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Kapitel 1. Die Rückkehr nach Berlin

1.

Dennis fiel durch diese endlose warme und schwarze Röhre, die ihm sein Bruder immer wieder zur Verfügung stellte, wenn es brenzlig wurde. Er fühlte sich geborgen. Dann sah er in weiter Entfernung einen Lichtschein, der schnell näherkam. Er landete in einem Feuer als züngelnden Blitzen mitten in der Hauptverkehrszeit auf dem Kudamm in Berlin. Er hatte eben durch Patrick einen Zeitsprung von 2300 Jahren gemacht und 20.000 Kilometer in weniger als einer Minute überwunden.

Er hatte das Gefühl, dass die Luft um ihn herum stank.

Jedenfalls roch es komplett anders, als dort im Regenwald, den er erst vor einer Minute verlassen hatte. Die Menschen hatten sich ein wenig erschreckt, als er da so plötzlich auftauchte, und machten einen Bogen um ihn, denn sie hatten es eilig, und wollten nicht anhalten. Schon die nächste Gruppe der Passanten fand es normal, dass da so ein „betrunkener Penner“ auf der Strasse lag.

Dennis hatte noch diese indianische Kleidung an, die ihn als Führer der Krieger der Théluan auszeichnete. Er war etwas benommen, doch diesmal kam er schnell zu sich.

Es war gerade rechtzeitig. Ein paar Jugendliche kamen auf ihn zu und begannen ihn anzupöbeln. „Geiles Fastnachtskostüm da“, „hast dich wohl in der Zeit vertan“, „guck mal da, das Plastikmesser und die Glassteine.“ Sie streckten die Hände nach Dennis Dolch aus, doch diesmal stand Patrick ihm sofort bei. Ohne das Zutun von Dennis begann das Feuer um ihn zu leuchten, es entfaltete sich sofort zu einem hellen Schein, und Dennis sprang auf.

Die Weste, das Messer und das Kurzschwert waren zu diesem Zeitpunkt Dennis einziges Vermögen. Der einzige Nachweis, dass er aus der Vergangenheit gekommen war. Vielleicht war das der Grund, warum Patrick ihm so verblüffend schnell beistand.

Dennis wusste nicht, wie sein Bruder das machte, dass er Dennis bei besonderen Gefahren immer beschützte. Diese Sache mit dem Leuchtfeuer gab es nur in bestimmten Situationen. Es war immerhin das, was Dennis noch am ehesten selbst beeinflussen konnte, von seinen übernatürlichen Kräften.

Es war nicht so, dass er mit den Fingern schnippen konnte und dann tat sich was. Es schien, als wolle Patrick jeden denkbaren Missbrauch dieser Fähigkeiten verhindern. Gewiss, es gab immer wieder Situationen, da hatte Dennis seinen Bruder angefleht, ihm dieses Licht zu schenken. Er konnte es sogar beeinflussen. Patrick war stets gnädig mit Dennis gewesen. Aber Dennis hatte diese Fähigkeiten nie missbraucht. Er dachte nicht im Leben daran, das jemals zu tun.

Auch diesmal war es wieder so gewesen, dass Patrick ihn vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Dann hatte er ihm auf dem Kudamm dieses Licht geschenkt.

Die Jugendlichen ließen nicht locker. Einer hatte schon die Hand an Dennis Messer. Da streckte Dennis die Hände gegen ihn aus, und es gab eine elektrostatische Entladung, die den Jugendlichen mehrere Meter zurückschleuderte. Er riss dabei ein paar Passanten um, die sofort begannen, nach der Polizei zu rufen. „Auf ihn“, riefen die Jugendlichen.

Es wurde brenzlig. Dennis floh.

Er rannte im Zickzack über die Strasse, dann raste er die Treppen zur U-Bahn hinunter. Er merkte, dass er verfolgt wurde. Es waren mehrere. Dennis hatte keinen Fahrschein. Er übersprang die Sperren, er lief auf den Bahnsteig. Er kam in das Blickfeld der Kameras, und er wurde immer noch verfolgt.

Mit der Hilfe seines Bruders übersprang Dennis die Doppelgleise mit einem Satz, dann rannte er die Treppen hinauf. Jetzt konnte ihn niemand mehr einholen. Er lief die Strasse hinunter, und ging in das erstbeste chinesische Restaurant.

Dort begann er am Tresen leise seinen Singsang, seine universelle Sprache, wie er das nannte. Er sah, dass die Chinesen ihn verstanden. Sie waren völlig verblüfft, aber sie verstanden ihn.

Dennis bat um ein Telefonbuch und darum, ein oder zwei Telefonate zu führen. Er könne jetzt nicht bezahlen, aber er würde sich später erkenntlich zeigen.

Die Chinesen sahen sich diese merkwürdige Gestalt an, Sie sahen seine beiden Waffen, die ihnen seltsam vertraut vorkamen. Etwas in dieser Art hatte es auch im alten China gegeben. Dann winkte einer der älteren Chinesen Dennis kurzerhand in die Küche, gab ihm das Mobiltelefon und ließ ein Telefonbuch bringen.

Es war lange her, dass Dennis ein Handy in der Hand hatte, aber er schaffte es. Connys Nummer stand nicht im Telefonbuch. Aber er fand die Nummer des Konservatoriums.

Er ließ sich mit der Direktorin verbinden. Es war ein wenig mühsam, aber Dennis war höflich und sehr bestimmt. Es ist ein Notfall, sagte er. Es geht um Conny.

Als die Direktorin an den Apparat kam, fiel sie aus allen Wolken. Natürlich wusste sie noch, wer Dennis war. Wie war das möglich? Dennis war doch tot. Aber sie erkannte Dennis an der Stimme, und sie gab Connys geheime Telefonnummer bereitwillig an Dennis weiter. Ja, sie sei in Berlin, ja, sie habe sie gestern noch gesehen. Mehr wusste sie nicht.

Dennis betete, dass Conny da war. Nach fünfmal klingeln kam Conny endlich ans Telefon. Sie war unwirsch. Sie war in ihren Proben gestört worden, das war unverzeihlich.

Als sich Dennis zu erkennen gab, war es minutenlang still, dann hörte er ein Schluchzen. „Mein Gott“, sagte Conny fast erstickt, „wo bist du?“

„Kennst du den Chinesen in der Stadt?“ Dennis ließ sich die Adresse geben. „Frag nach dem seltsamen Indio. Sie werden dich zu mir führen. Beeil dich.“

Dann bat er den Chef um einen sicheren Platz. „Ich werde gleich abgeholt. Kennen Sie Conny, die Geigerin?“ Der Chinese kannte Conny. Sie war eine Berühmtheit. Das war eine große Ehre für den Chinesen. „Conny kennt jeder“, sagte er.

Denis erklärte kurz. „Ich werde von ein paar Jugendlichen verfolgt. Sie haben es auf das da abgesehen.“ Er zeigte auf seine Dolche und seine goldverzierte Weste. „Hast du einen Hinterhof?“

Der Wirt versicherte Dennis, er werde Conny zu ihm führen.

Dennis verzog sich zu Mülltonnen und stinkendem Unrat. Der Wirt hielt Wort.

Conny brauchte etwa eine halbe Stunde. Dann kam sie in das Lokal. Der Wirt erkannte sie sofort. Er verbeugte sich. Die Chinesen respektieren außerordentliches Können mehr als viele andere Völker.

Conny ließ sich in den Hinterhof führen und bat darum, alleine gelassen zu werden. Dennis der sich bis zu diesem Zeitpunkt hinter den Mülltonnen unsichtbar gemacht hatte, stand auf und er ging auf Conny zu.

Conny war eine elegante Erscheinung. Sie war nicht mehr dieses lange schlaksige Mädchen, das Dennis einst gekannt hatte, aber Dennis erkannte sie sofort.

Conny war immer noch verwundert, und sie erkannte Dennis trotz seiner seltsamen Verkleidung.

Dennis machte es kurz. „Bist du noch meine Freundin?“ Als Conny wie selbstverständlich nickte, bat er: „Kannst du mich hier raus bringen? Sicher und weitgehend ungesehen?“

Conny handelte kurz entschlossen. „Vor dem Haus steht mein Auto. Ein großer schwarzer SUV.“ Sie nannte die Marke. „Die sehn jetzt anders aus als - na ja du weißt schon - der Motor läuft, die hintere Beifahrertür ist offen. Ich gehe voran, sichere ab, dann kommst du raus. Beeil dich.“

Sie hatte in wenigen Sekunden erfasst, dass die Situation brenzlig war. Sie war durch die U-Bahnkids geschult. Sie wusste, was zu tun war.

Beim Hinausgehen gab sie dem Wirt zweihundert Euro in die Hand. „Danke“, sagte sie, „und zu keinem ein Wort. Halt’ dich dran. Du wirst es nicht bereuen.“

Sie ging hinaus. Sie hatte das Gefühl, irgendwas stimmte nicht. Sie gab ihrem Fahrer das Zeichen, den Motor anzulassen und sofort loszufahren, wenn sie Bescheid gibt.

Sie setzte sich auf den Hintersitz, öffnete die Tür, dann kam Dennis aus dem Lokal. Sie sah, wie sich einige Jugendliche in Bewegung setzten, aber Dennis war schon im Auto, schloss die Tür und Conny befahl: „Los jetzt. Gib Gas.“

Die Limousine setzte sich in Bewegung, die Jugendlichen liefen noch einen Moment hinter ihnen her, dann bog der Fahrer ab. Er dirigierte die Limousine geschickt durch den Verkehr.

„Bob“, sagte sie, „das hier ist Dennis. Ein sehr guter Freund. Wenn dich jemand fragt, dann hast du ihn nicht gesehen. Du weißt von nichts. Klar?“

Bob nickte. Er war Bodyguard. Er kannte sich aus. Conny wendete sich zu Dennis. Sie nahm seine Hände. „Das da vorn ist Bob. Er ist mein Fahrer und Leibwächter. Du kannst ihm vertrauen.“ Sie sah Dennis mit großen Augen an. Sie befühlte kurz die Weste, dann sagte sie, „du stinkst.“

Dennis lachte befreit. Diese Offenheit liebte er an Conny. „Kein Wunder“, antwortete er. „Kannst du mir eine Badewanne und neue Klamotten besorgen?“

„Fahr nach Hause“, befahl Conny ihrem Fahrer. Nimm die Garage. Telefonier’ jetzt sofort nach George, Bertie und Bastian. Sie sollen das Haus absichern.“ Der Fahrer hatte Sprechfunk. Sie fuhren in den Westen Berlins, in die Villenvororte. Es gab hier riesige Grundstücke mit hohen Zäunen, hohen Bäumen, Hunden und Kameras. An einem der Grundstücke öffnete sich ein Tor. Der Fahrer fuhr hinein. Es schloss sich lautlos hinter ihnen. Auch das Doppeltor der Garage öffnete sich.

Zehn Minuten später lag Dennis in der Badewanne. „Hast du schon mal ‘nen nackten Mann gesehn“, fragte er Conny. „Ich tu dir nichts. Setz dich zu mir.“

Conny lächelte. Sie war keine Jungfrau mehr.

„Das hier alles“, sie zog mit der Hand einen Bogen, „gehört der Stiftung. Lass dich davon nicht beeindrucken. Ich bin hier nur Gast. Es gehört zur Staffage.“ Sie lachte ein wenig. „Ich bin inzwischen eine kleine Berühmtheit geworden. Da muss man die Neugierigen mit hohen Mauern fern halten.“

Es hat sich nichts geändert, dachte Dennis. Dann fragte er, ob Conny Zeit hätte. „Ich nehm mir diese Zeit“, hatte Conny geantwortet. Sie hatte schon telefoniert und einige Termine abgesagt, während das Badewasser einlief. „Aber sag mal. Was sind das für seltsame Klamotten, mit denen du aufgekreuzt bist?“

Dennis seufzte. „Das ist schwer zu erklären. Ich war weit weg. Nicht nur das. Ich war in einer Welt vor dieser Zeit.“ Er zog mit der Hand denselben Kreis durch die Luft.

Conny wartete ab. Sie kannte Dennis Eigenheiten.

„Ich weiß nicht, wann das war“, fuhr Dennis fort. „Es gab kein Telefon, keine Autos, keine Flugzeuge, keine Post und auch keinen elektrischen Strom. Die Klamotten sind sehr alt und sie sind sehr kostbar. Mehr als das hab ich im Moment nicht.“

Dennis hatte seine „Klamotten“ - vorsichtig wie er war - ins Badezimmer mitgenommen. Sie lagen in der Ecke, auf einem Stuhl.

„Du gibst immer noch Konzerte“, fragte Dennis, und als Conny leicht nickte, fügte er hinzu: „Hast du jemals dieses einzigartige Klangerlebnis gefunden, was du immer verwirklichen wolltest?“

Conny schüttelte den Kopf. „Ich bin nah dran. Aber nein. Ich hab’s nie gefunden. Es liegt irgendwo vor mir, ganz nah. Immer, wenn ich danach greife, dann entzieht es sich mir, wie wenn ich in einen Nebel hineinfasse.“

Dennis hob die Hand aus der Wanne und griff nach Connys Hand. „Vielleicht kann ich dir helfen. Ich habe dieses Klangerlebnis gefunden. Es ist gewaltiger, als wir uns das damals jemals vorstellen konnten. Ich habe es viele Male erleben dürfen.“

Er überlegte einen Augenblick. „Ich war tief in der Vergangenheit. Vielleicht gibt es das heute nicht mehr, aber es muss irgendwo auf der Welt Reste davon geben. Dort wo ich war, und vielleicht auch auf anderen Kontinenten. Wenn wir dieses Klangerlebnis finden wollen, dann müssen wir in die Vergangenheit reisen.“ Er fügte hinzu. „Vielleicht nicht zeitlich, aber doch so, dass wir Kulturen aufspüren, die Reste solcher Klangerlebnisse aufbewahren.“

Conny hatte eine Ahnung, was Dennis damit sagen wollte, aber sie konnte es noch nicht wirklich begreifen.

Dennis ließ Wasser nachlaufen, dann wusch er sich die Haare mit Shampoon. Das hatte er über zwei Jahre nicht gehabt. Es war anders, als in dem kalten Wasser der Flüsse und Bergseen zu baden. Es war nicht besser. Es war anders. Aber im Moment war es das, was Dennis brauchte. Dann erkundigte er sich nach seinen Freunden. Trifter, Laura, Bübchen, Allan, Susi… alles klar? Was ist mit der Stiftung, was mit den U-Bahnkids, was ist mit „dem Dicken“? Conny lächelte. „Alles paletti. Laura hat deine Position in der Stiftung übernommen. Damals, als du verschwunden warst. Sie macht es anders als du, aber sie macht es sehr gut. Sie wäre nicht unsere Laura, wenn sie nicht perfekt wäre in allem, was sie tut.“

„Und meine Mutter“, fragte Dennis.

„Der ging es sehr schlecht. Jetzt hat sie wieder geheiratet. Trifter hat das eingefädelt. Der Mann ist freier Filmproduzent für das Fernsehen. Deine Mutter ist wieder glücklich.“ Sie sah Dennis an. „Sie erwartet ein Baby.“

Dennis schaute Conny überrascht an. Dann sagte er „Ich freu mich. Ich freu mich für sie. Vielleicht hat sie Patricks Tod endlich überwunden.“

Conny wusste nicht alles, was damals geschehen war. „Das musst du selbst herausfinden“, sagte sie.

Dennis kratzte sich am Ohr und strich über seinen Bart. „Im Moment hab ich keine Papiere…“, bedauerte er, „und offiziell bin ich wohl tot.“

„Das solltest du mit Trifter besprechen. Er gibt solche Sachen stets an „den Dicken“ weiter. Ich weiß nicht genau, was der macht, aber er ist ein großes Tier. Keiner weiß genau, was der macht.“ Conny strich mit der Hand leicht und sinnend über Dennis Narbe am Hals. “Willst du, dass ich Laura und Trifter anrufe?“

„Bin ich hier sicher“, fragte Dennis, und als Conny nickte, bat er sie, „dann lass mich drei oder vier Stunden schlafen, dann bin ich bereit für Laura und Trifter. Das hier“, er machte wieder diese Kreisbewegung mit der Hand, „ist für mich eine ganz neue Welt. Ich muss mich ein wenig eingewöhnen. Außerdem waren die letzten Wochen und Tage nicht ohne… .“

Er schwieg.

Conny hatte ihm einen Trainingsanzug besorgt. „Ich kenne deine Größe nicht, aber das hier dürfte dir passen.“ Mit einem Blick auf Dennis Sachen meinte sie „Ich kann das da für dich in den Safe legen. Es stinkt zwar, aber ich pack’ das in eine Plastiktüte.“ Als Dennis dankbar nickte, führte sie ihn in eines der vielen Zimmer in dem großen Haus. „Du kannst hier schlafen. Wenn du etwas brauchst, dann rufe einfach nach mir.“

2.

Dennis schlief zwanzig Stunden durch. Vielleicht war es die ungewohnte Umgebung. Vielleicht war es die Bettdecke und das weiche Bett. Vielleicht war es auch nur der Anfang für ein neues Leben. Dennis brauchte den Schlaf.

Laura und Trifter waren wie vereinbart gekommen. Sie hatten Dennis tiefschlafend vorgefunden. Sie waren eine Weile geblieben. Sie hatten erneut nach Dennis gesehen. Dann waren sie gegangen. „Morgen früh sind wir wieder da“, hatten sie gesagt. „Wenn du uns vorher brauchst, sag Bescheid.“

Als Dennis am späten Vormittag aufwachte, zog Kaffeegeruch durch das Haus. Es duftete nach aufgebackenen Brötchen und Speck, und er streckte sich. Er zog die Vorhänge auf. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Er stand auf, und folgte dem Duft des frisch gebrühten Kaffees.

Das Haus hatte eine große Wohnküche. Dennis hörte sprechen und leises Gelächter. Er kannte die Stimmen.

Als er durch die Tür trat, verstummten Laura, Conny, Trifter und „der Dicke“.

Trifter begann über beide Backen zu grinsen. „Na“, feixte er, „von den Toten wieder auferstanden?“ Er ging auf Dennis zu und umarmte Dennis heftig. „Gut siehst du aus. Deine Freundin da…“, er zeigte auf Conny „…hat uns ein bisschen was erzählt. Viel weiß sie ja nicht.“

Auch Laura war aufgestanden. Sie war nicht so gefasst wie Trifter. Sie umarmte Dennis, dann begann sie zu weinen. Dennis hielt sie fest. Er hatte einen Klos im Hals. Dann hob Laura den Kopf, küsste Dennis leicht auf den Mund und zog ihn zum Küchentisch. „Du musst einen mords Hunger haben. Lang zu.“

Dennis sah all das Essen. Es duftete vertraut, aber Dennis war vorsichtig. Er verlangte nach einem stillen Wasser ganz ohne Kohlensäure und fing bedächtig an zu essen.

„Conny“, sagte er. „Bitte sei nicht beleidigt, wenn ich an diesen Sachen nur nippe. Es ist so ganz anders als alles, was ich in den letzten zwei Jahren gegessen habe. Mein Magen und mein Körper müssen sich erst wieder daran gewöhnen.“

Noch während des Frühstücks gab Dennis ein paar Auskünfte, um die gröbste Neugier zu befriedigen. „Ich weiß, wo ich war, aber ich weiß nicht, wann das war. Es gibt doch hier in Berlin so ein Archäologisches Institut. Vielleicht können die mit meinen Sachen eine Altersbestimmung machen. Ich weiß nicht, wie man das macht, ich weiß nur, dass es geht.“

Er erzählte ein wenig von der Kultur. „Ich war in Südamerika. In den nordwestlichen Anden. Es war eine ganz unglaubliche Reise. Die Menschen haben die Sonne angebetet. Sie hatten eine Königin, die erst dreizehn war und ich habe mich ganz gut behauptet“. Er grinste. „Ich weiß nicht, was das Zeug Wert ist, was ich mitgebracht habe. Es ist ein kleiner Teil von dem, was ich besitzen durfte. Ich habe Edelstein- und Goldvorkommen gesehen, wie ihr euch das nicht im Traum vorstellen könnt. Das was ich am Leib hatte, ist alles was ich mitgebracht habe. Es soll mir helfen, meine Identität zu finden. Meine alte und meine Neue. Ich muss mehr über diese Gegenstände wissen. Vielleicht könnt ihr mir dabei helfen. Es muss diskret passieren. Es gibt einige Dinge, die ich zu Geld machen muss. Von irgendwas muss ich leben. Außerdem bin ich offiziell tot. Ich könnte im Untergrund leben, so wie damals Bübchen oder Moses. Aber dann kann ich nicht danach forschen, was mir verloren gegangen ist. Außerdem habe ich Conny ein Versprechen gegeben. Es ist notwendig, dass wir reisen. Dafür braucht man Papiere.“

Dennis war mit dem Frühstück fertig. Conny räumte alles weg. Es gab hier selbstverständlich auch eine Spülmaschine.

Dann bat Dennis darum, seine Sachen zu holen. Er breitete die wenigen Mitbringsel auf dem Tisch aus. Sie rochen nach Schweiß, Fett, Erde und Blut.

„Naja. Ich merk selbst, dass das stinkt. Jetzt, wo ich gebadet bin, aber macht eure Nasen mal zu. Wir können die Stücke später vorsichtig reinigen. Achtet nur auf die Gegenstände.“

Er zeigte ihnen Steine und Goldklumpen, die er stets in den Innentaschen seiner Weste mitführte. „Ich kenn den Goldpreis nicht. Das sollte sich leicht zu Geld machen lassen. Diese Steine hier…“, er zeigte auf die Diamanten, „waren dort das wertvollste, was es gab. Ich weiß nicht genau was es ist, ich kenne nur die indianischen Namen dafür.“

Trifter bat Conny um irgendein Stück Glas. „Bilderrahmen oder irgendetwas …“, dann nahm er einen der Steine. Er ritzte über das Glas, es gab eine Rille, als sich der Stein kreischend in das Glas schnitt, dann hob Trifter das Glas leicht an. Es zerbrach in der Mitte entzwei. Genau am Schnitt.

„Diamanten“, sagte Trifter verblüfft. „Aber eine solche Färbung habe ich noch nie gesehen und einen solchen Schliff auch nicht. Manche sind leicht rosa, manche in hellstem Blau, manche leicht grün. Es gibt nichts vergleichbares. Die Steine, die ich aus Südafrika kenne sind klarweiß. hellgelb oder milchig, wenn sie nicht lupenrein sind. Die hier sind lupenrein.

Das sehe sogar ich. Und sie sind von einer Härte, die ich bei den südafrikanischen Steinen noch nicht erlebt habe.“ Dann nahm er das Kurzschwert in die Hand. „Mann“, sagte Trifter, „schau dir dieses Ding an.“ Er ritzte mit dem Stein leicht über das Glas.

„Das sind mindestens hundert Karat. Ich weiß nicht, ob es einen Markt dafür gibt. Ich kenne solche Diamanten bisher nicht. Aber der Stein sollte hundert Millionen bringen.“ Er zog die Klinge aus der kostbaren Scheide und prüfte die Schärfe. Er war beeindruckt. Das war bester Stahl. Er besah sich den Dolch mit dem Schlangenleder und dem massiven Goldknauf und er befühlte die Goldfäden in der Weste, die gepunzten Goldbleche und die in den Stoff eingewebten Topase und Smaragde. Er schüttelte verwundert den Kopf. Du bist reich“, sagte er zu Dennis, „du weißt es nur noch nicht.“

Dennis winkte ab. „Wenn wir das auf den Markt bringen, dann gibt es einen gewaltigen Run und viele Fragen. So wie damals in den USA in den Zeiten des Goldrauschs. Das will ich nicht. Vielleicht finden wir einen Sammler. Sehr diskret. Vorerst sollte es genügen, die Goldklumpen zu verkaufen. Außerdem gibt es hier noch ein paar schöne Steine. Er zeigte auf die Achate, die Topase und die Smaragde, die er aus den Innentaschen der Weste zog. Auch das sollte etwas bringen.

„Das Gold ist vermutlich um die fünfzigtausend wert“, meinte „der Dicke“, „die Steine… weiß ich nicht. Aber das kann man herausfinden. Wir werden das vorerst als Eigentum der Stiftung deklarieren, weil du offiziell noch tot bist. Dann können wir vorsichtige Recherchen anstellen. Das Gold ist kein Problem. Du kannst es an die Deutsche Gold und Scheideanstalt verkaufen. Die zahlen den Marktpreis. Aber Dennis, alles was du zum Leben brauchst, wird dir die Stiftung geben. Du kennst uns. Freunde helfen Freunden. Ohne zu fragen.“

Dennis nickte dankbar. „Gut. Die Weste, das Schwert und das Messer werden nicht verkauft. Die Diamanten auch nicht. Jetzt noch nicht. Das Gold und die anderen Steine kannst du zu Geld machen. Ich weiß nicht, was passiert. Ich will vorbereitet sein. Außerdem brauche ich eine neue Identität. Einen Pass. Ich lebe hier, also ist ein Pass eines Eurolandes am besten. Französisch, und so was, spreche ich aber nicht. Kommt also wahrscheinlich nur Deutschland in Frage. Vielleicht ist irgendwer gerade verstorben, dessen Identität ich übernehmen kann. Sauber und nach außen hin korrekt. Er muss mir wenigstens entfernt ähnlich sehen. Außerdem gibt es da noch das Problem mit den „Men in Black“. Sie haben mich damals gesehen. Sie haben mein Gesicht gesehen. Sie werden sich vielleicht an mich erinnern. Ich muss mein Aussehen ändern.“

„Übrigens… was ist aus der Sache damals geworden?“

Laura wollte in Gegenwart von Conny nicht viel darüber erzählen. „Sie haben nach uns geforscht, aber sie haben uns nicht gefunden. Nur José haben sie gefasst. Er hat nicht geplaudert, aber der arme Kerl hat das nicht überlebt. Mehr kann ich dir jetzt nicht erzählen.“ Sie sah Conny an. „Das dient deiner Sicherheit.“ Aber Conny hatte schon begriffen.

„Das sind eure Geschäfte. Ich habe meine Geschäfte. Du kannst das Dennis später erzählen.“

Dennis fragte auch „den Dicken“, „bin ich hier sicher?“ „Der Dicke“ nickte. „Absolut. Wenn du willst, werde ich einige Kids aus meiner Gruppe postieren. Das ist noch sicherer als Connys Leibgarde. Ich seh schon. Du willst uns dieses Mal erhalten bleiben.“ Dann sah er Dennis lange an. Er sah zu Laura. „Ich werd mal nach Begleitschutz telefonieren. Ich werde die Sachen in unseren Safe legen.“ Er schaute Laura an „… und ich werd’ mich jetzt verkrümeln. Ihr zwei habt euch sicher viel zu erzählen. Ich selbst werde bald wissen, was ich wissen muss. Ich muss ja nicht alles wissen.” Er schaute zu Conny und Trifter. „Lassen wir die beiden alleine.“

So ganz war das Dennis nicht recht, aber irgendwann musste er Laura alles erzählen. Also nahm er den Vorstoß „des Dicken“, wie er war, als Sprungbrett. Als Laura ihm zunickte, zog er sich mit ihr in „sein“ Zimmer zurück. Sie kuschelten sich auf das Bett.

3.

Sie lagen lange nebeneinander. Sehr lange.

Dann legte Laura ihre Hand vorsichtig und zärtlich in Dennis Gesicht, und sah ihn schweigend an. „Ich hab’ dich nie vergessen“, sagte sie. Es war der Beginn eines Geständnisses. „Was wird jetzt?“

Auch Dennis sah Laura lange an. Er berührte ihre Schulter. Er berührte ihre Lippen leicht mit seinen. Sie waren warm. Er spürte, dass Laura ihn begehrte. Das alte Gefühl brach wieder auf. Es hatte lange geschlafen. Dennis hatte zwei Jahre intensiv gelebt. Mit allen Sinnen. Er hatte vier Kinder gezeugt. Er hatte Liebe und inbrünstige Leidenschaft erlebt. Das hier war anders. Es sprang aus ihm heraus wie ein lang unterdrückter Wunsch.

Es war ihm egal, dass Laura sich zu einer Schönheit entwickelt hatte. Es war die Vertrautheit, die ihn mit Macht packte. Es waren die vielen schönen und auch gefährlichen Situationen, die sie gemeinsam erlebt hatten. Es war die lange Abwesenheit und vielleicht auch das latente Verlangen, das Dennis seit damals nie verlassen hatte. Jetzt war es zurück. Er würde festhalten, was er liebte.

Es war, als würde Laura seine Gedanken erraten. Auch sie hatte in den vergangenen zwei Jahren Männer gehabt. All das zählte nicht mehr. Sie liebten sich mit einer Inbrunst, die alles überragte und alles wegspülte, was jemals vorher war.

Hinterher lagen sie erschöpft nebeneinander. Sie atmeten immer noch schwer. Ihre Körper glänzten vor Schweiß. Sie glühten. Sie rochen nach ihrer Liebe.

Es dauerte nicht lange, dann liebten sie sich erneut. Es war ein gewaltiges Feuer, das da entfacht worden war und das sie hineinriss in einen Tunnel der Begierde. Mittendrin dachte Dennis einmal. „Danke, Patrick, danke.“

Danach fing er an zu weinen. Laura deckte sie beide zu. Sie hielt Dennis fest. Dennis zitterte. Es war viel mehr als nur Begierde gewesen. Es war, wie eine Wiedergeburt.

4.

Sie waren so miteinander beschäftigt, dass sie alles um sich vergaßen.

Sie liebten sich zum dritten Mal hintereinander. Sie hörten Conny wie in weiter Ferne üben. Manche Passagen immer wieder und immer wieder. Stundenlang. All das war weit weg von Ihnen. Am Abend stupste Laura Dennis an. „Ich hab’ Hunger“ sagte sie. „Will’ste auch was?“

Sie gingen in die Küche. Sie fanden Conny, die sich gerade was zu essen machte.

Conny lachte. „Da haben sich wohl zwei gefunden?“ Dennis nickte mit dem Kopf. „Ich mag Laura, seit ich sie das erste Mal gesehn’ habe, damals in der U-Bahn. Da ist sie die Treppe runtergehüpft und… .“ Er sprach nicht weiter. Er fasste Laura um die Taille und drückte sie an sich. „Wir haben Hunger. Hast du was für uns?“

Dennis entschied er sich für ein karges Mahl. Gekochter Reis mit ganz wenig Salz. Mehrere Stücke Obst. Stilles Wasser.

Conny lachte: „Ganz was uns der Arzt verordnet hat, was?“

Dennis schüttelte den Kopf. „Dort, wo ich war, da hatten wir Hirse, Maisbrot, viel Obst, Trockenfrüchte, Trockenfleisch und Frischfleisch. Es gab viele scharfe Gewürze und viele Kräuter, deren Namen ich nur in indianisch kenne und die es nur im Urwald gibt. Es gab Blüten, die man essen konnte. Es gab sogar Baumrinde und Käfer, die wir gegessen haben. Alles ohne Zusatzstoffe, ungeschält und unbehandelt. Wenig Salz. Das war sehr kostbar. Aber es gab braunen Zucker und ab und zu etwas Honig. Es war ein komplett anderes Essen. Ich muss aufpassen, dass ich davon“, er zeigte auf das Essen „nicht krank werde. Dort unten war ich in zwei Jahren nicht ein einziges Mal krank.“

Laura hatte Lust auf Honig Pops mit Milch. Dann aß sie Weißbrot mit Schinken und trank Tee dazu. Sie nahm Gurke und Tomate. Sie hatte richtigen Hunger. Dennis lächelte. Er strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht, die ihr im Eifer über die Augen gerutscht war.

„Übrigens“, meinte Conny, „wir Mädels haben heute wegen dir die Schule geschwänzt. Morgen früh muss ich wieder da sein. Ich steh kurz vor dem Abitur. Du weißt wohl nicht mehr, was Schule bedeutet?“

„Oh doch“, hatte Dennis geantwortet, „aber anders, als du das denkst. Dort wo ich war, habe ich einige Schulen gegründet. Wir haben eine Schriftsprache entwickelt. Es wurde Schreiben, lesen und Rechnen unterrichtet. Für Erwachsene. Ich selbst habe so was wie eure Schule schon lange nicht mehr gesehn. Es gab anderes, das wichtiger war. Es war alles anders. Aber du bringst mich auf einen Gedanken.“

„Ich bin offiziell tot. Ich kann mir auch nicht vorstellen, so eine offizielle Schule noch mal zu besuchen, mit all den Zwängen. Aber die Schule der Kids - wenn es sie noch gibt - die würde ich gern besuchen.“

„Das ist kein Problem“, hatte Laura geantwortet. Bübchen, Moses und die anderen werden aus dem Häuschen sein, wenn sie dich wiedersehn’.“

Laura blieb über Nacht. Das Bett war eng. Es war ihnen egal. Sie lagen beieinander.

In dieser Nacht erzählte Dennis leise von seiner Reise zu den Théluan. Er war völlig offen und ehrlich. Er erzählte von Polia und der Königin. Er erzählte von seinen Kindern, die er geliebt hatte. Er erzählte von den Anden, dem Urwald, den Festen und den Kämpfen mit Puma, Bär und den Kriegern der Karancula. Er erzählte von der Steppe und auch von Handwerkern, den Abwassersystemen, den Adobebauten, den Hochzeiten, dem tiefen Winter, von den Steinen und von dem Gold.

„Du musst eins verstehen“, hatte er am Anfang gesagt, „das was ich dir jetzt erzähle, kommt dir vielleicht vor wie ein Märchen. Alles ist wahr. Es war eine komplett andere Gesellschaft. Danach wirst du vielleicht verstehen, dass es schwer für mich ist, mich hier wieder einzuklinken. Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich tot bin. Im Untergrund, mit den Kids, werde ich schnell wieder Fuß fassen. Ich bin froh, dass es euch gibt.“ Er fügte hinzu: „Ich bin froh, dass es dich gibt.“

Laura hörte zu. Sie staunte. Sie streichelte die Narben in seinen Handflächen. Sie stellte ein paar mal Fragen. Sie ließ Dennis reden. Sie saugte Dennis Informationen auf und sie war dankbar, dass er ihr alles erzählte. Sie liebte ihn dafür, dass er seine Kinder geliebt hatte. Dennis hatte ihr erklärt: „Vielleicht ist das komisch für dich. Aber dort beginnen die Mädchen im Alter von 12 ihre Kinder zu kriegen. Sie haben in ihrem kurzen Leben 10, 12 und manchmal 15 Kinder. Einige sterben. Andere leben und erhalten die Art. Du kannst das nicht vergleichen mit heute. Alles ist reduziert auf eine Zeitspanne von etwa 30, 40 oder 50 Jahren Leben. Ich selbst wäre dort sicher nicht älter geworden.“

„Manomann“, sagte sie gegen Ende. Das, was du erlebst hast, erleben andere ihr ganzes Leben nicht. Du kannst dankbar sein“. Dennis hatte genickt. „Ja ich kann dankbar sein. Ich bin Patrick sehr dankbar.“ Dann erzählte Dennis das erste Mal in seinem Leben von Patrick. „Das bleibt unter uns“, warnte er Laura. „Ich kann einiges kontrollieren, aber nicht alles. Ich bin nicht der Gott, den ich da unten gespielt habe. Dort hat mir Patrick das Leben gerettet. Hier ist die Welt anders.“

Laura hatte genickt.

Es wurde eine lange Nacht der Bekenntnisse. Denn auch Laura erzählte von sich. Von der Stiftung, von Allan und Susi. Von den Kids und von Connys Erfolgen. Sie erzählte Dennis auch von ihren Liebhabern. „Anders als bei dir, haben die mir nie etwas bedeutet. Das gehörte dazu, aber ich bin durch dich verwöhnt worden. Du warst nicht zu ersetzen, auch wenn wir vorher noch nie… .“

5.

Am nächsten Morgen ging Laura in die Schule. Es fiel ihr schwer, nach allem, was sie in dieser Nacht von Dennis gehört hatte. Dennis war dieser Schule längst entwachsen. Sie fühlte, dass sie eine Gefangene dieses Systems war. Dennis hatte das Privileg gehabt, all diesen Zwängen zu entwischen. Er hatte frei wie ein Vogel gelebt. Die Zwänge, die sich dort stellten, hatte er nur durch seine und die Kraft seines Bruders überwunden, und, das war Laura in dieser Nacht klar geworden, durch die Liebe zu den anderen Menschen. Nicht nur zu Polia oder der Königin. Es war die gegenseitige Liebe, die Dennis schon früher stets versprüht hatte. Er wirkte ansteckend. Sie war glücklich. Dieser Dennis. Er war etwas Besonderes. Sie würde es festhalten, dieses Glück, solange es ihr vergönnt war.

Sie hatte Dennis vorgewarnt. „Heute Nachmittag habe ich zu tun. Die Stiftung hat viele Aufgaben. Ich kann mich nicht entziehen. Heute Abend bin ich wieder da.“

Auch Conny ging zur Schule. Als sie mittags kam, setzte sie sich erst mal hin, und büffelte englische und französische Vokabeln. Sie hatte Algebra und Rechenaufgaben. Dennis hatte ihr eine Weile zugeschaut und sich dann unsichtbar gemacht. Um halbvier kam Conny in Dennis Zimmer. Sie sah, dass Dennis ihr ein leeres Heft und verschiedene farbige Stifte geklaut hatte. Er zeichnete.

Sie setzte sich neben ihn und schaute ihm zu. Sie ließ sich erklären, was es war. Pyramiden, Lamas, Bär, Trachten, Masken und Krieger. Dennis war nicht der beste Zeichner, aber er hatte Talent. Er hatte das nie zuvor gemacht. Er kämpfte mit der Technik. Aber die Figuren und Gegenstände flossen klar und deutlich aus seiner Vorstellung auf das Papier.

Dann sagte Dennis: „Noch etwas. Die Musik. Hör mal zu… .“ Er erzählte von den Musikgruppen, von den Instrumenten, von schrillen, schrägen, lustigen, fröhlichen und kämpferischen Liedern. Er erzählte von den Festen und den Hochzeiten. Von Tanz und Orgien. Er merkte, dass er Conny faszinierte.

Dann hatte Dennis eine Idee. "Du hast doch eine Geige hier." Hol sie mal her. Dann begann er Conny leicht zu dirigieren. Spiel irgendein Stück. So jetzt versuch das mal fröhlicher. Noch fröhlicher. Steigere das bis zur Ekstase… und jetzt mach es traurig, wie bei einem Todesfall…

Sie wurden unterbrochen. Trifter ließ sich ankündigen.

Er hatte schnell gehandelt. „Das Gold ist weg“, sagte er. „Die Achate, die Topase und die Smaragde auch. Das waren wertvolle Steine. Alles zusammen gerechnet hat das 160.000 gebracht. Viel mehr, als ich vermutet hatte. Die Qualität ist einmalig. Die Händler waren begeistert. Sie haben gefragt, wo das her ist. Sie wollen mehr. Das Gold war reine 999er Qualität. Besser geht’s nicht. Ich habe für dich ein Konto angelegt. Auf meinen Namen. Hier hast du 5000. Das sollte fürs erste reichen. Außerdem habe ich dir eine Monatskarte gekauft.“

Er fuhr fort, „die andern Sachen hab ich den Safe gelegt. Ich weiß, wer solche Gutachten macht. Morgen geh ich dahin. Einen der Brillianten habe ich prüfen lassen. Der Gutachter war außer sich. Das ist ein ganz seltenes Stück. Er wusste, dass so etwas am Hofe der spanischen und portugiesischen Könige zu finden ist. Es gehört dort zum Kronschatz. Ich habe ihm gesagt, dass der Stein unverkäuflich ist, und ich habe ihm versichert, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Er wollte sich nicht festlegen, aber er hätte mir für den Kleinsten der Steine sofort 100.000 gegeben. Bar auf die Hand. Es gäbe dafür im Moment keinen Markt, aber wenn man diesen Stein ordentlich einführt, würde er mehr bringen als jeder lupenreine weiße Diamant. Er war sich sicher. Allerdings müsste man ihn umschleifen, hatte er gesagt.“

„Noch etwas: Die Sache mit den Papieren hab ich „dem Dicken“ überlassen. Er will ein Foto von dir. Das Ganze ist eine knifflige Sache. Es wird eine Weile dauern, wenn du die Existenz eines Verstorbenen annehmen willst. Ich soll dir ausrichten, nur falsche Papiere auf einen Phantasienamen sind unproblematisch, die kannst du in einer Woche haben. Das kostet inclusive Führerschein 15.000. Also, was sagst du?“

„Trifter“, sagte Dennis, „du bist der Beste. Ich möchte dir danken. Phantom-Papiere will ich jetzt nicht. Wenn du erlaubst, werde ich eine Weile untertauchen zu den U-Bahnkids. Zu Conny kann ich hoffentlich immer kommen, wenn sie nicht grade ein Konzert hat.“

Er sah, dass Conny nickte. „Noch etwas. Ich hab gestern mit Laura über die Schule gesprochen. Ich bin offiziell tot. Außerdem hab ich zu viel erlebt, um das noch einmal anzufangen. Aber ich möchte in die Schule der Kids gehen, wenn es die noch gibt. Ich kann einiges dazu beitragen, glaube ich.“

Trifter war hocherfreut. „Abgemacht. Aber bleib vorerst hier, solange Conny es dir erlaubt. Ich freue mich auf dich. Alle werden sich freuen.“ Er verabschiedete sich. Er hätte noch zu tun. Es gäbe noch zwei Abendseminare.

Conny erklärte Dennis, dass Trifter studierte. „Er lässt sich etwas Zeit. Er hat zu viele andere Aufgaben, aber es läuft ihm nichts weg. Trifter wird nie in die Verlegenheit kommen, um einen Job zu bitten. Er könnte jeden Job haben. Auch jetzt schon.“

Dennis lächelte. Er hatte nichts anderes erwartet.

Dann nahmen sie ihre Übungen wieder auf.

„So, sagte Dennis. „Das letzte Stück noch mal. Dann versuch es kämpferisch zu spielen, als wolltest du einer 5000 Mann starken Armee Mut zum Kampf einflößen.“ Er hörte zu. Er korrigierte. Er ließ manche Stücke noch mal und noch mal und noch mal spielen.

„Ich sehe, dass du begreifst. Deine Stücke da. Sie sind viel zu einseitig. Musik ist viel mehr als das. Deine Komponisten haben die Stücke für bestimmte Stimmungen geschrieben. Höfischer Tanz, kirchliche Rituale, bürgerliches Spektakel, so etwas. Vielleicht auch nur, um zu zeigen, was sie drauf haben. Ich habe gelernt, dass Musik Leben bedeutet. In all der Bandbreite. Es kann jede kleine und große Gruppe in bestimmte Richtungen beeinflussen. Du bist der Dirigent. Wenn dir das gelingt, dann bist du frei.“

„Wenn du willst, fahre ich mit dir nach Südamerika. Besorg mir auch Unterlagen über die Musik in andern Ländern. In Afrika, Asien, den Steppen Russlands und Sibiriens. Ich will mehr darüber wissen.“

All das hatte Conny längst auch gewusst, aber sie hatte dieses Klangerlebnis dennoch nie gefunden. Dennis zeigte ihr das Ganze in einer Klarheit und Deutlichkeit auf, die verblüffend einfach schien.

„Ich habe alle Konzerte bis zu meinem Abitur aufgeschoben. Aber lass uns jeden Tag üben, wenn du willst. Ich bin froh, wenn du mir zuhörst und mich korrigierst. Ich habe auch meinen Geigenlehrer. Er kommt manchmal. Du kennst ihn.“

Es war ein langer Nachmittag geworden. „Ich bin müde“, hatte Conny gesagt. Es waren viele neue Ideen. Ich muss das erst noch verarbeiten. Ich brauche meinen Nachtschlaf. Morgen ist wieder ein anstrengender Schultag. Lass uns etwas essen."

Noch in ihren Vorbereitungen kündigte sich Laura an. Sie war glücklich, die beiden Freunde zu sehen, aber auch sie war müde. Sie aßen etwas, dann sagte Dennis. „Ich muss raus hier. Ich weiß, dass ich keine Papiere habe, aber ich werde mir zu helfen wissen. Trifter hat mir eine Monatskarte gegeben. Ich kann überall hin. Wollen wir ein wenig laufen? Es ist noch lange hell. Vielleicht an den Müggelsee?” Laura war einverstanden. Vielleicht war es genau das, was sie jetzt auch brauchte. Sie nahmen einen Schlüssel vom Bord (Laura kannte den Platz) und sagten der Wache Bescheid. Dann verließen sie das Haus. Es wurde eine schöne Nacht.

Der Himmel war sternenklar - zumindest für Berliner Verhältnisse. „Du hättest einmal den Himmel da unten sehen sollen“, sagte Dennis. „Das hier über uns ist nur ein trüber Abklatsch. Dann zeigte er Laura einige Sternbilder. „Die Menschen da unten haben sich ganz nach Sternen und der Sonne gerichtet. Sie hatten Kalender, die über viele Jahre im Voraus für jeden Tag genau den Sonnenaufgang und Untergang festlegten. Wir brauchen dafür einen Chronometer und so ein Zeug. In diesen Sachen waren uns die Indios weit voraus.“

Dann hatte Dennis gesagt „Ich werde noch ein paar Tage bei Conny bleiben, aber ich werde hier verrückt. Ich bin es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein. Ich muss etwas tun. Ich werde zu den Kids geh’n. Mal seh’n, ob die Aufgaben für mich haben. Du weißt, wo du mich finden kannst.“

Er ergänzte, „übrigens, wohnt Conny alleine in diesem riesigen Haus?“ Laura schüttelte den Kopf. „Im Westflügel gibt es eine zweite Wohnung. Dort wohnen Connys Eltern. Wir haben sie dir noch nicht vorgestellt, weil das vielleicht riskant ist. Wir wollen nichts unbedachtes tun. Conny geht manchmal rüber zu ihnen, aber sie lassen Conny völlig in Ruhe.“

Die Suche nach der Identität

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