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I. Der „unbehauste Mensch“2

Der Mensch im Römischen Weltreich

A. Der Aufstieg Roms zur Weltmacht

Der Zweite Punische Krieg hatte Rom in eine lebensbedrohliche Lage gebracht. Hannibal hatte am Trasimenischen See (bei Cortona) ein 30 000 Mann starkes römisches Heer außer Gefecht gesetzt (217 v. Chr.). Ein Jahr später fielen bei Cannae (in Apulien) weitere 48 000 (nach anderen Quellen gar 70 000) Mann (Bellen 1985, 20). Der Feind war sogar vor den Toren Roms erschienen (Hannibal ad portas!). Die Etrusker (besonders Tarquinia) fielen den Römern im eigenen Land in den Rücken und zeigten (offen) ihre Sympathie für Karthago, dem sie früher durch Handelsverträge eng verbündet waren. In dieser Situation greift man in Rom zu außergewöhnlichen Mitteln. Man veranstaltet ein Menschenopfer: 216 v. Chr. wurden auf dem Forum Boarium (am Tiber-Ufer) ein Griechen- und ein Gallierpaar lebendig begraben – nach etruskischem Ritus. Für die Etrusker waren Griechen wie Gallier (Kelten) die Hauptfeinde gewesen; sie hatten ihnen die Herrschaft im Süden und im Norden der Apenninenhalbinsel streitig gemacht. Die rituelle Tötung von Griechen und Galliern beiderlei Geschlechts sollte magisch die physische Vernichtung der zwei gegnerischen Völkerschaften in ihrer Gesamtheit, nicht nur ihrer Streitmacht, bewirken (s. u. S. 56: pars pro toto). Die Römer haben, wie vieles andere auch, das Ritual dieses Vernichtungszaubers von ihren etruskischen Nachbarn entliehen, obwohl ihr Feind ein anderer war (eben die Punier). Aber magische Rituale sind konservativ und wirken desto besser, je weniger man sie verändert. Etwas später hatte eine Orakelsammlung, die sog. Sibyllinischen Bücher (auf dem Capitol in Rom aufbewahrt), prophezeit, Hannibal werde italischen Boden erst endgültig verlassen, wenn die kleinasiatische Muttergöttin Kybele aus Pessinus (am Oberlauf des Sangarios in der heutigen Türkei) nach Rom gebracht würde. Kultisch repräsentiert wurde die Göttin durch einen schwarzen Meteorstein (baitylos), ein anikonisches Göttersymbol. Steine, die vom Himmel fallen, gelten seit je als göttlich (vgl. den schwarzen Stein in der Kaaba zu Mekka); zugleich ist der Stein Erdsymbol, seine schwarze Farbe verweist auf Erde, Fruchtbarkeit, Mutterschaft (vgl. die vielen Schwarzen Madonnen). Attalos, der König von Pergamon, in dessen Gebiet die Göttin (bzw. ihr Symbol) residierte, gab seine Einwilligung zum Transfer. Als das Schiff mit der göttlichen Fracht an Bord Ostia erreicht hatte und sich tiberaufwärts nach Rom wandte, soll es auf den flachen Grund gelaufen und alles Bemühen, es wieder flottzumachen, fruchtlos gewesen sein – ein übles Vorzeichen (omen, prodigium). Zu alledem war in Rom eine Vestalin, priesterliche Hüterin des römischen Staatsfeuers, des Bruchs ihres Keuschheitsgelübdes verdächtig (Vergehen, worauf Subterration bei lebendigem Leib stand) – auch dies ein übles Vorzeichen für den römischen Staat. Um ihre jungfräuliche Intaktheit zu beweisen, macht sich die Verdächtigte, Claudia Quinta mit Namen, erbötig, das festgefahrene und durch nichts zu bewegende Boot in Fahrt zu bringen: mit ihrem Gürtel zieht sie es mühelos aus dem Schlick. Der Jungfräulichkeit einer Vestalin (der Jungfräulichkeit überhaupt) wurde magische Kraft zugeschrieben. Und so ist allen geholfen: der Claudia, der Göttin, den Römern. In den Musei Capitolini ist uns ein Exvoto-Stein (Weihestein) erhalten, der im Bild darstellt, wie die Vestalin das Schiff mit der Göttin an ihrem Gürtel wieder zum Schwimmen bringt. Darunter die Inschrift (Leipoldt 1967, 27 mit Abb. 84; Übersetzung von mir):

MATRI DEVM ET NAVI SALVIAE

… VOTO SVSCEPTO

CLAVDIA SYNTYCHE

D(ONO) D(EDIT)

„Der Göttermutter und dem Schiff des Heils

… weihte Claudia Syntyche

(diesen Stein)

in Einlösung eines Gelübdes“

Eine Namensvetterin der Vestalin Claudia hatte diesen Stein der Muttergöttin gelobt und aufstellen lassen aufgrund einer Wohltat, um die sie die Göttin gebeten und die diese ihr offensichtlich auch gewährt hatte (vermutlich Kindersegen oder komplikationsfreie Geburt).

Die Szene mit der jungfräulichen Vestalin, ihrem Gürtel und dem festgefahrenen Schiff ist übrigens in das religiöse Bildprogramm der christlichen Kirche eingegangen: An der Ostwand der siebten Arkade des berühmten spätgotischen Kreuzgangs am Dom zu Brixen ist sie al fresco gemalt. Diese Arkade thematisiert die Jungfrauenschaft Mariens (defensorium Beatae Mariae virginis), überhaupt Wert und Kraft weiblicher Virginität, wofür als Exempel Claudias „unschuldiger Kraftakt“ abgebildet steht.

Von Brixen im Südtirol kehren wir wieder zurück ins Alte Rom. 202 v. Chr. ist Hannibal endgültig besiegt, und zwar auf afrikanischem (also eigenem) Territorium (Zama im heutigen Tunesien). Beide, Menschenopfer und Translation der fremden Göttin, hatten sich gelohnt – jedenfalls für die Römer! Die pragmatischen Römer haben sich nie gescheut, fremde Riten und Gottheiten zu übernehmen und für sich arbeiten zu lassen, falls sich in einer Sache das eigene religiöse Repertoire als unwirksam erwies; und immer haben sie damit (oft weit reichende) politische Absichten verknüpft. Die rituelle Tötung von Menschen (das wirksamste aller Tötungsrituale) nach etruskischem Brauch konnte (u. a.) auch als Reverenz an die in ihrer Loyalität zwischen Rom und Karthago schwankenden Etrusker (deren religiöse Begabung die Antike rühmte) verstanden werden. Die Göttin Kybele galt als Schützerin der Trojaner, von ihnen aber leiteten – über den mythischen Helden Aeneas – die Römer (schon vor Vergils Epos) ihren Ursprung ab (vgl. Binder 1997, 313 ff.). Was lag also näher, als in bedrängter Lage die trojanische Schutzgöttin nach Rom einzuholen! Damit ließen sich zwei politische Ziele verbinden: ein innen- und ein außenpolitisches. Die Überführung des Symbols der berühmten Muttergottheit war auch Dankesgeste an die römischen Mütter, die durch den Verlust ihrer Söhne die Hauptlast an Leiden zu tragen hatten. Und sie diente zur Anknüpfung diplomatischer Bande nach Kleinasien, das den Römern als Brückenkopf im östlichen Mittelmeerraum (und gegen Griechenland) dienlich sein konnte. Die Geschichte hat dieser religiös-politischen Strategie Roms Recht gegeben. Rom hatte zum ersten Mal eine Weltmacht besiegt und war darob selbst zur Weltmacht geworden. Im Zuge des Siegs über Karthago fielen auch dessen Territorien (das afrikanische Mutterland, die Iberische Halbinsel) und Verbündete (Griechenland: Philipp V. von Makedonien stand auf der Seite Karthagos, was Rom den militärischen Vorwand lieferte, Makedonien und Griechenland dem römischen Herrschaftsbereich einzugliedern). Die guten Beziehungen Roms zu Pergamon, das der kinderlose Attalos III. (Enkel jenes Attalos, der die Übersiedlung Kybeles erlaubte) testamentarisch den Römern vermachte, öffneten das Tor zu Kleinasien, Syrien, Palästina, Ägypten. Im Westen unterwarf Caesar Gallien. Nur die Germanen im Norden und die Parther im Osten haben dem römischen Expansionsdrang definitiv Grenzen gesteckt. Seitdem träumten Roms Mächtige von einem erfolgreichen Parther-Feldzug – vergeblich. Und die Germanen haben Westrom schließlich überrannt.

Die Expansion von einem mittelitalienischen (weitgehend bäuerlich bestimmten) Territorialstaat zu einem Weltreich zeitigte gewaltige soziale und geistig-religiöse Konsequenzen. Die römischen Eroberungen führten zu einer demographischen Durchmischung des gesamten Mittelmeerraums: zu dem, was sich uns heute als „mediterraner Bevölkerungstyp“ zeigt. Heere von Sklaven und Sklavinnen kommen als Kriegsbeute nach Rom, damit verbunden ist brutales Auseinanderreißen von Familien in kontinentalem Ausmaß. Umgekehrt ziehen Heere römischer Legionäre und Beamter in die zu Provinzen degradierten Ursprungsländer der erbeuteten und zerstreuten Menschenware. Zu den demoralisierenden Auswirkungen der Sklaverei kommen ökonomische. Ländliche Latifundienwirtschaft und städtische Handwerks(groß)betriebe mit ihren durch Sklavenarbeit konkurrenzlos billigen Erzeugnissen drücken die Preise und vertreiben die freien Bauern von der Scholle in die Städte, wo sie zusammen mit freigesetzten freien (!) Handwerkern ein Lumpenproletariat bilden, das durch Getreidezuweisungen und Zirkusspiele von den Zynikern der Macht bei Laune gehalten und als Manipulationsmasse politisch missbraucht und instrumentalisiert wird. In den Provinzen entzieht sich die vom System der Steuerpacht gnadenlos ausgebeutete Landbevölkerung massenweise durch Anachorese (Landflucht) der staatlichen Kontrolle und taucht in den Städten unter. Diese, einstmals überschaubare politische Gebilde (Kommune, Polis), explodieren dadurch zu wuchernden, unwirtlichen Agglomerationen trister Mietskasernen (insulae). Die Auflösung der traditionellen sozialen Gebilde (Familie, dörfliche Gemeinschaft, städtische Gemeinde) und die erzwungene Mobilität früher sesshafter Bevölkerungsteile destabilisieren die antike Gesellschaft. Es entsteht, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte in diesem Ausmaß, das, was man den „unbehausten Menschen“ nennen kann (eine Spezies, die auch unsere postmoderne Gesellschaft massenweise produziert).

Bevor wir daran gehen, die religiösen Fluchtversuche des antiken Menschen aus seiner Unbehaustheit unter den Bedingungen des imperium Romanum zu beschreiben, wenden wir uns der Beschreibung dieser Bedingungen selbst zu.

Die antike Welt und das Christentum

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