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Kapitel 2. Die schwierige Suche nach der Identität

1.

Am nächsten Vormittag dachte Dennis lange nach. Er war alleine. Er hatte Zeit. Die Sache mit seiner Identität ging ihm nicht aus dem Kopf. Es passte ihm nicht, dass er den Namen und die Rolle eines Fremden übernehmen sollte. Da war da diese Stiftung um die er sich kümmern wollte. Da waren diese Kids seiner alten Gruppe: Allan, Susi und Roman. Da war seine Mutter und da war Conny… Er würde den Freunden schlecht erklären können, dass er plötzlich einen andern Namen trägt, oder dass er ganz woanders geboren ist, dass seine Mutter und sein Vater auf einmal ganz andere gewesen sein sollen, also, dass er eigentlich gar nicht Dennis ist.

Auf diese Freunde wollte er aber in keinem Fall verzichten. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. All das mit der angenommenen Identität eines andern kam ihm unehrlich und verlogen vor. Wie sollte das gehen, mit einer falschen Identität für seine Freunde oberhalb der Tunnel zu sorgen? Er wollte kein Leben im Untergrund.

Im Dunkel der Tunnel, im Verborgenen der Illegalität, da war das kein Problem. Aber dann könnte er auch offiziell tot bleiben und illegal weiterleben. Dann bräuchte er nicht einmal einen Pass. Das wäre sogar der beste Schutz gegen eine Entdeckung durch die „Men in Black“. Aber das würde Dennis nicht reichen. Er hatte Ziele. Wie sollte er mit einer falschen Identität Conny auf ihren Reisen begleiten und erklären, warum gerade er für Conny den Berater spielt? Die Direktorin, der Dirigent. Alle kannten ihn. Wenn er die Öffentlichkeit nicht scheuen wollte, so musste er seine eigene frühere Identität wiedererlangen.

Dennis behielt seine Gedanken zunächst für sich.

Als Conny kam, gab sie Dennis einige Bücher und einige CDs. Sie gab ihm Kopfhörer und einen kleinen Recorder. Sie selbst lernte zunächst für die Schule.

Dennis überflog die Bücher. Es ging über Kulturen und ihre Musik. Die CDs enthielten Flamenco, chinesische Oper und indonesische Gammelanmusik.

Dennis hörte genau zu. Ja. Einiges war urtümlich. Manches kam dem ganzen schon recht nah. Dennoch fehlte irgendwas. Er grübelte, aber er kam nicht drauf.

Irgendwann kam Conny. Sie sei fertig. Sie fragte nach Dennis Meinung. Dennis winkte zunächst ab.

„Gleich kommt mein Geigenlehrer“, sagte Conny. „Dann können wir das von gestern mal fortführen und mit ihm besprechen.“

Dennis kannte den Geigenlehrer bereits. Ein kleiner dunkelhaariger Mann in einer grauem Weste. Dennis hatte ihn nie anders gesehen, als in dieser grauen Weste, die er auch heute wieder trug. Der Name passte zu seinem Äußeren. Alois Punkbacher. Aber Alois war nicht der tumbe Bayer, den man hinter dem Äußeren vermuten konnte. Er konnte mal Geige spielen, wie kaum ein Zweiter, aber ein Unfall hatte seine beiden Hände gebrochen. Danach war es mit dem spielen vorbei. Alois Punkbacher war Geigenlehrer geworden.

Alois war erst überrascht, dann tief erschüttert und schließlich überglücklich, als er Dennis lebend vor sich sah. Er befühlte Dennis, um sich zu vergewissern, dass er wirklich vor ihm stand. Er umarmte Dennis. Ein paar Tränen liefen die Wangen herunter. Er wischte sie verschämt weg. Aber dann wurde er ganz der Lehrer. „Ich wäre heute sowieso gekommen, aber Laura hat etwas angedeutet. Was habt ihr beide da ausgeheckt?“

Laura und Dennis einigten sich kurz auf ein Stück, dann begann sie. Sie spielte besser als gestern. Sie hatte sich etwas eingeübt. Dennoch fehlte etwas.

„Deine Geige da - deine dritte Geige - hast du sie noch“, fragte Dennis. Er schickte Laura, um sie aus dem Safe zu holen.

Er hörte zu, wie sie die Geige stimmte. Dann begann sie mit dem ersten Stück.

Dennis schüttelte den Kopf. „Nein nein. Versuche das Stück lustig zu spielen. Mach das bitte noch mal.“

Conny versuchte es. Sie versuchte es noch mal und noch mal.

Alois sah, dass Conny unglücklich war. Diese Geige war immer noch ihr Feind. Aber er hatte etwas herausgehört. Etwas, was vielleicht nur er mit seiner langen Erfahrung als Geigenlehrer hören konnte. Er hatte bisher nur nie darauf geachtet.

„Gib mal her“ bestimmte Alois. Dann stimmte er die Geige um. Alle Seiten klangen eine Nuance höher. Kaum merklich. Er gab die Geige an Conny zurück. Er nickte ihr aufmunternd zu.

Conny probierte es erneut. Sie sah, wie Dennis und Alois aufhorchten. Sie probierte es noch einmal. Es klang wirklich anders.

Sie probierte die ganze Passage aus zehn Minuten. Dann blieb sie still sitzen und lauschte den Tönen nach.

Sie gab Alois die Geige zurück und bat: „Stimm mir das mal nach unten. Gerade so einen Tick“.

Es dauerte einen Moment, dann hob Conny die Hand. „Das sollte genügen.“ Sie versuchte dasselbe Stück nun tragend und traurig zu spielen. Sie stellte sich vor, dass sie einen Trauerzug auf den Friedhof begleitet und alle zum weinen bringen will. Sie sah, dass Alois und Dennis beeindruckt waren.

„Gib noch mal her“, meinte Alois. Er stimmte die Geige erneut, aber diesmal in der normalen Tonlage, die sich nur geringfügig unterschied.

„Pass auf. Jetzt kommt etwas schwieriges. Versuch mal durch deine Grifftechnik genau diesen Bruchteil des Tones auszugleichen. In der Quint geh einfach eine Seite nach unten. Das sind völlig neue und ungeübte Grifffolgen, aber versuch’ es. Spiel erst fröhlich und geh dann in die trauernden und klagenden Klänge über.“

Conny versuchte es. Es war höllisch schwer. Sie musste umdenken, aber sie sah, wie Alois zustimmend nickte.

„Ich glaube, dass du eben gelernt hast deine dritte Geige zu spielen“, sagte er. „Du wirst dieses Instrument lieben. Vielleicht ist sie sogar besser als die Stradivari. Ist es möglich, dass die Geige ganz bewusst für die Veränderung solcher Stimmungslagen gebaut wurde???“

Conny schaute Alois lange an. „Kannst du eben mal Anton anrufen“, bat sie. „Er soll sofort kommen.“

Während Alois telefonierte, führte Conny Dennis in den Keller des Hauses. Dennis war platt. Er hatte noch nie ein Tonstudio von innen gesehen. Hier war alles da.

Laura schaltete das Licht und die Maschinen ein. Sie zeigte Dennis einige Hebel und Knöpfe. „Ich will das Klanggefühl hören“, sagte sie.

Anton kam mit hochrotem Kopf und tiefschnaufend an. „Fahrrad“, sagte er nur. Er war ein junger Mann, vielleicht 28.

„Das ist mein Toningenieur“, stellte Laura ihn vor. “Er heißt Anton, … und das ist Dennis“, sagte sie. Sie wandte sich an Alois und Anton. „Übrigens: Ihr habt Dennis heute nicht gesehn. Ihr wisst auch gar nicht, wer das ist. Ist das klar?“ Sie schauten verwundert, dann nickten sie.

Laura erklärte Anton, worum es geht: „Vielleicht habe ich eben gerade meine dritte Geige entdeckt. Das wird jetzt noch etwas unbeholfen klingen, aber versuche mit der Aufnahme genau die verschiedenen Stimmungen von überschwänglich bis todtraurig zu erfassen, die ich in ein und demselben Stück spiele.“

Conny ging durch die Glastür. Sie setzte die Kopfhörer auf, sie schaltete das Mikrofon ein. „Eins zwei drei“, sagte sie, klinkte ein kleines Mikrofon an die Geige und begann. Sie sah kurz zu Anton und als er nickte, legte sie los. Sie spielte immer dasselbe Stück, fand einen Übergang und spielte es erneut. Sie gab sich jede erdenkliche Mühe, den Tonfall und die Stimmung zu ändern. Es war nicht nur die Höhe der Töne.

Sie spielte manchmal ein Tick schneller, dann wieder einen Tick langsamer. Kaum merklich. Manchmal weicher, manchmal härter.

Dennis sah, dass es Conny viel Mühe bereitete. Sie schwitzte. Doch mit jedem Stück wurde es etwas einfacher. Dann spielte sie das Ganze noch einmal. Sie versuchte jetzt ihren ganzen Körper und all ihr Gefühl und ihr Können in die Stimmungslagen reinzupacken.

Danach war sie am Ende. Sie zitterte. Dennis ging zu ihr, nahm ihr die Kopfhörer ab und nahm sie in die Arme.

Alois kam, nahm ihr die Geige aus der Hand, stellte sie ab und gab Anton ein Zeichen. Anton verschwand, dann kam er mit einem Glas, mit Wasser und mit zwei verschiedenen Säften im Arm zurück.

Er stellte das vor Laura hin und verschwand erneut. Er kam mit drei weiteren Gläsern zurück. Er musste häufig Gast in diesem Hause sein, dachte Dennis.

Laura war völlig erledigt, aber sie erholte sich schnell. Sie trank etwas Saft und bot auch den Freunden an.

Dann sagte sie: „Lass mal hören, aber nur die letzten 30 Minuten.“ Sie gingen zurück zum Mischpult. Anton gab jedem einen Kopfhörer, während er zurückspulte. Dann begannen sie der Musik zu lauschen.

Sie hatten die Türglocke nicht gehört. Laura schlüpfte hinter ihnen herein. Alois gab ihr einen Kopfhörer und gab ihr das Zeichen, sich hinzusetzen.

Als die Musik zu Ende war blieb Conny minutenlang sitzen. Sie war tief in sich versunken. Dann nahm sie den Kopfhörer ab und sagte: „Das wird ein schweres Stück Arbeit. Fast jeder Griff ist anders.“

Alois atmete tief ein. Dann nahm er Connys Hand. “Eben”, sagte er, „hast du eine Zaubergeige geschenkt bekommen. Sei dem Schicksal dankbar dafür.“

Laura hatte gehört, dass irgendetwas anders klang, aber sie konnte sich noch keinen Reim daraus machen. Sie sah Dennis lächeln.

Conny sagte nur: „Ich werde eure Hilfe brauchen, um das umzusetzen. Technisch können mir Anton und Alois helfen. Von dir Dennis, will ich mehr über deine musikalischen Erlebnisse hören. Laura soll sich darum kümmern, ob es einen Markt dafür gibt. Nicht gleich. Das ist alles noch zu neu… und auch noch zu unsicher in meinem Spiel.“

Sie wandte sich an Laura: „Hör dir dieses Band noch mal an, zusammen mit Alois und Anton. Lass dir erklären, worum es geht. Dann komm wieder zu uns. Sie nahm Dennis mit. Dieses Mal setzte sie sich in den Salon des Hauses. „Zeig mir noch mal deine Zeichnungen“, bat sie.

Dennis holte seine Entwürfe. Laura sah sie lange an. „Erzähl mir mehr.“

Dennis ließ sich Zeit.

Als Laura, Alois und Anton hinaufkamen, gab Ihnen Laura die Zeichnungen und bedeutete ihnen, Dennis Erzählung einfach nur zuzuhören.

Dennis erzählte weiter: von der Musik der Théluan, von den Theaterspielen, von den Stimmungen und der Wirkung der Musik auf die Menschen.

Laura hatte Tränen in den Augen. „Mein Gott. Wie lange habe ich darauf gewartet… .“

Sie fühlte einen Quantensprung in ihrer Musik. Vielleicht noch nicht ganz. Sie hatte gerade den ersten Zipfel davon zu fassen gekriegt. Darauf hatte sie acht Jahre lang gewartet. Irgendwann hob sie den Kopf.

„Ihr habt heute nichts gehört“, sagte sie bestimmt. „Ihr habt nichts gesehen. Ich habe ganz normal geprobt. Und zu keinem ein Wort über Dennis.“ Sie sah Alois und Anton durchdringend an. Sie nahm ihnen das Versprechen ab.

Dann wollte sie mit Laura und Dennis alleine sein.

Nach einer ganzen Weile sagte sie: „Die Frage ist, was ich aus dieser neuen Erkenntnis für Schlussfolgerungen ziehe. Ich habe eben meine Dritte Geige entdeckt. Sie wird mir noch viele Schwierigkeiten bereiten. Das eben war weit entfernt von dem, was ich perfekt nenne. Aber ich habe eben eine Vorahnung bekommen, was Dennis mit der Allmacht der Musik angedeutet hat.“

„Ihr wisst, dass ich bereits jetzt mit den Stimmungen der Zuhörer sehr gut spielen kann, aber ich kann mir vorstellen, dass ich mit dieser Art der Musik einen Mann dazu bringen kann, seine Frau umzubringen, die er liebt, einen Krieg auslösen, oder Ehen stiften kann. Das hat Alois vorhin gemeint, als er diese Geige als Zaubergeige bezeichnet hat.“

Sie sah die Freunde an, „all das ist noch unkontrolliert. Neu. Außerdem ist mein Abitur jetzt das Wichtigste.“ Sie sah zu Dennis. „Im Sommer habe ich mehrere große Konzerte. Dann sollten wir reisen.“

Laura war verblüfft. Sie hatte die Musik gehört, Sie hatte Unterschiede gehört. Alois und Anton hatten versucht zu erklären. So hatte sie Conny noch nie reden hören.

Auch Dennis hatte lange zugehört. Dann begann er von seinen Überlegungen am Vormittag zu erzählen.

Conny und Laura sahen sich an. Sie schwiegen.

Dennis fügte hinzu: „Ich will mir die Sache noch ein paar Tage durch den Kopf gehen lassen. Wenn Trifter mit dem Ergebnis der Untersuchung kommt, will ich auch „den Dicken“ und euch beide sehen. Dann werde ich mich entscheiden.“

Conny war von der ganzen Sache ermüdet, obwohl sie innerlich aufgewühlt war. Es wäre jetzt schön, so einen Freund wie Dennis an ihrer Seite zu haben. Sie seufzte. Dann ließ sie die beiden alleine und ging ins Bett.

Sie hörte an diesem Abend noch lange Musik über Kopfhörer. Dann schlief sie ein. Als sie am Morgen aufwachte, hatte sie die Kopfhörer immer noch auf.

2.

Auch Dennis und Laura gingen ins Bett. „Ein ereignisreicher Tag, was“, fragte Laura. Dennis schwieg lange.

„Die Festung“, sagte Dennis nach einer Weile. „Ist das noch dieselbe?“

„Nein, wir haben damals das Quartier gewechselt. Wir haben die alte Festung nie mehr betreten. Willst du wissen, wie du dahin kommst?“

Dennis nickte. „Morgen, vor deiner Schule, kannst du mich dahin bringen?“

Laura stellte den Wecker. „Morgen ist Schultag der Kids. Da kommst du gerade recht. Vielleicht solltest du auch ein Handy haben. Ich hab’ dir eins besorgt und die wichtigsten Nummern eingespeichert. Es ist lange her. Erinnere dich. Du nennst am Telefon keine Namen.“

„Die Sache mit der Identität“, meinte Dennis, „das ist mir wirklich wichtig. Wenn ich zum Beispiel in der Stiftung auftauche, dann werden mich alle erkennen. Naja, ich nehme nicht an, dass du alle ausgewechselt hast.“ Als Laura den Kopf schüttelte, fügte er hinzu. „Ich kann das doch nicht alles aufgeben, jetzt wo ich wieder hier bin. Ich will dir nicht ins Handwerk pfuschen. Du leitest jetzt die Stiftung, aber ich kann mir vorstellen, dass ich dort weiter gebraucht werde.“

Laura gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hab nichts sagen wollen. Es ist schließlich deine Entscheidung. Aber so denke ich das auch. Das da eben (und sie meinte Conny damit) war genau das, was uns in den letzten beiden Jahren gefehlt hat. Ich nenne es die kreative Inspiration. Das, was du eben in Conny ausgelöst hast. So wie du damals die Geigen gefunden hast, so wie du Hakim oder den Chemiker entdeckt hast. Ich kenne niemanden, der diese Fähigkeiten hat, außer vielleicht Trifter und „den Dicken“. Aber die haben ihre Talente auf ganz anderen Gebieten. Du hast uns wirklich gefehlt. Ohne dich ist die Stiftung nicht mehr das gewesen, was sie einmal war. Wir sind größer geworden, wir haben Einfluss. Aber niemand hat jemals Talente so sicher entdeckt, wie du. Ich sehe, du schüttelst den Kopf. Ich sehe, dass du bescheiden geblieben bist. Auch das ist eine deiner liebenswerten Eigenschaften. Denk’ darüber nach.“

Weil Dennis nichts mehr dazu sagen wollte, löschte sie das Licht.

3.

Am nächsten Morgen waren sie vor Conny wach. Laura brachte Dennis in den neuen Bunker, dann beeilte sie sich, um pünktlich in ihre Schule zu kommen.

Das Wiedersehen glich einem Tumult. Dennis wurde mit Fragen bombardiert. Sie lachten. Sie waren ausgelassen. Moses fing an zu tanzen und es gab viele neue Mitglieder in der Gruppe der U-Bahnkids. Schließlich rief Bübchen „Alle mal Ruhe. Schluss jetzt. Kann ja keiner ein Wort verstehen. Dennis kommt nicht dazu etwas zu sagen, vor lauter Geplapper. Außerdem gibt’s hier viele Neue, die Dennis nur vom Hörensagen kennen.“ Dann stellte er Dennis alle Kids vor. Er mahnte: “Wenn es jemanden gibt, außer Trifter, Laura und dem Dicken, dem wir alle zu Dank verpflichtet sind, und den wir alle lieben, dann ist das Dennis.“ Er schnitt Dennis Einwand ab. „Halt die Klappe. Wir haben dir alle viel zu verdanken. Ich weiß, dass du das nicht gern hörst. Also, lass mich das einmal sagen. Ich sprech auch nie wieder drüber.“ Zu den Neuen gewandt, sagte Bübchen: „Wenn ihr jemanden braucht, der euch zuhört, dann wendet euch an Dennis.“

Jonas wollte auch etwas sagen. Er wurde von Dennis unterbrochen. „Das ist zuviel der Ehre“, sagte Dennis. „Ich war immer nur einer von euch und ihr wisst das. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr wart es, die mir den Weg gezeigt habt. Ich habe euch zu danken, nicht umgekehrt.“

Jonas machte eine Bewegung die ausdrückte, „seht ihr, das ist es, was Bübchen meinte. So ist er…“, aber er kam nicht dazu, das auszusprechen. Trifter kam gerade durch die Tür.

„Heute ist Schule“ sagte er. Zu Dennis gewandt, fragte er: „Schon einander vorgestellt?“ „Naja meinte Dennis. Ein paar Worte muss ich wohl noch sagen. Ich sehe da lauter Fragezeichen sitzen.“

Dann begann Dennis in groben Zügen zu erzählen, wo er gewesen war und dass es ihm nicht möglich war, Kontakt mit den Kids aufzunehmen. „Aber“, fügte er hinzu. „Wie ich angedeutet habe, habe ich dort unten einige Schulen gegründet. Alle diese Schulen waren euerm Schulkonzept nachempfunden. Damit sind wir auch schon bei unsrer Schule. Ich selbst habe zwei Jahre lang keine „normale“ Schule gesehn. Ich bin nicht traurig darum. Es gibt wichtigeres.“ Er hörte einiges Gelächter. „Aber…“, Dennis hob den Zeigefinger. „Schule ist nicht Schule. Unsere Schule der Kids habe ich genossen. Sie hat mir geholfen das Leben da unten besser zu verstehen. Ich möchte, wenn es geht, jetzt regelmäßig an eurer Schule teilnehmen und ich glaube, ich kann euch auch einiges erzählen. Die Welt ist viel größer, als dieses kleine Berlin.“

Trifter lachte und sagte, „gut gebrüllt, Löwe. Aber lasst uns jetzt beginnen. Es gibt noch einiges zum Thema Banken, Zahlungsverkehr, Rechtsgeschäfte zu lernen. Außerdem müssen wir uns dringend dem Thema Computer widmen. Fast alle von euch haben inzwischen ein Handy. Ihr wisst, dass ihr damit sehr vorsichtig sein müsst. Handys kann man orten. Dasselbe gilt für Computer. Sie haben eine IP Nummer. Über die kriegt man heraus, wer der andere ist und wo er sich gerade befindet. Also. Wenn ihr einen Computer benutzt, dann entweder offline oder in einem öffentlichen Raum, wie einer Bibliothek, einer Schule, einem Internetladen oder einer Uni.“

Er lächelte ein wenig. „In Schulen kann man einsteigen. Kostet nichts. Muss aber immer jemand Schmiere stehen. Denkt immer an gute Fluchtwege. Vergesst nicht: Fast alle von uns sind illegal. Wir dürfen uns nicht erwischen lassen. Im Zeitalter der Elektronik ist das viel schwieriger geworden als früher. Wir haben auf diesem Gebiet lange geschlafen. Wir dürfen uns nur sehr vorsichtig rantasten. Ach und übrigens. Auch Dennis ist inzwischen Illegal. Also bleibt es unter uns, dass er lebt. Klar?“

Das war der Auftakt für den Unterricht.

4.

Nach der Schule nahm Trifter Dennis auf die Seite. „Dir ist klar, dass das gefährlich ist, wenn du da rumgurkst?“

Dennis nickte. „Eingesperrt sein ist schlimmer als der Tod und vor dem fürchte ich mich nicht mehr.“

Er fuhr fort, „gibt es eigentlich eine Schulpflicht für mich? Ich bin ja jetzt über sechzehn. Außerdem will ich „den Dicken“ bald sehen. Sobald du etwas über meine Weste weißt.“

„Ich werd mich erkundigen“, sagte Trifter. „Sei vorsichtig. Die Weste ist in Arbeit. Das dauert ein paar Tage. „Den Dicken“ bring ich dann mit. Erreiche ich dich noch bei Conny?“ Diesmal nickte Dennis. „Willst du noch ein bisschen Wiedersehen feiern“, fragte Trifter. Dennis nickte wieder.

„Dann schick ich zwei Kids, um Kuchen, Schoko und Milch zu organisieren. Bist du einverstanden?“ Dennis nickte erneut und Trifter fügte hinzu. „Ich muss jetzt weg. Bleib vorsichtig, fahr erst heute abend. Benutz’ alles zu deiner Tarnung. Schlag Haken, mach dich unsichtbar. Ich will dich nicht noch mal verlieren. Ich brauche dich.“

Dennis hörte das nun schon zum zweiten Mal. Es schien wirklich nicht alles so zu laufen, wie es sollte.

Er blieb an diesem Nachmittag im Bunker. Die Schule wurde während des Kuchenessens einfach wieder aufgenommen, diesmal ohne Trifter. Dennis erzählte von Südamerika. Er erzählte von anderen Kulturen und Lebensweisen. Er wurde oft unterbrochen. Die Kids fanden das hoch spannend. Dennis erzählte auch von seinen eigenen Kindern. Er sah keinen Grund, das zu verheimlichen. Auch das fanden die Kids hochinteressant. „Der Tod, erzählte Dennis „hatte dort unten eine ganz andere Bedeutung. Sicher, jeder will Leben. Anders war das auch dort nicht. Aber wenn dir von deinen Kindern zwei, fünf oder acht wegsterben und vielleicht nur eins oder zwei überleben, dann bekommt ihr eine andere Meinung vom Leben. Der Tod ist allgegenwärtig. Die Menschen da unten haben gelernt, damit zu leben. Vor dem Tod darf man sich nicht fürchten.“

Das war für die Kids eine erschreckende Wahrheit. Es gab viele Fragen. „Alles kann ich euch nicht beantworten“, fügte Dennis hinzu. „Ihr wollt mehr wissen, doch ich weiß, dass ihr euch viele dieser Fragen nur selbst beantworten könnt. Jeder auf seine Weise. Denkt darüber nach. Sprecht darüber mit eurem Freund oder (er lächelte) mit eurer Freundin. Findet eure eigene Lösung. Vielleicht gibt es in den nächsten Wochen mal die Gelegenheit einen ganzen Vormittag über dieses Thema zu reden.“

Ohne Dennis Zutun bildeten sich Gruppen, die weiter darüber diskutierten. Er sah einige der Kids, die sich etwas zurückzogen und still in der Ecke saßen. Für ein paar von ihnen war das Aufregung genug. Sie wollten jetzt Action.

Dennis ließ sie gehen.

Es war eine ganz eigene Art von Schule, die gerade eben entstanden war. Die Schule des Lebens, wie Dennis die Schule der Kids heimlich nannte, war um ein neues Fach reicher geworden. Um das Fach „Lebensphilosophie“. Dennis war zufrieden. Es war ein guter Haufen. Die Alten und die Neuen. Er liebte diese Kids.

5.

Am Abend fuhr Dennis zu Conny. Er achtete strikt auf die Anweisungen. In einer dunklen Straße erlaubte er sich, den Straßenzug zu wechseln, indem er sich mit der Hilfe seines Bruders zwei Straßen weiter beamte. Diesmal ging alles ganz ohne Lichtschein ab.

Conny hatte nach dem Mittagessen gelernt und sich dann wieder ihrem Geigenspiel gewidmet. Sie wollte nicht Reden und auch Dennis hatte keine Lust. Er vertiefte sich in seinen Büchern und las auch den ganzen nächsten Vormittag weiter.

Als Conny eine kurze Pause machte, bat er sie: „Kennst du Susis Telefonnummer?“ Conny nickte. „Kannst du sie herbitten? Ich möchte sie sehen. Ich muss schließlich Stück für Stück mein alten Leben wieder aufnehmen.“

Conny sagte nur, es sei dringend. Susi wusste die Adresse.

Als es klingelte, führte sie einer der Bodyguards herein.

Dennis hatte Laura und Conny bei dem Wiedersehen beobachtet. Er hatte die Reaktion der Kids gesehen. Das hier hatte er nicht erwartet. Susi kippte aus den Latschen.

Dennis hob sie auf und trug sie auf die Couch. Er hielt sie in seinen Armen. Susi rang nach Luft und Fassung. Als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, sagte sie: „Du hättest mich vorwarnen können. Das eben war ganz und gar nicht in meiner Absicht.“

Dennis lächelte. „Ging nicht, Susi. Glaub mir. Offiziell bin ich tot. Tote können nicht vorwarnen, und Susi…“, warnte er, „vorläufig bin ich weiter tot. Ich werde zu Allan und den andern selbst Kontakt aufnehmen, aber du versprichst mir, nicht zu reden, auch wenn’s schwer fällt.“

„Das wird schwer“, antwortete Susi, und sah Dennis lange an. Sie langte nach seinen Händen. Sie spürte die Narben in seinen Handflächen. Sie erschrak. Aber Dennis lächelte sie an. „Das ist nichts. Das musst du mir glauben. Ich habe zwei Jahre sehr glücklich gelebt. Weit weg. Das hier (er zeigte auf die Narben) ist ein Teil des Glücks, das ich erleben durfte.“

Dann erzählte er ein wenig von Südamerika und ließ auch Susi erzählen. Er wollte mehr wissen von Allan, Jochen und Roman, von der Talentschule und von ihrer alten Gruppe. Er sah, dass zwar alles lief und jeder seine Arbeit machte, aber er spürte auch in Susis Erzählung, dass die Freude und der Elan nicht mehr das waren, was einmal war. Susi bestätigte Lauras Erzählung. Der Organisation fehlte der kreative Kopf.

Der Nachmittag ging schnell rum. „Bitte vergiss nicht“, sagte Dennis zum Abschied. „Ich bin tot. Jedenfalls bis auf weiteres. Ich werde wieder zum Leben erweckt, aber noch nicht sofort.“

Als Conny sich mit Dennis zum Abendbrot traf, grinste sie. „Der Ritter und das Fräulein.“

Dennis knuffte sie in die Seite. „Du bist gemein.“ Laura musste lachen und sie steckte auch Dennis damit an.

Als Laura kam, fand sie zwei lachende Freunde. Sie ließ sich vom Lachen anstecken. Sie hatte gute Nachrichten. „Morgen ist’s soweit. Dann sind die Tests abgeschlossen. Trifter hat mir vorhin Bescheid gegeben. Morgen abend werden Trifter und „der Dicke“ hier sein. Dann ist Wochenende.“

Zu Laura sagte sie. „Ich würde gern mit dir und Dennis am Wochenende irgendwohin fahren, aber du erregst überall soviel Aufsehen, wo du auftauchst. Ich kann das nicht riskieren.“

Laura winkte ab. „Dann kann ich das mal nutzen, um euch loszuwerden. Ich muss noch ein bisschen lernen und auch üben.“ Die Freunde wussten, dass sie nicht rausgeschmissen werden. Sie verstanden den Scherz.

Am nächsten Morgen ging Dennis wieder in die Schule der Kids. Auch dieses Mal war er super vorsichtig.

6.

Dennis blühte in der Schule der Kids richtig auf. Es machte ihm Spaß. Ungezwungenes und freiwilliges Lernen hat mit der Regelschule nichts zu tun und läuft ganz anders ab. Die Kids lernten andere Dinge. Jeder hatte sein eigenes Lerntempo. Niemand wurde gezwungen. Sie lernten aus eigenem Interesse. Sie halfen sich gegenseitig. Sie konnten sehr konzentriert sein, aber sie konnten auch ungezügelt loslachen, wenn es etwas zu lachen gab.

Heute stand das Thema „Lesen“ auf dem Programm. Sie hatten einige leichte und schwere Texte vorbereitet. Einige der Kids konnten das gut, für andere war das tierisch anstrengend. Einer der Jungen, vielleicht acht Jahre alt, hatte sichtlich Mühe, die Zeichen zu entziffern. Dennis sah Trifter etwas auf ein Blatt Papier schreiben. Dann legte er Pauli das Blatt vor. „Lies das mal.“ Pauli stutzte. Dann las er vor, „nicht klauen. Drei neunundneunzig du Arschloch.“ Die Kids fingen an zu lachen. Sie steckten Pauli an, sie weinten Tränen. Pauli hatte das gelesen, fast ohne Stocken. Glatt vom Papier.

Selbst Trifter lachte Tränen. „Siehste, geht doch“, sagte er, und legte Pauli den andern Text noch mal vor. „Versuchs noch mal.“

Pauli nahm sich zusammen. Es ging. „Jouh“ johlte Bübchen. „Aus einem gescheiten Arsch kommt auch ein gescheiter Furz.“ Das hatte ein erneutes Lachen zur Folge, doch Trifter bat um Ruhe. „Nur nicht vulgär werden, oder habt ihr auch solche Texte?“ Die Kids johlten erneut, dann konzentrierten sie sich wieder auf das lesen.

In welcher Schule, dachte sich Dennis, wäre so was wie eben wohl möglich gewesen? Das war schon einmalig. Einmalig war vor allem die Rückbesinnung auf die Konzentration an der Sache. Sie wussten, warum sie lernten.

Es gab schwierige Texte. Dennis, der doch hervorragend zu reden wusste, stockte ab und zu. Er war nicht mehr in Übung. Vor allem, den Text so vorzulesen, dass jeder sofort verstand, worum es ging, war für ihn sehr schwierig geworden. Dennis hatte noch viel zu lernen. Er nahm sich vor, seine Bücher in Connys Haus laut zu lesen.

7.

Am Nachmittag war Dennis wieder super vorsichtig. Er wurde nicht verfolgt. Er traf Conny lernend vor und bat sie darum, den Text, an dem sie gerade saß, mit ihr abwechselnd laut zu lesen. So war es lustiger. Sie sprachen über den Text. Sie analysierten ihn. Das wiederum war Dennis Stärke. Er konnte viel über die handelnden Figuren und ihre Gefühle sagen, warum sie das sagten und nichts anderes. Warum sie freiwillig in den Tod gingen oder Gewissensbisse entwickelten. Das war Dennis Gebiet.

Irgendwann zwischendrin sagte Conny: „Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“ Du sagst da Dinge, die ich mir erst mühsam erarbeiten muss. Das kommt bei dir mit einer Leichtigkeit, dass ich nur staunen kann. Willst du nicht an meiner Stelle das Abitur machen?“

Dennis grinste, „du weist nur zu gut, dass ich schlecht lese. Mein Wissen bezieht sich auf die Fähigkeit zur Analyse von solchen Dingen. Meine Stärke ist es, mit Menschen umzugehen. Schick mich mal in eine Chemie oder Physikprüfung. Ich weiß nicht mal, was das genau ist. Ich kann dir ein einfaches Klärwerk bauen, ich habe das da unten gemacht, und sehr erfolgreich. Warum das so geht und nicht anders, das kann ich dir nur mit meinen eigenen Worten erklären aber nicht wissenschaftlich.“

Conny hatte schon verstanden. Dennis war ein Genie, aber ohne jede wissenschaftliche Grundlage. Er bezog sein Wissen aus dem Bauch und aus dem Leben. Intuitiv. Aus der Beobachtung und aus der Analyse und aus einer Art innerer Ahnung. Sie wusste, dass Dennis neugierig und offen war. Er wollte lernen. Er war gierig nach Wissen. Sie war sich dennoch bewusst, dass Dennis seine ganz eigene Entwicklung hatte. Sie versetzte ihn in die Lage, so zu sein, wie er war.

Sie fühlte, dass eine Regelschule dieses unvergleichliche Talent sicher zum Versiegen gebracht hätte. Sie wusste, was Dennis über Zwang dachte. „Flieg“, dachte sie. „Bleib frei wie ein Vogel, und lass mich von dir Lernen, solange es geht“.

Dieses Wissen über Dennis durchflog sie wie ein Blitz, dann widmeten sie sich wieder dem Text.

„Dennis“, sagte sie nach einer Weile. „Willst du mir noch mal helfen? Es gibt da einen schwierigen Text. Schiller. Das ist Prüfungsthema. Ich hatte mir das für das Wochenende vorgenommen, aber wenn du… .“

Dennis nickte und Conny brach ihren Satz ab. Dann widmeten sie sich dem „Wallenstein“. Auch hier wollte Dennis wieder abwechselnd lesen, wie in einem Theaterstück. Conny sah, dass es Dennis anstrengte, was ihr selbst so leicht fiel. Als es dann an die Analyse ging, änderte Dennis seine Taktik. Er stellte Fragen. Er wies Conny mit wenigen Worten auf mögliche Zusammenhänge hin, er forderte sie auf, selbst nachzudenken und eigene Schlüsse zu ziehen. Sie waren noch mitten im Text, als es klingelte.

Dennis war kurz angebunden. „Wir sind mitten in der Arbeit. Kocht was schönes. Wenn’s fertig ist, dann ruft uns.“ Auch das war wieder typisch für Dennis. Sie beendeten den Text mit Ruhe. Conny gab Dennis einen Kuss. „Mann. Jetzt hab ich endlich verstanden, um was es da geht. Du hast mir sehr geholfen.“

„Dafür sind Freunde da“, sagte Dennis lapidar. Dann gingen sie in die Küche. Die Freunde waren gerade fertig. Es gab Lamm mit Reis, Salat und Gemüse. „Der Dicke“ wollte ein Bier. Trifter und Dennis begnügten sich mit Wasser. Laura und Conny nahmen, was grade da war, Berliner Schorle.

Nach dem Essen leckte sich „der Dicke“, der immer noch so dünn war wie eh und je, die Finger. „Kann ich nicht öfter kommen?“ Conny lachte. „Klar. Immer, wenn du willst.“

„Dass’n Angebot“, sagte „der Dicke“ und grinste, „und nun mal zu dir, Dennis. Bin ich froh, dass du wieder hier bist. Hab schon Gewissensbisse gehabt.“

Dennis antwortete rund heraus. „Es hat sich gelohnt. Ich bin mit neuen Erkenntnissen wiedergekommen. Wenn ihr mir das erlaubt, dann kann ich jetzt für Conny und die Stiftung viel mehr tun als damals. Es hat also auch sein Gutes. Und nun erzähl mal. Conny soll das jetzt auch mal hören. Conny kann nämlich das Maul halten. Wenn sie’s nicht hören will, soll sie rausgehen.“

„Der Dicke“ erzählte kurz. Dann kam er auf den Punkt. Das Problem ist deine Illegalität. Dein Aussehen könnten wir verändern. Aber so ein Pass ist nicht so leicht zu besorgen, wie du dir das vorgestellt hast.“

Dennis winkte ab. Er fragte Trifter: „Was ist mit der Schulpflicht?“ „Is’ vorbei, flötete Trifter. Du bist sechzehn. Du bist frei. Es gibt noch ein mögliches Problem mit der Lehrpflicht, aber das können wir regeln. Du kannst Lehrling bei der Stiftung werden. Das Einzige ist, dass wir deinen Herkunftsnachweis ordentlich dokumentieren. Wir brauchen also Papiere.“

Dennis nickte. „Hört sich gut an. Nun erzähl mal von meiner Weste.“

„Mann“, sagte Trifter, „das ist die größte Überraschung. Die haben eine Isotopenbestimmung gemacht. Das ist ein absolut sicheres Verfahren. Und nun halt’ dich fest. Die Weste, der Dolch und das Schwert sind aus dem Jahr 300 vor Christus. Du warst 2300 Jahre zurück in der Vergangenheit.“

„Die haben die Messung zweimal gemacht, weil sie das nicht glauben wollten. Der Erhaltungszustand spricht dagegen, haben sie gesagt. Wie ist das möglich? Kein bisschen Rost. Über den Stahl haben sie verwundert den Kopf geschüttelt. Sie wussten nicht, dass man damals einen so harten Stahl herstellen konnte. Die Weste, Mann, die haben Rotz und Wasser geheult. Ein 2300 Jahre alter Stoff, der so gut wie neu ist, mit Spuren von Schweiß, die erst ein paar Tage alt sind. Das Blut, dass sie gefunden haben ist allerdings wieder 2300 Jahre alt. Es stammt von verschiedenen Personen. Die waren aus dem Häuschen. Natürlich wollten die wissen, wo das her ist. Und dann noch der Stein. 1 Karat sind 0,2 Gramm. Sie wollten den Stein nicht ablösen und haben das Gewicht geschätzt. Sie kamen auf runde 30 Gramm. Das entspricht 150 Karat. So einen Stein, haben sie gesagt, gibt es nur noch einmal in der Welt. Er kommt aus Indien. Sie konnten nicht sagen, was der wert ist. Jede Schätzung geht da dran vorbei, haben sie gesagt. Das gesamte Schwert hat einen Wert, der in der Welt einmalig sein dürfte, wenn wir mal die Preise für Diamanten oder die Versteigerungspreise bei Christies für eine Preisschätzung heranziehen.“

„Das Ganze liegt längst im Safe. Nicht mehr in der Stiftung. Nein in einem Banksafe. Hinter einer dicken Panzertür. Kostet uns ein kleines Vermögen, ist aber hundertprozentig sicher.“

„Außerdem haben sie gesagt, diese Weste da sei indianisch. Genaugenommen aus Südamerika. Auch das konnten sie bestimmen. Nur verstanden sie nicht, warum das so alt ist. Die Inkas lebten vor höchstens 800 Jahren. Davon gibt es verhältnismäßig viele Funde. Man weiß, dass es in Ecuador schon 4000 vor Christus eine Hochkultur gab. Darüber weiß man fast nichts. Dann gab es etwa 850 bis 200 vor Christus noch eine Hochkultur, die sie Chavin de Huánar genannt haben (er las das von einem Zettel ab). Davon gibt es nur wenige Funde. Genaues weiß man nicht. Sie meinten, dass die Stücke wohl am ehesten aus dieser Kultur stammen könnten. Sie ist so alt wie diese Weste.

Dennis nickte. Dann weiß ich zumindest, wann ich dort war. Ich weiß ja, dass ich in den Anden war. Die Entfernungen dort kann ich nur in ungefähren Tagesmärschen beschreiben. Wenn ich einen Atlas hätte, könnte ich euch wenigstens in etwa zeigen, wo ich war. Conny lief schon raus und kam mit einem Atlas zurück.

„Moment. Amazonas ist wo? … wie misst man das hier in Kilometern?“ Conny zeigte es ihm. „Naja, nur so ungefähr. Wenn man von hier aus geht.“ Er zeigte dabei ins obere Drittel des Amazonasgebiets, „dann sind das etwa 1500 Kilometer in südwestlicher Richtung. Da gab es Berge, die schätze ich mal 2000 Meter hoch waren oder auch 3500. Vorgebirge. Wie zeigt man diese Entfernung auf dem Atlas?“

Trifter und Laura rechneten. „Naja“, vollendete Dennis den Satz, „jedenfalls zog sich das Reich von der Grenze von Panama bis in den Süden von Südamerika. Wo das endete, weiß ich nicht genau. Nur die Westküste - also westlich der Anden gehörte nicht dazu.“

„So riesig“, fragte Laura. Das ist ja fast der ganze Kontinent.“

Dennis nickte. Dann zeigte er auf die Karte. „Etwa von hier bis hier bin ich gekommen.“ Achselzuckend fügte er hinzu: „Ich bin viel gereist.“ Trifter sah Dennis ungläubig an. „Doch nicht etwa zu Fuß?“

Dennis lächelte, „ich hatte es bequemer. Ich hab mich tragen lassen. Aber die Indios sind höllisch schnell gewesen.“ Er erzählte von den Läufern, der Sänfte und den Kriegern. „Der Dicke“ war angehender Jurist. Von solchen Sachen hatte er keine Ahnung. Dass so ein Stein, wie Dennis ihn da hatte, besonders geschützt werden musste, das war ihm natürlich klar.

„Nun noch mal zu der andern Sache“, bat er Dennis um seine Stellungnahme.

Dennis erzählte, was er sich überlegt hatte. „Ich denke, es ist das Beste, wieder als Dennis aufzutauchen. Mein Aussehen kann ich verändern. „Der Dicke“ weiß wie. Meine Mutter kann sicher beschwören, dass ich Dennis bin. Sie wird noch irgendwo meine Geburtsurkunde haben. Vielleicht kann ich sagen, dass ich damals einfach ausgebüchst bin. Ich hatte die Nase voll. Ich wollte die Welt sehen. Naja. Sowas in der Art, und ich hatte keine Lust, mal einen Brief zu schreiben. Launen eines vierzehnjährigen halt. Dann könnte ich als Dennis wiederaufstehen. Man wird vielleicht einen Frachter oder einen Kapitän finden, der schwört, er habe mich im Schiffsraum mitgenommen. Ich habe meine Überfahrt abgearbeitet. Vielleicht bin ich auch als blinder Passagier mitgefahren. Lasst euch mal was einfallen.“

Es war minutenlang still. Dann sah Trifter den Dicken an. „Wir können schlecht sagen, wir hätten Dennis auf eine Forschungsreise geschickt. Wir müssen uns eine Geschichte für ihn ausdenken.“

Der angehende Jurist dachte lange nach. „Die Sache mit der Medikamentenmafia macht mir immer noch Sorgen. Wir sollten Dennis Wiedergeburt nicht an die große Glocke hängen. Vielleicht kann er offiziell in die Dienste von Conny treten. Als ungelernte Kraft. Mülleimer raustragen und so. Natürlich nur offiziell. Jedenfalls sollten wir kein öffentliches Freudenfeuer für Dennis anzünden. Das muss gut vorbereitet werden. Jeder muss auf seinem Posten sein. Vielleicht kann er uns auch eine Postkarte aus Buenos Aires schicken. Die ist ein paar Wochen unterwegs. Dann kann er in zwei Wochen im Hafen von Hamburg abgeholt werden. Sowas lässt sich leicht fälschen und kostet auch nicht viel.“

Er fuhr fort: „Dann kann seine Mutter beeiden, dass Dennis ihr Sohn ist und alles geht seinen bürokratischen Gang. Laura und Conny tun so, als sterben sie vor Freude, wenn sie ihn wiedersehen. Vielleicht sollten wir aber erst Connys Abitur abwarten, falls es wider Erwarten doch einen Rummel gibt. Dennis war schließlich eine ziemlich bekannte Persönlichkeit, ihr wisst ja selbst. In der Zwischenzeit kann Dennis etwas über das heutige Südamerika lernen. Alles, was er wissen muss. Es wird ihm nicht schaden. So wie ich dich kenne, Dennis, wird es nicht lange dauern, dann willst du noch mal dahin. Ich würde es nicht anders machen.“

Das war eine lange Rede und der Beginn eines noch längeren Abends. Wie gut, dass das Wochenende vor Ihnen lag. Laura und Conny hatten schulfrei. Die andere Arbeit konnte aufgeschoben werden.

Sie diskutierten lange. Schließlich brach „der Dicke“ das Gespräch ab. „Ich denke mal, heute werden wir nichts mehr beschließen. Nicht im Detail. So oder so ähnlich machen wir das. Trifter und ich werden uns die Einzelheiten überlegen. Wir werden das deichseln. Dennis wird Erdkunde und sowas büffeln. Die Landschaft kennt er ja, aber er weiß nichts über heutige Städte, über Länder, über politische Strukturen. Vielleicht kann Laura ihm dabei helfen. Laura kann ihre Arbeit in der Stiftung etwas vernachlässigen. Sie hat dort ein paar gute Leute sitzen, die sie in den nächsten Wochen, zusammen mit Trifter, vertreten können. Wichtig ist jetzt ein lückenloser Nachweis der Identität, auch wenn Dennis sich selbst spielt. Ich sage euch das als angehender Jurist. Naja. Und natürlich als euer Freund.“

„Wir brauchen mindestens zwei Wochen, bis wir alles geregelt haben. Ich denke die Postkarte sollte höchstens zwei Tage vor Dennis Eintreffen in Hamburg hier ankommen. Sonst wird nur unnötig blöde nachgefragt.“

Sie verabschiedeten sich. Die Sache war im Groben abgemacht.

So hatte Dennis in wenigen Stunden Aussicht auf eine alte und eine neue Identität bekommen. Er war froh. Er wollte sich nicht verstecken.

Die paar Wochen würde er lernen, so wie das „der Dicke“ gefordert hatte. Er sah Laura an. „Hilfst du mir?“ Er sah die Antwort in Lauras Gesicht. Er würde bald viel mehr wissen über diesen Kontinent.

„Ich habe einen Computer“, orakelte Conny. „Den könnt ihr benutzen, um im Internet zu recherchieren. Laura weiß, wie das geht. Bücher besorgen wir dir aus der Leihbücherei. Aber das können wir morgen besprechen. Ich will ins Bett.“

Auch Dennis und Laura zogen sich zurück.

„Ist es das was du wolltest“, fragte sie, als sie nebeneinander lagen.

„Ich glaube schon“, antwortete Dennis.

Als sie am nächsten Morgen aufwachten, streckte sich Dennis erwartungsfroh. „Heute freue ich mich auf das Frühstück. Brötchen, Kaffe, Käse, Speck, Tomate… all das.” Laura lief, um Brötchen zu holen. Dennis machte Kaffee, briet Speck und Eier und deckte den Tisch.

Als Conny herunterkam war alles fertig. „Ihr seid die besten“, lachte sie und goss sich Kaffee ein.

8.

Auch Dennis hatte heute richtig Hunger. Er hatte eine Perspektive. Sie war in greifbarer Nähe. Und er hatte eine konkrete Aufgabe. Er musste seine Legende glaubwürdig stricken.

Dennis hatte sich schon beim Zubereiten des Frühstücks so seine Gedanken gemacht. Er schob es zunächst auf, das auszusprechen. Jetzt hielt er eine lange Rede, immer wieder unterbrochen durch Essen und Trinken.

„Hört mir jetzt mal zu, und unterbrecht mich nicht. Heute ist der erste Tag für mich, wo ich all das vorbereiten muss, was jetzt vor mir liegt. Conny hat mich gestern mitlernen lassen. Das hat uns, glaube ich, beiden geholfen. Das, was heute vor mir liegt, wird auch Conny nützen, denn die Analyse ist Connys Schwachpunkt, hat sie gestern gesagt. Es geht nicht darum, jetzt irgendeinen Weg nachzuzeichnen. Es geht darum, den einen, absolut glaubwürdigen und nachvollziehbaren Weg zu erfinden.“

„Wir brauchen eine Analyse der verschiedenen Fakten, die Auswahl einer glaubwürdigen Reiseroute, und vor allem das Hineindenken in die Situation und die Menschen des heutigen Südamerika. Davon weiß ich nichts. Dafür brauche ich jetzt eure Hilfe. Den Atlas zu lesen, das habe ich vergessen. Von Schiffen hab ich keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie und wo ich diese Informationen möglichst schnell herbekomme. Es gibt viele Dinge, die ich ganz neu lernen muss. Conny, du bist die älteste. Du hast wahrscheinlich viele Kenntnisse durch deine Reisen. Hilfst du mir heute?“

Zu Laura gewandt sagte Dennis: „Dein Organisationstalent ist deine Stärke. Du hast viele Kontakte. Du sagst, du kannst mit dem Computer umgehen. All das brauche ich jetzt.“

Die beiden Mädchen nickten. Dann räumten sie den Küchentisch leer. Conny breitete den Atlas aus.

„Zunächst mal: Warum bin ich damals abgehauen, wie hab ich das gemacht und wohin bin ich gegangen? Hab ich Geld gehabt? Was hab ich sonst alles gebraucht?“

Sie überlegten. „Kannst du dich erinnern, dass du damals in der fünften oder sechsten Klasse so einen Durchhänger hattest“, fragte Laura. Das wusste Dennis nur zu gut. Es wurde ihm damals alles zuviel.

„Wenn dir vor zwei Jahren dasselbe passiert ist. Wenn dir alles, ich meine alles, über dem Kopf zusammengeschlagen ist, dann hättest du einen Grund für eine Auszeit gehabt. Einfach mal abhauen. Alles liegen lassen. Nichts wie weg. Vielleicht wolltest du nach zwei oder drei Wochen wiederkommen, aber dann hast du dir das anders überlegt.“

Dennis nickte. „So verantwortungslos bin ich nicht. Aber wer mich nicht genug kennt, der weiß das nicht. Das geht. Aber nun zur Route. Was hab ich gemacht?“

„Ich denke, du bist mit dem Schiff gefahren. Zollkontrollen und so was wolltest du nicht. Vielleicht bist als blinder Passagier auf ein Schiff und nur durch Zufall in Südamerika gelandet?“

Dennis nickte. „Wie lange dauert eine solche Passage? Welche Häfen bin ich angelaufen? Wie habe ich mich versteckt? Wie habe ich mir Essen organisiert? Dabei kann mir Laura später helfen. Aber das klingt gut. Ich muss weit weg von Europa gewesen sein. Vielleicht kann ich dann durch Zufall die Weste und die Dolche gefunden haben. Deshalb konnte ich auch nicht so einfach zurückkommen. Vielleicht bin ich ausgeraubt worden. Das können wir glaubwürdig stricken.“

„Gut“, sagte Laura. „Sehn wir uns mal den Atlas an. Da gibt’s auch Seiten mit Schiffsrouten. Wo könntest du hingefahren sein?“ Sie einigten sich auf die Ostküste. Dann schlug sie die Seite von Südamerika auf. „Das könnten Caracas sein, Georgetown, Panamaribo oder Cayenne. Vielleicht bist du dann den Amazonas hinaufgereist. In den Anden gelandet und dann irgendwo weiter bis Lima oder La Paz gekommen. Du hast eine Weile bei den Buschindianern am Amazonas gelebt und gute Taten vollbracht. So wie du das immer machst. In den Anden bist du zu Fuß gelaufen, bist mal krank geworden oder so. Das dauert schon seine Zeit. Lass uns mal ausrechnen. Das sind mindestens 3500 Km. Wenn du dann an der Westküste ein Schiff genommen hast und durch den Panama Kanal zurückgefahren bist, könntest du jetzt, rein rechnerisch, etwa in zwei, drei oder vier Wochen in Hamburg ankommen.“

„Das klingt plausibel“, sagte Dennis. „Ich muss dann aber mehr über die Städte, die politischen Strukturen und so weiter wissen.“ „Das ist kein Problem“, sagte Laura. “Das geben wir im Internet in die Suchmaschinen ein. Dann haben wir alles. Wir laden das auf unseren Rechner. Du kannst dann alles in Ruhe durchlesen. Wenn du mehr Wissen brauchst, auch das finden wir im Internet. Organisationen, Namen, Personen. Alles.“

Für Dennis waren das „Böhmische Dörfer“, aber Laura lachte, „das zeig ich dir.“

So einfach und glatt, wie das eben beschrieben wurde, war das in Wirklichkeit nicht. Sie hatten sich langsam an diese Lösung herangetastet und viele andere Möglichkeiten erwogen, und sie sprachen noch über viele Details.

Sie hatten vor Eifer das Mittagessen ganz vergessen und wurden von den vielen Überlegungen etwas schläfrig. Dann meinte Dennis, „darüber muss ich jetzt mal nachdenken.“

„Find ich auch“, sagte Conny. Kommt mal mit. Sie führte die Freunde in ihr Schlafzimmer. Es gab da ein riesiges Bett. „Ich glaub’, ich brauch’ euch jetzt.“ Sie warf sich hinein. Die Freunde folgten. Sie kuschelten sich zusammen. Sie sprachen noch ein wenig, dann fielen ihnen die Augen zu.

Dennis wurde als erster wieder wach. Er sah auf seiner Uhr, dass er anderthalb Stunden geschlafen hatte. Es war gegen sechs. Er hatte Kohldampf. Er löste sich leise aus der Umarmung, ging hinunter und fing an zu kochen. Irgendetwas gab es immer in Connys Haushalt.

Er war so vertieft, dass er Laura gar nicht hörte. Sie stellte sich hinter ihn, schlang die Arme um ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Dauert’s noch lang“, fragte sie. Dennis schüttelte den Kopf. „Willst du Conny dazu holen?“

Das war nicht nötig. Conny war aufgewacht und war dem Duft des Lammfleisches gefolgt, das Dennis in der Pfanne hatte.

„Mmm. Da bin ich ja gerade richtig. Hast du auch was für mich?“ Sie war ganz Kind.

Sie deckten den Tisch. „Wirklich gut“, sagte Conny mit vollem Mund. „Wo hast du das gelernt?“ Dennis lachte. „Auch ich hab ein paar verborgene Talente, aber nun mal ernst. Ich danke euch für den Tag. Darauf kann ich jetzt aufbauen. Für die Details brauche ich noch eine Weile. Kann ja immer sein, dass mal jemand etwas genau wissen will oder irgendwo nachfragt. Conny. Wann hast du deine nächsten Konzerte?“

„Direkt nach dem Abitur hab ich zwei Konzerte in Berlin und in Wien. Dann das Sommerkonzert auf der Wartburg, und im Herbst bin ich auf einer großen Tournee in den Städten Buenos Aires, Santiago de Chile, Lima, La Paz und Bogota. Im Winter hab ich dann wieder meine Weihnachtskonzerte, und im Frühjahr bin ich in Mailand, Madrid und in London. Im Sommer soll ich dann in China spielen. Darauf freu ich mich ganz besonders. Dann kommt wieder die Wartburg. Mehr Termine hab ich noch nicht, das Abitur geht vor.“

Dennis fand das hochinteressant. „Das passt ja prima. Dann kann ich mich erst mal hier in Berlin ein wenig um die Talentschule kümmern, und nach deinem Konzert auf der Wartburg können wir zusammen nach Südamerika fliegen. Die Zeit können wir für Recherchen in Sachen Musik nutzen. Dann kann ich im Winter noch mal nach Südamerika reisen. Diesmal aber in meiner eigenen Angelegenheit.“

„Mann, du legst ein Tempo vor“, sagte Laura. „Da wird mir ja schwindlig“. Conny lachte. „Anders kenn ich Dennis nicht. Du etwa?“

Dann wechselte sie das Thema. „Was haltet ihr von Frischluft? Vielleicht etwas Spreewald? Wir könnten mit dem Auto fahren und dann laufen.“ Die Freunde fanden, das sei eine gute Idee.

Es wurde ein schöner Abend.

„Morgen muss ich aber lernen“, meinte Conny. „Englisch und Französisch.“

Beim Laufen erzählte sie mehr. „In der Prüfung werden wir irgendwelche Texte kriegen. Vielleicht zum übersetzen oder für eine Analyse. Vielleicht auch einen Aufsatz zu einem bestimmten Thema. Genau weiß das keiner. Die Vokabeln müssen sitzen. Meine Mutter hört mich ab. Aber vielleicht können wir noch ein bisschen über Textanalyse sprechen. Diese Dichter und Philosophen da. Robbespiere, Shakespeare und wie sie alle heißen. Das ist echt schwierig. Auch wenn sie neuere Autoren nehmen, so wie Sartre oder Böll, dann geht’s immer um irgend etwas Hintergründiges.“

Dennis ließ sich das erklären. Er hörte genau zu. Dann überlegte er lange. „So wie du das sagst, geht es um Liebe, um Tod und um Moral. Darf ich jemanden Töten? Warum liebt A den B aber nicht umgekehrt, was ist die Legitimation der Herrschaft, lebt Gott?“ Conny nickte. „Ja genau so.“ Dennis überlegte weiter: „Deine Musik da. Was ist die Legitimation für deine Musik?“ Conny schaute ihn verblüfft an. „Wieso. Diese Musik braucht doch keine Rechtfertigung.“

Dennis schüttelte den Kopf.

„Du nimmst das zu selbstverständlich. Du hinterfragst die Musik nicht. Hast du mir nicht mal erzählt, das sei höfische Musik? Es gibt aber auch Romantiker. Bürgerliche Musik nennt man das wohl. Und es gibt ganz andere Richtungen. Denk mal an Schlager, Jazz oder Volksmusik. Jede Musik hat doch ihr eigenes Publikum. Schau doch mal, wer in deine Konzerte kommt. Sind das nicht Leute mit Geld, oder zumindest das, was man das Bildungsbürgertum nennt? Das sind doch nicht die Berliner U-Bahnkids oder die Arbeiter. Also bezieht doch jede Musik ihre Legitimation aus den Menschen, für die sie geschrieben ist. Egal, ob es einfache oder komplizierte Musik ist. Hast du nicht den Anspruch „Kunst“ zu machen? Ist das nicht höchste Perfektion? Und doch. Wenn ich an die Musik bei den Indios denke, das war vielleicht schräg, aber es war absolut perfekt. Es war ganz in die Herzen aller Menschen gespielt. Nicht nur in die Herzen einiger weniger.“

„Aua aua“, meinte Laura. Jetzt wird’s aber kompliziert. Wir haben nun mal ganz unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft. Unsere U-Bahnkids sind doch nicht die Politiker, sie sind nicht die Arbeiter, die Studenten, oder die Beamten der Ausländerpolizei. Wie willst du alle mit einer einzigen Musik ansprechen? Außerdem gibt es eine Definition von Kunst. Eine Kunsttheorie.“

Davon hatte Dennis keine Ahnung. Er sah das praktisch.

„Wenn wir das herausgefunden haben, dann haben wir gefunden, was ich mit Musik meine. Conny denk mal an deine Konzerte in Mailand, auf der Wartburg, auf dem Campingplatz oder vor den Ratten im Berliner Tunnel. Denk auch an deine Übungen vor zwei Tagen mit der dritten Geige. Vergleich das mal. So viele unterschiedliche Zuhörer und doch haben dir alle andächtig zugehört. Und dennoch: Es war noch nicht perfekt. Es hatte immer irgendwas gefehlt. Genau danach suchen wir. Vielleicht finden wir in Südamerika die Antwort auf unsere Fragen.

Eigentlich wollten sie nur spazieren gehen, doch es war ein sehr tiefsinniges Gespräch geworden. Sie ließen sich von Bob nach Hause fahren.

„Wenn ich das alles in die Analyse im Abitur packe, dann hab ich noch was vor mir“, sagte Conny. Dennis nickte. „Dann lass uns noch mal darüber sprechen. Nicht jetzt. Nicht morgen. Aber bitte mit konkreten Texten. Es muss vor deinem geistigen Auge bildlich entstehen. Wie ein Film.“

Als er dann mit Laura alleine war, fragte er: „meinst du, dass es für Conny gut ist, wenn wir so oft hier sind? Sie ist das sicher nicht gewöhnt und sie wird vielleicht auch abgelenkt von dem, was sie sonst tut.“

„Wir können sie morgen fragen“, meinte Laura. „Ich habe in der Stiftung meine eigene kleine Wohnung. Wenn du willst, können wir auch dorthin gehen, oder du kannst mal ein paar Nächte bei den Kids schlafen. Sie werden sich sicher darüber freuen.“

9.

Am nächsten Morgen war alles wie sonst auch, aber Conny meinte: „Der Tag gestern hat mich etwas ins Grübeln gebracht. Ich muss ein bisschen nachdenken. Ich will auch ein bisschen Geige spielen, ganz für mich alleine. Könnt ihr mich heute in Ruhe lassen?“

Dennis schaute Laura an. Er sah, wie es in ihren Augen kurz aufflackerte, als sie nickte. „Gut. Dann wird mir Laura jetzt mal ihre Wohnung zeigen. Wir haben viel zu recherchieren. Wir rufen dich an.“

„Du und deine Vorahnungen“, lachte Laura, als sie auf dem Weg in die Stadt waren. Sie hängte sich bei Dennis ein und hüpfte glücklich neben ihm her.

10.

Heute am Sonntag morgen waren die Räume der Stiftung leer. Nur am Nachmittag würden vier oder fünf Freunde kommen, um Telefondienst zu machen, aber das müsse sie nicht interessieren. „Ich kann dann mal kurz runtergehen und sehen, ob ich gebraucht werde. Ich mache das immer so. Es gibt Tage, da muss ich dann unerwartet los. Das kennst du ja. An den Wochenenden gibt’s nun mal viele Veranstaltungen, wo man präsent sein will. Heute hab ich darum gebeten, dass sie mich in Ruhe lassen.“

Lauras Wohnung lag über den Büros der Stiftung, im Dachgeschoss. „Offiziell wohne ich immer noch bei meinen Eltern“, hatte Laura erklärt. „Die sind immer noch in der Welt unterwegs. Mal in Australien, mal in den USA, in Kanada oder auch in Südamerika oder Japan. Sie sollen machen, was sie wollen. Ich hab auch immer noch meine „Nanny“. Die gehört längst zum Inventar. Sie passt auf das Haus der Eltern auf. Sehr praktisch. Ich wohne meistens hier.“

Sie waren mit dem Aufzug hochgefahren. Laura schloss die Tür auf. Dennis staunte. „Kleine Wohnung, hast du gesagt. Das ist ja ein riesen Teil.“ „Naja. Ich hab genug Platz. Trifter hat übrigens seine Wohnung direkt neben mir. Wenn wir auf dem Balkon stehen, können wir ihm hallo sagen, wenn er da ist.“ Dennis war überwältigt.

„Das müssen wir erst mal feiern“, meinte er und schlug mit der flachen Hand auf die Bettkante. Laura hatte ihn schon umarmt, warf ihn um und sie fielen lachend aufs Bett.

An diesem Sonntag zeigte sie Dennis, was man im Internet alles in Erfahrung bringen kann. Politiker, Städtenamen, Luftbilder, die Namen der Frachtdampfer und die Abfahrtszeiten, Kosten der Schiffspassagen und sogar Querschnitte und Aufbau einzelner Schiffe. Sie konnte sich Entfernungen berechnen lassen und einzelne Seiten ausdrucken.

Dennis war in diesen Sachen völlig unerfahren. Er hatte sich damit nie beschäftigt. Für ihn waren stets ganz andere Dinge wichtig gewesen. Er verstand auch die Bedienung des Geräts nicht. Die Schritte waren für Laura recht einfach, die sie da ausführte. Für Dennis war alles neu.

Außerdem hatte ihn Laura gewarnt. Im Internet gibt es Seiten, die man lieber nicht öffnen sollte. Ich habe da zwar einen aktuellen Virenschutz drauf, aber das hilft nicht immer. Wir wollen nicht, dass irgendjemand unseren Rechner übernimmt.

Das verstand Dennis nun gar nicht. Laura erklärte es kurz.

„Wenn jemand Viren oder sogenannte Backdoorprogramme in unseren Rechner schleust, dann kann er unseren Rechner übernehmen. Er kann ihn selbsttätig zu bestimmten Arbeitsschritten zwingen, ohne dass ich das merke. Er kann sogar Abbuchungen oder Umbuchungen vornehmen. Das ist hochgefährlich und das passiert leider viel öfter, als man denkt. Wir machen hier viele Dinge. Wir müssen uns vorsehen, und dem Rechner nicht alles anzuvertrauen, was wir wissen. Es ist besser, wenn ich dich erst mal nicht alleine mit diesem Ding lasse.“

Dennis verstand, aber er begriff es nicht. Es war zu weit weg von seinem Lernhorizont. Er würde das in der Schule der Kids besprechen müssen.

Die Recherche war immerhin vielversprechend. So langsam kamen sie der Sache näher. Es würde noch viele Tage dauern, bis Dennis Legende perfekt war. Soviel verstand Dennis, er musste die Details auswendig lernen, und er musste das sogar noch parat haben, wenn er plötzlich aus dem Tiefschlaf geholt wird. Er durfte keinen Fehler machen.

„Wie bei einem Geheimagenten“, dachte er.

Er kannte sich. Normalerweise würde er auf einer solchen Reise viele Menschen treffen und denen auch im Gedächtnis bleiben, eben wegen seiner besonderen Art, also war es das Beste, wenn er anonym gereist war. Er hatte zu den Indios Kontakt gehalten, aber nicht zu bekannten Leuten der Zeit. Dennoch konnte das ungewollte Fragen aufwerfen. Er musste sich vorsehen.

Außerdem wollte er mehr wissen über die Indios von heute. Wie sie leben, wo sie leben, was für Gebräuche sie hatten. Laura würde ihm noch oft helfen müssen.

Es waren noch drei Wochen bis zu Connys Abitur und damit auch zu Dennis geplanter Wiedergeburt. Drei Wochen können schnell rumgehen. Dennis hatte es plötzlich eilig.

11.

In den nächsten drei Wochen besuchte Dennis Conny oft. Er schlief mal bei Laura, mal bei Conny und auch bei den Kids im Bunker. Die Postkarte war fertig. Richtig mit (gefälschter) Briefmarke, Datum und (gefälschtem) Stempel. Dennis brauchte sie nur noch in seiner Schrift zu schreiben.

Die Route war fertig. Alle Details festgelegt. Alles auswendig gelernt.

Dennis sah in dieser Zeit auch Susi noch mal. Alle andern Kontakte verkniff er sich. Seine Sicherheit ging vor. Er hatte den Bart stehen lassen. Die Haare hatte er, entgegen dem Rat „des Dicken“, nicht gefärbt.

„Wie sieht das aus mit blauen Augen“, hatte er gefragt. „Das ist unglaubwürdig.“ „Ob das einer bemerkt hat“, bezweifelte der Dicke, doch Dennis hatte geantwortet: „Es sind die Details, die sich ein guter Leibwächter merkt. Daran erkennt er jeden wieder. Auch nach Jahren. Mein Tattoo hat Gott sei Dank niemand gesehn.“ Dieser Argumentation konnte sich „der Dicke“ nicht entziehen. „Naja. Ganz können wir dich eh nicht verändern. Dann müssten wir schon eine Gesichtsoperation machen.“ Er grinste. „Schöner wirst du dabei nicht und so groß ist die Gefahr der Entdeckung nun auch wieder nicht. Vor allem, wenn du gleich wieder ins Ausland gehst, wie ich gehört habe.“

Dennis lächelte. „Der Dicke“ hatte Ohren, die waren größer als Berlin. Gab es überhaupt irgendetwas, was der nicht wusste? Wie gut, dass die Kids solche Leute wie „den Dicken“ oder Trifter auf ihrer Seite hatten.

Alles war vorbereitet. Die Postkarte war so abgestempelt, dass sie an Dennis alte Adresse ging, dann unzustellbar zurückging ins Hauptpostamt, dort neu adressiert wurde, und dann Dennis Mutter zugestellt wurde. Das war alles gefaked. Tatsächlich warf einer der Kids Dennis’ Postkarte einen Tag nach Connys Abitur in den Briefkasten von Dennis Mutter.

Zwei Tage später würde Dennis offiziell im Hamburger Hafen ankommen, wenn auch als blinder Passagier, und dann per Anhalter nach Berlin reisen. Auch das war nur die offizielle Version. Tatsächlich sperrte sich Dennis einige Tage vorher bei den Kids ein. Er büffelte, er wusch sich nicht und er ließ sich vergammeln. Die Kids hatten ihm verdreckte Kleidung aus dem Container besorgt. Dennis stank so, dass ihn selbst Laura nicht in ihre Wohnung gelassen hätte.

Die Kids jedoch hatten an Dennis ihre helle Freude. „Whow“, meinte Bübchen. „So versifft sind sonst nur die Junkies unter der Brücke. Wenn das nicht funktioniert, dann funktioniert nichts mehr.“

12.

Als Dennis Mutter die Postkarte im Briefkasten fand, war sie einem Herztod nahe. Sie rief sofort ihren Mann an, und holte ihn aus einer wichtigen Produktion. Er fand sie in Tränen aufgelöst und fast wahnsinnig vor Glück.

Drei Tage später klingelte das Telefon. Dennis sagte nur, „Mama. Ich bin zurück. Liebst du mich noch?“

Es gab ein kurzes hin und her. Abholen. Nein. Taxi nein. Der Taxifahrer würde sich weigern. Ich fahre mit der U-Bahn. Er ließ sich die neue Adresse geben. „Mama. Kannst du ein Bad einlassen und mir etwas zu essen machen?“

Als Dennis in der eleganten Altbauwohnung ankam, drückte sich einer der Hausbewohner vor Schreck an die Wand im Hausflur, dann feixte er hinter Dennis her. Penner seien hier nicht erwünscht. Dennis hörte nicht auf ihn. Er stieg schnell die Treppe hinauf, wo er die Tür geöffnet vorfand.

„Mama. Ich bin’s wirklich“ sagte er, „jetzt verstehst du, dass ich kein Taxi wollte. Ich bin völlig abgebrannt. Naja, ein paar Sachen hab ich noch im Bahnhofsschließfach.“

Die Mutter war entsetzt, aber als Dennis in der Badewanne lag und das erste schwarze Badewasser ausgetauscht war, kam ihr Dennis zum Vorschein, den sie so liebte. Älter, reifer, mit einem Bart, aber immer noch mit den wunderbar vertrauten blauen Augen.

Sie blieb die ganze Zeit im Bad. Sie sah Dennis zu. Wie er sich von einem Ferkel in ihren Dennis verwandelte. Nur den Bart wollte er nicht abnehmen. Sie sah auch seine wulstigen Narben an den Händen. Sie war bestürzt und sie streichelte über seine Handflächen, Tränen in den Augen.

„Frauen sind doch überall gleich“, dachte sich Dennis, der dieses Spiel dirigierte. Aber er liebte seine Mutter, und es gab ihm einen Stich ins Herz, dass er ihr nicht erzählen konnte, was wirklich passiert war. Die Wirklichkeit war nicht für die Welt des Lichts bestimmt. Diese Version kannten nur seine engsten Freunde im Dunkel des Tunnels.

Natürlich wollte Dennis Mutter alles wissen. Dennis erzählte, aber er beschränkte sich auf eine stark gekürzte Version seiner offiziellen neuen Identität.

Als der Mann von Mama kam, fand er seine Frau und Dennis plaudernd auf der Couch. Er sah Dennis lange und prüfend an. Dann reichte er ihm die Hand. „Soweit ich gehört habe, bist du erst sechzehn, aber du siehst aus wie ein Erwachsener“ sagte er. „Du musst viel erlebt haben.“ Er fühlte die Narbe an Dennis Hals und besah sich die Kreuznarben in beiden Händen. „Keine Frage. Du hast viel erlebt. Willst du uns davon erzählen?“

Dennis spielte das Spiel mit. „Ich habe Mama schon einiges gesagt. Nun ja. Ich habe wirklich viel erlebt. Ich denke nicht, dass alles wichtig für euch ist. Ich war lange am Amazonas und in den Anden. Ich habe mit den Indios gelebt. Ich habe diese Auszeit gebraucht. Doch jetzt bin ich wieder da. Meine alten Klamotten könnt ihr verbrennen. Die stinken. Vielleicht habt ihr irgendetwas für mich zum anziehen. Nichts besonderes. Freizeitkleidung. Einfach. Ich habe kein Geld mehr, weil alles geklaut wurde. Vielleicht ist noch etwas von meinem Konto übrig.“ Er sah seine Mutter an und sah, dass sie nickte.

„Außerdem möchte ich mit Laura telefonieren“, heuchelte er. „Wisst ihr, wie ich die erreiche? Muss nicht sofort sein. Wenn ich heute bei euch schlafen kann, dann mach ich das morgen.“ Dann sah er auf seine Mutter. Der Bauch war inzwischen dick. „Ich freu mich für dich“, sagte er und nickte zu ihrem Bauch. „Das ist ein gutes Zeichen. Wenn es möglich ist, dann geh ich wieder in die Stiftung, wenn die mich überhaupt noch haben wollen, ihr könnt dann euer eigenes Leben weiterführen. Ohne mich. Ich glaube ich störe da nur. Aber wenn ihr mir erlaubt, euch von Zeit zu Zeit zu besuchen, das wäre schön.“

Dennis sah Mamas Einwände, aber er winkte ab. Er sah, dass er Mamas neuem Lebensgefährten aus der Seele gesprochen hatte. Das war junges Glück. Er gehörte zu den Altlasten. Er würde sich da raushalten. Außerdem hatte er sein eigenes Leben. Wenn er ehrlich war, dann würde seine Mutter ihn jetzt bloß stören. Außerdem würde sie dieses Lügengebilde irgendwann durchschauen. Das durfte nicht sein.

„Eine Bitte hab ich“, schloss Dennis. „Ich hab keine Papiere mehr. Auch die sind weg, wie vieles. Ich bin als blinder Passagier zurückgekommen. Könnt ihr mir neue Papiere besorgen? Eine Geburtsurkunde gibt’s ja sicher noch.“

Die beiden nickten.

Innerhalb von zehn Tagen hatte Dennis vorläufige Notpapiere, und er erhielt nach vier Wochen seinen nagelneuen Personalausweis und einen Pass. Echt, mit Stempel.

Am Anfang war es nicht ganz leicht. Wer tot war, der war tot. Der Beamte stellte sich stur. Aber Dennis erinnerte die Beamten an die vielen Soldaten, die nach dem Krieg für tot erklärt worden waren und nach Jahren wieder auftauchten. Er kannte seine Daten, seine Schule, seine Lehrer. Seine Mutter beeidete, dass dies ihr Sohn sei, der vor zwei Jahren verschwunden war. Er war blauäugig und blond. Die Größe stimmte, wenn man der Zuwachs in den letzten zwei Jahren schätzte. Dennis gab eine Kurzerklärung seiner letzten zwei Jahre ab. Da er nie offizielle Fahrkarten benutzt hatte, verlief jede Nachfrage der Beamten im Sand.

Dennis hatte eine neue Identität.

Die andern Dinge konnte Dennis regeln. Laura und Trifter spielten das Spiel hervorragend mit. Susi hatte dichtgehalten, obwohl ihr das sehr schwer gefallen war. Allan und Roman fielen aus allen Wolken.

Dann begann Dennis seine alten Freunde der Talentschule aufzusuchen. Einen nach dem andern.

Die Stiftung unter der Leitung von Laura und Trifter machte es sich einfach. Sie stellte Dennis kurzerhand wieder als Talentscout ein, mit dem Schwerpunkt der Betreuung von Conny. Sie verbürgten sich für Dennis. Die Berufsschulpflicht konnte unter den besonderen Bedingungen umgangen werden. Dennis bezog jetzt ein eigenes Gehalt. Er schenkte seiner Mutter das verbliebene Geld seiner alten Identität. Er habe jetzt wieder ein eigenes Einkommen, sagte er. Seine Mutter solle das Geld für ihr Baby verwenden. „Das braucht dich jetzt mehr, als ich dich brauche.“ Offiziell zog Dennis bei Laura ein. Eine Postadresse für die Behörden musste er ja schließlich haben.

Der Anwalt der Stiftung konnte erreichen, dass Dennis für geschäftsfähig erklärt wurde, so wie er das vor einiger Zeit bereits für Laura in die Wege geleitet hatte, als sie 16 wurde. Alles schien perfekt.

Dennoch blieb Dennis stets vorsichtig. Er versuchte sich nicht zu exponieren. Er suchte sich sichere Wege. Er versuchte sich regelrecht unsichtbar zu machen, wenn er unterwegs war, und er benutzte oft die Fähigkeit, Räume zu überspringen, die er von seinem Bruder erhalten hatte. Dennis eignete sich darin geradezu eine Perfektion an. Zumindest in Berlin klappte das gut, wo er bald jeden Ort, den er kannte, direkt und zielgenau ansteuern konnte.

Außerdem hatte er jetzt ein eigenes Konto, auf das er 2500 Euro einzahlte und auf das Trifter die 155.000 Euro aus dem Verkauf des Goldes und der Steine überwies. Er würde jetzt monatlich sein Gehalt beziehen. Er legte seine Papiere für die Geschäftsfähigkeit vor. Auch das gefiel der Bank gut.

Die indianischen Sachen blieben vorerst offiziell im Banksafe, bis ein ordentlicher Weg gefunden war, sie an die Öffentlichkeit zu bringen.

Die Suche nach der Identität

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