.”
Die Skyline von Downtown kam auf der rechten Seite langsam in Sicht. Das Ehepaar ließ die hinter Reklameschildern versteckten Hochhäuser an sich vorbeigleiten.
Routiniert spielte Arndt den Reiseführer.
“Das höchste Gebäude Afrikas, bitteschön. Mit den Antennen oben drauf, das Carlton-Center.”
“Muss ‘ne tolle Aussicht von oben sein. Ward ihr da schon mal?”
Arndt nickte.
“Eine Kollegin hat uns sonntags zu einer Stadttour mitgenommen. Da sind wir mit der ganzen Familie mit dem Lift hochgefahren. Ich weiß nicht, wie viel Stockwerke. Oben kann man dann herumgehen und sich die City von allen Seiten anschauen. Da sieht man, wie alles vom Reißbrett geplant worden ist. Sehr interessant. Vielleicht haben wir in den nächsten Tagen Zeit, eine Tour zu machen. Leider werde ich euch aber nicht begleiten können.”
“Warum nicht?”
“Keine Zeit. Wir haben noch drei Tage Unterhaltungsbetrieb und in denen ist der Teufel los, sage ich euch. Mir fliegt jetzt schon die Batterie vom Herzschrittmacher raus, wenn ich bloß daran denke. Dabei fällt mir ein, dass ich morgen früh gleich den CD-Player abholen muss. Ein Stress ist das.”
Die Eheleute zeigten kein erkennbares Mitleid mit ihrem Fahrer. Dass Lehrer gerne stöhnen, wussten sie schon von Deutschland.
“Habt ihr hier alle so große Wagen?”, fragte Knut Steele, der sich bewundernd im Inneren des Autos umschaute.“
“Findest du ihn zu klotzig für mich?”, kam die süffisante Replik.
“Na ja, ich weiß ja nicht, was hier so üblich ist”, rechtfertigte sich der Angesprochene.
“Der frisst doch ‘ne Menge Benzin, oder?”
“Auch nicht mehr als andere der gleichen Klasse. Und Benzin ist hier noch wesentlich günstiger als in Deutschland. Wie viel kostet es denn jetzt bei euch? Ich bin gar nicht mehr im Bilde.”
“Na, so um die zwei Mark, nicht wahr, Gertrud?”
“Das wären umgerechnet fast sechs Rand. Davon sind wir noch weit entfernt, obwohl die Preise ständig steigen. Die meisten Autos fahren hier auch noch verbleites Benzin. Moment, jetzt darf ich die Abfahrt nicht verpassen.”
Arndt ordnete sich links ein, um auf die M1 Richtung Pretoria zu kommen.
Nach einer langen Rechtskurve ging es auf der unteren Ebene einer Doppelstockautobahn vierspurig weiter.
“Wenn ihr mal nach rechts schaut, dann seht ihr da unten das Museum Africa. Die Stadt hat eine alte Markthalle in das Museum umgewandelt. Da waren wir schon häufiger mit den Kindern. Sie bringen interessante Ausstellungen. Am Samstag ist davor immer Marktbetrieb. Daneben ist auch noch das Market Theatre, eine der besten Bühnen Südafrikas. Vom Musical bis zum klassischen Theater kannst du da alles sehen. Und im Hintergrund das diamantförmige Gebäude, das ist das berühmte Johannesburger Edelsteinzentrum, De Beers und so weiter. Die Börse war früher auch dort in Downtown. Demnächst ziehen sie nach Sandton in den Norden um, da ist es etwas ruhiger.”
“Meinst du wegen der Kriminalität?”
“Genau. Die ganze Innenstadt ist komplett schwarz. Die Weißen verschwinden morgens in den bewachten Tiefgaragen und Büros und kommen abends wieder raus aus den Löchern. Das ist für einen Börsianer natürlich nicht das richtige Ambiente.”
“Habt ihr denn, wo ihr wohnt, auch viel mit Kriminalität zu tun? Man liest ja so einiges in den Zeitungen.”
Knut Steele hatte sich nicht nur aus beruflicher Neugier in seinem Sitz zum Fahrer vorgebeugt.
“Bei uns ist es eigentlich ziemlich ruhig. Ein Kinderfahrrad ist uns einmal gestohlen worden. Du hättest in unserer Gegend auch nicht viel mehr zu tun als in Deutschland.”
“Knut, jetzt ist Urlaub”, wurde er von seiner Ehefrau ermahnt.
“Wir sind gleich da”, ließ Arndt verlauten.
Von der Jan Smuts Ave war er abgebogen, stoppte aber unvermittelt kurz hinter der Ampel, um einen Zeitungsverkäufer heranzuwinken. Er drückte ihm einige Münzen in die Hand und nahm ein Exemplar der Sunday Times in Empfang.
“Das ist unsere Sonntagslektüre”. Arndt reichte die Zeitung nach hinten. “Aber Vorsicht, es trieft Blut heraus.”
Knut warf einen Blick auf die Schlagzeile “Gangsters’ brutal ritual”, während Arndt das Fahrzeug eine kurvenreiche, abschüssige Straße hinabsteuerte, in denen die Häuser hinter dicken Mauern kaum auszumachen waren. Auch am Anwesen der berühmtesten Schriftstellerin des Landes schossen sie vorbei. Nach einigen weiteren scharfen Abzweigungen hielten sie vor einem breiten, hölzernen Garagentor, das sich per Fernbedienung hochschraubte. Langsam rollten sie in die Doppelgarage, das Tor wurde wieder geschlossen und der Wagen zum Stehen gebracht.
“So, da wären wir. Willkommen in Lütje-Kappenbergs Heim.”
Knut Steele hatte die Wagentür gerade einen Spalt geöffnet, als er von einem bestialischen Hundegebell erschreckt wurde. Irritiert zog er die Tür wieder zu und schaute den Fahrer fragend an, der wie von der Tarantel gestochen die Fahrertür aufriss.
“Shaka! Stop it! - Verdammter Köter!”
Wütend packte Arndt den Bullterrier am Halsband, schüttelte ihn einige Male und bölkte ihn mit englischen Vokabeln an, die den Eheleuten noch unbekannt waren.
“Sorry”, schrie er durch die Scheiben Richtung Wageninneres.
“Ihr könnt ruhig aussteigen.”
Vorsichtig glitten beide aus dem Auto, immer den Hund und seinen Halter im Blick. Der verschwand mit ihm um die Hausecke, kam aber sofort hundelos zurück.
“Entschuldigt bitte, damit hatte ich gar nicht gerechnet. Der Köter ist noch ganz jung und bellt jeden an, den er nicht kennt. Wir gehen vielleicht erst mal ins Haus, euer Gepäck hole ich dann nach.”
Er wies ihnen den Weg, der durch einen schmalen Vorgarten einige Treppen hinab zum Haus führte.
“Kapholländischer Stil nennt man so eine Fassade”, erläuterte der Hausherr mit ausladender Handbewegung seinen staunenden Gästen.
“Das Gebäude selbst ist mindestens sechzig Jahre alt, wie alle in diesem Ortsteil. X-mal angebaut, vergrößert, umgemodelt. Ihr kennt ja den alten Spruch: ‘Wer viel Geld hat und ist dumm, kauft ein Haus und baut es um’. Genauso haben es die ehemaligen Besitzer gemacht, wobei ich nicht unterstellen will, dass es alles Dummbaxe waren.”
“Habt ihr die Villa gekauft oder gemietet?”, wollte Knut, den stuckverzierten Giebel im Blick, wissen.
“Das kann man doch nicht als Villa bezeichnen”, erwiderte Arndt mit gespielter Entrüstung. “Für südafrikanische Verhältnisse ist es eine ganz popelige Absteige. Die Miete liegt auch nicht so hoch. Wir haben uns gesagt, wenn wir nur für einige Jahre hier wohnen, binden wir uns nicht auch noch ein Haus ans Bein. Man weiß nie, ob man es hinterher gut verkaufen oder vermieten kann. Das ist ziemlich risikoreich. Monatliche Zuschüsse gibt es übrigens auch nur für gemietete Häuser. Wir kennen aber etliche Kollegen, die gekauft haben. Allerdings in Deutschland finanziert. Manche sind auch ganz gut damit gefahren.”
Blitzschnell hatte Arndt die Haustür geöffnet, verschwand im Inneren und ließ die verwunderten Gäste für dreißig Sekunden erneut allein.
“Ich musste nur eben die Alarmanlage ausstellen. Bitte, tretet ein.”
Er ging durch eine Diele voraus, einen schmalen Flur entlang.
“Hier links liegen die Kinderzimmer.”
Sie schlugen zwei Haken durch die Küche und das Esszimmer und standen auf der Terrasse.
“Das Haus ist am Hang gebaut.”
Vor ihnen führte eine steile Treppe hinunter zum Swimmingpool.
“Ja, so sieht es aus bei Lütje-Kappenbergs. Setzt euch erst mal.”
Am liebsten hätte sich Knut sofort in die bunte Hängematte gelegt, die auf einer Verandaseite ausgespannt war. Taktvoll nahm er aber an einem großen Campingtisch mit einer abwaschbaren Zebrafelldecke Platz und genoss den Blick auf den Garten, in dem ein großer Stinkwoodbaum und ein Sweet Thorn die markanten Eckpunkte bildeten.
“Ich hole mal das Gepäck aus dem Auto, bedient euch derweil mit den Säften.”
Der Hausherr verschwand wieder. Die Eheleute ließen sich den vor ihnen auf einem Tablett bereitgestellten Guavasaft munden.
“Das riecht hier ganz anders als bei uns, nicht wahr, Knut?”
Ihr Gemahl nickte ihr bestätigend zu.
“Die satten Farben überall und die vielen Blüten. Schau mal. Ist das nicht ein Webervogel?”
Sie beobachteten eine Weile den gelb-grünen Flieger, der mit Grashalmen im Schnabel an seinem Nest bastelte, und freuten sich über die Ruhe des Sommervormittags. Hinter ihnen wurde leise eine Schiebetür geöffnet. Arndt stand mit den Koffern im Wohnzimmer.
“Na, wie gefällt es euch?”
“So schön hätten wir uns das nicht vorgestellt. Ihr wohnt ja mitten im Grünen.”
“Das sagen alle Besucher. Wir selber nehmen es leider gar nicht mehr richtig wahr. Unter der Woche haben wir kaum Zeit, hier zu sitzen und abzuschalten. Das versuchen wir an den Wochenenden nachzuholen.”
Er schnappte sich ein Glas und schenkte sich Saft ein.
“Euer Zimmer ist gleich hier neben der Terrasse. Ich stelle nur die Koffer rein.”
Er schritt in den Nebenraum, zog dort einen breiten Vorhang zur Seite, entriegelte die Glastür und stand wieder neben seinen Gästen.
“Fühlt euch wie Zuhause. Ihr könnt erst mal relaxen, euch frisch machen oder aufs Ohr hauen, ganz wie ihr wollt. Irene und die Kinder werden euch nicht stören, wenn sie zurückkommen. Soll ich euch euer Badezimmer zeigen?”