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KNOLLEN – NAHRUNG AUS DER UNTERWELT

»Obaluaiê – du umwälzende, gnadenlos lebensschöpfende Kraft. Nichts entgeht dir, wenn die Zeit gekommen, das Untere nach oben zu wenden. Hier bin ich, das zu begreifen.«

Obaluaiê war ein schöner, kräftiger Mann, der sich seine Manneskraft auf Lebenszeit erhalten wollte. Er ging zu Exú, und dieser sicherte ihm zu, dass ihn diese Kraft nie verlassen werde, allerdings unter einer Bedingung: Einen Tag im Jahr müsse er keusch bleiben. Anders sei das nicht zu machen.

Obaluaiê hielt sich lange daran, aber eines Tages lief ihm Oxum über den Weg, die so verführerisch war, dass all seine Vorsätze dahinschmolzen. Dann wurde er sehr schwer krank und starb sogar.

Oxum fand den toten Obaluaiê (Oxum schien des Öfteren tote Männer zu finden …) und legte diesmal bei Exú Fürsprache ein. Und auch ein weiteres Mal sollte es gelingen, allerdings nicht ohne Einschränkung. Obaluaiê wurde als Aussätziger wieder zum Leben erweckt. Sein Weg und sein Leben mit dieser Krankheit war so weise und tief, dass man sich seiner letztlich als großen Orixá erinnerte.

Wie schon Oxossi im vorangegangenen Mythos hat also auch Obaluaiê ein Tabu gebrochen, das mit der Unmäßigkeit zu tun hat. Beim einen bezog sich diese auf die Jagd, beim anderen auf die Sexualität. In der Lebensform der Großwildjagdgesellschaften stellten Schwangerschaft, Säuglinge und Kleinkinder eine Beeinträchtigung in der Beweglichkeit dar. Die Frauen schauten darauf, dass sie nicht zu oft Kinder bekamen. In den Sammler-Jäger-Gesellschaften ist der Abstand zwischen den einzelnen Geburten einer Frau durchschnittlich vier Jahre. Durch das lange Stillen konnten sie das mitkontrollieren. Außerdem waren jene Gesellschaften noch egalitär, was unter anderem hieß, es galt die Damenwahl: Die Frauen mussten sich noch nicht dem Verlangen der Männer unterwerfen.

Die Orixá-Mythen stammen aus einer Zeit, in der es die »mosaische Unterscheidung« zwischen wahr und unwahr noch nicht gab. Die vormosaischen Religionen unterschieden zwischen sakral und profan; erst mit Moses wurde dies ersetzt.6 Im vorkolonialen, das heißt auch vormissionarischen Afrika waren es unter anderem die Orixás, die die unsichtbare Welt bevölkerten. »Orixás« kommt aus der westafrikanischen Yoruba-Sprache. Ähnliche Vorstellungen hatten die ostafrikanischen Bantus mit den Inkisis und die Bewohner Westafrikas mit den Voduns. Wenngleich mit kulturellen Unterschieden, so stehen all diese Namen für naturgöttliche Kräfte und sind Teil afrikanischen Religionsverständnisses. Mit den Sklaven nach Amerika gebracht, wurden sie je nach Region unterschiedlich weiter kultiviert, so in Haiti als Voodoo, in Kuba als Santería und in Brasilien als Candomblé.

Darum gibt es zum selben Orixá auch unterschiedliche Mythen, die aber trotzdem gemeinsame Merkmale aufweisen. Die Geschichte des schönen, zeugungskräftigen Mannes, der zu einem Aussätzigen wird, erzählt man in der kubanischen Santería, während der Obaluaiê-Mythos des brasilianischen Candomblé der eines verstoßenen hässlichen Kindes ist, das zu einem potenten Mann wird. In beiden Versionen ist aber Obaluaiê ein hinkender, von Narben gezeichneter Erdgott, der Transformation, der Reinigung und der Heilung. Sein Gesicht verbirgt er hinter einem Schleier aus Stroh, in der Hand trägt er einen Besen.

Für die Lebensform der Großwildjäger, die vielfach im Umherziehen bestand, war Krankheit besonders ungünstig. Sie versuchten vorausschauend, diese so weit wie möglich zu vermeiden. Grundsätzlich lebten sie sehr gesund. Viele der Krankheiten, wie wir sie kennen, kamen erst in der Agrarzeit zu den Menschen. Der Malaria wichen sie wie gesagt aus, indem sie deren Verbreitungsgebiete, die Sümpfe, mieden. Vor der Tsetsefliege konnten sie sich dadurch schützen, dass sie sich in der Nähe von Zebras aufhielten. Die spezielle Musterung des Zebrafells irritiert diese Fliegen, und sie bleiben den Herden fern.

Nach und nach erkannten die Menschen auch, dass Kinder aus nah verwandten Verhältnissen eher kränklich oder gebrechlich waren als andere. Also vermieden sie solche Kontakte, indem sie das Inzestverbot einführten. Das Inzesttabu findet sich in allen menschlichen Gesellschaften. Weil es schon so alt ist, hat es sich auch in den Genen als Inzestscheu festgelegt, die allerdings bei den Weibchen ausgeprägter ist als bei den Männchen. Deshalb zeigten sich auch hier die Frauen als bestimmter. Um die Inzestvermeidung kulturell zu verankern, entwickelten diese Menschen das Konzept der Exogamie, das heißt, dass sich nur Menschen aus nichtverwandten Gruppen paarten. In den meisten früheren Gemeinschaften waren es die Männer, die die eigene Verwandtschaftsgruppe verließen und sich in die Verwandtschaftsgruppe der Frau begaben.

Wie die Zuständigkeiten von Obaluaiê schon zeigen, gehören Reinigung und Gesundheit zusammen. Reinlichkeit war also eine weitere Maßnahme, um Krankheiten und Befall zu vermeiden. Die Menschen lebten am Wasser, und sie sorgten dafür, dass ihr Lagerplatz immer sauber, das hieß gekehrt war. Böse Zungen sagen zu dieser genetischen Veranlagung heute »Putzfimmel«, aber ein solcher war nötig, um die Gruppe und vor allem Kleinkinder vor lästigen und gefährlichen Kriechtieren fernzuhalten. Kehren ist ein ritueller Akt; überall auf der Welt können wir das rhythmische Geräusch des täglichen Kehrens hören. In tropischen Feriendestinationen kann beobachtet werden, dass es meistens Männer sind, die Innenhöfe, Strände und Parkanlagen kehren. In Japan wurde das Kehren des Zen-Gartens zur geistigen Kunst entwickelt, und wir können annehmen, dass schon beim Erectus das Führen des Palmwedels oder des Reisigbesens eine kontemplative Tätigkeit war.

Das Lagerfeuer und der gekehrte Platz waren das Zuhause des Erectus, dort konnte er sich relativ angstfrei aufhalten. Wollte sich ein Liebespaar zurückziehen, dann war es klug beraten, ein eigenes Feuerchen zu entfachen. Vielleicht kommt es daher, dass man die körperliche Liebe bis heute mit der Metapher des Feuers verbindet. Vom Feuer entfernte sich der Mensch wann immer möglich in der Gruppe, das war sicherer. Einsame Helden konnte die menschliche Gemeinschaft damals noch nicht brauchen. Man erledigte auch gemeinsam seine Notdurft, so wie das im ländlichen Indien heute noch beobachtbar ist.

Es ist anzunehmen, dass die Frauen sich während der Menstruation an einem speziellen Ort außerhalb der restlichen Gruppe aufhielten. Auch heute stellt sich noch eine gleichzeitige Menstruation bei Vollmond ein, wenn die Frauen in der Wildnis leben. Eine mondrhythmische (circalunare) Menstruation war einfach sicherer und wurde deshalb genetisch festgelegt. Bei Neumond waren die Frauen dann fruchtbar, so konnten sie sich unbemerkter im Dunkeln mit ihrem Liebsten treffen.

Da Obaluaiê gleichzeitig ein Gott der Krankheit wie auch ein Gott der Heilung ist, mit starker Lendenkraft, aber auch mit Ausschlag befallen, ist er ein Gott des Lebens und des Todes. Obaluaiê stellt den Kontakt zwischen den Lebenden und den Ahnen her, deshalb finden seine Rituale oft bei Friedhöfen statt.

Auch in unserer Kultur werden die Ahnen auf dem Friedhof besucht, es sind dafür sogar zwei spezielle Tage geweiht: Allerheiligen und Allerseelen im November. Die Wahl dieser Tage geht auf den keltischen Kalender zurück, dem zufolge an Halloween die Tore zur Unterwelt offen stehen. In Mexiko kommen an diesem Tag, dem »Día de los Muertos«, die Toten aus dem Jenseits zu Besuch, um mit den Lebenden ein fröhliches Stelldichein mit Musik, Tanz und gutem Schmaus zu feiern. Dass der alte Erdgott der Afrikaner nicht nur die Sklaven auf dem Weg nach Amerika begleitete, sondern auch unsere Urahnen, die in der Frühzeit Afrika in Richtung Europa und Asien verließen, davon zeugen die noch heute praktizierten Bräuche vom Silvesterklausen im Appenzellerland in der Schweiz über den Krampus am Nikolaustag bis zu den bayrisch-österreichischen Perchten der winterlichen Raunächte. Obaluaiê tanzt immer noch mit uns.

Als ein Gott des Lebens und des Todes ist Obaluaiê auch für den Verwesungsprozess, die Kompostierung und damit auch für die Bildung von Humus zuständig, aus dem wieder neues Leben entstehen kann. Darum ist er ein Erdgott und ein Gott der Transformation. Sein Reich ist auf Erden, ist die Erde, ist in der Erde. Diese Erde birgt in der Humusschicht mit all ihren lebendigen Verwandlungsprozessen und standhaften Verwurzelungen ein höchst nahrhaftes und haltbares Lebensmittel – die Knolle.

Mich faszinierte schon als Kind die Vorstellung, dass man sich im Wald von der Natur ernähren kann. Da gab es die von Erwachsenen erzählten Geschichten, dass Menschen in den Wald fliehen mussten oder sich im Wald verirrten und dort von Früchten und Wurzeln lebten. Als Jugendlicher begann ich dann zu forschen und gründete als junger Mann eine Wildnisschule, in der das Wissen über wild vorkommende Nahrung in Survival-Kursen vermittelt wurde. Klar war, dass es in unseren Breitengraden vor der Agrarisierung absolut unmöglich war, sich das ganze Jahr über nur von Beeren und Wurzeln zu ernähren. Wild war mit Sicherheit der Hauptnahrungsbestandteil. Hätten die Frühmenschen in nordischen Regionen kein Fleisch gehabt, hätte sich ihr Denkorgan wohl wieder auf Schimpansenhirngröße verkleinert, und sie hätten wie die Bären den Winterschlaf erfinden müssen.

Die einzige Wurzel in unseren Regionen, die wirklich etwas hergibt, ist die Rapunzel, auch »Teufelskralle« genannt. Sie findet sich im Wald und ist vor allem im Frühjahr an den schönen Blüten zu erkennen. Ihre Wurzel ist nicht leicht auszugraben, weil sie sich zwischen anderen Wurzeln und Steinen einklemmt. Das hat für die Menschen den Vorteil, dass sie sich dem Zugriff von Nagetieren entzieht und nur für sie zur Verfügung steht.

Es braucht ein starkes Grabstöcklein und geschickte Finger, um die Wurzel vollständig aus dem Erdreich herauszuholen. Man sagt, die Rapunzel heiße Teufelskralle, weil ihre weißen, manchmal auch blauen Blüten wie Krallen aussehen. Aber vielleicht heißt sie auch deshalb so, weil sie sich so im Erdreich festkrallt und es daher Finger wie Krallen braucht, um sie ernten zu können. Vielleicht stellten sich die Menschen vor, dass der Teufel, der ja angeblich in der Unterwelt lebt, die Pflanzenwurzel festhält. Schließlich wurde in den monotheistischen Religionen den einfachen Menschen weisgemacht, dass alle Kräfte, die nicht Gott zugeschrieben werden, zum Teufel gehören, wie beispielsweise die Heilkraft von Pflanzen, was man als einen der Gründe dafür anführte, dass die diesbezüglich kundigen Frauen im Mittelalter als »Hexen« auf dem Scheiterhaufen landeten.

Neben dem Fleisch waren also im Erdreich wachsende und in der Glut essbar gemachte Knollen ein Hauptbestandteil der Nahrung der frühen Menschen. Es muss von diesen Knollengemüsen viele weitverbreitete, aber auch lokale Arten gegeben haben. Einige davon starben aus, andere wurden später bei der Agrarisierung kultiviert. Heute finden wir im Supermarkt Karotten, Schwarzwurzeln, Pastinaken, Topinambur, Meerrettich, Petersilienwurzeln, Ingwer, Süßkartoffeln, Taro, Yamswurzeln, Maniok und Kartoffeln.

Die Kartoffel ist die in unseren Breitengraden die wohl meistgegessene Knolle. Ungekocht ist sie in Blatt, Schale und Keimen leicht giftig. Im Handel finden wir heute ein paar wenige Sorten, während im Ursprungsgebiet Südamerika 3000 verschiedene Varianten ausgemacht werden konnten. Auch Maniok ist roh giftig, und die Ursprungssorten mussten aufwendig durch Mahlen, Wässern und Kochen essbar gemacht werden.

Nun sind diese Knollen ja nicht giftig, weil sie bösartig wären beziehungsweise aus dem Reich des Teufels kämen, sondern weil sie wirkungsvolle Abwehrmechanismen gegen Schädlinge in sich tragen, zum Beispiel gegen Fäulnisbakterien. Und solche antibakteriellen und andere »giftige« Eigenschaften sind eben für den Menschen im richtigen Maß oder in der richtigen Zubereitung nicht Gifte, sondern Heilmittel. Gerade den Knollen wird viel Heilkraft zugeschrieben. So wirken Petersilienwurzeln gegen verschiedene Krankheiten wie Blähungen, Husten, Zahnschmerzen, Ohrenschmerzen, Verdauungsstörungen sowie Menstruationsbeschwerden. Süßkartoffeln fördern das Funktionieren des Immunsystems und hemmen Entzündungen. Pastinaken enthalten eine Vielzahl entzündungshemmender Substanzen, Rüben sind ein gutes Gemüse gegen Alzheimer und beherbergen Substanzen, die den Krebs bekämpfen. Ingwer wirkt gegen Übelkeit, Maniok gegen Rheuma. Möhren sind gut für die Leber, und Topinambur reguliert den Blutzucker.

Die Nahrung aus dem Untergrund – aus des Teufels Küche sozusagen – hatte also für den Homo nicht nur großen Nährwert, sondern auch Heilkraft. Die Menschen entwickelten eine hohe Kunst im Auffinden von Knollen, was wir heute noch bei den Hadzabe im südlichen Afrika beobachten können. Anhand von Blättern oder der Bodenbeschaffenheit wissen sie, wo sich etwas Essbares verbirgt. Wenn sie mit einem Stock auf den Boden klopfen, spüren und hören sie, wo die Knollen liegen. Sicher haben die damaligen Menschen auch fasziniert die Spürkraft der Tiere beobachtet, so wie man heute noch Schweine einsetzt, um Trüffeln zu finden.

Mit dem verfügbaren Großwild und den Knollengewächsen bot sich den Menschen ein reiches Nahrungsangebot, dessen Ertrag noch erhöht wurde durch die Einsparung an Verdauungsenergie durch das Kochen. Dem ungebremsten Bevölkerungswachstum konnte der Erectus durch Auswanderung begegnen, stand doch das Nahrungsangebot von Großwild und Knollen auch außerhalb Afrikas überall reichlich zur Verfügung. Jene kritische Bevölkerungsdichte, die den Übergang zur Agrarwirtschaft nötig machen würde und bei der die Jäger zu Hirten und die Knollensammler zu Ackerbauern werden müssten, lag noch in weiter Ferne.

Die maximale Hirngröße hatten die Frühmenschen schon lange vor dem Erscheinen des Homo sapiens erreicht; es erfolgte seit dem Homo heidelbergensis vor 600 000 Jahren kein weiteres Wachstum mehr. Man gab sich offenbar zufrieden mit dem, was man war. Die hohen organisatorischen und sozialen Kompetenzen dieser Leute ermöglichten ihnen ein friedliches Gemeinschaftsleben mit reicher Nahrung und geschützten Wohnstätten. Die Orte des Wohllebens verließen sie nicht ohne Not, und wenn, dann als ganze Gruppe.

Ob es damals schon Menschen gab, die auch einzeln unterwegs waren, wissen wir nicht. Der einzige archäologisch nachgewiesene Einzelgänger, der Ötzi, war ein Homo sapiens, der vor 5000 Jahren lebte. Seit wann wurden wohl die ersten Geschichten über einsame Helden erzählt, die ein Abenteuer überlebten? Von solchen, die von Sehnsucht zu einer fernen Liebe bei Nacht und Nebel loszogen, und solchen, die von der Gruppe abkamen und sich in der Wildnis verirrten.

Von den San, jenem ältesten Sammler-Jäger-Volk im südlichen Afrika, kennen wir die Geschichte eines Mannes, der seine Gruppe wegen eines Zwistes verließ und viele Jahre allein an einem Wasserloch lebte. Als man ihn nach der Rückkehr fragte, ob er denn nie Angst gehabt hätte, gab er zur Antwort, dass dies ein einziges Mal vorgekommen sei, als sein Hund in der Nacht unruhig wurde. Er habe dann schnell ein Feuerchen gemacht, und die Angst sei verflogen. Der Mann berichtete nicht von einem wilden Tier, das ihn angegriffen hätte und das er erfolgreich zu bezwingen wusste. Solch eine Übertreibung – man sprach noch nicht vom Jägerlatein – wäre von den Zuhörern bemerkt und infrage gestellt worden. Wir wissen von den Aufzeichnungen der Gespräche der San am abendlichen Lagerfeuer, dass die Gruppe sehr bedacht war darauf, dass sich kein Einzelner mit besonderen Leistungen brüstete. Individuelle Heldentaten waren damals keine dienlichen Beiträge; der Erfolg der Gruppen basierte auf egalitär-kooperativem Teamwork.

Heldengeschichten wie die Odyssee werden erst in den militarisierten Gesellschaften der Agrarzeit entstehen und sich als eigenes Erzählgenre in unzähligen Varianten bis zum heutigen Tag weiterentwickeln. Je öfter solche Rückkehrerstorys erzählt wurden, desto mehr beobachtete die Zuhörerschaft eine seltsame Strukturgleichheit in den Geschichten. Dieses Erzählmuster wird der Mythologe Joseph Campbell später als den »Monomythos« bezeichnen, eine Storyline, unter anderen mit den Passagen Berufung (Ruf des Abenteuers), Weigerung (Zögern), Entscheidung zum Aufbruch, Auftreten von Problemen, übernatürliche Hilfe durch Mentoren, zentrale Prüfung (zum Beispiel Kampf mit dem Drachen), Sieg, Erhalt eines Schatzes, Verzögerung der Rückkehr durch weitere Probleme und Heimkehr.7

Je mehr die Menschen diese Geschichten zu lieben begannen, desto häufiger wurden sie erzählt. Kaum ein Film kann sich heute leisten, ohne diese Struktur auszukommen, die Zuschauer würden ihn als langweilig empfinden. Mit Spannung verfolgen wir im Film »The Revenant – Der Rückkehrer« Leonardo DiCaprio auf seiner Blutspur über plot point one und plot point two bis zum triumphalen Ende. Und selbst Geschichten ohne Happy End wie »Easy Rider«, in denen der Antiheld die Story nicht überlebt, können uns fesseln. Erste Aufzeichnungen von »Roadmovies« finden wir schon in ägyptischen Tempeln, wo auf wunderschönen Wandmalereien der Sonnengott auf seiner Barke die Nachtmeerfahrt durchlebt. Wir finden diesen Archetypus auch in den biblischen Geschichten von Jona im Bauch des Wals (Jon 1–4) sowie Josef und seinen Brüdern (Gen 37–50). Wir erleben den Monomythos in Gedichten wie in Hermann Hesses »Stufen«, wo der Aufbruch (in einen neuen Lebensabschnitt) mit der Zeile »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« so wunderschön beschrieben wird. Der Ethnologe Arnold van Gennep erkannte diese Storyline auch in indigenen Initiationsritualen und nannte sie die initiatorische Gestalt mit dem Dreischritt »Loslösung – Zwischenstufe – Einfügung«.8 Dieser Struktur folgen auch Selbsterfahrungsformate wie die Visionssuche oder die von dem Psychotherapeuten Paul Rebillot entwickelte »Heldenreise«, die sich heute großer Beliebtheit erfreuen.9

Ob auch die Reise von Ötzi einer solchen Struktur folgte, wissen wir nicht – einige Details, wie der Tod durch einen Pfeilschuss, lassen eine Flucht vermuten. Andererseits deuten die vielen Gegenstände, die er mit sich führte, eher auf eine geplante Wanderung hin. Ein unfertiger Bogen könnte sogar als ein Geschenk gedacht gewesen sein.

Das Reisemotiv der Überbringung eines Geschenks kennen wir von den Sammler-Jäger-Kulturen der San. Dieses Volk pflegt einen Brauch des Austauschs von »Nonfood-Präsenten« wie Schmuck oder Pfeilspitzen. Das nennt sich Xaro. Jeder San pflegt einen persönlichen Freundeskreis von durchschnittlich fünfzehn Xaro-Partnern. Die Ethnologin Polly Wiessner konnte miterleben, wie ein San, als in den Erzählungen am abendlichen Lagerfeuer einer seiner Xaro-Partner erwähnt wurde, so von Sehnsucht gepackt wurde, dass er noch in derselben Nacht aufgebrochen ist, jenen Menschen zu besuchen. Und sie hat in ihren Forschungen festgestellt, dass die Wohndistanzen der Xaropartner zwischen 30 und 200 Kilometer betragen konnten.

Auf dem Jakobsweg müssen die Pilger zu Fuß mindestens 100 Kilometer und per Fahrrad oder Pferd mindestens 200 Kilometer zurücklegen, um die begehrte Pilgerurkunde, die »Compostela«, zu erhalten. Dieses Ziel erreichen jährlich über 300 000 Pilger, und es werden immer mehr. Auch mich faszinierte das Phänomen Jakobsweg, vor allem die Frage, was die Menschen dazu bringt, diesen langen Weg trotz schmerzhaften Blasen an den Füßen bis zum Ziel zu gehen. So kam ich auf die verrückte Idee, den Jakobsweg »verkehrt« zu gehen, also in Santiago de Compostela zu beginnen. Als ich dieses Vorhaben einem meiner Bekannten vorstellte, einem Filmemacher, war er gleich Feuer und Flamme und wollte das Projekt filmisch begleiten. So flogen Paul und ich direkt nach Santiago.

Rund um die Kathedrale bietet sich dem Besucher das für solche Orte übliche Bild eines geschäftigen Treibens. Im Innern der großen Kirche findet sich dann aber auch Überraschendes. Gleich ins Auge fiel uns die Menge von Beichtstühlen, wir zählten zwölf. Offenbar gibt es viele Pilger, die noch etwas zu bereinigen haben. Und dann das Bild des berittenen, schwertschwingenden Santiago, am Boden ein abgeschlagener Kopf und die Überschrift »Matamoros«, das heißt »Maurentöter«. Es hat mich schon etwas befremdet, die lange Schlange von Besuchern vor dem – mit einem Lichtsignal geregelten – Eingang zur Krypta mit dem Grab eines fremdenfeindlichen Heiligen. Ist doch der Pilger selbst ein Fremder, wie es die eigentliche Wortbedeutung nahelegt: Der Begriff geht letztlich wohl zurück auf das lateinische Substantiv beziehungsweise Adjektiv peregrinus für »Fremdling« respektive »fremd«.

Für den Besuch des Grabes öffnete sich mir eine unerwartete Möglichkeit. Aus welchem Grund auch immer erwachte ich des Nachts und konnte nicht mehr weiterschlafen. So stand ich auf und begab mich auf einen Spaziergang durch die mittelalterlichen Gassen. Vom Kirchturm schlug es vier. Aber da war noch ein anderes Geräusch, ein Zischen, das allmählich lauter wurde. Schließlich erblickte ich den Verursacher: Es war ein Reinigungsmobil. Im Scheinwerferlicht leuchteten die zischenden Wasserstrahlen wie viele kleine Springbrunnen. Und dann hörte ich dasselbe Geräusch auch in einer anderen Richtung; es mussten mehrere solcher Fahrzeuge unterwegs gewesen sein. Das große Reinemachen vor dem nächsten Pilgeransturm. Die Kathedrale lag im Dunkeln, auf den Mauern der matte Schein einer ferneren Straßenlaterne.

Ich stieg die wenigen Treppenstufen hinauf zu einer Tür, die überraschenderweise unverschlossen war. Im Innern bot das Licht einiger brennender Kerzen etwas Orientierung. Schritt vor Schritt setzend, näherte ich mich dem Eingang zur Krypta mit dem Grab des Santiago. Da, auf einmal ein seltsames Geräusch – sschtsscht … sscht. Mit beklemmendem Gefühl in der Brust und mit dem Mut der Neugier stieg ich vorsichtig eine andere Treppe hinunter. Das rhythmische Geräusch wurde lauter; es kam von einem seitlichen, kuppelförmigen und vergitterten Raum, der leicht beleuchtet war. Zentimeter um Zentimeter schob ich mich vorwärts, bis ich dann um eine Ecke schaute und einen kehrenden Besen sah – sscht … sscht … sscht.

So wie draußen in den Straßen war nachts also auch drinnen in der Kathedrale Reinigungspersonal am Werk. Dass eine Frau genau dann im Grab kehrte, als ich nachts hinunterstieg, war eine eigenartige Koinzidenz – eine Botschaft? Dass Obaluaiê, der Orixá der Erde, des Lebens und Sterbens und der Gräber, mit einem Besen dargestellt wird, davon wusste ich damals noch nichts. Ich wäre auch nicht auf die Idee gekommen, dass der Name »Compostela« etwas mit »Kompost« zu tun haben können, hieß es doch, der Name leite sich von campus stellae (Sternenfeld) ab und beziehe sich auf eine Lichterscheinung in Zusammenhang mit dem Jakobsgrab. Heute nimmt man an, dass der Name sich vom lateinischen compostum (Friedhof) ableitet, weil die Römer an der Stelle, an der heute die Kathedrale steht, möglicherweise ihre Toten begruben.

Der Name lädt zu weiteren Wortspielen ein: Wenn wir Jakobspilger als Friedhofsbesucher, also »Kompostisten« bezeichneten, gäbe es da eine überraschende Verbindung zur Biologin Donna J. Haraway, die sich »Kompostistin« nennt.10 Sie meint, wir heutigen Menschen seien nicht Posthumanisten, sondern Kompostisten, weil wir durch unser immenses Bevölkerungswachstum eine Unmenge an anderen Lebewesen zum Aussterben bringen. Mit ihrem Slogan »Make kin, not babies« (etwa »Macht euch verwandt, nicht Babys«) appelliert sie an uns, uns wieder mehr als Teil auch der »mehr-als-menschlichen Welt« zu sehen und mit ihr eine Sippe zu bilden. Für die Jakobs-Kompostisten hieße das, als Ziel nicht eine zu erbringende Leistung zu sehen, sondern eine Kontaktpflege mit der Erde und allem Lebendigen: »Make kin, not selfies.«

Wenn wir ein Grab besuchen, ist das eine Kontaktaufnahme mit Ahnen; und so sind Jakobspilger eigentlich Ahnenreisende. Wir wissen, dass schon die Neandertaler Gräber für ihre Toten anlegten. Noch älter ist ein Fund in Spanien, den Archäologen aufgrund einer Steinaxt als vermutete Grabbeigabe als letzte Ruhestätte deuten. Mit 350 000 Jahren wäre dies das älteste bekannte Grab der Menschheitsgeschichte. Das älteste gefundene Grab eines Homo sapiens liegt in Israel und ist 100 000 Jahre alt.

Unsere Vorfahren hatten also schon vor Urzeiten die Erfahrung gemacht, dass Verstorbene nicht einfach tote Körper sind, sondern auf irgendeine unsichtbare Art weiterwirken können. Es war von Bedeutung, wie sie begraben wurden, und so gehört auch der Ahnenneben dem Opferkult zu den Urelementen religiöser Praxis.


Die Neandertaler besiedelten Europa während 200 000 Jahren. Ihre Höhlenmalereien, ihr Kunsthandwerk und ihre Bestattungsriten zeugen von einer großen religiösen Praxis. Die Grabbeigaben Speer, Fleischstück und Mammutzahn, und das junge Alter des Verstorbenen deuten darauf hin, dass der Mann bei der Mammutjagd ums Leben gekommen ist. Der Leichnam wird mit Ocker bestreut und mit einem weißen Fell zugedeckt; vielleicht ein Akt der Würdigung und des Ausgleichs gegenüber einer gebenden Erde?


REZEPT

HIRTENOFEN

Diese Kochart stammt aus den Anden Südamerikas, wo sie vor allem am großen Fest der Pacha Mama (Mutter Erde) zum Einsatz kommt. Der Kochprozess ist eine Mischung aus Grillen und Dämpfen, man braucht weder Wasser noch Gewürze oder Kochutensilien. Und das Essen schmeckt wunderbar.

Aus der Natur brauchen wir: mittelgroße Steine, Brennholz, große Pestwurzblätter, zahlreiche Grassoden.

Zutaten sind: Kartoffeln, große Zwiebeln, dicke Karotten, geviertelte Sellerieknollen, Maiskolben, Kohl, Kohlrabi, Wirsing, Paprika (Peperoni), Hühnchenfleischstücke.

Zuerst wird ein Ofen aus Steinen gebaut, und zwar kuppelförmig. Das heißt, der Grundriss ist kreisförmig, wobei eine Öffnung für das nachherige Einfeuern frei gelassen werden muss. Dann wird wie bei einem Iglu Stein auf Stein gesetzt. Wichtig ist, dass schon von allem Anfang an die Steine so aufeinandergeschichtet werden, dass sich die Wände nach innen neigen. Die Schlusssteine sollten dann wie bei einer römischen Brücke senkrecht eingesetzt werden können. Das ist nicht immer ganz einfach, oft geschieht es, dass das Bauwerk teilweise einstürzt. Je kantiger die Steine und je flacher ihre Seiten sind, desto besser geht es. Die Größe des Ofens lässt sich je nach Anzahl der Leute, die ernährt werden sollen, anpassen.

Nun wird der Ofen eine Stunde lang kräftig eingeheizt. Am Schluss lässt man das Feuer herunterbrennen, sodass nur noch eine kräftige Glut übrigbleibt.

Nun beginnt das Befüllen des Ofens, was eine ziemlich heikle Angelegenheit ist. Zuerst werden die Kartoffeln durch die Feueröffnung hineingeworfen, sodass sie auf der Glut zu liegen kommen. Dann wird die Öffnung mit einem Stein verschlossen. Im nächsten Schritt bewaffnen sich einige Personen mit Holzstöcken und Handschuhen und lösen vorsichtig die obersten Steine, sodass diese in den Ofen hineinpurzeln und die Kartoffeln bedecken. Dann werden nach und nach alle Gemüse – außer Paprika und Wirsing – sowie das Fleisch hineingegeben, dazwischen immer wieder auch die heißen Steine der Ofenmauer, die so nach und nach abgebaut wird. Nach dieser Prozedur sollte das gesamte Gemüse (außer die Paprika) von heißen Steinen umhüllt sein. Nun bedecken wir den heißen Haufen vollständig mit Pestwurz- oder anderen großen Blättern. Oben darauf kommen Paprika und Wirsing, die auch noch mit einer Blätterschicht bedeckt werden.

Jetzt muss der ganze Haufen mit den bereitgestellten Grassoden absolut dicht zugedeckt werden. (Wichtiger Hinweis: Es werden meist zu wenig Grassoden bereitgestellt, und dann beginnt der Stress …) Nach einer Stunde sollte das Essen gar sein. Wir entfernen zuerst die Grassoden, nehmen die Paprika und den Wirsing, bauen danach den Steinhaufen ab und fischen die gegarten Speisen heraus.


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