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1.Kapitel Ansatzpunkte und Grundthemen soziologischen Denkens
1.1Wir und die anderen: Das Rätsel der Gesellschaft

Mit Adam und Eva kann man auch in der Soziologie anfangen. Denn als sich die beiden im Paradies zum ersten Mal begegneten, waren sie vermutlich außer sich vor Staunen über dieses Rendezvous. Und in ähnlicher Weise mag es einem neugeborenen Kind ergehen, das zum allerersten Mal seiner Mutter oder seines Vaters gewahr wird und in seinem Lächeln die »Taufrische dieses ersten gesellschaftlichen Erlebnisses« (Berger & Berger 1974, 12) spiegelt. Kurz: Die Verwunderung über die Tatsache, dass Menschen uns begegnen und miteinander leben, ist schon ein erster Schritt auf dem Weg zur Soziologie.

Längst bevor wir darüber nachdenken und grübelnd forschen, stellt die einfache Erfahrung, dass wir nicht allein auf dieser Welt existieren, sondern in irgendeiner Weise immer mit anderen Menschen und Gruppen verbunden sind, den Zusammenhang her zu allem, was uns umgibt: zur Natur und zur Technik, zur Kunst und zur Wissenschaft, zur Politik und zur Wirtschaft, zum Recht, zur Religion, zur Musik usw. Denn auch die Erfahrungen mit all diesen Bereichen werden uns von anderen vermittelt, aufbereitet und interpretiert. So sind die »anderen«, auf die wir dann zeitlebens angewiesen sind und mit denen wir – wenn auch manchmal unter Mühen und Enttäuschungen – zusammenleben und -arbeiten, für uns eine grundlegende und lebenslange Erfahrung, – die wichtigste und entscheidendste Lebenserfahrung obendrein. Oder anders ausgedrückt: Wir befinden uns immer schon in einer von Menschen gestalteten und gedeuteten Kultur. Ohne sie ist menschliche Existenz nicht möglich.

Manchmal sinnieren wir über uns selbst und die anderen. Ausgelöst werden solche »besinnlichen« Anlässe meist durch unerwartete Situationen oder krisenhafte Erfahrungen, durch persönliches Betroffensein und durch ein unerklärliches Unbehagen: Wir wundern oder ärgern uns gar über Mitmenschen, die sich plötzlich ganz anders verhalten als wir erhofft oder befürchtet haben. Wir durchschauen unsere eigene Lage nicht mehr und beginnen an uns selbst und unseren Fähigkeiten zu zweifeln. Wir kommen aus dem routinierten Gleichgewicht des Alltags, weil sich Entwicklungen abzeichnen, mit denen wir nicht rechneten. Solche Alltagserfahrungen im privaten Bereich wären etwa eine unvorhergesehene Konflikt- oder schwierige Entscheidungssituation, der Verlust eines geliebten Partners, eine nachhaltige Veränderung unserer vertrauten Umwelt. Im öffentlichen Bereich könnten solche »Anstöße« beispielsweise ausgelöst werden durch eine wachsende Arbeitslosigkeit, durch Inflationen und Energiekrisen, durch politische Spannungen oder das Aufkommen von neuen Technologien, die unser bisheriges berufliches Wissen in Frage stellen und uns zum Umdenken und Umlernen zwingen. Plötzlich verstehen wir die Welt nicht mehr und fühlen uns abhängig oder gar bedroht von anonymen, gesichtslosen Mächten und Kräften oder undurchschaubaren globalen Entwicklungen, deren Ursprünge, Absichten und Wirkungen wir nicht mehr erkennen und auch nicht mehr kalkulieren, geschweige denn kontrollieren können.

Daneben stehen dann unsere ganz gewöhnlichen Routineerfahrungen mit anderen und uns selbst, bei denen der Brauch als vertraute Gewissheit die Regie führt. Es sind die Erfahrungen des üblichen Alltags, die wir im Großen und Ganzen gemacht haben und die uns immer wieder in gleicher oder sehr ähnlicher Weise begegnen. Alltägliche Erfahrungen und Erlebnisse, Vorgänge ohne Überraschungen und voller Selbstverständlichkeiten, die uns auch darum kaum noch bewusst werden, erregen oder gar zu einer Auseinandersetzung provozieren. Denn wir kennen ja das Leben und wissen, »wo es lang geht« und »was angesagt ist«.

So haben wir feste Vorstellungen darüber, wie die anderen beschaffen sind; meinen, die anderen deshalb auch »richtig« einschätzen zu können und verhalten uns ihnen gegenüber jeweils entsprechend. Ohne viel darüber nachzudenken wissen wir, dass es Menschen und Gruppen gibt, die »über uns« stehen und denen »es besser geht« oder auch andere, die »schlechter dran« sind als wir. Wir wissen, dass damit auch in unterschiedlichem Maße Macht, Einfluss und gesellschaftliches Ansehen verbunden sind. Wir argumentieren bei der Verteilung häuslicher Arbeiten mit dem »Wesen der Geschlechter« und haben recht klare Vorstellungen darüber, was nun einmal »typisch männliche bzw. typisch weibliche Arbeitsbereiche« im Haushalt sind. Wir haben gelernt, dass unsere Lebensbereiche in der Familie, im Beruf oder in der Freizeit teilweise recht verschieden, vielleicht sogar widersprüchlich sind und wissen ziemlich genau, wie wir uns jeweils in typischen Situationen zu verhalten haben, wie »man« sich beispielsweise zu bestimmten Anlässen zu kleiden pflegt, wie »man« sich eben hier oder dort begegnet und grüßt, wie »man« bei dieser oder jener Gelegenheit miteinander umgeht und miteinander spricht, ob »man« sich sachlich kühl und distanziert gibt oder sich persönlich einbringt, mitteilt und engagiert.

Wir und die anderen folgen dabei weitgehend denselben Spielregeln und Routinen, deuten unsere jeweiligen Handlungen und Verhaltensweisen gleich oder zumindest ziemlich ähnlich. Der Großteil unseres Alltags und unserer Begegnungen mit anderen folgt so bereits vorgespurten Linien fester gegenseitiger Erwartungen: Wir stellen so beispielsweise montags früh unseren Mülleimer vor die Haustür und verlassen uns darauf, ihn am Abend geleert vorzufinden; wir gehen zum Bäcker, um dort mit frischen Brötchen bedient zu werden; wir besteigen die Straßenbahn der Linie 7, weil wir wissen, dass sie uns zum Bahnhof bringt; wir bedanken uns beim Nachbarn, der in unserer Abwesenheit das für uns bestimmte Paket in Empfang nahm …

Zwar mag gerade hinsichtlich schematischer Verhaltensregeln und eingeschliffener Machtverteilungen, schablonenhafter Informationsprozesse oder traditionell befolgter Sitten und Gewohnheiten dieser Routinecharakter unserer Alltagserfahrungen ziemlich eintönig und langweilig sein, gelegentlich gar als unliebsame Einengung empfunden und ärgerlicher Zwang beklagt werden, doch wirkt er in den von uns täglich neu geforderten Entscheidungssituationen auch entlastend und schenkt uns die notwendige Verhaltenssicherheit im Umgang miteinander. Ja ohne diese vertrauten Erwartungen, Gewissheiten und Regelmäßigkeiten unseres gesellschaftlichen Alltags wäre wohl überhaupt keine vernünftige Verständigung und gegenseitig verlässliche Orientierung möglich.

Das Gegenteil hierzu könnten wir uns vielleicht folgendermaßen gedanklich ausmalen: Alle Menschen müssten bei jedem Zusammentreffen jeweils neu ihre Verhältnisse zueinander festlegen und könnten jeweils nach Lust und Laune, jedenfalls willkürlich, ihr jeweiliges Verhalten und Handeln bestimmen. Wenn es so etwas überhaupt gäbe – was nicht der Fall ist – wäre das für alle Beteiligten zumindest außerordentlich anstrengend. Stellen wir uns beispielsweise vor, es gäbe keine kulturelle Konvention bei der Begrüßung eines Fremden: Wir wüssten nicht, ob wir die Hand schütteln, ihn küssen, unsere Nasen aneinander reiben oder ihm ins Gesicht spucken sollten! – Wahrscheinlich würden wir unter solchen Bedingungen recht bald die Nerven oder gar den Verstand verlieren.

Wenn uns daher gelegentlich – halb verwundert, halb ärgerlich – die langweilige Eintönigkeit der Alltagsbräuche und Rituale aufstößt oder wir vielleicht über irritierende Ereignisse, die sich in unser vertrautes Weltbild nicht mehr einordnen lassen, tiefer greifend reflektieren, dann beschäftigen wir uns tatsächlich bereits mit dem Gegenstand der Soziologie, – meist ohne zu wissen, dass das, worüber wir gerade räsonnieren, überhaupt eine soziologische Fragestellung ist. Denn indem wir beginnen, über solche Erfahrungen nachzudenken, versuchen wir die Vielfalt unserer Eindrücke und Erlebnisse zu ordnen und zu interpretieren. Wir versuchen, trotz lauter Bäumen, den Wald zu sehen.

Auch die Soziologie sucht nämlich nach Ordnungen und Deutungen. Sie versucht, in den alltäglich erlebten Vorgängen »Gewebe aus immer wiederkehrenden Verhaltensmustern« (Berger & Berger) zu erkennen und hierbei die Bedingungen zu erschließen, unter denen Menschen zusammen leben und arbeiten. Und sie untersucht darüber hinaus die mehr oder weniger konstanten Beziehungsformen oder »Netzwerke«, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Gruppe, zwischen Gruppen und Gesellschaft entstehen, mehr oder weniger lange andauern, abgeschwächt oder verstärkt werden, sich verändern oder sich auch wieder ganz auflösen.

Wie wir noch sehen werden, sind also sowohl die menschlichen Individuen wie die von ihnen geschaffenen Gemeinschaften bzw. (fachlicher ausgedrückt:) »sozialen Systeme« (von Kleingruppen über Organisationen bis hin zu ganzen Gesellschaften) zentrale Themen der Soziologie. Einerseits geht es hierbei der Soziologie um die Erforschung menschlichen Handelns und Verhaltens im Allgemeinen sowie zwischenmenschlicher Interaktionen, Kommunikationen und sozialer Beziehungen im Besonderen; zum anderen untersucht sie die Entstehungsbedingungen sowie die grundlegenden Entwicklungsprozesse und Veränderungen unserer modernen sozialen Welt. Diese soziale Welt werden wir dabei als ein strukturiertes Gebilde erkennen, das in höchst komplexer Weise aus unzähligen Gewebsmustern zusammengesetzt (d. h. »vernetzt«) ist und das in unterschiedlicher Weise unsere Beziehungen zueinander bestimmt. So ist das Netz unseres noch unmittelbar überschaubaren Lebenskreises (z. B. Familie, Freundeskreis) in größere, schon komplexere soziale Gebilde (z. B. Verwandtschaft, Nachbarschaft, Hochschule oder Arbeitsplatz, Verein oder Freizeitgruppen) eingebunden, diese in zunehmend unübersichtliche, ja oft unsichtbare, zuweilen aber auf höchst reale Art und Weise wirksame Netzwerke (wie z. B. Gemeinde, Berufsorganisationen, Kirchen, Parteien, Wirtschaft, Staat) verwickelt – bis hin zu einer fließenden Grenze (z. B. deutsche Sprachgruppe, Europäische Gemeinschaft, Industrienationen, westliche Hemisphäre,… »Weltgesellschaft«), an der die Verknüpfungen und Verbundenheiten immer schwächer werden oder ganz abbrechen.

Kurz und bündig formuliert: Soziologie befasst sich mit dem Zusammenleben der Menschen, ihrem zwischenmenschlichen Handeln und Verhalten und sucht dabei die gesellschaftlichen » Webmuster« und Verknüpfungszusammenhängedie Strukturen, Funktionen und Prozesse der verschiedenen sozialen Systeme (einschließlich deren Rückwirkungen auf das Individuum)zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Peter L. Berger, (2011): Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive. (Darin insbesondere Kapitel 1 »Soziologie als Fröhliche Wissenschaft«, S. 21–43 und Kapitel 2 »Soziologie als Bewusstsein«, S. 45–72). UVK: Konstanz.

1.2Die Gesellschaft als Erfahrungsfeld: Fallstricke des Alltagswissens und die soziologische Suche nach Ursachen

Es gibt Kritiker der Soziologie, die behaupten, Soziologie sei die Kunst, eine Sache, die eigentlich jeder versteht, so auszudrücken, dass sie keiner mehr kapiert. Soziologie wäre damit der Missbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Dieser geläufige Vorwurf beinhaltet einen formalen und einen inhaltlichen Aspekt.

 Was die formale Seite soziologischer Aussagen betrifft, so muss man auch als berufsmäßiger Soziologe zugeben, dass manche Fachvertreter durch ihren »Soziologenjargon« Sprach- und Verständnisbarrieren errichten, die in der Tat nicht geeignet sind, die Popularität des Faches zu fördern. Indem künstliche und sachlich nicht mehr vertretbare Kommunikationsschranken zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft aufgebaut werden, deren Erkenntnisse lediglich einer Handvoll »Eingeweihter« mehr oder weniger noch zugänglich sind, erscheint der eigentliche Auftrag von Wissenschaft in Frage gestellt: aufzuklären, Wissen zu vermitteln und damit auch einen Beitrag zum »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) zu leisten. Dort und nur dort, wo sich Soziologen hinter einer abgehobenen Expertensprache verschanzen, erscheint dieser Vorwurf berechtigt. Allerdings ist dies nicht nur ein Problem der Soziologen: »Wissenschaftliches« Imponiergehabe lässt sich auch bei Vertretern anderer akademischer Disziplinen beobachten, die gleichfalls durch übermäßige und unnötige Strapazierung eines elitären Fachjargons ihre »besondere Kompetenz« auszuweisen trachten.Auf der anderen Seite sind jedoch wissenschaftliche Aussagen nicht beliebig vereinfachbar, so dass zugestanden werden muss, dass die Soziologie – wie jede andere Wissenschaft auch – als Handwerkszeug bestimmte Begriffe benötigt, die bestimmte Sachverhalte präziser zu erfassen und zu bezeichnen in der Lage sind als die teilweise unscharfe und »oberflächliche« Begrifflichkeit unserer Umgangssprache. Insofern kommt man auch in der Soziologie um die Einführung und Verwendung spezifischer fachlicher Begriffe nicht herum, so dass die Benutzung von bestimmten Grundbegriffen und die Anwendung einer entsprechenden soziologischen Grammatik nicht nur wissenschaftlich legitim, sondern auch sachlich geboten erscheint.

 Die inhaltliche Seite des einleitend zitierten Vorwurfs wiegt schwerer. Denn in der Tat reden Soziologen oft von Dingen, von denen jeder schon etwas weiß oder zumindest zu wissen glaubt. Anders als etwa bei der Physik oder in der Medizin sind wir Menschen ja im Bereich des »Sozialen« keine unbedarften Anfänger mehr, sondern in gewissem Sinne »Amateursoziologen«, wie schon der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert MacIver (1882–1970) bemerkte. Allein schon aufgrund unserer Biografie verfügen wir über Gesellschaftserfahrung und Alltagswissen, was einen Anspruch auf eine allgemeine soziale Kompetenz zu begründen scheint, – lange bevor die Soziologie als »Wissenschaft vom Sozialen« auf den Plan tritt.Kennzeichnend für diese Art des Alltagsverständnisses ist, dass wir für fast jede Lebenssituation nicht nur bestimmte Rezepte und Strategien zur Verfügung haben, sondern auch in der Regel ganz präzise erklären können, warum beispielsweise Frau Schmidt sich von ihrem Ehemann scheiden lässt, warum die Tina von Müllers in der Schule nicht mitkommt und die Zwillinge von nebenan immerzu streiten und die Verbote des Hausmeisters missachten.

Wie erklären die Leute im Allgemeinen solche Probleme?

Wenn wir uns selbst einmal bei derartigen Gelegenheiten beobachten und kontrollieren könnten oder anderen bei ihren Erklärungen aufmerksam und vielleicht etwas kritischer als üblich zuhörten, würden wir rasch feststellen, dass bei der Konfrontation mit Alltagsproblemen bereits gewisse Vorstellungen über deren Ursachen abgerufen werden. Persönliche Erfahrungen und übernommene Meinungen, allzu oft auch – meist unbewusste – soziale Vorurteile, spielen dabei eine wichtige Rolle. So werden wohl im Hinblick auf bestimmte Probleme in der Regel kaum sorgfältig abgewogene oder wohlüberlegte Gedanken und klare, präzise Kausalketten entwickelt, sondern eher spontane, für »richtig« und »plausibel« gehaltene Deutungen der Situation, die für uns dann »wirklich so ist«, zum Ausdruck gebracht. Die Alltagsprobleme werden von der eigenen Perspektive aus wahrgenommen und von den eigenen Werten, Normen und Überzeugungen her beurteilt. Ausgangspunkt ist jeweils das eigene, für »selbstverständlich« und »natürlich« gehaltene Bezugssystem. Die Sicht des anderen oder dessen Interpretation des Problems bleibt unberücksichtigt. Oft werden (vor-)schnell »Etiketten« verteilt und komplexere Zusammenhänge damit auf bestimmte Beziehungen zwischen Personen oder auf deren angenommene Eigenschaften reduziert. Erfahrungen, die sich solchen Zuschreibungen entziehen, werden dann meist fatalistisch als undurchschaubares Schicksal oder als in der Natur der Sache liegend begriffen.

Der Philosoph und Begründer der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz (1899–1959) bezeichnet unser Alltagswissen als »natürliche Einstellung«, die sich unterscheidet von der wissenschaftlichen Erkenntnis mittels eines spezifischen Erkenntnisstils: In unserer »natürlichen Einstellung« stellen wir die Wirklichkeit nicht in Frage und haben keinen Zweifel, ob die Welt und ihre »Tatsachen« anders sein könnten. Unser Alltagswissen und unser Alltagsverständnis bestimmen also, welche Zusammenhänge bei gewissen Problemfällen in unseren Gesichtskreis rücken, welche Faktoren wichtig sind. Oft wird das Denken dabei von bewertenden Kategorien und absoluten Begriffen wie »gut« und »böse«, »schuldig« oder »unschuldig«, »richtig« oder »falsch« geleitet; zudem werden unsere »Erklärungen« von den durch das Problem ausgelösten eigenen Gefühlen und Eindrücken überlagert und – eben meist unbewusst – gesteuert:

Herr Schmidt ist ja bekannt als recht aufbrausender »Alkoholiker«, die 12-jährige Tina flirtet bereits mit einem »Punker« (was offensichtlich in der Familie liegt, denn die Mutter hat ja seinerzeit auch schon »früh angefangen«), die Zwillinge von nebenan sind »schlecht erzogen« oder vielleicht hat auch der Hausmeister eine »unsoziale Einstellung«, weil er die Kinder nicht auf dem gepflegten Rasen spielen lässt. Für Frau Schmidt ist die Ehe sicher eine einzige Tortur, denn man »weiß« ja, dass Alkoholiker sehr labil sind, sich nicht beherrschen können und sich so ihr Schicksal selbst zuzuschreiben haben. Man »weiß« auch, dass bei »Frühreifen« die Triebhaftigkeit und sexuelle Aktivität im Blut steckt, was man aber durch geeignete Erziehungsmaßnahmen sicherlich in den Griff bekäme. Es ist »ganz offensichtlich«, dass die Nachbarin depressiv ist und mit der Geburt der Zwillinge total überfordert wurde. Und man kennt ja schließlich auch den übereifrigen Hausmeister, der im ganzen Viertel als Kinderschreck gilt.

Dass es sich bei diesen »Eigenschaften« um etwas handelt, das mit der »Veranlagung« der Betreffenden zu tun hat, wird hierbei oft stillschweigend vorausgesetzt. Dass es sich bei den beklagten Verhaltensweisen jedoch gar nicht so sehr um individuelle Veranlagungen handeln könnte, sondern vielleicht eher um Eigenschaften, die sich erst unter ganz bestimmten Bedingungen des Zusammenlebens entwickelt haben, – diese Möglichkeit bleibt meist außerhalb unseres gewohnten Denkhorizonts.

 Oder denken wir daran, dass beispielsweise Alkoholismus weniger ein individuelles Problem ist, insofern dieses Problem ja besonders in Gesellschaften verbreitet ist, die den Alkoholkonsum als Zeichen von Männlichkeit und Lebensfreude ansehen oder auch als Seelentröster und probaten Konfliktlöser empfehlen?

 Denken wir daran, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und bestimmte Ausdrucksformen des Protests (wozu aggressive sowie depressive Formen zu rechnen sind) sich eigentlich erst im Anschluss an ganz bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse in zwischenmenschlichen Beziehungsfeldern (z. B. in der Partnerschaft, in der Familie, in der Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz usw.) bilden?

 Oder denken wir daran, dass – wie beim Beispiel des »unsozialen« Hausmeisters – vielleicht auch eine mangelhafte Wohnungspolitik für Familien oder kinderfeindliche Leitbilder von Architekten, Baugesellschaften und Raumplanern eine Rolle spielen könnten?

Die »Gewissheit« mit der wir aus unserem Alltagsverständnis heraus derartige Probleme beschreiben und erklären, wird eigentlich viel zu selten in Frage gestellt. Daher ist es auch kaum erstaunlich, wie selbstsicher und souverän wir im Umgang miteinander gewissermaßen »aus der Hüfte geschossene« Diagnosen abgeben, ohne die vielen komplexen Umweltbedingungen und Lebenserfahrungen zu kennen, die diese Menschen und ihre Probleme erst zu dem machten, was sie in den Augen der anderen sind.

Hier hat die Soziologie eine kritische und aufklärende Funktion. Sie macht darauf aufmerksam, dass die raschen und intuitiven Zuordnungen und plausibel erscheinenden Zuschreibungen unserer privaten Alltagsinterpretationen nur allzu oft trügerisch sind und den tatsächlichen Problemhintergründen keineswegs gerecht werden. Es genügt nämlich nicht, irgendeine Meinung über ein Problem im zwischenmenschlichen Verhalten von sich zu geben, sondern diese Meinung muss an der konkreten Situation aufgewiesen, belegt und überprüft werden. Manche Erklärungen und Beschreibungen der Soziologie stimmen dann mit unseren bisherigen Meinungen und Überzeugungen nicht mehr überein. Manche beliebte »individualisierende« Denkfigur, manch gesellschaftlich akzeptiertes (und so bisweilen recht nützliches) Argument, manche gewohnte und vertraute Vorstellung von der sozialen Welt wird hierdurch fragwürdig. Indessen: Im Aufwerfen solcher »kontra-intuitiver« Fragen liegt gerade der besondere Nutzen der Soziologie. Oder um es mit Peter Berger (2011, 41) zu formulieren: »Die erste Stufe der Weisheit in der Soziologie ist, dass die Dinge nicht sind, was sie scheinen«.

Indem die Soziologie ihr Erkenntnisinteresse vor allem auf die sozialen Bedingungen richtet, die hinter den beobachtbaren Tatsachen wirksam werden, und indem sie auf die Einbettung vieler Probleme in umfassendere gesellschaftliche Strukturzusammenhänge aufmerksam macht, leuchtet sie Bereiche aus, die vom naiven Alltagsdenken oft ausgeblendet werden oder deren Zugang versperrt bleibt. Damit eröffnet uns die Soziologie neue und rational anregende Sichtweisen, die eine Hilfe sein können für ein besseres Verständnis von uns selbst und von der Gesellschaft, in der wir leben.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Arbeitsgruppe Soziologie (1992): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung. (Darin Kapitel 1 »Die Soziologen – Notorische Besserwisser?«, S. 9–22). Campus: Frankfurt/M.

Peter L. Berger & Thomas Luckmann (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 19. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt«, S. 21–48). Fischer: Frankfurt/M.

Hartmut Esser (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. (Darin Kapitel 3 »Soziologische Forschungsfragen: Fünf Beispiele«, S. 31–37). Campus: Frankfurt/M.

1.3Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft
1.3.1Zum Begrifflichen: Was heißt »sozial«?

Wir haben bisher – ohne besondere semantische Reflexion – die Wörter »sozial« und »soziologisch« benutzt bzw. von der »Soziologie« gesprochen. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll vor unseren weiteren Überlegungen der Bedeutungsgehalt dieser elementaren Begriffe untersucht und unsere Verwendungspraxis erläutert werden.

 Beginnen wir bei dem Wort »sozial«. Hier hat die klassische Feststellung Senecas, dass »es sozial sei, ein gutes Werk zu tun« (»beneficium dare socialis res est«, Seneca, De beneficiis, V. 11) die alltagssprachliche Sinngebung und Benutzung dieses Wortes bis heute beeinflusst.Mit »sozial« in diesem Sinne wird eine ethisch-moralische Haltung angesprochen, wie sie beispielsweise nach christlichem Verständnis in den Seligpreisungen der Bergpredigt zum Ausdruck gebracht wird: Es ist »sozial«, den Armen und Behinderten zu helfen, Witwen und Waisen zu unterstützen, kranke und alte Menschen zu besuchen, Haftentlassenen eine berufliche Chance zu geben, für Katastrophenopfer oder für die Hungernden in der Dritten Welt zu spenden. Dieses Sinnverständnis unterliegt auch noch der »säkularisierten« Redewendung, wenn wir umgangssprachlich von einem »sozialen Typ« sprechen, der heute seinen »sozialen Tag« hat, weil er großzügig einen ausgibt.

 Neben diese menschenfreundliche, durch das christliche Gebot der Nächstenliebe oder einen säkularen Humanismus normativ bestimmte und meist durch eine persönliche Zuwendung zum Ausdruck gebrachte soziale Handlung tritt mit der Entwicklung des modernen Staates, insbesondere mit dem Aufkommen des Industrialismus und des expansiv sich entfaltenden Kapitalismus, ein neuer Bedeutungsgehalt: In der sogenannten »sozialen Frage« verdichten sich jetzt Problembündel, die nicht mehr von Einzelnen aufgrund privater ethisch-moralischer Verpflichtung und fürsorglichen Engagements gelöst werden können, sondern einer gemeinschaftlichen politischen Lösung zugeführt werden müssen. Das Wort »sozial« gewinnt damit eine öffentlich-politische Dimension, ausgedrückt etwa in Wortverbindungen wie »Sozialpolitik«, »Sozialhilfe«, »Sozialreform«, »soziale Revolution«, »soziale Gerechtigkeit« oder »Sozialstaat«.

 In diesem Zusammenhang entsteht auch in programmatischpolitischer Zuspitzung das mit »sozial« verwandte Wort »sozialistisch«. Es bezeichnet die Gesamtheit der Ideen und Bewegungen, die über eine Verstaatlichung der Produktionsmittel und durch eine sozial gerechte Verteilung der Güter an alle Mitglieder der Gesellschaft die Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Ungleichheiten und Klassenverhältnisse anstreben, die durch die kapitalistische Industrialisierung geschaffen wurden (Marx). Wie jedoch auch dieser ursprünglich politisch-aggressive und gesellschaftlich-moralisch aufgeladene Begriff durch die Praxis desavouiert wurde, zeigte sich in der historischen Tatsache, wie sich selbst als »sozialistisch« reklamierende Staaten dann über viele Jahrzehnte mit höchst menschenfeindlichen Mitteln ihre Machtverhältnisse und ihre »neue Klasse« (Djilas) zu erhalten trachteten.

 Neben dem moralischen und politischen Gebrauch des Wortes »sozial« im Sinne von »dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend, die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regelnd und fördernd und den (wirtschaftlich) Schwächeren schützend« (Duden 1980, 2431) erfährt dieser Begriff nun allerdings in seiner wissenschaftlichen (soziologischen) Verwendung eine entscheidende Erweiterung des Bedeutungsrahmens. Ausgehend von der Grundtatsache, dass der Mensch als »soziales Wesen« von anderen Menschen in hohem Maße abhängig ist, nur in Gemeinsamkeit vorkommt und nur darin existieren kann, wird als »sozial« hier schlechterdings jedes zwischenmenschliche, wechselseitig orientierte Handeln und Verhalten von Menschen bezeichnet, – gleichgültig, ob es sich um »gute« Taten oder »schlechte« Formen des Miteinanderumgehens, um moralische Verbundenheiten oder unmoralische Verhaltensakte handelt. Es bezeichnet also nicht nur Werke der Nächstenliebe und Fürsorge oder der produktiven Kooperation, sondern ebenso Akte der Gleichgültigkeit und Ablehnung, der Inhumanität und Grausamkeit, des Wettbewerbs, der Auseinandersetzung oder des offenen Konflikts. In deutlichem Gegensatz zum normativen Alltagsgebrauch wird durch die bewusste Ausscheidung von einseitig positiven Bewertungen und Gefühlen der wissenschaftliche Begriff des »Sozialen« wertneutral benutzt. Sozial in diesem Sinne sind nach einer Umschreibung einer der Pioniere der amerikanischen Soziologie, Edward A. Ross (1866–1951) »alle Phänomene, die wir nicht erklären können, ohne dabei den Einfluss des einen Menschen auf den anderen einzubeziehen« (Ross 1905, 7, zit. nach Jager & Mok, 1972, 22).

»Das Soziale in diesem Verständnis kann schöne und schreckliche Züge haben. Moralisch gesprochen kann es menschliche und unmenschliche Züge tragen; sozialwissenschaftlich gesehen ist es in jedem Falle menschlich, weil es zwischen Menschen geschieht, von ihnen gewollt und ausgeführt wird. Eine im moralischen Sinne unsoziale Handlung kann also im wissenschaftlichen Sinne durchaus sozial sein, weil das Wort als wissenschaftlicher Begriff die zwischen Menschen geschehenden Handlungen beobachtet und sehr viele Handlungen gar nicht in den Blick der Wissenschaft gerieten, wenn nur die moralisch ›sozialen‹ beobachtet, die moralisch ›unsozialen‹ wegen wertmäßiger Anschauungen der Wissenschaftler nicht beachtet würden. Die neutrale Bedeutung des Wortes ›sozial‹ ermöglicht also bessere Erkenntnis.« (Deichsel 1983, 20ff.).

1.3.2Was sich Soziologen unter »Soziologie« vorstellen

Für die neutrale Beschreibungsart menschlichen Handelns und Zusammenlebens verwendete zum ersten Mal (1837) der französische Sozialphilosoph Auguste Comte (1798–1857) »faute de mieux« den Namen »Soziologie«.

Comte selbst war über diesen, seiner Ansicht nach recht uneleganten lateinisch-griechischen »Wortbastard« (von lat. socius = Gefährte, Geselle, Mitmensch; griech. logos = Wort, Vernunft, Lehre) alles andere als glücklich. Denn eigentlich wollte er sein neu geschaffenes wissenschaftliches System – angeregt von Saint-Simon (1760–1825) und in Anlehnung an die ihn faszinierenden Naturwissenschaften und deren methodisch strenge empirische Ausrichtung – »Physique sociale« nennen. Doch sein akademischer Gegenspieler, der belgische Statistiker Adolphe Quetelet (1796–1874) veröffentlichte kurz zuvor (1835) eine Untersuchung unter eben diesem Titel und »stahl« ihm so, wie Comte bitter bemerkt, seine originäre Begriffsidee und »missbrauchte« sie als »einfache Statistik«. Die Bezeichnung »Soziologie« als die »Lehre vom Sozialen« oder als die »Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenleben« setzte sich jedoch in der Folgezeit gegenüber der Sozialphysik durch, zumal dann auch Herbert Spencer 1873 diesen Begriff aufnahm und »Sociology« in die englischsprachige Literatur einführte. Ja selbst in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, in denen Gesellschaftslehre als »wissenschaftlicher Sozialismus« betrieben wurde, gewann die ursprünglich als »bürgerlich« verfemte Bezeichnung Soziologie zunehmend an Raum, wenn auch unter der unmissverständlich programmatisch-ideologischen Einengung als »marxistisch-leninistische Soziologie«. Dies zeigt allerdings auch, dass Soziologie aufgrund weltanschaulicher, wissenschaftstheoretischer oder methodologischer Orientierung recht unterschiedlich aufgefasst und definiert werden kann.

Als »Lehre vom Sozialen« erforscht Soziologie das menschliche Zusammenleben bzw. das zwischenmenschliche Verhalten, beschäftigt sich mit der Gesellschaft und mit den in ihr lebenden Menschen. Diesen Gegenstand teilt sich die Soziologie allerdings auch mit anderen Sozialwissenschaften, wie etwa der Sozialpsychologie, der Kulturanthropologie und Ethnologie, der Demographie, der Ökonomie, der Politologie, der Erziehungswissenschaft, der Jurisprudenz und der Geschichtswissenschaft, neuerdings auch mit der Kommunikationswissenschaft, der Stadt- und Raumplanung oder der Friedens- und Zukunftsforschung. Wenn wir darum die Soziologie charakterisieren wollen, genügt es nicht, nur ihr Untersuchungsobjekt zu nennen. Vielmehr müssen wir deutlich machen, in welcher typischen Art und Weise, mit welcher besonderen Fragestellung, mit welcher spezifischen Perspektive und mit welchen Methoden und Regeln sie an ihren Gegenstand als Sozialwissenschaft herangeht.

Der deutsche Soziologe Alfred Vierkandt (1867–1953) spricht dabei von einer »soziologischen Denkweise, die alle menschlichen Tätigkeiten und Erzeugnisse in Beziehung setzt zu der menschlichen Gesellschaft, der ihre Träger angehören und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit von dieser auffasst« (Vierkandt 1928, 14). Das zentrale Bemühen dieser Versuche ist es, analytisch den »sozialen Faktor« zu isolieren und von der Zurückführung »sozialer Tatsachen« auf irgend etwas Nichtsoziales abzusehen, d. h. – wie der berühmte französische Soziologe Emile Durkheim (1858–1917) es ausdrückt – »Soziales nur durch Soziales zu erklären«.

Es gibt dabei ziemlich viele konkurrierende Definitionen von »Soziologie«. Böse Zungen behaupten, es gehöre zum professionellen Lebenswerk eines jeden echten Soziologen, eine eigene Begriffsbestimmung seines Fachs zu entwickeln. Dass es keine allgemein anerkannte, verbindliche und umfassende Definition von Soziologie gibt, hängt jedoch eng mit der Tatsache zusammen, dass nahezu alle Gegenstände und Erfahrungen unseres täglichen Lebens einen soziologischen Bezug aufweisen und deshalb eine Aufzählung bzw. Abgrenzung der Gegenstandsbereiche der Soziologie praktisch unmöglich ist. Eher lässt sich die »soziologische Denkweise« oder die »soziologische Perspektive« als professionelles Neugierverhalten charakterisieren, hinter die scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Rätsel unseres Alltags zu schauen und die damit verbundenen Erfahrungen aus kritischer Distanz zu beschreiben, zu hinterfragen und zu erklären. In diesem Sinne lässt sich Soziologie pragmatisch definieren als »das systematische und kontrollierte Beobachten und Erklären von regelmäßig auftretenden sozialen Beziehungen, von ihren Ursachen, Bedingungen und Folgen« (Seger 1970, 13).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Günter Endruweit (1998): Der Begriff der Soziologie. In Ders., Beiträge zur Soziologie. Bd. II. S. 14–34. Causa: Kiel.

Hermann L. Gukenbiehl (2010): Soziologie als Wissenschaft. Warum Begriffe lernen? In Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 8. Aufl. S. 11–22. VS: Wiesbaden.

Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl. (Darin Stichwort »Soziologie« mit weiteren Literaturhinweisen). Kröner: Stuttgart.

1.3.3Soziologie und soziale Probleme

Die Bezeichnungen sozial und soziologisch werden oft verwechselt. Etwa wenn ein Politiker von der »soziologischen« Struktur einer Gemeinde spricht oder von einem Journalisten in einem Pressebericht über Arbeitslosigkeit vermutet wird, dass hier »soziologische« Faktoren im Spiel seien. »Soziologisch« bedeutet jedoch im eigentlichen Sinne »gesellschaftswissenschaftlich«, d. h. von den Erkenntnissen, Begriffen, Theorien, kurz vom Bezugssystem der Soziologie her gesehen. Gemeint ist aber »sozial« im Sinne von »gesellschaftlich«, so dass also in derartigen Fällen sachlich richtig von der sozialen Struktur und von sozialen Faktoren gesprochen werden muss. Entsprechend ist deshalb ein soziales Problem keineswegs auch immer ein soziologisches und umgekehrt betreffen soziologische Fragestellungen entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis durchaus nicht immer soziale Probleme.

 Ein soziales oder gesellschaftliches Problem liegt meist dann vor, wenn eine Diskrepanz (Widerspruch) zwischen den gesellschaftlichen Normen und Zielvorstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen besteht (z. B. im Falle von Devianz und Kriminalität) oder wenn eine unvorhergesehene oder unvorhersehbare Situation eintritt, die in der Gesellschaftsordnung (noch) nicht geregelt ist (wie beispielsweise Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und gleichzeitige Verlagerung von Arbeitsplätzen durch inländische Unternehmen in Billiglohnländer).

 Eine soziologische Fragestellung liegt dagegen erst dann vor, wenn bestimmte gesellschaftliche Problemlagen, Zustände und Prozesse erklärt werden sollen. Wenn also ein Soziologe ein soziales Problem bearbeiten soll, muss er es zunächst in eine soziologische Frage »übersetzen«; erst dann kann er mit seinem Handwerkszeug, d. h. mit seinen Begriffen, Theorien und Untersuchungsmethoden, das Problem erfassen, beschreiben und zu erklären suchen. Hierbei wird schon deutlich, dass ein bestimmtes soziales Problem, auch nachdem es soziologisch geklärt ist, durchaus als soziales Problem weiter bestehen kann. So können beispielsweise Soziologen in Bezug auf das soziale Problem der Chancengerechtigkeit im Bildungswesen schon seit den 1970er-Jahren und nicht erst seit den international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen der OECD (PISA-Studien) der letzten fünfzehn Jahre auf die Wirkung der sozialen Herkunft aufmerksam machen und auch empirisch nachweisen, dass das Schulsystem durch seine typische »Schulkultur« insbesondere im Sprachverhalten Schüler aus mittleren und oberen Schichten begünstigt. Vielmehr konnten Bildungssoziologen auch schon seit Langem darauf aufmerksam machen, wie sehr Lehrerurteile über Eignung und Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schüler von typologischen Vorstellungen und impliziten Persönlichkeitstheorien beeinflusst werden können, in die auch leistungsfremde, kaum objektivierbare Beurteilungsbestandteile eingehen und inwiefern auch solche Schülertypologien wiederum stark schichten- und milieuspezifisch orientiert sind. Den betroffenen Kindern helfen solche theoretischen Erklärungen zunächst wenig, denn das soziale Problem der Benachteiligung bleibt ja zunächst weiter bestehen. Ähnlich verhält es sich bei dem allseits bekannten und nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch vielfach erforschten Problem der Umweltverschmutzung durch CO2- und Feinstaub-Emissionen. Die Analysen sind klar, und Umweltschutz gilt weithin als dringend geboten. Geht es aber an die praktisch zu ziehenden Konsequenzen wie die Einschränkung der gewohnten Lebensführung, ist nach wie vor mit erheblichen Widerständen zu rechnen.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Günter Albrecht (1981): Einführung zum Thema »Konstitution sozialer Probleme«. In Joachim Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen. Campus: Frankfurt/M.

Axel Groenemeyer (2012): Soziologie sozialer Probleme – Fragestellungen, Konzepte und theoretische Perspektiven. In Günter Albrecht & Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, 2. Aufl., S. 17–116. VS: Wiesbaden.

Günter Hartfiel (1981): Soziale Schichtung. 2. Aufl. (Darin Kapitel 6 »Soziale Schichtung und Erziehung«, S. 133–171). Juventa: München.

1.4Wozu kann man Soziologie brauchen?
1.4.1Soziologie als Missverständnis

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Nutzen der Soziologie für die gesellschaftliche Praxis. Unter dem noch unmittelbaren Eindruck der internationalen Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre bemerkte die Soziologin Imogen Seger (1970, 11): »Wer in den letzten Jahren die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgt hat, der muss zu der Ansicht kommen, die Hauptbeschäftigung der Soziologiestudenten sei es, die Revolution inner- und außerhalb der Universitäten vorzubereiten, und die Hauptbeschäftigung ihrer Professoren sei es, sie dabei zu ermuntern.«

In der Tat hatten manche Politiker und Kommentatoren einen guten Anteil an den landläufig recht gängigen Klischees, Soziologie habe etwas mit Revolution und Sozialismus oder gar Kommunismus zu tun. Sie vermuteten einen Zusammenhang zumindest zwischen einer bestimmten soziologischen Denkweise (gemeint war vor allem die »Kritische Theorie« der sogenannten »Frankfurter Schule« der Soziologie) und radikalen jungen Leuten, die vorgeben würden, Gesellschaftswissenschaften zu studieren, in Wirklichkeit aber auf Kosten der Steuerzahler in Hörsälen und auf Straßen randalieren oder gar terroristische Gewaltakte planen und durchführen.

Dieses verallgemeinernde Vorurteil entzündete – und entzündet sich immer wieder vor allem an der Beobachtung, dass Soziologie offenbar nicht nur für jene Studentinnen und Studenten anziehend und anregend wirkt, die die Gesellschaft, in der sie leben, verstehen wollen, sondern auch für solche höchst attraktiv erscheint, die die gesellschaftlichen Ordnungen radikal in Frage stellen und auch grundsätzlich verändern möchten, für jene also, die sich in der Soziologie eine Art Revolutionswissenschaft erhoffen und die hierbei Denkmodelle bestimmter Gesellschaftstheoretiker mit politischen Aktionsprogrammen verwechseln.

Oft zählen zur letzten Gruppe vor allem jene, die »ein bisschen Soziologie studiert« haben, bald aber angesichts der Studienanforderungen von Statistik und Methodenlehre oder der Pflichtkurse über soziologische Grundbegriffe und Theorievergleiche abgeschreckt werden und der »praxisfernen« universitären Soziologie enttäuscht den Rücken kehren. Dies hindert sie jedoch nicht, unter Hinweis auf ihre soziologischen Erkenntnisse (die wohl eher den Charakter von Bekenntnissen haben), zu glauben, die Gesellschaft »in den Griff« zu bekommen und damit die Hoffnung verbinden, sie grundlegend verändern zu können, um sie so von allem Übel zu befreien. Ein bisschen Soziologie ist jedoch ebenso wie ein bisschen Wahrheit eine gefährliche Sache. Bloße Gesellschaftskritik und darauf beruhendes »politisches« Handeln ohne fundierte Information und gründliches Studium gesellschaftlich-politischer Zusammenhänge hat eine unbehagliche Nähe zum Vorurteil, zum pauschalisierenden Rundumschlag und zum irrational-eifernden Aktivismus.

Wer sich indessen auf die moderne Soziologie ernsthaft einlässt, wird sehr rasch feststellen müssen, dass sie als Ersatzreligion überhaupt nicht taugt. Soziologie »ist kein Ersatz für verlorene Identifikationen, keine begleitende Sinngebung für Handlungen, sondern schlicht Erkenntnis der Zusammenhänge in ihrem Problemfeld« (Jonas 1981, 12). Ihre empirischen und theoretischen Ergebnisse entziehen sich von ihrem Anspruch her explizit allen »schrecklichen Vereinfachungen« und lassen sich auch faktisch – z. B. im Hinblick auf geplante soziale Aktionen – nur äußerst sperrig handhaben.

So beachtlich die methodologischen und analytischen Fortschritte der Soziologie mittlerweile auch sein mögen, so vorsichtig sind seriöse Sozialwissenschaftler dennoch im Umgang mit handlungsleitenden Prognosen oder gar handlungsanweisenden Rezepten. Statt von Gewissheiten reden Soziologen heute lieber von Wahrscheinlichkeiten, wie überhaupt die meisten soziologischen Aussagen den Charakter von Wahrscheinlichkeitsaussagen haben. Dies vor allem deshalb, weil Soziologen die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Untersuchungsgegenstände höchst dynamisch und unberechenbar sind, ja dass im gesellschaftlichen Bereich fast jede Wirkung eine oft überraschende und unvorhersehbare Gegenwirkung auslösen kann.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Imogen Seger (1970): Knaurs Buch der modernen Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Soziologen und Soziologie«, S. 11–17). Droemer: München, Zürich.

Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin das Kapitel 5/4 »Gesellschaftsideale und Gesellschaftswirklichkeit«, S. 182– 188). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.

1.4.2Strukturen soziologischen Denkens und Forschens

Trotz der vorgenannten Einschränkungen hat die Soziologie für unseren Alltag dennoch wichtige Funktionen zu erfüllen, wie wir im Folgenden sehen können. Die in diesem Zusammenhang immer wieder neu gestellten Fragen

 Was ist eigentlich Soziologie?

 Wozu ist Soziologie nütze?

 Was kann die Soziologie leisten?

 Was bietet sie uns?

lassen sich dabei allerdings nicht ganz so einfach und bündig beantworten, weil es die Soziologie im strengen Sinne eigentlich nicht gibt, sondern immer nur Soziologen verschiedener Schulen und Denkrichtungen. Abgesehen von differenten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Zugängen kommt dann deren Verständnis von Soziologie auch in ihren jeweiligen Lehr- und Forschungsprogrammen zum Ausdruck und lässt sich systematisch etwa so strukturieren:

 Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln und zwischenmenschlichen Verhalten;

 Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Institutionen und Organisationen;

 Soziologie als Wissenschaft von der Gesamtgesellschaft und deren Stabilität und Wandel;

 Soziologie als Wissenschaft von den Ideen über die Gesellschaft und als Ideologiekritik.

Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen werden nichts anderes als verschiedene Ebenen der recht komplizierten sozialen Wirklichkeit angesprochen. Ausgehend vom Menschen als soziales Wesen und seinen auf andere gerichteten bzw. an anderen orientierten Handlungen und Verhaltensweisen weisen diese unterschiedlichen Analysedimensionen auf soziologisch unterscheidbare Einflussgrößen und Kontexte hin, was man grafisch vereinfacht so darstellen kann:

Abb. 1: Soziologie als Sozialwissenschaft


Wenn also Soziologen versuchen, Situationen unseres Alltags zu verstehen und zu analysieren, dann versuchen sie, diese Situationen in einen größeren, überindividuellen Zusammenhang zu stellen. Indem die Soziologen das Individuum, das es – per definitionem – als isoliertes Wesen gar nicht gibt, immer als ein soziales Wesen begreifen, suchen sie nach überindividuellen Einflussgrößen und entpersonalisierten Kontextbedingungen von dessen Lebensweise.

Seriös kann man das nur tun, wenn man einerseits das soziale Individuum mit anderen Individuen in der Gesellschaft vergleicht und andererseits zusätzlich noch weitere Ebenen berücksichtigt, mit denen das soziale Individuum in wechselseitig orientierten (Max Weber) Austauschprozessen verbunden ist, die sein Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen:

 die Ebene von Kleingruppen (= Mikro-Ebene),

 die Ebene von Organisationen (= Meso-Ebene),

 die Ebene der Gesellschaft (= Makro-Ebene) und

 die Ebene der einer Gesellschaft allgemein zugrunde liegenden Ideen und Ideologien (= Meta-Ebene).

Die Mikro-Ebene wird entsprechend von der Mikrosoziologie untersucht, die mit der Phänomenologie und der Sozialpsychologie eng verwandt ist. Sie befasst sich vor allem mit den Grundbedingungen und -formen sozialen Handelns und Verhaltens im sozialen Nahbereich der sogenannten face-to-face-Beziehungen (z. B. Familie, Freundeskreis). Darüber hinaus erforscht sie aber auch die Prozesse der Wahrnehmung und Interpretation sowie Aneignung und Auseinandersetzung des Individuums mit der es umgebenden Kultur sowie mit gesellschaftlichen Rollen und Normen einschließlich der von den sozialen Normierungen abweichenden Verhaltensweisen. Typisch mikrosoziologische Theorien sind beispielsweise der sogenannte »Symbolische Interaktionismus«, die »Verstehende Soziologie« oder die vom Behaviorismus ausgehende verhaltenstheoretische Soziologie.

Die Meso-Ebene wird vor allem über organisationssoziologische Ansätze erhellt, wobei einzelne Untersuchungen oder vergleichende Darstellungen sowohl den zweckorientierten, d. h. planmäßig gestalteten (Autoritäts-) Strukturen und (Interaktions-)Prozessen in Organisationen (z. B. Industriebetrieben, Verbänden, Parteien, Kirchen, aber auch Bildungsinstitutionen wie Schulen u. a.), wie auch den informellen Prozessdynamiken und -strukturen solcher sozialen Gebilde ihre analytische Aufmerksamkeit schenken.

Der Makro-Ebene wendet sich die sog. Makrosoziologie zu; sie analysiert sowohl große soziale Einheiten und gesamtgesellschaftliche Prozesse wie auch Austauschprozesse zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen (z. B. Wirtschaft, Politik, Bildung). Besonders thematisiert sie dabei die jeweiligen Sozialstrukturen wie Stände, Kasten, Klassen, Schichten oder Milieus. Die damit verbundenen stabilisierenden Bedingungen (»was hält Gesellschaft zusammen?«) bzw. evolutionären oder revolutionären Wandlungsprozesse (»wodurch wird Gesellschaft verändert?«) sind im allgemeinen Gegenstand ihrer Forschung. Grundlegende theoretische Ansätze (Paradigmen) der Makrosoziologie sind z. B. der Struktur-Funktionalismus, die Systemtheorie oder die Konflikttheorie.

Die Meta-Ebene schließlich, die die sozialen Objektivationen gesamtgesellschaftlich übergreifender Norm- und Wertstrukturen, also den ideologischen »Überbau« von Gesellschaften beinhaltet, wird fachlich von der sogenannten Wissenssoziologie bzw. der soziologischen Ideologiekritik bearbeitet.

Wie bei den meisten typologischen Versuchen ist auch diese Aufteilung unserer sozialen Welt in die vier Kernbereiche Kleingruppe, Organisation, Gesellschaft und Ideenwelt eine in erster Linie analytische Trennung und methodische Unterscheidung bzw. ein Versuch fachsoziologischer Strukturierung. In Wirklichkeit sind alle vier Ebenen voneinander abhängig, durchdringen sich gegenseitig und sind deshalb auch in soziologischen Beschreibungs- und Erklärungsversuchen soweit wie möglich theoretisch und empirisch miteinander zu verbinden. Eine diese verschiedenen Bereiche integrierende allgemeine soziologische Theorie sozialer Systeme wurde zwar in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie von einigen großen Soziologen wie z. B. Talcott Parsons (1902–1979) oder Niklas Luhmann (1927–1998) immer wieder versucht, steht jedoch indessen als schlüssige und auch generell akzeptierte »Allgemeine Theorie« noch aus.

Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Verwertung soziologischen Wissens sind überdies die sogenannten materiellen oder »Bindestrich-Soziologien« weit interessanter als die vorgenannten eher theoretischen Differenzierungen und Strukturierungen. Hierbei handelt es sich um problemorientierte Detailforschung in gesellschaftlichen Teilbereichen, die auch inzwischen zu einer ausgeprägten professionellen Spezialisierung innerhalb der Soziologie geführt hat. Solche speziellen und auch weitgehend universitär in einschlägigen Lehrstühlen etablierten Soziologien sind zum Beispiel

 Bevölkerungssoziologie,

 Migrationssoziologie,

 Politische Soziologie,

 Soziologie der Entwicklungsländer,

 Ethnosoziologie,

 Familiensoziologie,

 Soziologie der Ehe und Partnerschaft,

 Soziologie der Kindheit und Jugend,

 Soziologie des Alters,

 Erziehungs- und Bildungssoziologie,

 Pädagogische Soziologie,

 Geschlechtersoziologie,

 Religionssoziologie,

 Soziologie des Lebenslaufs,

 Soziologie der Behinderten,

 Soziologie der Freizeit,

 Agrarsoziologie,

 Gemeinde-, Stadt- und Regionalsoziologie,

 Architektursoziologie,

 Kommunikations- und Netzwerk-/Internetsoziologie,

 Organisations- und Managementsoziologie,

 Industrie- und Betriebssoziologie,

 Arbeits- und Berufssoziologie,

 Techniksoziologie,

 Wirtschafts- und Konsumsoziologie,

 Medizinsoziologie,

 Rechtssoziologie,

 Kriminalsoziologie,

 Kultursoziologie,

 Kunstsoziologie,

 Musiksoziologie,

 Literatursoziologie,

 Sportsoziologie,

 Konfliktsoziologie,

 Militärsoziologie,

 Soziologie der Freizeit,

 Wissenssoziologie,

und nicht zuletzt auch gewissermaßen als »Meta-Disziplin« die

 Soziologie der Soziologie.

Der Wissens- und Forschungsstand in diesen speziellen Soziologien, die untereinander auch theoretisch und empirisch mehr oder weniger verknüpft werden, ist recht unterschiedlich. Einige dieser Teildisziplinen, die bereits auch mit eigenen »Sektionen« innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vertreten sind, verfügen bereits über einen sehr großen Fundus an empirischen Untersuchungen und theoretischen Konstrukten, andere sind noch relativ jung und haben eher den Charakter von »Orchideenfächern«. Neben persönlichen Neigungen ist das unterschiedlich starke Interesse von Soziologen an diesen materiellen Spezialisierungen sicher u. a. auch als Reflex entsprechender gesellschaftlich und politisch aktueller Problemlagen, vielleicht auch sogar manchmal als eine Art lokal und temporär gebundene »Wissenschaftsmode« zu interpretieren.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Johann Binder (1986): Vom Nutzen der Bindestrich-Soziologien. In Bulletin 54 der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, S. 8–10.

Günter Endruweit, Gisela Trommsdorff & Nicole Burzan (Hrsg.) (2014): Wörterbuch der Soziologie. 3. Aufl. (mit lexikalischen Informationen zu einzelnen Speziellen Soziologien). UVK: Konstanz.

Harald Kerber & Arnold Schmieder (Hrsg.) (1991): Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung, (insbes. S. 62–104). Rowohlt: Reinbek.

Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.) (1997): Einführung in Praxisfelder der Soziologie. (Mit Kurzdarstellungen der wichtigsten Speziellen Soziologien.) 2. Aufl. Leske + Budrich: Opladen.

1.4.3Funktionen soziologischer Erkenntnis

Auf unsere Ausgangsfrage nach den Aufgaben und dem Nutzen der Soziologie zurückkehrend, lässt sich zusammenfassend sagen, dass verschiedene Soziologen in Nuancen, Akzentsetzungen, im Grad der Konkretheit sowie in Abhängigkeit von ihrem »strukturellen« Erkenntnisinteresse wohl unterschiedliche Antworten geben werden. Gemeinsam ist ihnen aber die Überzeugung, dass wir durch soziologisches Denken und Forschen bessere Einsichten in die mannigfaltigen Formen und Prozesse unseres zwischenmenschlichen Zusammenlebens erhalten werden, als uns dies durch bloße Alltagserfahrung je möglich sein wird.

Bei der Durchsicht der einschlägigen soziologischen Literatur lassen sich hierbei quer zur Pluralität der verschiedenen Erkenntniszugänge verschiedene funktionale Wirkungen der Soziologie ausmachen:

 Indem Soziologie versucht, die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Lebenslagen in ihrer Entstehung und Entwicklung, in ihrem Zusammenhang und in ihrer ideologischen Begründung sowie mit ihren Macht- und Herrschaftsansprüchen einsichtig und transparent zu machen, verfolgt sie zweifellos zunächst eine aufklärende und informierende Funktion.

 Da sie darüber hinaus den Menschen helfen will, die Motive, Bedingungen und Folgen ihres Verhaltens und Handelns zu erkennen und sie über diese Einsichten dazu befähigen möchte, ihren Zielen entsprechend rational zu handeln, erfüllt sie auch eine diagnostische und pädagogische Funktion.

 Daneben hat die Soziologie von Anfang an – wenn auch nicht in dem einleitend beschriebenen vulgären Missverständnis – immer auch eine kritische Funktion und eine prognostische Absicht begleitet. Als kritische Wissenschaft ist sie »verpflichtet auf das sapere aude, auf die Distanz gegenüber geltenden Werten und Institutionen« (Jonas 1981, 12). In diesem Sinne möchte sie anhand der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und der Bedingungen ihrer Verwirklichung ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Status quo erzeugen, bestimmte Missstände in herrschenden Zuständen aufzeigen und möglichst rationale Alternativen des sozialen Handelns entwerfen. Langfristiges Ziel dabei ist es, durch methodisch gesicherte Erklärungen zu versuchen, hinsichtlich künftig zu erwartender oder auch bewusst angestrebter Veränderungen sozialer Bedingungszusammenhänge Prognosen über erwünschte oder unerwünschte gesellschaftliche Wirkungen beim Einsatz verschiedener Mittel aufzustellen.

 Schließlich soll auch die potenziell gesellschaftlich affirmative Stabilisierungs- und Konservierungsfunktion von Soziologie nicht unterschlagen werden. Insbesondere in stark ideologisierten, fundamentalistischen und rationalen Zielen gegenüber nicht offenen Gesellschaften findet Soziologie – wenn sie überhaupt als wissenschaftliche Disziplin toleriert wird – oft nur insoweit Unterstützung und Entfaltung, als sie sich in der Analyse und Beschreibung auf das gesellschaftlich Bestehende beschränkt und die Interessen und Privilegien von herrschenden Gruppen durch unkritische Anwendung soziologischen Wissens zu unterstützen geneigt ist. In diesem Sinne kann Soziologie auch zur Zementierung der jeweils herrschenden Zustände missbraucht werden.

Wenn die Soziologie – wie wahrscheinlich jede andere Denkrichtung auch – letztlich nicht gefeit ist gegen bestimmte ideologische Uminterpretationen und Missverständnisse im Sinne einer revolutionären Heilslehre oder einer letztlich nur noch vorgegebenen administrativen Zielen dienenden Hilfswissenschaft, so kann sie sich dennoch jenseits dieser extremen Positionen für alle, denen Wissenschaft nicht Selbstzweck bedeutet, sondern die von ihr einen praktischen Nutzen zum Wohle der Menschen erwarten, vor allem aus folgenden drei Gründen (Behrendt 1962, 17 f.) empfehlen:

 Sie hilft, einzelne Erlebnisse und Beobachtungen nicht isoliert – und damit ohne Aussicht auf Verständnis ihrer Ursachen und Bedeutung – zu sehen, sondern sie als Teil umfassender gesellschaftlicher Strukturen, u. a. als Auswirkungen von Wertsystemen, Schichtungsordnungen und sozial-kulturellen Milieus interpretierend zu verstehen.

 Sie hilft, die Relativität der Werte und Verhaltensweisen der eigenen Umwelt und Zeit zu erkennen und fördert damit die Fähigkeit – und zuweilen auch die Bereitschaft –, die Verhaltensweisen von Angehörigen anderer Sozialgebilde und Kulturkreise zu verstehen und sich einfühlend in ihre Lage zu versetzen.

 Sie hilft, den dynamischen Charakter von Verhaltensweisen und Gesellschaftsstrukturen insbesondere in unserer Zeit verständlich zu machen und hiermit die Panik zu bekämpfen, die aus mangelndem Verständnis komplizierter und sich rasch wandelnder gesellschaftlicher Strukturen entspringt. So kann Soziologie die Wurzeln aufdecken, aus denen die Tagesereignisse entspringen und aus deren Kenntnis diese dann besser verstanden und gelassener bewältigt werden können.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin die »Einführung«, S. 11–35). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.

Joachim Fritz-Vannahme (Hrsg.) (1996): Wozu heute noch Soziologie? (= Beiträge der Wochenzeitung DIE ZEIT unter dem Serientitel »Der Streit um die Soziologie«). Leske + Budrich: Opladen.

Anthony Giddens (2009): Soziologie. 3. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Was ist Soziologie?«). Nausner: Graz, Wien.

1.5Einige Vorväter und Begründer: Soziologie als Krisenwissenschaft
1.5.1Die lange Vorgeschichte:Von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Gelegentlich mag der Eindruck entstehen, Soziologie sei eine hochmoderne, eher geschichtslose Wissenschaft, die sich weder um ihre eigene Geschichte noch um historische Prozesse viel kümmere. Tatsächlich lässt sich aber die Soziologie – zumindest in ihrer Vorgeschichte – zurückführen bis in die Antike und das Mittelalter. Schon Platon, Aristoteles, die Sophisten oder Thomas von Aquin haben sich mit elementaren Problemen des menschlichen Zusammenlebens kritisch auseinandergesetzt.

Der österreichisch-britische Philosoph, Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper (1902–1994) etwa sieht (in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«) »Platons Größe als Soziologe in der Fülle und der Detailliertheit seiner Beobachtungen sowie in der erstaunenswerten Schärfe seiner soziologischen Intuition. Er sah Dinge, die man vor ihm nicht gesehen hatte und die erst in unserer Zeit wieder entdeckt worden sind.« (Popper 1975, I, 68). Wie »modern« Platon (427–347 v. Chr.) in seiner Staats- und Gesellschaftslehre in gewissem Sinne ist, lässt sich beispielsweise an der Wahl seiner Themen erkennen: »Dazu gehören die Prinzipien und Auswirkungen der Arbeitsteilung, die Gefahren des Privateigentums, der Zusammenhang zwischen Luxuskonsum und Expansion des Wirtschaftsraumes, die entfremdenden Folgen der Geldwirtschaft, die Entstehung von Ständen, die Geschichte der Gesellschaft als Geschichte von Standeskämpfen, die Spaltung von Eliten als Voraussetzung von Revolutionen« sowie die Einbindung dieser mehr theoretischen Überlegungen »in einen historischen Zusammenhang, der von der patriarchalischen Viehzüchterfamilie zur Sippenorganisation, [bis hin] zur Dorf- und Städtebildung mit monarchischer Verfassung und gesetztem Recht nach dem Muster eines Gesellschaftsvertrages reicht« (Rüegg 1969, 25). Ähnliche soziologische Perspektiven finden sich auch bereits bei den Sophisten, die die Gesellschaft ihres religiösen Nimbus und metaphysischen Schleiers zu entkleiden suchten und sie als Ergebnis menschlichen Handelns und sozialer Übereinkunft betrachteten.

Auch Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.), dessen Schrift »Politik« nach der Einschätzung des amerikanischen Soziologen Franklin H. Giddings (1855–1931) das bedeutendste Werk ist, das jemals die menschliche Gesellschaft behandelt hat, ist in dem Sinne bereits »modern«, als Aristoteles zur Grundlegung seiner sozialen und politischen Erkenntnisse zunächst auf die sozialphilosophisch üblichen, wertgeladenen Spekulationen verzichtete. Dafür sammelte er erst einmal umfangreiches empirisches Material und versuchte so in seinen Arbeiten bereits jenem Anspruch einer möglichst werturteilsfreien Erfahrungswissenschaft gerecht zu werden, der heute als fundamentale Voraussetzung für soziologisches Denken eingefordert wird. Denn »wer irgendeinen Zweig des Wissens wirklich wissenschaftlich behandeln und nicht bloß auf das Praktische sein Augenmerk richten will, dem kommt es zu, nichts zu übersehen oder unberührt zu lassen, sondern die Wahrheit über ein jedes zu Tage zu fördern« (Aristoteles, Politik, III, 5).

Von Aristoteles stammt übrigens auch jene berühmte Aussage, die später u. a. auch von Thomas von Aquin (1225–1274) wieder aufgegriffen wurde: nämlich dass der Mensch ein soziales Wesen sei (»ánthropos zóon politikón«, Politik, I, 2) – eine Kurzformel, in der im Grunde genommen bereits das spätere Forschungsprogramm der Soziologie enthalten ist, wenn auch ein noch sehr weiter Weg zur Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin blieb. Denn »trotz der überragenden Leistungen des Aristoteles vermochten die Griechen nicht zur Soziologie als einer spezifischen Wissensdisziplin vorzudringen, da ihnen das Vermögen fehlte, zwischen Staat und Gesellschaft deutlich zu unterscheiden, so dass sie die sozialen Beziehungen niemals völlig unabhängig von ihren politischen Aspekten betrachteten, ja im Zweifelsfall dem politischen Aspekt stets Priorität vor dem sozialen einräumten« (Eisermann 1973, 4).

Das Mittelalter führte auf diesem Weg nicht weiter. Die starke Bindung an Autoritäten sowie das vorherrschende Interesse am »Wesen der Dinge«, d. h. an der »richtigen Ordnung« der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer »vollkommenen Gesellschaft« (»societas perfecta«, Thomas von Aquin) standen einer strikt erfahrungswissenschaftlichen und undogmatischen Auffassung von Gesellschaft im Wege.

Relativ isoliert und ohne unmittelbaren Einfluss auf die Soziologie blieb auch der Berber Ibn Chaldun (1333–1406), der – in heute erstaunlicher Aktualität – in seinen Auseinandersetzungen mit der arabisch-islamischen Orthodoxie und ihrem Fundamentalismus die mittelalterlichen Fesseln der unbedingten Autoritätsgläubigkeit zerbrach und methodisch über die Beobachtung und rationale Analyse des menschlichen Zusammenlebens vielleicht als Erster die menschliche Gesellschaft zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft zu machen versuchte. Nicht umsonst knüpfen an ihn einige spätere soziologische Denker des 19. Jahrhunderts wie Frédéric Le Play, Karl Marx, Ludwig Gumplowicz und Franz Oppenheimer wieder an.

Als weiterer Vorvater der Soziologie kann sicher auch der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469–1527) gelten, der sich zu Beginn der italienischen Renaissance gegen jeglichen scholastischtheologischen Dogmatismus wandte und die sozialen Gleichförmigkeiten in Geschichte, Gesellschaft und Politik einer rein auf Erfahrung und Beobachtung beruhenden empirischen Analyse zu unterziehen suchte. Insbesondere in seiner 1532 erschienenen Schrift »Über den Fürsten« (Il Principe) stellt er nachdrücklich fest, dass die Menschen betrachtet werden müssten, wie sie sind und nicht, wie sie nach bestimmten Glaubenssätzen zu sein hätten. In seinem konsequenten Realismus verfocht er die These, dass das soziale Handeln des Menschen aus seinen Antrieben heraus verstanden werden müsse. Hierzu lieferte er im Principe bereits eine klassische sozialpsychologische Studie über die Ursachen und Effekte verschiedener Motivstrukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Außerdem begründete er mit dieser Schrift eine Klassifikation politischer Herrschaft und legte eine bis heute häufig zitierte Liste bestimmter moralischer Eigenschaften des Regierenden und seiner Macht- und Herrschaftstechniken im Hinblick auf eine möglichst effiziente Ordnung und Zielerreichung vor. Seitdem sind allerdings auch der Begriff des Machiavellismus und die damit verbundene Vorstellung einer skrupellosen Politik immer wieder Gegenstand macht- und herrschaftstheoretischer Diskussionen.

Die eigentliche zusammenhängende Vorgeschichte der Soziologie beginnt jedoch wohl erst mit der Krise des absolutistischen Staates, jener »crise de la conscience européenne« (Hazard 1935), die die Gesellschaftslehre der Aufklärung hervorbrachte und zur Trennung von Staat und Gesellschaft führte. Neben vielen, in erster Linie philosophisch orientierten Beiträgen zur Gesellschaft und Politik ihrer Zeit (vgl. hierzu Jonas 1981, 12 ff.) werden jetzt für die erwachende Soziologie insbesondere jene Arbeiten begründend, die die Gesellschaft aus dem globalen philosophischen und theologischen Problembezug lösen und die bislang selbstverständliche Geltung von tradierten Werten und Institutionen in Frage stellen.

Hierzu zählen z. B. in England die staatspolitischen Schriften von Thomas Hobbes (1588–1679), insbesondere dessen Abhandlung »Leviathan« von 1651, sodann die Vertreter eines empirischen Skeptizismus wie John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) sowie die Theoretiker der sogenannten Schottischen Schule Adam Smith (1723–1790), Adam Ferguson (1723–1816) und John Millar (1735–1801).

In Frankreich wird diese Entwicklung vor allem von Montesquieu (1689–1755) vorangetrieben, der seine zeitgenössische Gesellschaft einer beißend-ironischen Kritik unterzog und im Anschluss daran eine historisch-analytische Theorie des sozialen Wandels entwarf. In ähnlicher Weise profilieren sich nicht nur Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der Marquis de Condorcet (1743–1794) als engagierte Kritiker einer moralisch verrotteten, feudalen Rokoko-Gesellschaft, sondern auch der zu den Frühsozialisten zählende Comte de Saint-Simon (1760–1825).

Wichtige vorsoziologische Quellen sind beispielsweise nicht nur Rousseaus berühmt gewordene Abhandlung über den »Gesellschaftsvertrag« (Du contrat social, 1762), sondern auch seine Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon (»ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beitrage«, 1750), in der der Autor nachhaltig und kompromisslos die von der Akademie gestellte Frage verneint und seine Auffassung insbesondere mit den Folgen der sozialen Ungleichheit begründet. Diesen Gedanken führt er dann in der Abhandlung »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1755) systematisch weiter, wobei er den folgenschweren Gedanken entwickelt, dass die Entstehung des Eigentums den eigentlichen Sündenfall des Menschengeschlechts bilde.

Grundlegende Beiträge für eine spätere Theorie des menschlichen Handelns sowie eine differenzierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates lieferten im damals allerdings »revolutionsabstinenten« Deutschland vor allem die großen Philosophen der Romantik bzw. des deutschen Idealismus wie Immanuel Kant (1724–1804), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Schleiermacher (1768–1835), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775– 1854). Auch ist in diesem Zusammenhang der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815–1890) zu nennen, der im deutschen Vormärz die ideologischen und politischen Positionen des in Bewegung geratenen Bürgertums zu klären versuchte.

Sie und viele andere bedeutende Denker dieser Epoche wurden aufgrund bereits spürbarer tief greifender Veränderungen dazu angeregt, die Gesellschaft ihrer Zeit mit neuen Augen zu sehen:

 An Stelle der traditionellen Agrarwirtschaft, die vor allem auf Selbstversorgung ihrer Angehörigen angelegt war (marktunabhängige Subsistenzwirtschaft), trat in immer stärkerem Maße die Produktion von Waren, die man auf dem Markt gewinnbringend verkaufen konnte. Naturwissenschaftliche Entdeckungen und entsprechende technische Erfindungen und Entwicklungen verstärkten diesen Prozess.

 Für Autoren, die den Beginn der Industrialisierung aus eigener Anschauung und Erfahrung miterlebten, wird die fortschreitende Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung in den Manufakturen und Fabriken und die damit einhergehende berufliche Spezialisierung zu einem besonders auffälligen Vorgang, der die zwischenmenschlichen Beziehungen wie die gesamtgesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändert.

 Die feste Verankerung der Menschen in den sozialen Gruppen und Gemeinschaften, in die sie hineingeboren wurden, begann sich zu lockern. Nicht mehr die Herkunft und Abstammung, sondern das unterschiedliche Maß an Eigentum wurde zunehmend als die große Quelle der Distinktion zwischen den Menschen erkannt. Folglich wurden auch die herkömmlichen Überlieferungen, traditionellen Symbole und Sitten einer ständischen Gesellschaft längst nicht mehr von allen als selbstverständlich und unveränderbar begriffen.

 Insbesondere das aufsteigende Bürgertum rüttelt jetzt an der jahrhundertelang unangefochtenen Herrschaft des Adels und beginnt, seine eigenen Interessen zu artikulieren. Es postuliert in seiner neuen Philosophie ein in erster Linie rational handelndes Individuum, das – dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt entsprechend – von feudal-klerikalen Bevormundungen und berufsständischen Bindungen sowie von ideologischen Einengungen und Einschränkungen vitaler Bedürfnisse befreit sein sollte.

 Neue gesellschaftliche und politische Ordnungen werden diskutiert und in zunehmendem Maße auch praktisch ausprobiert, – in England bereits im 17. Jahrhundert in pragmatischen Kompromissen zwischen dem Adel und dem selbstbewussten Bürgertum, in Frankreich erst später im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den damit verbundenen sozialen und politischen Erfahrungen von Revolution und Kaiserreich.

Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass die »stillere« industrielle Revolution insgesamt tiefer greifende und andauerndere Umwälzungen im sozialen Alltag bewirkte als die diversen politischen Veränderungen und spektakulär lärmenden Revolutionsakte in dieser Zeit.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Friedrich Jonas (1981): Geschichte der Soziologie I. Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft (mit Quellentexten). (Darin exemplarisch Jean-Jacques Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechts«, S. 355–363.) 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen.

Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Von den Anfängen der Soziologie: Hoffnung auf eine neue Welt«, S. 11–26.) 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

Gerhard Möbius (1964): Die Politischen Theorien von der Antike bis zur Renaissance. 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen

1.5.2Die Großväter der Soziologie: Soziologie als Fortschrittstheorie und Universalwissenschaft im 19. Jahrhundert

Eine präzise Aussage, wer denn nun eigentlich als Begründer der Soziologie zu gelten habe, lässt sich kaum machen. Sicherlich sind die – als eigentliche founding fathers oder »Großväter« der Soziologie im Sinne einer Universalwissenschaft – immer wieder genannten Autoren des 19. Jahrhunderts wie Auguste Comte Herbert Spencer oder Karl Marx ohne die Vorarbeiten der Aufklärung sowie der verschiedenen Varianten der Vertragstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau) oder der Vordenker eines (auch revolutionären) sozialen Wandels nicht denkbar.

1.5.2.1Auguste Comte

Das Hauptanliegen von Auguste Comte (1798–1857), auf den, wie wir schon gesehen haben, der Begriff Soziologie ja zurückgeht (vgl. Abschnitt 1.3.2), war der wissenschaftliche Entwurf einer für seine Zeit passenden sozialen und politischen Ordnung. Aus einem sozialreformerischen Elan heraus suchte er, wie andere vor und nach ihm, nach den Gesetzmäßigkeiten der Menschheitsentwicklung, um störende Einflüsse auf den »sozialen Organismus« auszuschalten, bei unvermeidlichen Krisen »weise zu intervenieren« (»savoir pour prévoir, et prévoir pour prévenir«) und den »naturgeschichtlichen Entwicklungen« der Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. hierzu A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, in Jonas, I, 1981, 419 ff.). Als erklärter Gegner jeglicher Metaphysik waren für ihn Fragen nach dem Sein oder Spekulationen nach Sinn- und Zweckzusammenhängen der Geschichte müßig. Vielmehr stellte sich für ihn die Geschichte der Menschheit als eine lineare Entwicklung des Verstandes dar, die nach festen Gesetzen abläuft.

In Weiterführung entsprechender Ansätze seiner Landsleute Turgot, Condorcet und vor allem Saint-Simon entwarf er ein geschichtsphilosophisches Schema als Grundlage seiner wissenschaftlichen Perspektive, das sogenannte Dreistadiengesetz: Nach Überwindung einer vorausgegangenen theologischen und metaphysischen Epoche folge jetzt ein »positives« Zeitalter, das von der Soziologie als der neuen Königin aller Wissenschaften bestimmt werde. Diese »positivistische« Aufklärung verband Comte mit einer Heilslehre der Vernunft, in der der Soziologie gleichfalls die entscheidende Rolle zugedacht war. Ähnlich der in den aufblühenden Naturwissenschaften angewandten und erstaunlich erfolgreichen Methoden sollten auch auf die sozialen Organisationen rationale Denkweisen und Verfahren angewandt werden, um zu ähnlich »positiven« Resultaten zu gelangen.

Mit anderen Worten: Die »positive« Soziologie sollte – wie Comte sich ausdrückte – nur über die sorgfältige Beobachtung und Beschreibung sinnlich wahrnehmbarer Tatbestände in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, d. h. über erfahrbare, sogenannte »objektive Tatbestände«, zu »allgemeingültigen sozialen Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen« gelangen. Von den so gewonnenen Einsichten versprach er sich – ähnlich der technischen Verwertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse – wichtige Hinweise für eine stabilere Neugestaltung und praktisch-politische Steuerung von Gesellschaften im Sinne einer modernen Sozialtechnik, die letztlich allen ein Höchstmaß an Glück und Zufriedenheit eröffnen könne.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1979): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 1. Band. (Darin »Auguste Comte«, S. 71–130). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Auguste Comte«, S. 62–66). Westdt. Verlag: Opladen.

Auguste Comte (1981): Rede über den Geist des Positivismus. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 419–433. Westdt. Verlag: Opladen.

Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie (Darin »Der ›erste‹ Soziologe: August Comte«, S. 27–41). 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

1.5.2.2Herbert Spencer

Auch Herbert Spencer (1820–1903), dessen berühmte dreibändige »Principles of Sociology« zwischen 1876 und 1896 entstanden und der gegen Ende des 19. Jahrhunderts schlechthin als der englische Soziologe galt (und zugleich den größten Einfluss auf die aufsteigende amerikanische Soziologie ausüben sollte) war überzeugt, einen Weg gefunden zu haben, der es ihm ermöglichte, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit zu verstehen. Er ging davon aus, dass alle Formen des sozialen Lebens, die kleineren zwischenmenschlichen Verflechtungen wie die größeren sozialen Gruppen und Organisationen und erst recht das Ganze der Gesellschaft als soziale Organismen aufzufassen seien.

Ebenso wie bei den individuellen Organismen von Menschen, Tieren oder Pflanzen liege auch den sozialen Organismen eine eigene Dynamik zugrunde. Hier wie dort bedeute dies »Wachstum« im Sinne der Vermehrung von Grundelementen oder Bausteinen (z. B. im gesellschaftlichen Bereich: Vermehrung der Bevölkerung), aber auch »Entwicklung« im Sinne einer natürlichen Evolution von niederen zu höheren, von einfachen zu komplexeren Gebilden (in der Gesellschaft: die vielfältigen Zusammenschlüsse kleinerer Einheiten zu größeren sozialen »Geweben« der verschiedensten Art, z. B. der Familien zur Verwandtschaft, der Verwandtschaften zu Sippen, der Sippen zu Stämmen, der Stämme zu Völkern, der Völker zu Staatengemeinschaften usw.). Schließlich: Wie es im Leben der natürlichen Organismen Steuerungsprogramme gebe, die das Zusammenwirken der einzelnen Elemente und Teile regulieren, so gebe es auch in der Gesellschaft Regulierungen, die dafür sorgten, dass der soziale Organismus überdauere und arbeitsteilige Differenzierungen auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet durch Prozesse der Verflechtung und Integration wieder aufgefangen würden. Spencer fasst dies in seiner universalen Weltformel zusammen: »Vom Aggregat zum System« und versteht Soziologie als Studium der Evolution.

Daher war er davon überzeugt, dass die beobachtbaren Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Bereich insgesamt als Fortschritt anzusehen seien und letztlich auf eine vollkommenere und bessere Welt von freien und verantwortungsvollen Individuen hinausliefen. Zwar ließen sich diese evolutionären Vorgänge gedanklich erfassen und unterstützend steuern, doch als Anhänger des Darwinismus hielt es Spencer für eher störend bzw. für weitgehend zwecklos, in die mit jedem Fortschritt im Bereich des Lebens verbundenen Prozesse der natürlichen Auslese (Darwin: »survival of the fittest«) etwa durch sozialpolitische Aktivitäten (z. B. durch Unterstützungsprogramme für Behinderte, Kranke, Bildungsschwache, Arme, Obdachlose usw.) einzugreifen. Im Gegenteil: Je weniger politische Regulierung und Kontrolle, desto besser. Der gesellschaftliche Organismus bzw. das soziale System sei auch dank der »überragenden Weisheit der Natur« ohne Herrschaft und Zwang denkbar, ja eine liberale Anarchie als Idealzustand sogar wünschenswert.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch, (Darin »Herbert Spencer«, S. 532–540). Westdt. Verlag: Opladen.

Ralf Dahrendorf & Colin Crouch (1980): Herbert Spencer. In Wilhelm Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon. Band 1, S. 406–408. Enke: Stuttgart.

Michael Kunczik (1999): Herbert Spencer. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 74–93. Beck: München.

Herbert Spencer (1981): »Die Prinzipien der Soziologie« (The Principles of Sociology). In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 441–444. Westdt. Verlag: Opladen.

1.5.2.3Karl Marx

Selbst ein kursorischer Überblick über die Soziologiegeschichte kann Karl Marx (1818–1883) als Soziologen nicht unerwähnt lassen. Dabei liegt die Bedeutung von Marx weniger im Gehalt seiner soziologischen (und ökonomischen) Theorien begründet, als vielmehr in deren faktischen Wirkungen auf die soziale und politische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und in der Faszination, die der Marxismus auf Generationen von Gelehrten und Sozialreformern ausübte. Dies ist wohl nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass es nicht ganz einfach ist, den Soziologen Karl Marx von Karl Marx als dem spekulativen Philosophen und rigorosen Moralisten sowie dem sozialistischen Agitator und Propheten der Revolution zu lösen.

Wie jeder Denker übernahm auch Marx Vorstellungen anderer und deutete sie, seinen Prämissen folgend, entsprechend um. So entlehnte er von dem Philosophen des deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel das geschichtsphilosophische Konzept, übernahm von dem Staatsrechtler Lorenz von Stein den Klassenbegriff und die Vorstellung der Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen und gewann seine volkswirtschaftlichen Überlegungen in Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen des englischen Nationalökonomen David Ricardo. Von den Positivisten seiner Zeit unterschied sich Marx dadurch, dass er durchaus noch Sinnfragen stellt und folglich seinen soziologischen Ansatz offen in sein philosophisches System einbettet. Andererseits glaubt er wie sie und die Aufklärer des 18. Jahrhunderts noch fest an eine stetige Entwicklung der Geschichte im Sinne eines linearen Fortschritts. Von den aufstrebenden Naturwissenschaften und ihren Erfolgen ebenso fasziniert wie Auguste Comte und andere Denker seiner Zeit suchte auch er nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten in den historischen Abläufen, um die Wandlungen der Gesellschaftsstruktur durch Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge erklären und künftige Entwicklungen sicher prognostizieren zu können.

In seiner – in Zusammenarbeit mit seinem Freund Friedrich Engels (1820–1895) entwickelten – Theorie des »historischen Materialismus« stellt er das Gedankengebäude Hegels »auf den Kopf« und wählt als analytische Basis die »materiellen« Bedingungen des Lebens. Danach sind die jeweiligen religiösen, ideologischen und politischen Strukturen einer Gesellschaft nur von der Struktur ihrer Basis, d. h. von den Strukturen der materiellen Produktion her einsichtig zu machen und zu verstehen. In anderen Worten: Nicht das Bewusstsein der Menschen prägt ihr Sein, sondern umgekehrt bestimmt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein. Marx’ Ziel ist von daher die Anbahnung eines permanenten Entideologisierungs- und Selbstaufklärungsprozesses der Gesellschaft.

Marx bleibt jedoch nicht bei der bloßen Ideologiekritik stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter zur revolutionären Praxis. Demnach ist die Entwicklung der Gesellschaft bestimmt durch einen dialektischen, d. h. in Widersprüchen sich vollziehenden Prozess, der durch ökonomische Faktoren ausgelöst und in seinem Fortgang bestimmt wird:

»Diese wirtschaftlichen Faktoren sind die Produktionsmittel und die Produktionsformen, die zu den Mitteln gehören. Jedes System wirtschaftlicher Produktion ist zunächst einmal ›richtig‹ für die Produktionsmittel einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes und schafft sich seine soziale Ordnung und seinen ganzen ›Überbau‹ von Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie samt dem Selbstverständnis, den Regeln und Sitten der Bevölkerung. Es ist eine ›These‹. Doch schon erscheint die ›Antithese‹ in Gestalt technischen Fortschritts und neuer, besserer Produktionsmittel. Die alten Produktionsformen und die alte soziale Ordnung hindern die Entwicklung der neuen, bis diese stark genug geworden sind, durch eine soziale Revolution die neuen Produktionsmittel einzuführen – und damit eine neue Ordnung wirtschaftlicher Produktion und eine neue soziale Ordnung. Dies ist dann die ›Synthese‹, die im Laufe der weiteren Entwicklung zur ›These‹ wird« (Seger 1970, 40).

Die Auseinandersetzung zwischen den alten und den neuen Produktionsmitteln wird auf der gesellschaftlichen Ebene im Klassenkampf abgebildet. Die neuen Mittel werden jeweils durch die neu aufgestiegene Klasse vertreten: »Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten« (Marx). Entsprechend formuliert Marx das allgemeine »ökonomische Bewegungsgesetz« für sozialen Wandel: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. Auf die Epoche der Sklaverei folge die der Fronarbeit im Feudalismus und schließlich die Gesellschaftsformation der kapitalistischen Produktionsweise.

Für Marx’ Diagnose seiner Zeit bedeutete dies, dass die bürgerliche Gesellschaft, die »Bourgeoisie« wie er sie voller Verachtung nannte, mit ihrer kapitalistischen Produktion und der Erzeugung eines falschen Bewusstseins die »These« präsentierte, die proletarischen Arbeiter dagegen als »Antithese« die zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsformen verhießen. Der soziale Antagonismus zwischen der durch Zentralisation und Konzentration des Kapitals immer kleiner werdenden Klasse der Kapitalisten und der proportional immer größer werdenden Klasse der immer mehr verelendenden Proletarier polarisiere sich schließlich so, dass nur noch die proletarische Revolution die »Synthese« bringen könne: Das Proletariat übernimmt durch die »Expropriation der Expropriateure« revolutionär die Produktionsmittel, eliminiert die Bourgeoisie und verwirklicht schließlich als letzte der in der Weltgeschichte auftretenden sozialen Klassen die »klassenlose Gesellschaft«. In dieser letztlich »kommunistischen Gesellschaft« wird es nach Marx dann keine Spannungen, keine Klassenbildung und auch keine weiteren Revolutionen mehr geben, da sich diese Gesellschaftsstruktur ständig mit den wechselnden Produktivkräften verändere. Erst dort könne sich das Individuum frei von materiellen und geistigen Zwängen entfalten.

Unter der Annahme, der Mensch verhalte sich ebenso berechenbar wie Elemente in der Natur, war Marx davon überzeugt, der historische Ablauf sei ebenso determiniert wie natürliche Vorgänge, für freie menschliche Entscheidung bleibe deshalb wenig Raum. Von daher war er sicher, den naturgesetzlich festliegenden Ablauf der Geschichte erkannt zu haben, d. h. das Bestimmungsziel aller gesellschaftlichen Prozesse vorhersagen zu können.

Wir wissen heute, dass die Voraussagen von Marx großteils und gerade in entscheidenden Punkten falsch waren und nicht eingetroffen sind, und zwar nicht nur seine utopischen Prophezeiungen, sondern auch seine kurzfristigen wirtschaftlichen Prognosen. Dennoch liegt die Bedeutung von Marx auch noch für die heutige Soziologie vor allem darin, dass er Fragen aufgeworfen hat, die grundsätzlich immer wieder neu zu stellen und zu untersuchen sind, nämlich:

 Inwieweit wirkt sich der gesellschaftliche Standort (= die Klassenlage in der Terminologie von Marx) auf die Art und Struktur des Denkens aus? Kann das Auftreten oder Fehlen bestimmter geistiger Ideen aus gesellschaftlichen Umständen erklärt werden?

 Welchen Einfluss nehmen ökonomische Faktoren auf das übrige soziale Geschehen und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Politik?

 Welche Funktionen haben soziale Konflikte in der Gesellschaft? Welche Verlaufsformen entwickeln sie? Wie werden Gesellschaften zusammengehalten, wenn ihre Teile in dauerndem Konflikt miteinander stehen?

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Karl Marx«, S. 309–316). Westdt. Verlag: Opladen.

Iring Fetscher (1985): Karl Marx und der Marxismus. Von der Ökonomiekritik zur Weltanschauung. (Darin insbes. S. 16–43). 4. Aufl. Piper: München.

Karl Marx & Friedrich Engels (1981): Manifest der Kommunistischen Partei I. Bourgeois und Proletarier. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 401–408. Westdt. Verlag: Opladen.

Oskar Negt (2007): Karl Marx. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 273–293. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

Karl R. Popper (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 8. Aufl. Mohr (Siebeck): Tübingen.

*

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede in den Problemstellungen und in den Antwortversuchen bei den Begründern und »Großvätern« der Soziologie im 19. Jahrhundert – exemplarisch dargestellt anhand der soziologischen Perspektiven von Comte, Spencer und Marx – noch sehr viel größer sind als in der heutigen Soziologie. Unsere etwas saloppe, jedoch nicht respektlos gemeinte Bezeichnung »Großväter der Soziologie« bezieht sich daher eher auf die Gemeinsamkeit des Alters als die der intellektuellen Tradition. Andererseits gibt es aber auch Gemeinsamkeiten, die diese Gründungsphase der Soziologie charakterisieren. Sie sind vor allem in der gemeinsamen Suche nach den Grundlagen des sozialen Wandels, insbesondere nach den Hauptfaktoren der krisenhaften Veränderungsprozesse von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft zu erkennen.

Diese Suche nach der Idee der »natürlichen« Gesetzmäßigkeit aller gesellschaftlichen Dynamik wurde zum typischen Merkmal für die Makrosoziologie des 19. Jahrhunderts. Soziologie wurde hierbei je nach Akzent als universale Wissenschaft vom gesamtgesellschaftlichen Wandel verstanden. Ihren Ausdruck fand sie dann in den Varianten einer linearen Fortschrittstheorie oder auch eines evolutionären Fortschrittsglaubens. Denn soviel auch Comte, Spencer oder Marx von »positiven«, »wissenschaftlichen« oder »materialistischen« (was übrigens Marx synonym mit »empirisch« verstanden wissen wollte) Tatsachen sprachen, so war ihre neue Wissenschaft doch vom Ausgangspunkt und vom Ziel her – offen oder versteckt – eher eine Gesellschaftsphilosophie als eine objektive sozialwissenschaftliche Analyse.

So sieht man – trotz unstreitig bedeutender Einsichten und Beiträge der soziologischen »Großväter« – viele ihrer Aussagen und Folgerungen als zu einseitige Spekulationen an, »weil sie sich entweder zu stark auf Abstraktion stützen oder irgendwelche natürlichen Charakteristika oder auffallenden Formen in den Vordergrund stellen und alle Beobachtungen diesen Vorstellungen unterordnen« (Barley 1978, 3).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Helmut Klages (1972): Geschichte der Soziologie (Darin 4. Kapitel »Europäische Soziologie im 19. Jahrhundert seit der industriellen Revolution«, S. 65–94).. 2. Aufl. Juventa: München.

Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 2 »Soziologie im 19. Jahrhundert: Comte, Spencer, Marx«, S. 29–73). 2. Aufl. UVK: Konstanz.

1.5.3Soziologie als Erfahrungswissenschaft: Die Klassiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts

War es das große Verdienst der soziologischen Gründungsväter, die beobachtbare soziale Wirklichkeit als das eigentliche Feld des soziologischen Forschens bestimmt zu haben, so war es einer neuen Generation von Sozialwissenschaftlern vorbehalten, die Dimensionen und Grenzen dieses Feldes auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage inhaltlich und methodisch präziser zu bestimmen. Diese gemeinhin als »Klassik der Soziologie« bezeichnete Epoche begann mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und ging schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu Ende. Dies hing zusammen mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und den unglücklichen Folgen nationaler Isolierungen sowie mit der bei allen akademischen Disziplinen üblichen Herausbildung von meist an bestimmten Denktraditionen bzw. deren Protagonisten orientierten wissenschaftlichen »Schulen«, die sich auf verschiedene Theorien oder methodische Positionen versteiften und sich auch teilweise (bis heute noch) entschieden »bekämpften«.

Als wichtigste Vertreter der klassischen Periode der Soziologiegeschichte sind hier – zumindest im europäischen Raum – vor allem zu nennen:

 Max Weber (1864–1920),

 Georg Simmel (1858–1918),

 Vilfredo Pareto (1848–1923) und

 Emile Durkheim (1858–1917).

Überblickt man das Lebenswerk dieser soziologischen Klassiker am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so ist kennzeichnend, dass diese Autoren zunehmend klarere Vorstellungen über die tatsächlichen theoretischen und methodischen Schwierigkeiten gewannen, die komplizierten Verwicklungen und Verflechtungen innerhalb sozialer Gruppen oder gar ganzer Gesellschaften zu entwirren, sich aber dennoch ohne Illusionen auf dieses gewagte Forschungsabenteuer einließen. In ihrer Zeit entstand die Soziologie als eine echte Wissenschaft von der Gesellschaft, konzipiert als Erfahrungswissenschaft, die auf Beobachtung, systematischem Vergleich und Experiment aufbaut. Wenn auch die Soziologie damals noch kaum als eigenständiges Fach an den Universitäten gelehrt wird, sondern meist in Verbindung mit Nationalökonomie, Staatswissenschaften oder Pädagogik in Erscheinung tritt, so wird mit dieser »klassischen« Periode doch die allmähliche universitäre Verortung und Institutionalisierung der Soziologie zumindest vorbereitet. Für ihre Vertreter bedeutete dies u. a., dass sie nicht mehr wie die früheren soziologischen Denker »sich als freie Schriftsteller und Privatgelehrte allein gegen die ganze Welt stellen mussten« (Seger 1970, 58), sondern in ihrer Forschung und Lehre auch einen gewissen akademischen Rückhalt fanden.

Und noch etwas wird für die Soziologen dieser Generation charakteristisch: Sie wenden sich nicht nur den notwendigen erkenntnistheoretischen und methodologischen Problemen zu, sondern sie befassen sich auch sehr eingehend mit den aktuellen sozialen Fragen ihrer Zeit: z. B. mit dem Problem der Armut (Simmel), der sozialen Lage der Landarbeiter, den Produktionsbedingungen in den Webereien oder auch – grundsätzlicher – mit dem Zusammenhang zwischen protestantischer Religion und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung (Weber), mit der Rolle der Eliten in der Gesellschaft (Pareto) oder etwa mit möglichen sozialen Einflüssen auf die Selbstmordraten (Durkheim).

Diese Autoren beschränkten sich jetzt darauf, konkrete Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu machen und wandten sich somit der Erforschung des sozialen Alltags zu, statt von irgendeinem fiktiven Punkt aus allumfassende Theorien über gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen zu wagen und nicht minder vage Prognosen in eine ferne Zukunft zu formulieren. Dadurch gewann der Einzelne nicht als »reines« Individuum (denn dies ist ja der Forschungsgegenstand der Psychologie), sondern in Verbindung mit anderen als sozial und kulturell geprägte Persönlichkeit, auch verstärkt soziologische Beachtung. Neben der Frage, was für die verschiedenartigen sozialen Gebilde, Gewebe und Verflechtungen konstitutiv wird – also der immer wieder neu gestellten Frage nach dem Rätsel des sozialen Zusammenhalts und seinen zwischenmenschlichen Variationen – erregte das besondere Interesse der Klassiker die Frage nach den wichtigsten Kennzeichen des sozialen Handelns des Menschen, gleichsam verstanden als kleinste soziale Einheit oder molekularer Baustein des Sozialen.

1.5.3.1Max Weber

Für Max Weber ist das soziale Handeln des Individuums deutlich und »subjektiv sinnvoll« auf einen anderen Menschen bezogen: ein Mensch, der einem anderen Menschen Hilfe suchend oder liebend begegnet; ein Mensch, der einen anderen übervorteilt oder an ihm feindselig seine Aggressionen abreagiert; ein Mensch, der einem anderen über die Ladentheke hinweg eine Ware verkauft oder ihn am Büroschalter berät; einer, der auf ein Podium steigt, sich den Hörern zuwendet und zu ihnen spricht oder einer, der sich an den dort befindlichen Flügel setzt und dem versammelten Publikum Beethovens »Pathétique« interpretiert. Aber: »Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ›soziales Handeln‹« (Weber 1960, 19).

Nach Weber, dessen Soziologie auch »Verstehende Soziologie« genannt wird, erfassen wir das soziale Handeln eines anderen, wenn wir es auf eigene seelische Erlebnisse und Erfahrungen beziehen. (Von daher wird Weber gelegentlich auch unter die »psychologistischen« Soziologen eingereiht, – eine Etikette, die seinem Gesamtwerk jedoch nicht gerecht wird.) Doch wenn dieses Verstehen auch mehr oder weniger »psychologisch« evident ist, ist es noch nicht unbedingt empirisch gültig. Die evidenteste Interpretation muss nicht zwangsläufig auch die richtige sein. Wahrscheinlichkeit und Wahrheit sind nicht notwendigerweise deckungsgleich. Indem Weber deshalb die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens mit der naturwissenschaftlichen Logik des Erklärens verknüpft, will er – einem Gedankengang Heinrich Rickerts folgend – die »Besonderheit« und »Objektivität« der Soziologie begründen (vgl. Bernsdorf 1980).

Da es für die Soziologie leider kein unmittelbares Erfassen ihrer Gegenstände und auch keine Möglichkeit zur Bestimmung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt, will Weber die Gültigkeit des Verstehens und Erklärens mit Hilfe des sogenannten »Idealtyps« überprüfen. Der Idealtyp ist bei ihm ein konstruierter Begriff, eine gedanklich zugespitzte, überprägnante Idee, die aus der Komplexität der Wirklichkeit einige konstitutiv erscheinende Faktoren als »rein« ausgeprägte hervorhebt, sie also im logischen (nicht unbedingt auch im moralischen) Sinne »ideal« erscheinen lässt, wobei störende und widersprüchliche Aspekte ignoriert werden. Beim Idealtyp handelt es sich also primär um einen heuristischen Begriff, der gewonnen wird »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde« (Weber 1956, 235).

Indessen sind die konstruktiven Begriffe der Soziologie für Weber nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich idealtypisch, so dass das reale soziale Handeln in den meisten Fällen »in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹« (Weber 1960, 18) verläuft. Die richtige ursächliche Erklärung eines konkreten Handelns bedeutet also, dass der äußere Ablauf und das zugrunde liegende innere Motiv in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt werden.

Hierfür entwickelt Weber folgende Typologie des sozialen Handelns:

 beim zweckrationalen Handeln wird der eigene Zweck des handelnden Individuums gegenüber den Mitteln rein vernunftmäßig abgewogen;

 beim wertrationalen Handeln wird der Handelnde motivisch von einem irrational gesetzten Wert bestimmt;

 beim affektuellen Handeln sind Ziel und Verlauf des Handelns Ergebnisse augenblicklicher Gefühle und Stimmungslagen;

 beim traditionalen Handeln schließlich beruht das Verhalten auf »eingelebten Gewohnheiten« und irrationalen Überlieferungen.

Entsprechend wird bei Weber die Soziologie zu einer »Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1960, 5).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Max Weber«, S. 176–250). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Hans Norbert Fügen (1992): Max Weber mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt: Reinbek.

Dirk Kaesler (1999): Max Weber. In Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 190–212. Beck: München.

Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin »Der Mythos von Heidelberg: Max Weber«, S. 97–116). 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 3.5 »Max Weber«, S. 138–163). 2. Aufl. UVK: Konstanz.

1.5.3.2Georg Simmel

Auch in Georg Simmels theoretischem Ansatz stehen im Mittelpunkt des soziologischen Interesses die Prozesse des sozialen Handelns. Soziales Handeln verbindet die Individuen in typischer Weise untereinander und erzeugt wechselseitige Beziehungen, die zu unterschiedlichen sozialen Gebilden kristallisieren können. Hierbei vermischt Simmel bewusst die »subjektive« mit der »objektiven« Bedeutung von sozialen Handlungen und sucht vorrangig nach »Typen« oder »Klassen« von Beziehungsformen, unabhängig davon, welche Bedeutung die handelnden Menschen diesen zeitlosen »Formen der Vergesellschaftung« beimessen.

Gleich, was die Menschen miteinander verbindet oder was sie voneinander abstößt, wie sie sich aufeinander einstellen, sich miteinander einlassen, aufeinander zugehen oder miteinander streiten, – die gleichen formalen Beziehungsformen sind in allen sozialen Verbänden, ob familiärer, religiöser, politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Art nachweisbar. Simmel wird von daher zum Begründer einer »formalen Soziologie«, die als ihren Gegenstand nur die zwischenmenschlichen Beziehungen wie Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Streit, Nachahmung, Parteibildung, aber auch Neid, Eifersucht u. Ä. anerkennt und gelten lässt.

Soziales Handeln und damit Gesellschaft ist bei Simmel schlechterdings »überall da existierend, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten«. Von daher wird bei ihm zum konstitutiven Element der Soziologie die soziale Gruppe, die er wie kein anderer vor ihm feinsinnigen qualitativen und vor allem auch quantitativen Detailanalysen unterzieht, von denen die zeitgenössische Soziologie immer noch profitiert. Dies gilt insbesondere für seine klassische Studie des »Streits« als einer Form sozialen Handelns, die ihn zu einem Begründer der soziologischen Konflikttheorie werden ließ.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Werner Jung (1990): Georg Simmel zur Einführung. Junius: Hamburg.

Birgitta Nedelmann (1999): Georg Simmel. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 127–149. Beck: München.

Otthein Rammstedt (2007): Georg Simmel. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 389–407. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

1.5.3.3Vilfredo Pareto

Anders als in der Vorstellung von Weber betont der italienische Soziologe Vilfredo Pareto in seinem theoretischen Ansatz die irrationalen und nicht-logischen Quellen des menschlichen Verhaltens. Er sieht das soziale Handeln überwiegend von Gefühlen und Glaubensvorstellungen her bestimmt, wobei das Individuum sich solcher irrationalen Wurzeln des Handelns meist nicht bewusst ist, sondern vielmehr von der »Wahrheit« der überformenden Sinngebungen und der »Logik« seiner Rationalisierungen überzeugt scheint. Pareto erklärt »den geringen Grad von Folgerichtigkeit in der Praxis des sozialen Lebens aus dem großen Einfluß von Residuen (Überbleibseln) und Derivationen (Ableitungen). Jene äußern sich in Instinkten, Gefühlen und dem, was die heutige Psychiatrie ›Komplexe‹ nennt; Derivationen sind die Ideologien, die mehr in Einklang mit den Residuen als mit Erfahrung und Logik stehen« (v. Wiese 1954, 100). »Residuen« sind somit relativ stabile Antriebskräfte und Motivstrukturen, »Derivate« eher variable Ausdrucksformen von Meinungen und Alltagstheorien.

Unter diesen Voraussetzungen sieht er das soziale Handeln als einen Vorgang an, der bestimmt ist von Gewohnheiten, Interessen, aber auch von Leidenschaften und Gefühlen, die zwar beobachtbar und messbar sind, denen jedoch eigentlich erst im Nachhinein ein bestimmter Sinn und eine Rechtfertigung unterlegt wird. »Am Beispiel eines beliebigen, wohlerzogenen Mannes, der einen Salon betritt, seinen Hut abnimmt, einige Worte spricht und bestimmte Bewegungen ausführt, entwickelt Pareto so wesentliche Variablen seiner Analyse. Denn wenn man diesen Mann nach dem Warum seines Verhaltens fragte, so könnte er nur erwidern: das ist so Brauch. Man kann leicht zeigen, dass er sich ganz analog in zahllosen Situationen verhält, die gesellschaftlich von viel weitreichenderer Bedeutung sind« (Eisermann 1973, 28).

Die sozial überwiegend nicht-logisch handelnden Individuen werden gesellschaftlich und politisch von einer Machtelite zusammengehalten, wobei in Anlehnung und Überwindung der älteren Analogie von Gesellschaft und Organismus (z. B. bei Spencer) Pareto die Vorstellung von der Gesellschaft als einem dynamischen System entwickelt, das sich im Gleichgewicht hält oder zumindest immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, – eine Vorstellung, die dann von der modernen Systemtheorie wieder aufgenommen wurde und auf die wir später noch zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 3.2).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 96-175). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Maurizio Bach (2007): Vilfredo Pareto. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 331–337. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 385–392). Westdt. Verlag: Opladen.

1.5.3.4Emile Durkheim

Der französische Soziologe Emile Durkheim, der übrigens als erster Soziologe überhaupt 1896 in Bordeaux einen eigens eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie und Pädagogik erhielt und dann ab 1902 an der Sorbonne in Paris lehrte, betont schließlich – ähnlich wie Simmel – die Bedeutung der Gruppe bzw. des Kollektivs für das soziale Handeln. Er will das soziale Handeln wie »Tatsachen« betrachten, die außerhalb des Individuums liegen, eine »Wirklichkeit eigener Art« darstellen und als Ausdruck »kollektiver Vorstellungen« von äußeren Zwängen, Verpflichtungen, Geboten, Sitten u. Ä. bestimmt werden: »Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1961, 226). Durch die mehr oder weniger von außen auferlegten Zwänge wird soziales Handeln zu einem »soziologischen Tatbestand« (»fait social«).

Da er davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Vorgänge nicht auf individualpsychologische Phänomene reduzieren lassen und er vielmehr »Soziales nur durch Soziales erklären« will, legt er dem Sozialen ein solches Gewicht bei, dass er sich dem Vorwurf des »Soziologismus«, d. h. der einseitigen Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit und Abhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns, ausgesetzt sah.

Für Durkheim ist eine soziale Gruppe oder auch die Gesellschaft immer mehr als die Summe ihrer Teile, d. h. mehr als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Dieses »Mehr« bezeichnet er als »kollektives Bewusstsein«, das zugleich so etwas wie das Gewissen der Gruppe ist und sich als eine moralische, sittliche oder religiöse Kraft niederschlägt, die in ihren Wirkungen deutlich bei den Individuen der jeweiligen Gruppe (z. B. im Bereich der Sozialisation und Erziehung) nachweisbar sei.

Die gesellschaftliche Entwicklung folgt nach Durkheim einer sozialen Evolution, die von der auf der Gemeinsamkeit von Ideen, Gefühlen und Traditionen beruhenden »mechanischen Solidarität« der Menschen in einfacheren Gesellschaften sich zu einer »organischen Solidarität« der Menschen in zivilisierten und industrialisierten Gesellschaften gewandelt habe und die hier vor allem auf der hoch entwickelten Arbeitsteilung, der weitgehenden Differenzierung der Persönlichkeiten und dem Vorherrschen vertraglicher Beziehungen beruhe.

Die Erschütterung und den Zusammenbruch der Gruppenmoral und damit der sozialen Ordnung nennt Durkheim »Anomie«, deren differenziertes Ausmaß er exemplarisch anhand von Selbstmordraten in seiner Theorie des Selbstmords (Le Suicide, 1897) empirisch zu belegen und zu klassifizieren versucht. Aus Überidentifikation mit Systemnormen kann so ein altruistischer Selbstmord resultieren, der am häufigsten in einfachen Gesellschaften und vorindustriellen Hochkulturen auftritt, wo sich das Individuum dem Kollektiv noch besonders stark verpflichtet fühlt. Der egoistische Selbstmord ist dagegen eher für die moderne Gesellschaft typisch, da in ihr bei hochgradiger Subjektivierung der Bindungen die kollektiven Integrationsleistungen eher schwach ausgeprägt sind. Der anomische Selbstmord (wie auch der fatalistische, den Durkheim allerdings nicht weiter behandelt) weist dagegen auf einen Zusammenbruch bisheriger Regelungen und sozialer Orientierungen hin, wie dies etwa bei wirtschaftlichen Depressionen oder bei Umbrüchen gesellschaftlich-politischer Systeme zu beobachten ist: Die bislang verlässliche Ordnung gilt nicht mehr und eine neue, sozial verbindliche Regulation ist noch nicht installiert, – Zustände, wie sie beispielsweise beim Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren zu beobachten waren.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Emile Durkheim«, S. 19–95). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Emile Durkheim«, S. 91–96). Westdt. Verlag: Opladen.

René König (1976): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 1, S. 312–364, 401–444, 501–508. Beck: München.

Hans-Peter Müller (2007): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 90–111. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

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Der knappe Exkurs in die Soziologiegeschichte zeigt uns, dass Soziologie in der Krise der modernen Gesellschaft ihren Ausgang genommen hat: In den tiefgreifenden Wandlungsprozessen und rapiden Veränderungen, die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten vor allem die industrialisierten westlichen Gesellschaften erfasst haben und sich auf unseren Alltag unmittelbar oder mittelbar auswirken. Dazu gehören alle Merkmale der modernen sozialen Welt, wie die atemberaubenden wissenschaftlichen und technologischen Umbrüche, die gravierenden und folgenschweren Veränderungen unserer Arbeitswelt, die Art und Weise des Wohnens in zunehmend urbanisierten Umwelten, die Tendenzen zur umfassenden Informationsvernetzung und ökonomischen Globalisierung, der Zusammenbruch alter und das Aufkommen neuer politischer Systeme, aber auch die neuen Herausforderungen durch zu Ende gehende natürliche Ressourcen und durch Energiekrisen usw. All diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen erfassen auch die sozialen Subsysteme und Institutionen und wirken fort bis hinein in unsere private Lebensführung. Insofern wird Soziologie auch zu Recht als »Krisenwissenschaft« oder »Gegenwartswissenschaft« bezeichnet, da sie vor allem moderne, d. h. industrialisierte Gesellschaften mit ihren vielfältigen Wandlungsprozessen und deren Folgen systematisch analysiert.

Im Laufe unserer weiteren Überlegungen werden wir immer wieder bestimmten Grundgedanken und theoretischen Perspektiven der Klassiker der modernen Soziologie begegnen. Die knappen Skizzen zu ihrem mehr oder weniger unterschiedlichen Verständnis von »sozialem Handeln« wie beispielsweise die wichtige Unterscheidung zwischen beabsichtigten, sozial »sinnhaften« und unbeabsichtigten Resultaten menschlichen Handelns und Verhaltens bei Max Weber sollten dabei zeigen, wie die Gründungsväter der modernen Soziologie dieses Konzept auch als Schlüssel zum Verstehen gesellschaftlicher Vorgänge und Zusammenhänge, gewissermaßen als Basiskategorie des Sozialen überhaupt begriffen. Damit haben diese Autoren das Interesse an den Grundelementen des Gesellschaftlichen zu wecken verstanden, an die sich seither die Forschung aus den verschiedensten Richtungen – fantasievoll und distanziert von vorgeformten Ideen und pauschalen Vorurteilen – heranzutasten sucht und dabei immer wieder zu neuen Entdeckungen und Befunden gelangt.

Die wesentlichen Gesichtspunkte der unterschiedlichen Akzentuierungen und teilweise differierenden Perspektiven unserer Klassiker lassen sich etwas vereinfacht auch grafisch darstellen. Dies soll uns im Hinblick auf ihre zentralen und basalen Konzepte des »Sozialen« zur zusammenfassenden und abschließenden Anschauung dienen:

Abb. 2: Die kleinsten sozialen Einheiten nach Weber, Simmel, Pareto und Durkheim


Grundkurs Soziologie

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