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KAPITEL 2
ОглавлениеGenf – die magischen Jahre
Genève devient de plus en plus la ville neutre et cosmopolite où se débattent tous les grands procès d’idées et où se commencent les institutions humaines.
Genf wird mehr und mehr zur neutralen und kosmopolitischen Stadt, wo sich die grossen ideellen Auseinandersetzungen abspielen und wo die menschenfreundlichen Institutionen ihren Anfang nehmen.
«Es war zu dieser Zeit», schreibt Jean-Elie David, «dass der Kanton die alten Kanonen der Schanzen verkaufte. Ich habe sie Seite an Seite stehen sehen, in einem Schuppen, den man neben der Bastion de Hollande errichtet hatte. Sie waren nutzlos geworden, weil die gesamten Befestigungsanlagen geschleift wurden.» Das einprägsame Bild einer Parade ausgedienter Geschütze, von Grünspan befallen, stammt aus den Jugenderinnerungen des Landvermessers David, den wir noch näher kennenlernen werden – und es verkörpert auf eindrückliche Weise einen Wendepunkt in Genfs Geschichte. In den frühen 1850er-Jahren liess die Stadt den breiten Befestigungsgürtel abtragen, der sie seit dem 17. Jahrhundert umschlossen hatte: ein Panzer aus Stein, ein System aus Wällen, Mauern, Bollwerken und Forts, das ebenso viel Raum beanspruchte wie die alte Stadt selbst. Aber die Schanzen waren genauso nutzlos geworden wie die alten Kanonen, die nun am Holland-Bollwerk auf den Schrotthändler oder den Liebhaber von Antiquitäten warteten. Beide mussten sie weg – und mit ihnen das alte Genf.
Was sich nach der «Entfestigung» herausschälte (ein Wort, das Amiel zugesagt hätte), war die uns heute vertraute Stadt. Sie wendete sich dem See zu, mit dem Bau von grosszügigen Quais, Uferpromenaden, Brücken und Parks. Die 1857 eingeweihten beiden jets d’eau setzten mit ihren Fontänen dieser Öffnung ein Denkmal. Das tat auch die fünf Jahre später eröffnete Montblanc-Brücke, die gleichsam einen Schlussstrich unter die Ära der Enge und Einkapselung zog. Viele Neuerungen der Epoche von 1850 bis 1870, die uns hier interessiert, gehen zurück auf die Aufbruchszeit der Jahrhundertmitte. Sie wird durchwegs verknüpft mit dem Namen von James Fazy, dem tatendurstigen Genfer Staatsmann und Publizisten. 1846 hatte sich seine radikaldemokratische Partei an die Macht geputscht, und bis zu seiner Abwahl 18 Jahre später bestimmte Fazy weitgehend die Geschicke der Stadt. Dabei stützte er sich auf eine Ämterkumulation, wie sie höchstens noch in Zürich dem eine Generation jüngeren Alfred Escher zugestanden wurde. Fazy war Bankengründer und -präsident, Genfer Regierungspräsident, Ständerat in Bern, dazu Besitzer und Herausgeber des tonangebenden Journal de Genève: ein Macher, ein wortgewaltiger Redner und Schreiber, ein Herrschertyp, der sich als Mann des Volks gebärdete.
Im Journal de Genève erschienen gelegentlich auch die Abhandlungen und Rezensionen Amiels, aber im Journal intime ist jede Erwähnung Fazys grundiert von tiefem Misstrauen, ja von Hass. Zwar anerkannte Amiel das génie révolutionnaire des Politikers und zollte den Radikalen eine Art grollenden Respekts. Die konservative Seite könne vielleicht – so Amiel – Form und Tradition für sich beanspruchen, aber Kraft, Idee, Konzept fänden sich allein beim Radikalismus, auch wenn sie eine unheilvolle Zukunft verhiessen. «Bei unseren Radikalen sagen mir weder die Personen noch die Grundsätze zu. Bei den Konservativen schätze ich die Menschen, aber nicht ihre Maximen.» Fazy selbst war in seinen Augen ein zynischer Volksverführer, der «unter dem Deckmantel der Demokratie die Fahne der Lüge hisste». Seine Verehrer, die fazylâtres, waren verantwortlich für die Verrohung der politischen Sitten: Blutsauger, gewissenlose Karrieristen.
So wie Amiel dachten viele Genfer, die von Naturell oder Erziehung her zum vieux Genève der Konservativen neigten. Entsprechend brachten sie durchwegs das Regime Fazy mit dem radikalen Umbau in Verbindung, der das neue Genf schuf. Dabei hatte bereits Kantonsbaumeister Guillaume-Henri Dufour, genialer Kartograf und zwei Mal Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, die ersten Weichen gestellt. Der «Ring», der nach der Entfestigung auf ehemaligem Schanzengebiet einen Gürtel von Strassen, neuen Wohnquartieren, Parks und Plätzen brachte, war noch unter dem konservativen Regime konzipiert worden. Zur Umsetzung aber brauchte es die harte Hand des Machers Fazy. Die nach dem Schanzenabbruch erschlossenen Grundstücke wurden an die Meistbietenden verkauft. Mit dem Ertrag – und öffentlichen Anleihen in für die Schweiz ungewöhnlicher Höhe – finanzierte das neue Regime Brückenbauten, ein Wasserkraftwerk in der Rhone und selbst ein Kasino. Dieser cercle des étrangers, prominent an der Seefront gelegen, galt den Konservativen als Inbegriff des vulgären neuen Genf der Emporkömmlinge und Glücksritter.
Zusammen mit dem bebauten Gebiet wuchs in den zwei genannten Jahrzehnten auch die Einwohnerzahl massiv an: von rund 37’000 auf 60’000. Neue Kirchen wurden gebaut: die katholische Notre-Dame, eine Synagoge, eine anglikanische Kapelle – sie alle erst ermöglicht durch die neu verankerte Freiheit der Religionsausübung. Gleichsam als Gegenstück entstand 1856 der Bau der Börse, den Skeptiker spöttisch als «Fazy-Tempel» bezeichneten. Ein Jahr zuvor war das Palais électoral eingeweiht worden. Es ersetzte als Versammlungs- und Wahllokal die Kathedrale Saint-Pierre; in den Augen vieler hatten die tumultuösen Auseinandersetzungen während des Umsturzes den ehrwürdigen Boden dieser Kirche entweiht. Als wären der Baustellen noch nicht genug, hatte die Stadt im gleichen Jahrzehnt den Bau zweier Bahnlinien zu verkraften. 1858 brachte, ausgehend von der Gare de Cornavin, die Eröffnung der Schienenstrecken nach Lausanne und nach Lyon. Wenig später verkehrte auf Genfs Strassen ein seltsamer pferdegezogener Omnibus auf Schienen: die erste Strassenbahn des Landes! Auch die Académie mit ihren altehrwürdigen, aber bröckligen Hörsälen hatte ausgedient. Amiel selbst schrieb die Eröffnungshymne für den Universitäts-Neubau. Er kam in die Bastions zu liegen – ein Niemandsland zu Füssen der mittelalterlichen Befestigung, mit alten Bäumen und malerischen Teichen, wo im Frühjahr die Nachtigallen sangen und die Frösche quakten. «Die Frösche wichen den dicken Mauern», erinnert sich Landvermesser David, «die Gräben wurden aufgefüllt.»
Genf war im Baufieber, Genf hatte den Anschluss an die nationalen und internationalen Bahnnetze geschafft. Aber im Frühjahr 1860 gerieten Stadt und Kanton auch in den Brennpunkt eines aussenpolitischen Konflikts – und an den Rand eines Kriegs. Beim italienischen Einigungskrieg des Vorjahrs hatte sich Frankreich an die Seite von Sardinien-Piemont gestellt; gemeinsam hatten die Partner gegen die österreichische Vorherrschaft auf italienischem Boden gekämpft. Dass sich Frankreich einen Preis für die Hilfestellung ausbedungen hatte, wurde erst nach dem Frieden von Zürich (November 1859) offenkundig. Das ehemalige Herzogtum Savoyen sollte zu Frankreich geschlagen werden – eine Erweiterung des Staatsgebiets um 10’000 Quadratkilometer. Zu ihnen gehörten die Provinzen Chablais und Faucigny am Südufer des Genfersees. Die Verträge am Wiener Kongress von 1814/15 hatten hier eine entmilitarisierte Zone geschaffen und der Schweiz das Recht eingeräumt, Nordsavoyen im Kriegsfall militärisch zu besetzen. Jetzt, mit der Annexion, drohte dieses Recht zu erlöschen. Genf, auf allen Seiten von französischem Gebiet umschlossen, würde sich in einer strategisch unhaltbaren Lage finden. In Bern pochte der Bundesrat auf eine Neutralisierung des Léman-Südufers und verlangte nach einer internationalen Schlichtungskommission; in Paris gab man sich zurückhaltend.
Die Savoyerfrage kam während Monaten nicht zur Ruhe. Vorübergehend brachte ein Angebot von Napoleon III. Entspannung: Er sei gewillt, die beiden Provinzen an Genf «abzutreten». Es fiel bald in Vergessenheit, denn Savoyens Bevölkerung stimmte dem Anschluss an Frankreich mit überwältigendem Mehr zu – auch im Norden. Eine kriegerische Minderheit in Bern und Zürich plädierte für sofortiges militärisches Eingreifen; ein Genfer Grossrat namens John Perrier dampfte, zusammen mit einer Handvoll Anhänger, mit einem gekaperten Ausflugsschiff nach Thonon und versuchte einen genffreundlichen Aufstand anzuzetteln. Perrier, oft als «rechte Hand Fazys» bezeichnet, scheiterte kläglich und wurde nach seiner Rückkehr inhaftiert.
Viele Bauarbeiten in Genf gerieten während des Konflikts ins Stocken. Erzürnte Anhänger Perriers belagerten das Rathaus, wo die Rädelsführer der verunglückten Expedition in Haft sassen. Amiel selbst schildert, wie er sich auf dem Nachhauseweg von einer Vorlesung zwischen den Ordnungstruppen mit ihren aufgepflanzten Bajonetten durchzwängen musste: «Wer da? Halt! Wegtreten! schallt es von allen Seiten. Wir befinden uns praktisch im Ausnahmezustand.» Die «abscheuliche Eskapade» von Perrier schien ihm die Ruchlosigkeit des Regimes von Fazy ein weiteres Mal zu bestätigen. Als dieser vier Jahre darauf abgewählt wurde, kam es erneut zu blutigen Unruhen; abermals entsandte Bern eidgenössische Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Aber in eben diesem Jahr 1864 unterzeichneten die Vertreter von zwölf europäischen Staaten im Hôtel de Ville die Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsverletzten und ihrer Betreuer: die Geburtsstunde des Roten Kreuzes! Was als städtebaulicher Kraftakt begonnen hatte, wirkte sich in einem viel allgemeineren Sinn aus. Genf öffnete sich nach aussen, wurde zur Stadt mit internationaler Ausstrahlung. Das bestätigte sich erneut im Jahre 1872, als Genf zum Gastgeber einer Schlichtungskonferenz wurde. Das so genannte Alabama-Schiedsgericht legte eine brisante Streitfrage zwischen Grossbritannien und den USA bei, die zu eskalieren drohte; zwei Grossmächte regelten ihren Konflikt auf friedliche Weise. Für einmal empfand auch Amiel Stolz auf seine Heimatstadt. Nirgends anders als hier werde «das Buch des Fortschritts und des Rechts geschrieben», meldet das Tagebuch, «das Buch der weltweiten Zivilisation».
Kaufen und Verkaufen, Markten und Feilschen ... Der Strassenhändler mit seinem Bauchladen voller Bänder, Seifen und Knöpfe verkörpert das Genf der zweiten Jahrhunderthälfte, die dem Handel rasant wachsende Umsätze bringt. Es entsteht eine florierende Börse, und die Zahl der Banken steigt steil an.